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1. Klassische methodologische Ausgangspunkte: Hermeneutik - Empirie - Ideologiekritik

1. Klassische methodologischeAusgangspunkte: Hermeneutik ... · unddas Experiment, umeine reale Erfahrungsbasis seiner Anschauungenzu gewinnenundintersubjektive Uberprüfbarkeit an

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Page 1: 1. Klassische methodologischeAusgangspunkte: Hermeneutik ... · unddas Experiment, umeine reale Erfahrungsbasis seiner Anschauungenzu gewinnenundintersubjektive Uberprüfbarkeit an

1. Klassische methodologische Ausgangspunkte:

Hermeneutik - Empirie - Ideologiekritik

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1. Einführung in die erkenntnistheoretischen

Fragestellungen

Am Anfang aller Fragen über menschliche Erkenntnis steht immer wieder die

Beurteilung des Verhältnisses von Bewußtsein als Subjekt der Erkenntnis und

Realität bzw. Realitätsausschnitt als Objekt. Das Bewußtsein ist nicht in der

Lage, die Dinge, wie sie sind, in sich aufzunehmen. Es bedient sich eigentümli

cher gedanklicher Abstraktionen, ein Problem, das seit den Reflexionen anti

ker Philosophen immer wieder Gegenstand umfangreicher erkenntnistheoreti

scher philosophischer Schriften war. Von besonderer Bedeutung ist neben vi

suellen, haptischen, akustischen und anderen Eindrücken und im Rahmen die

ser für die menschliche Erkenntnistätigkeit die Sprache. Sie erst ermöglicht

das abstrahierende Denken, weil sie es gestattet, daß umfassende gedankliche

Beziehungen zwischen dem Subjekt und der Welt und zwischen den Abstrak

tionen unter Subjekten gebildet werden können. Wenn wir von Erkennen

sprechen, haben wir es also immer zugleich auch mit einem sprachlichen Phä

nomen zu tun1.

Das Sprachproblem wird für die Wissenschaft besonders dahin gehend immer

wieder relevant, daß Begriffsbildungen allgemein verstanden werden sollen,

d.h. daß die Begriffe, die bestimmten Objekten zugeschrieben sind, von allen

Diskussionsteilnehmern auch am Objekt der Erkenntnis identifiziert werden

können. Wissenschaftliches Erkennen bedeutet also nicht nur, neue Gegen

stände oder Bexiehungen zwischen Gegenständen zu erkennen erfinden oder

entdecken und begrifflich zu fixieren, sondern auch und in viel größerem

Maße, Entdeckungen und/oder Begriffszuschreibungen anderer zu erfassen

und zu lernen, um Kommunikation unter Wissenschaftlern überhaupt zu er

möglichen.

In der bisherigen Entwicklung der Wissenschaftsgeschichte prägte sich aller

dings der Umstand aus, daß unterschiedliche Lehrmeinungen über die Gegen

stände der Realität gebildet wurden 2 In diesen Lehrmeinungen wurden unter

schiedliche Begriffe ausgearbeitet und fixiert, so daß heute zum Verständnis

`Vgl. zur Einführung in diesen Problemkreis und bezüglich seiner widersprüchlichen Bedeutung

für die Entwicklung wissenschaftlicher Denkweise oder Denkmöglichkeit u. a. STEGMÜLLER

1969, bes. S. 524ff.; KLAUS 1972; ALBRECHT 1975; WATZLAWICK u. a. 1969; ferner z.B.

NSEPOLD 1972.2 Vgl. dazu als Einführung z.B. die interessante Übersicht des englischen Marxisten J. D. BERNAL

1970.

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vieler Ansichten Lexika u. a. erforderlich sind, um den Bedeutungsgehalt vieler

Begriffe überhaupt noch erschließen zu können. Wissenschaft kommt nicht

ohne Begriffsbildungen aus. Aber in dieser Arbeit soll uns nicht vorrangig das

damit verbundene und komplizierte Sprachproblem im Sinne der logischen

Sprachanalyse oder einer funktional-historischen Analyse der Bewußtseins-

formen beschäftigen, sondern in erster Linie die Frage, was denn überhaupt

von der Wissenschaft im Rahmen von Sprach- und Bewußtseinsbildungen, die

in unterschiedlichen theoretischen Ansätzen jeweils unterschiedlich vorausge

setzt und begründet werden verhandelt wird. Wir beschränken uns dabei al

lerdings hier auf die neuere Entwicklung der Erziehungswissenschaftund grei

fen auch hier nur gegenwärtig besonders bedeutsame Hauptströmungen her

aus3.

Betrachtet man das Verhältnis von Erziehung und Erkennen, so stellt sich für

die wissenschaftliche Erörterung sofort eine brennende Frage: Was kann man

überhaupt als Mensch erkennen? Dies schließt die Frage ein, was wir speziell

von der Erziehung erkennen können. Es ließe sich auch umgekehrt fragen:

Was ist überhaupt Erziehung? Aber damit kommen wir auf das Problem zu

rück: Wie können wir das erkennen, was wir Erziehung nennen?

Nun ist so das Problem sehr pauschal und absolut gestellt. Man ist sofort in die

Alternative gedrängt: Erkennen oder Nichterkennen. Wenn wir es vorsichti

ger formulieren, könnte die Frage lauten: Mit welcher Möglichkeit oder Not

wendigkeit erkennen wir das, was wir begrifflich Erziehung nennen? Nun wird

es zugleich aber auch schwieriger. Das Wort Möglichkeit deutet eine gewisse

Beliebigkeit an, vielleicht die Hoffnung, etwas erkennen zu können; der Be

griff Notwendigkeit z. B. weist uns auf den Umstand hin, daß hier irgendeine

Gesetzmäßigkeit Determinismusproblem der Erkenntnis vorliegen könnte,

durch die der Zusammenhang vom Subjekt des Erkennens und dem Gegen

stand der Erkenntnis geregelt wird. Zugleich jedoch ist stillschweigend vor

ausgesetzt, daß wir einen Gegenstand erkennen wollen, der schon begrifflich

formuliert ist. Es liegen also bereits Erkenntnisse vor.

In dieser Arbeit nun beschränke ich mich darauf, diesen letzteren Umstand

herauszugreifen und näher zu fixieren: Welche Erkenntnisse liegen eigentlich

im Rahmen der Begründung erziehungswissenschaftlicher Erkenntnistätigkeit

im wesentlichen vor? Wir wenden uns also nicht der realen Erziehung als Un

tersuchungsgegenstand zu, so interessant diese Arbeit immer auch wäre. Zu

Zu den philosophischen Hauptströmungen vgl. u. a. STEGMÜLLER 1969, 1975; vereinfachend

sind die Darstellungen bei SEIFFERT 1969/1970; interessante Sammelbände stellten LIEBER 1974,

1976; LENE 1967, 1973; As.BEET/Tos`sTscsl 1971; TOPITIcH 1968 zusammen; als marxisti

sche Analysen bieten sich u. s. BERNAL 1970; KLEIN u.a. 1974; Geschichte 1974 und 1976;

DOM5N u.a. 1973 an.

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gleich jedoch kann nicht jede Erkenntnis aus der Geschichte der Erziehungs

wissenschaft an dieser Stelle bearbeitet werden. Es soll hier nur über die zu

dem recht bescheiden abgehandelte Frage nach dem Verhältnis von Erziehung

und Erkennen in hauptsächlichen erziehungstheoretischen Ansätzen der Ge

genwart gesprochen werden. Dabei soll es um das Problem gehen, wie diese

einzelnen Ansätze theoretisch und methodisch das Verhältnis von Erziehung

und Erkennen bestimmen.

Ich schicke drei problemleitende Thesen voraus:

1 In der Wissenschaft geht es mehr oder minder direkt darum, die Wirklich

keit zu erschließen. Der Wissenschaftler bemüht sich, forschend in die Wirk

lichkeit einzudringen, er bildet Aussagen über die Wirklichkeit, die in ihrer

mehr oder minder geschlossenen Gesamtheit gemeinhin als wissenschaftliche

Theorie bezeichnet werden. Um die Wirklichkeit zu erkennen, bedarf es der

Herausbildung von Theorien als zwischenmenschlicher Verständigung über

Erkenntnisgegenstände.

2 Die Wissenschaft heute beginnt nicht beim Punkte Null, d.h., es sind schon

zahlreiche und unterschiedliche Theorien vorhanden, um die Wirklichkeit zu

erklären. Um den Nutzen dieser Theorien für den heutigen Erkenntnisstand

und uns beschäftigende Erkenntnisinteressen herauszuarbeiten, sind nicht nur

die in diesen Theorien angesammelten Erkenntnisresultate aufschlußreich, von

besonderem Interesse ist vielmehr auch die in den einzelnen Theorien entwik

kelte Methodologie, d.h. das Verständnis, das eine Theorie in bezug auf das

Verhältnis von Erkenntnisgegenstand und Erkenntnisgewinnungsmöglichkei

ten im Rahmen eines definierten Vorgehens entwickelt.

3 Die Methodologie eines theoretischen Ansatzes bildet im gewissen Sinn zu

gleich das theoretische Zentrum: Eine in allen Ansätzen vorhandene methodo

logische Vorgehensweise sichert die Möglichkeit der Gewinnung angestrebter

Erkenntnisresultate. Die Methodologie einer Theorie ist daher kein Selbst

zweck, sondern sie dient der notwendigen Entwicklung von Kriterien und

Verfahrensweisen Methoden zur Gewinnung inhaltlicher Aussagen ebenso

wie der Findung von Kriterien und Verfahrensweisen zur Systematisierung

dieser gewonnenen Aussagen in einem Theoriengeriist. Gerade dieser Aspekt

zeigt zugleich an, daß jede Methodologie Handlungsaspekte in sich trägt: Wer

einer bestimmten Methodologie eines bestimmten theoretischen Ansatzes

folgt, soll bzw. will diese in seinen Handlungen Forschungen, Lehren an

wenden, um erfolgreich im Sinne der methodologisch angestrebten Aussagen

gewinnung zu sein. Die angewandte Methodologie zeigt daher auch das jeweils

zugrunde gelegte Theorie-Praxis-Verhältnis einer Theorie auf.

Die Unterscheidung dieser drei Aspekte ist - methodologisch betrachtet - si

cherlich zum Teil willkürlich, sie trennt und schematisiert ein zusammenhän

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gendes Problem. Aber sie gibt meines Erachtens Knotenpunkte bzw. Ebenen

der Entwicklung der Grundlagen der in allen Wissenschaftsansätzen entfalte

ten oder entfaltbaren wissenschaftlichen Methodologie an. Dabei treten im

Rahmen der gegenwärtigen Wissenschaftsdiskussion in der Erziehungswissen

schaft zahlreiche Streitpunkte der Bestimmung dieser einzelnen Aspekte auf,

die im folgenden zunächst allerdings nur recht knapp und vorläufig allgemein

umrissen werden und die in den dann nachfolgenden Teilen dieser Arbeit

Hermeneutik - Empirie - Ideologiekritik für die Entwicklung pädagogischer

Wissenschaftsansätze näher reflektiert werden sollen, wobei die hier entwik

kelte Systematik aufgenommen wird.

1.1. Theoretische Grundlegung: Erkenntnis und

Erkenntnisgegenstand

Grundfragen: Wie erkenne ich? Wie dringe ich systematisch in die Wirklich

keit ein? Welche erkenntnistheoretischen Möglichkeiten scheinen diesbezüg

lich zu bestehen, und welche sehe ich als die entscheidenden an? Mit welchen

Methoden, d. h. in welcher Art und Weise der Erkenntnistätigkeit und mit

welchen Mitteln und welchem Instrumentarium der Erkenntnis, versuche ich,

die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen der Realität und damit die Mannigfal

tigkeit möglicher Erkenntnisgegenstände so zu strukturieren, daß eine Syste

matik aufgebaut wird, die es mir erlaubt, Erscheinungen Geschichte ein

zuordnen bzw. zu bewerten und mich an dieser Einordnung in meinen Hand

lungen zu orientieren? Vgl. zum folgenden auch Abbildung 1, S.26.

Voraussetzung des Erkennens der Wirklichkeit ist das Vorhandensein eines

Erkenntnissubjekts4. So trivial diese Feststellung ist, so ist dennoch in der Wis

senschaftstheorie bzw. Philosophie äußerst umstritten, welchen Kompetenz-

grad die Erkenntnis eines Subjekts überhaupt erreichen kann, ob und inwie

weit die vom Subjekt gemachten Aussagen über die Realität wirklicher Aspekt

der betrachteten und analysierten Realität oder nur Aspekt der subjektiven

Einbildung oder subjektiv-verzerrter Wahrnehmung einer objektiven Realität

sind. Ein Streitpunkt entsteht ferner dadurch, daß die erkenntnistheoretische

Entgegensetzung von Subjekt und der dem Subjekt äußeren Realität dadurch

Mit Erkenntnissubjekt ist hier eine Person oder ein Individuum gemeint, das ein Bewußtsein ent

wickelt/besitze und die Fähigkeit entwickelt/besitze, sich über sein Erkennen seine Bewußtseins-

inhalte mit anderen Subjekten auszutauschen. Wie sich das Bewußtsein des Erkenntnissubjekts

ausbildet, ist in den unterschiedlitben philosophischen Richtungen umstritten.

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Abbildung 1: Kontroversen bei der Bestimmung von Erkenntnis und Erkennt

nisgegenstand

Erkenntnis Kontroversen u. a. Erkenntnisgegenstand

Erkenntnissubjekt

Erkenntnis ist an Sub-

jekte mit Bewußtsein

und der Fähigkeit,zwischenmenschlicheBeziehungen kommuni-kativ herzustellen

Sprachel, gebunden

- über die Möglichkeit

objektiver Erkenntnis

Wahrheitsproblem

- über den Kompetenz-grad der wissen-schaftlichen Erkenntnis

- über die gesellschaft-

liche Bedingtheit oder

Unabhängigkeit der

wissenschaftlichen

Erkenntnis

- über die Rolle indivi

dueller Verzerrungen

im Erkenntnisprozeß

Realität

- die Realität, wie sie

unabhängig vom Be

wußtsein gegebenscheint

- die Realität, wie sie

abhängig vom Bewußt.sein wiedergegeben

wird

Erkenntnistätigkeit

Erkenntnis ist in Hand-

lungszusammenhängeund Tätigkeiten in Raum,Zeit und soziokulturellerStruktur Gesellschaft

gebunden

- über die Übertragbar-keit des Individuellen

auf das Allgemeine

- über die Notwendigkeit

Ziel, Richtung der

Erkenntnis

- über die Triebkräfte

wissenschaftlicher

Erkenntnisentwicklung

Realität

- die Realität, wie sie in

praktischer Lebens-

tätigkeit gegeben ist

- die Realität, wie sie indenkender und han

delnder Tätigkeit auf-

gegeben scheint

Erkenntnismittel

Erkenntnis ist an

bestimmte Methoden

oder Mittel, die das

Subjekt in der Erkennt-

nistätigkeit einsetzt,

gebunden

- über die Wahl be-

stimmter Erkenntnis-

gegenstände

- über die Interessen-

gebundenheit oder

Zweckfreiheit anzu-

wendender Mittel

des Erkennens

- über die Bevorzugung

bestimmter Erkenntnis-

mittel

Realität

- die Realität, wie sie

nach Auswahl und Ein-

satz bestimmter Metho

den oder Mittel in

praktischen Untersu

chungen aufgegeben ist

- die Realität, wie sie in

theoretischen Vor-

stellungen durch An-

tizipation und Auswahl

von Methoden und i

Mitteln erscheint

relativierbar erscheint, daß die These aufgestellt wird, das Subjekt könne nie

ganz bei sich selbst sein, weil, wenn es bei sich ist, es zugleich außer sich ist, da

seine geistige Realität nur mehr oder minder Widerspiegelung der Realität und

damit auch von außer ihm liegenden Voraussetzungen sei.

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Die Einordnung der Bedeutung des Erkenntnissubjekts in eine Theorie ist auch

in den pädagogischen Ansätzen - wie weiter unten genauer zu zeigen sein wird

- kontrovers: Der hermeneutisch orientierte Ansatz im Anschluß an die ideali

stische Lehre Herman Nohls und anderer5 betont die innere Seite des Er

kenntnissubjekts und stellt die subjektive Einbildungsfähigkeit als wissen

schaftliche Forschungsmethode heraus; der empirisch-analytische Ansatz er

klärt die innere oder äußere Bestimmtheit der Erkenntnisfähigkeit des Men

schen zu einem Scheinproblem, da es nur auf die erfahrungsmäßig zu sichernde

und logisch einwandfrei abzuleitende Erkenntnisbemühungankomme und alle

die Beobachtung und Logik übersteigende Auslegung als außerwissenschaftli

che anzusehen sei; der ideologiekritische Ansatz schließlich stellt besonders die

durch äußere Umstände determinierte Erkenntnistätigkeit des Menschen her

aus, wobei dem gesellschaftlichen Sein des Menschen zentrale Bedeutung bei

gemessen wird und die menschliche Erkenntnistätigkeit vor allem im Zusam

menhang mit den gesellschaftlich vermittelten Erkenntnisinteressenund -regu

lationen reflektiert wird.

Weitere Voraussetzung des Erkennens der Wirklichkeit ist die Entwicklung

eines Erkenntnisprozesses oder die Entfaltung einer Erleenntnistätigleeit6 des

Erkenntnissubjekts. Auch diese Feststellung erscheint zunächst als selbstver

ständlich, aber in der Wissenschaftstheorie bzw. Philosophie bereitet es immer

wieder große Schwierigkeiten, und es ist umstritten, nach welchen Kriterien zu

bemessen sei, wann, wo und wie von einem Erkenntnisprozeß gesprochen

werden kann, inwieweit überhaupt der individuelle Erkenntnisprozeß der un

terschiedlichen Menschen sichtbar zu machen oder gar auf andere zu übertra

gen ist. Insgesamt stellt sich ferner die Frage nach den Triebkräften der Er

kenntnisprozesse oder Erkenntnistätigkeiten der Menschen: Sind diese durch

Wenn im folgenden vom hermeneutischen Ansatz gesprochen wird, so gilt dies eingeschränkt für

die in der Tradition der Lebensphilosophie stehend; durch H. Nohl, E. Weniger und andere be

gründete pädagogische Theorienhildung. Der Begriff Hermeneutik wird hier nicht zur Kenn

zeichnung einer für alle Ansätze geltenden verstehenden Textausdeutung, sondern ausschließlich

zur Kennzeichnung diesespä&sgogüchen Ansatzes gebraucht. Vgl. auch S. 39f.6 Betrachtet man eine bestimmte Aussage eines Erkenntnissubjektes als Erkenntnis, so hat man ein

Resultat des Erkennens vor Augen. Erkenntnis wird in diesem Fall also mit dem Erkenntnisresul

tat gleichgesetzt. Das Erkenntnissubjekt aber wird durch diese Betrachtungsweise nur zu einem

bestimmten Zeitpunkt betrachtet: Es zeigt ein Erkenntnisresultat vor. Demgegenüber soU der Be

griff Erkennmisprozeß oder Erkennmistätigkeit darauf aufmerksam machen, daß das Erkenntnis-

subjekt in gedanklicher und handelnder Tätigkeit steht und Erkenntnisse niemals nur fertige Re

sultate sind. Die Erkennmistätigkeit ist eine untrennbar mit dem Erkenntnissubjekt verknüpfte

Eigenschaft. Die Erkenntnistätigkeit ist jedem Subjekt eigen, sie ist also individuelle Tätigkeit.

Aber sie schließt zugleich Momente der Geseilschaftlichkeit ein, da die Subjekte in ihrer Tätigkeit

untereinander und miteinander handeln und kommunizieren. Der Begriff Erkenntnistätigkeit soll

in dieser Arbeit dazu dienen, auf die handelnden und gesellschaftlichen Zusammenhänge von Er

kenncnissubjekten aufmerksam zu machen.

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eine Notwendigkeit außerhalb oder innerhalb des Menschen oder menschli

cher Gemeinschaft gebunden, oder sind sie bzw. erscheinen sie als bloß zufäl

lig?

Auch diese Voraussetzung zeigt sich in den gegenwärtig zentralen pädagogi

schen Ansätzen als kontroverses Problem: Hermeneutisch betrachtet wird die

Möglichkeit des Erkenntnisprozesses und die Notwendigkeit der Erkenntnis-

tätigkeit als individuell-verstehendes Problem herausgestellt, d. h. als eine dem

Menschen aufgegebene innere Struktur interpretiert. Empirisch-analytisch ist

nicht die Ursache der Entwicklung bestimmter Erkenntnistätigkeiten so sehr

das Problem, sondern vielmehr die logisch einwandfreie Begründung der

Durchführung einer als gegeben vorausgesetzten Erkenntnistätigkeit ent

scheidend. Für den Ideologiekritiker kommt es demgegenüber gerade auch auf

die Entdeckung der Notwendigkeit bestimmter Erkenntnistätigkeiten im Zu

sammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen an, um die relative Be

deutung vermeintlich logisch einwandfreier Erkenntnisse durch Rückbezug

auf soziale Ursachen und Wirkungskomponenten aufzuzeigen.

Schließlich bleibt als Voraussetzung das Erkenntnisrnittel , das mehr beinhal

tet als eine bloß technische Fertigkeit bestimmter Erkenntnissubjekte. In der

Anwendung bestimmter erkenntnistheoretischer Methoden zeigen sich me

thodologische Voraussetzungen des Erkenntnissubjekts: Die Zweckhaftigkeit

und Interessengebundenheit auch wenn dieses Interesse als Notwendigkeit in

teressenloser oder wertfreier Erkenntnistätigkeit behauptet wird des Er

kenntnissubjekts im Erkenntnisprozeß wird z. B. über die Wahl der eingesetz

ten Erkenntnismittel und die Entfaltung spezifischer Erkenntnistätigkeiten ge

steuert. Diese Wahl schließt nicht nur eine Bevorzugung bestimmter und dem

Gegenstand der Erkenntnis mehr oder minder angemessener Erkenntnisme

thoden ein, sondern auch die Standpunkte, die dazu führen, einen bestimmten

und keinen anderen Erkenntnisgegenstand auszuwählen, ein Erkenntnisinter

esse zu bekunden. Daß es Erkenntnisinteressen gibt, ist in der Wissenschafts

theorie bzw. Philosophie kaum umstritten, unlösbar erscheint jedoch gegen-

In der Erkenntnistatigkeit wenden Erkenntnissubjekte bestimmte Erkenntnismittel an. Mittel der

Erkenntnis sind nicht nur materielle und sichtbare Gegenstände Meßgeräte u. a., sondern auch

bestimmte erlernte Denkoperationen und Methoden inhaltlicher und formaler Art Induktion,

Deduktion u. a., die den Erkenntnisprozeß systematisieren, effektivieren und zeitökonomisch

gestalten sollen.

Wenn hier begrifflich das Erkenntnissubjekt, die Erkenntnistätigkeit und Erkenntnismittel unter

schieden werden, so handelt es sich nur um eine begriffliche, der Systematisierung und Übersicht

dienende vereinfachte Unterscheidung, die die reale Einheit des menschlichen Erkennens zur Ver

deutlichung trennt, obwohl der reale Erkenntnisprozeß alle drei Momente in einem einheitlichen

Ganzen umfaßt. Es bleibt dem Leser überlassen, diese gedankliche Einheit in den folgenden Teilen

für sich immer wieder herzustellen, andererseits die Vorteile der Zergliederung zur Entwicklung

eines möglichst differenzierten Verständnisses zu nutzen.

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wärtig eine einhellige Klärung der Frage, welche Faktoren die Interessenge

bundenheit steuern und ob trotz der Interessengebundenheit der Erkenntnis

die Wissenschaft in der Lage ist, wissenschaftlich im Sinne unabhängiger Ver

pflichtung zu sein, also außerhalb gesellschaftlicher oder individueller Interes

seneinseitigkeit zu stehen.

Auch die Herleitung und Anwendung der Erkenntnismittel ist in den pädago

gischen Wissenschaftsansätzen unterschiedlich: Der pädagogische Hermeneu

tiker verfraut auf ein verstehendes Verfahren, das im wesentlichen auf systema

tische Textanalyse beschränkt bleibt; der Empiriker betont die Beobachtung

und das Experiment, um eine reale Erfahrungsbasis seiner Anschauungen zu

gewinnen und intersubjektive Uberprüfbarkeit an wiederholbaren und kon

trollierbaren Gegenstandsfeldern zu erzielen; der Ideologiekritiker versucht

systematisch in die Strukturgesetzlichkeiten der Gesellschaft und Natur ein

zudringen, wobei auch er auf die Grundlage der Erfahrung angewiesen ist. Al

lerdings unterscheidet er die Oberfläche des empirisch Erfahrbaren und den

ursächlichen Zusammenhang des ideologiekritisch zu Hinterfragenden, er be

hauptet zwar nicht die Unumstößlichkeit seiner bisher als wahrscheinlich ent

wickelten Aussagen, ordnet jedoch die Erscheinungen, die erfahren werden,

nach - wie er meint - kritisch-rational entwickelten Wertmaßstäben ein.

Bei allen drei Ansätzen tritt das Problem der wert- bzw. erkenntnisbezogenen

Auswahl der Erkenntnismittel auf: Der Hermeneutiker entwickelt, wenn auch

zum Teil ungewollt, Wertstandpunkte, um Texte auszudeuten; der Empiriker

vertritt die Wertvorstellung, daß sich der Wissenschaftler mit der Erforschung

gegebener Erscheinungen begnügen müsse und nicht als Wissenschaftler in

eine Bewertung der Erscheinungen eintreten dürfe, die von Werturteilen ge

steuert wird; der Ideologiekritiker faßt alle diese Wertungen als Interesse des

Wissenschaftlers auf, wobei er das Interesse oder die Wertung vor allem aus der

gesellschaftlichen Entwicklung abzuleiten versucht.

Nun sind nicht nur die unterschiedlichsten Auffassungen über die Rolle, Rele

vanz und Wirkung des Erkenntnissubjekts, des Erkenntnisprozesses und der

Erkenntnismittel in der Wissenschaft zu finden, umstritten ist vor allem die In

terpretation des Verhältnisses von Subjekt, Tätigkeit und Methoden der Er

kenntnisgewinnung im Verhältnis zum ausgewählten Erleenntnisgegenstand8:

Die unterschiedlichen Wissenschaftsansätze der Gegenwart suchen mit mehr

oder minder fixierter Eindeutigkeit, eine Klärung dieses Verhältnisses für sich

bzw. in der Kritik anderer Ansätze zu erreichen. Die Ansatzpunkte einer sol

chen Klärung sind unterschiedlich, da sich je aus der Betrachtung und Bestim

8 Erkenntnisgegenstände sind für das Erkennmissubjekt materielle oder ideelle Gegenstände der

Realität, die im Bewußtsein verarbeitet werden. Es kann auch das eigene Bewußtsein zum Er

kenntnisgegenssand werden.

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mung des Subjekts und/oder der Tätigkeit des Subjekts und/oder der Metho

den der Erkenntnisgewinnung des Subjekts im Verhältnis zum zu bestimmen

den Erkenntnisgegenstand die Zusammenhänge und Fragestellungen wissen

schaftstheoretischer Ansätze entwickeln lassen.

Das Kriteriengerüst dieser Bestimmung auf der einen Seite und die Aussagen,

die in diesem Rahmen gewonnen werden, auf der anderen Seite, das Aussagen-

system des jeweiligen Ansatzes ebenso wie die einzelnen Aussagenelemente in

diesem Zusammenhang, bezeichnen wir hier als Theorie. Eine wissenschaftli

che Theorie, das ist allgemein anerkannt, setzt sich aus Aussagen zusammen.

Umstritten ist in der Wissenschaftstheorie aufgrund der unterschiedlichen Be

wertung des Erkenntnissubjekts, der Erkenntnistätigkeit, der Erkenntnismit

tel und ihres Verhältnisses zum Erkenntnisgegenstand, inwieweit Aussagen

begründet gewonnen werden können oder sollten, welche Reichweite sie bean

spruchen können und wo sie noch wissenschaftlicher oder schon außerwissen

schaftlicher Natur sind.

Das Verhältnis von Erkenntnis Subjekt, Tätigkeit, Mittel und Erkenntnisge

genstand impliziert ein Verhältnis von Bewußtsein und Realität oder von

Theorie und Praxis. Die Realität stellt für den Menschen in dem Moment Pra

zis dar, in dem er mit seinen Handlungen in sie eingreift, sie nach seinen Be

dürfnissen zu formen versucht oder sie in seinen Gedanken mehr oder minder

produktiv verarbeitet. Ein bewußtes Theorie-Praxis-Verhältnis ist für die Er

kenntnis entscheidend vgl. auchAbbildung 2, 5.31: Aussagen der Erkenntnis

Theorie stehen im Zusammenhang mit bestimmten Erkenntnisgegenständen

als Teil der Praxis, als Teil der Wirklichkeit, die dem Menschen zur Lebensbe

wältigung aufgegeben ist. Mit Praxis ist keine bloß direkt praktisch-körperli

che Tätigkeit gemeint, sondern allgemeiner ein handelndes Verhältnis voraus

gesetzt: Erkenntnisgegenstände sind nur dann in Aussagen zu beschreiben,

wenn der Erkennende handelnd auch wenn es nur eine vorwiegend gedankli

che Handlung sein sollte sein Erkenntnisinteresse in ein inhaltlich-aktives

Verhältnis zu einem ausgewählten oder hergestellten Gegenstand setzt.

Dieses Ins-Verhältnis-Setzen bedingt meines Erachtens vier zu beachtende

konstitutive Forschungsdimensionen, die ich weiter unten noch im Rahmen

der Anregung von Fragen zur Entwicklung wissenschaftlicher pädagogischer

Methodologie näher herleiten werde vgl. S. 358ff.:

- die Beschreibung,

- die Erklärung,

- die Entscheidung,

- die tYberprüfung.

Jede wissenschaftliche Methodologie kommt zu einer mehr oder minder aus

geprägten Entfaltung dieser vier Dimensionen. Beschreibungsfragen treten im

Zusammenhang mit der Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Er

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Abbildung 2: Probleme der Bestimmung von Erkenntnis und Erkenntnisgegenstand: Ziele, Strukturen, Bedingungen

Ziel als Bestimmungsproblem:

Die Bestimmung des Verhältnisses von

Subjekt, Tätigkeit und Mittel in einem

theoretischen Ansatz, d. h.

die Entwicklung eines rational begrün

deten Theorie-Praxis-Verhältnisses als

Basis wissenschaftlicher Denkweise

- Theorie im Rahmen der Ziel-

bestimmung:

System von Aussagen bzw. Aussage-

elementen, in denen bestimmte

Sachverhalte oder Umstände u. a.fixiert sind

- Praxis im Verhältnis zur Theorie:

Irgendwie gearteter lebenspraktischer

Zusammenhang, der in einem

Verhältnis zur Theorie steht Problem

der Bestimmung dieses Verhältnisses

Inhalt Voraussetzung als Bestimmungs

problem:

Vier Strukturebenen, die von jedem

theoretischen Ansatz geklärt werden

müssen:

- Beschreibung: Art und Umfang der

Analyse des Erkenntnisgegenstandes

aufgrund theoretischer Bestimmungen

- Erklärung: Mit der Beschreibung

untrennbar verbundene Aussagen zur

Erklärung bestimmter Phänomene

im Zusammenhang mit der Analyse

des Erkenntnisgegenstandes

- Entscheidung: Ableitung von

Handlungen aus theoretischen Aus

sagen die auf irgendeine Art der

Beschreibung/Erklärung zurück

gehen im Rahmen von Wirklichkeits

bezügen

- Überprüfung: Kontrolle von Entschei

dungen im Zusammenhang mit

theoretisch bestimmten Formen der

Beschreibung, Erklärung, Entscheidung

Bedingung Gegenstand als Bestimmungs

problem:

- Bedingungen erkennen!

Aber: Unterschiedliche Strategien

unterschiedlicher theoretischer Ansätze

- Bedingungen erklären und möglichst

Ursachen finden!

Aber: Unterschiedliche Kriterien der

Erklärung bei unterschiedlichen

Ansätzen

- Entscheidungen im Zusammenhang mit

Bedingungen fällen!

Aber: Unterschiedliche Entscheidungs

modelle unterschiedlicher Theorie-

ansätze

- Entscheidungen im Zusammenhang mit

Bedingungen überprüfen

Aber: Unterschiedliche Uberprüfungs

notwendigkeiten und -möglichkeiten

unterschiedlicher Ansätze

PROBLEME DER ZIELBESTIMMUNG STRUKTUREBENEN

der Vermittlung von Zielen und

Bedingungen

PROBLEME DER BEDINGUNGSANALYSE

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kenntnisgegenstand auf. Diese Bestimmung ist zugleich untrennbar mit einer

Erklärung auch wenn diese nicht kausaler Natur ist, sondern nur ein

Glaubenspostulat oder eine Vermutung darstellt verbunden. Durch Beschrei

bung und Erklärung sind Entscheidungsmöglichkeiten im Rahmen des prakti

schen Gegenstandsfeldes vorgezeichnet, abgesteckt bzw. ableitbar. Gerade

solche Ableitungen sind für die Pädagogik als Handlungswissenschaft von

konstitutiver Bedeutung. Jede Entscheidung bedingt als Handlung im pädago

gischen Feld Wirkungen und Ergebnisse, die der Überprüfung im Verhältnis

zur gewählten Theorie bedürfen.

In diesem ersten Punkt soll es insgesamt bei der weiter unten geführten Erörte

rung der hermeneutischen, empirischen und ideologiekritischen Ansätze also

um die allgemeine theoretische Grundlegung Erkenntnis und Erkenntnisge

genstand der einzelnen Theorien in der Pädagogik gehen. In dieser allgemei

nen Grundlegung zeigen sich bestimmte theoretische Prinzipien und Prämis

sen, die den Theorien einen gewissen inneren Zusammenhalt geben. Um die

gezielte Erörterung der Spezifik dieses jeweiligen Zusammenhalts soll es dann

näher im folgenden zweiten Punkt gehen, wobei als Weiterleitung das Allge

meine auf das Besondere geführt wird und ausgewählte Probleme der metho

dologischen Begründung der einzelnen Wissenschaftsansätze in der konkreten

Methodologie der jeweiligen Ansätze näher zur Erörterung gestellt werden.

1.2. Methodologische Grundlagen

Wenn bestimmte erkenntnisleitende Interessen des Erkennens der Wirklich

keit immer in der mehr oder minder systematisch geleisteten oder zu leistenden

Klärung des Standpunktes in bezug auf das Subjekt, die Tätigkeit und Metho

den der Erkenntnis und zugleich im Hinblick auf einen Erkenntnisgegenstand

bestimmt werden, also eine Theorie und innerhalb dieser eine Methodologie

gebildet wird, kommt es im Zusammenhang damit auch darauf an - um die

Wissenschaftlichkeit und Handlungssubstanz der Einsicht oder des Verständ

nisses nachdrücklich zu sichern -, einen mehr oder minder eindeutigen und

notwendigen konstanten Methodenbezug zwischen der Theorie und der er

strebten Erkenntnis bzw. dem zur Analyse anstehenden Gegenstand zu ent

wickeln. Dieser Bezug dient dazu, das Verhältnis von theoretischer Bestimmt

heit und durch die Theorie erfaßter Wirklichkeit zu konkreten Ergebnissen

voranzutreiben, ein Problem, das in der Gegenwart besonders in der Bestim

mung des Verhältnisses von Theorie und Empirie in den einzelnen Wissen

schaftsansätzen zur Klärung ansteht. Jeder Theorie ist ein Verhältnis zur Wirk

lichkeit und Praxis, d.h. in konkreter Einschränkung auch zu dem von ihr er

forschten Gegenstand, zu eigen. Dies gilt nicht nur für bestimmte Theorien,

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die empirische Verfahren benutzen oder als alleinige Erklärungsbasis behaup

ten, sondern auch für jene Theorien, die nur theoretisch-spekulativ zu sein

scheinen und die kein streng empirisches Kriterium als Uberprüfungsnachweis

des eigenen Anspruches darlegen. Denn für diese Theorien gilt ja nur, daß sie

nicht direkt empirisch überprüft werden können, was nicht unbedingt zu La

sten der Theorie gehen muß, sondern auch zu Lasten der unzulänglichen Mög

lichkeiten empirischer Uberprüfung gehen könnte.

In der Bestimmung des Verhältnisses von Theorie und Praxis im weiteren Sinne

werden die theoretischen Standpunkte, Leitwerte, Normen, Werturteile und

dergleichen mehr sichtbar, die insgesamt die Methoden der Erkenntnisgewin

nung einer bestimmten Theorie steuern. Die Gesamtheit dieser Steuerungszu

sammenhänge und -elemente im Rahmen einer Theorie ist die Methodologie.

Sie bezeühnet nicht nur, wie ein bestimmter Gegenstand im Rahmen einer be

stimmten Theorie erforscht werden soll, sondern auch, warum welcher Gegen

stand im Rahmen dieser Theorie zur Erforschung gelangt. Methodologische

Probleme einer Theorie sind also jene metatheoretischen: gleich Theorie der

Theorie über bestimmte Gegenstände Probleme, die aussagen sollen, warum

und in welcher Weise und Reichweite Erkenntnisse in der Theorie gewonnen

werden können. Sie stellen die Triebkraft, den Antrieb jeder Theorie und zu

gleich den Schlüssel zum Verständnis der Theorie dar.

Die Theorie ist gegenüber der Methodologie allerdings nicht ein Inhalt gegen

über einer bloßen Form, weil die Inhalte der Methodologie selbst theoretisch

inhaltlich relevant sind. Die Methodologie selbst ist andererseits nicht mital

len Inhalten einer Theorie identisch, da sie in erster Linie Inhalte hervorbringen

soll, da in ihr theoretisch jene Kriterien entfaltet werden, die dem Forscher sa

gen, wie er seine inhaltlichen Aussagen gewinnen kann, die in ihrer geordneten

Gesamtheit dann das ausmachen, was er Theorie nennen wird. Die Methodo

logie eines Ansatzes bildet das Zentrum aller in diesem Ansatz angewandten

oder anwendbaren Methoden der Erkenntnisgewinnung bzw. -überprüfung

und -bestimmung. Durch sie wird daher die Aussagengewinnung, -überprü

fung und -bestimmung des Ansatzes gesteuert. In ihr sind jene Methoden ent

halten, mit denen jeder wissenschaftliche Ansatz auf seine Art versucht, die

Dimensionen der Beschreibung, Erklärung, Entscheidung und Überprüfung

ausgewählter Erkenntnisgegenstände zu erfassen und theoretisch zu entwik

keIn.

So gesehen werden für die Methodologie der einzelnen pädagogischen Ansätze

Fragen aufzuwerfen sein: Welches methodologische Potential stellen der her

meneutische, der empirische und der ideologiekritische Ansatz dar? Wie wird

in den Ansätzen das Verhältnis von theoretischem Anspruch und Erkenntnis

methodologie, die bestimmte Erkenntnismethoden hervorbringt, entwickelt?

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1.3. Methodologische Grundlagen in praktischer Wendung

Eine Methodologie hat vor allem im Rahmen der Entscheidungs- und Ergeb

nisdimension Überprüfung enorme praktische Bedeutung. In jeder Theorie

dient die Methodologie der ständigen Sicherung der Erkenntnisgewinnung

nach festgelegten Kriterien, sie muß also intersubjektiv übertragbar sein, um in

Entscheidungsprozessen in der Praxis von jedermann benutzt werden zu kön

nen, der in sie eingeführt wurde und sie hinreichend beherrscht. Dabei muß

nicht immer eine ganze Theorie mit all ihren inhaltlichen Verästelungen be

kannt sein oder beherrschtwerden, sondern die Anwendung der Methodologie

als Regulation des gezielten Einsatzes wissenschaftlicher Methoden ist oft

ausreichend zur Steuerung des Handelns gemäß den Prinzipien der Theorie,

das Handeln selbst ruft in seinen Ergebnissen neue Inhalte der Theorie hervor

oder bestätigt bereits bekannte 9. Andererseits könnte sich so auch erweisen,

daß bestimmte Inhalte der Theorie in der Praxis nicht oder anders auftreten, als

zunächst vermutet wurde, daß die Theorie korrigiert werden muß, daß sie

nicht in praktische Handlungen umgesetzt werden kann oder daß der durch sie

erzielte Handlungserfolg negativ zu beurteilen ist 10* Jedoch gerade hier ist es in

der Wissenschaftstheorie wieder äußerst umstritten, was als Handlungserfolg

gelten kann und was nicht. Besonders die Ideologiekritiker stellen immer wie

der Handlungserfolge in Frage: Eine wie auch immer erfolgreiche Handlung

müsse auch in ihrem sozialen Kontext und ihrer funktionalen Wirkung gegen

über den gesellschaftlichen Verhältnissen beurteilt werden.

Im Rahmen dieses dritten Punktes soll weiter unten für die hermeneutischen,

empirischen und ideologiekritischen Ansätze in der Erziehungswissenschaft

das Theorie-Praxis-Verhältnis näher reflektiert werden. Dabei treten nicht nur

theoretisch-immanente methodologische Probleme auf, besonders gesell

schaftliche Wirkungen der einzelnen Ansätze im Rahmen funktionaler und die

Theorieimmanenz übersteigender sozial-kultureller Zusammenhänge müssen

bedacht werden. Sehr oft beginnt die Kritik an einem wissenschaftstheoreti

schen Ansatz gerade an dieser Stelle: Seine funktionale Wirkung gegenüber ge

Im Rahmen pädagogischer Methodologie setzte Paul HEIMANN 1976 mit seiner "Didaktik als

Theorie und Lehre" diesbezüglich ein eindrucksvolles Beispiel. Vgl. dazu auch REICH 1977.10 Dies beinhaltet allerdings meist eine besondere Problematik: Die je gewählte Methodologie gibt

die allgemeinen Regeln an, nach denen Forschung ins Rahmen eines theoretischen Ansatzes

durchgeführt werden soll. Aus der Sicht der gewählten Methodologie können zwar unterschiedli

che Ergebnisse erzielt werden, aber welche Ergebnisse auch immer erzielt werden sollten, die ge

wählte Methodologie wird durch die Forschungsarbeit nur dann trnsthaft kritisch berührt, wenn

sie bewußt verändert wird. Diese Veränderung aber setzt einen Bewußtseinshorizont voraus, der

die alte Methodologie übersteigen müßte. Methodologien werden deshalb meistens aufgrund von

Kontroversen mit methodologischen Gegnern geändert. Daher sind methodologische Kontrover

sen äußerst produktiv und unumgänglich für die Wissenschaftsentwicklung.

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seilschaftlichen Herrschaftsformen und Normen scheint den wesentlichen An

satzpunkt zur Kritik hervorzubringen, ein Ansatz sei nicht mehr zeitgemäß, er

hemme die Entwicklung, er stehe gegen die Gesellschaft und ihre Normen usf.;

das sind immer wiederkehrende Kritikformen an wissenschaftstheoretischen

Ansätzen. Die Notwendigkeit der Funktions- und Normenkritik der prakti

schen Seite jeder Theorie und welche Theorie ist nicht in irgendeiner Form

praktisch? ist wissenschaftstheoretisch kaum umstritten; strittig ist jedoch die

Art und Weise, in der diese Kritik überhaupt durchführbar erscheint. Läßt sich

ein wissenschaftstheoretischer Ansatz, so lautet die zentrale Frage immer wie

der, hinreichend im Zusammenhang mit seiner gesellschaftlichen Funktion kri

tisieren und konstruktiv überwinden? Und: Bleiben trotz der Kritik jene Aus

sagen des Ansatzes erhaltbar, die auch heute noch einen nicht ausgeschöpften

Erkenntnisgewinn über bestimmte Erkenntnisgegenstände zu versprechen

scheinen? Und den jeweiligen Kritiker betreffend: Ist er sich seiner Funktion

und der Normen seiner Kritik im Zusammenhang mit bestehenden oder von

ihm erstrebten Herrschaftsformen bewußt? Vgl. auch Abbildung 3, 5. 36.

Diesbezüglich werden für die einzelnen methodologischen Ansätze in der Päd

agogik Fragen aufzuwerfen sein: In welchem gesellschaftlichen Wirkungszu

sammenhang stehen der hermeneutische, der empirische und der ideologiekri

tische Ansatz, und wie wird dieser Zusammenhang von ihnen 1

Kann eine Kritik der einzelnen Ansätze aus der gesellschaftlichen Funktion

hergeleitet werden, welche Ergebnisse bringt sie hervor, und wie ist die Kritik

der Kritiker motiviert?

1 Der gesellschalitliche Wirkungszusammenhang kann in dieser Arbeit allerdings nur bescbeiden

angemerkt, nicht aber differenziert analysiert werden. Gerade dies aber wäre für die weitere Ent

wicklung der Erziehungawissenscbaft in veratärkum Maße zu wünschen. Eine Sozialgeschichte

der Erziehung hätte zunächst gewisse Knotenstellen der Erziebungspraxis und Theorienbildung

in Pbasen geaellscbaftlicher Ubergänge zu untersucben, um auch für unsere Gegenwart Zusam

menhänge von Gesellschaft und Erziehung näher von der Ursprungs- und Entwicklungslage her

begreiflich zu machen. Dies gilt umso mehr, da unsere Bildungspolitik oft nur Ausdruck aktueller

politisch-ökonomischer Orientiemngen ist und langfristige Planungen eber vermeidet.

In dieser Arbeit dominiert demgegenüber eine systematische Betrachtung. Dies ergibt sich auS

dem beschränkten Erkenntnisinteresse, das sich zunächst auf die methodologische Problemlage

richtet, um hierüber Bezugspunkte weiterer Entwicklung anzuregen.

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Page 16: 1. Klassische methodologischeAusgangspunkte: Hermeneutik ... · unddas Experiment, umeine reale Erfahrungsbasis seiner Anschauungenzu gewinnenundintersubjektive Uberprüfbarkeit an

Erkennen ist immer auch individuelles

Erkennen

Welche Folgen hat das u. a. für die

Erkenntniskompetenz?

Erkennen ist immer auch an den Stand

gesellschaftlicher vermittelter

Erkenntnis gebunden

Erkennen ist eine Tätigkeit, die

räumlichen, zeitlichen und subjektiven

Dimensionen unterliegt

Welche Funktionen werden u. a.

1 sichtbar?

Erkennen ist eine Tätigkeit, die in den

räumlichen, zeitlichen und sozialen

Strukturen einer Gesellschaft abläuft

Erkennen ist an bestimmte Methoden

oder Mittel gebunden, die das Subjekt in

seiner Tätigkeit anwendet

Wie entsteht u. a. Kritik?

Erkennen ist an die Methoden oder

Mittel gebunden, die Subjekte in

ihrer Tätigkeit in einer bestimmten

historisch-konkreten Gesellschaft

anwenden

AbbÜdun 3: Probleme der individuellen und gesellschaftlichen Praxis im Zusammenhang der Analyse von Erkenntnis

und Erkenntnisgegenstand

Erkenntnissubjekt Erkenntnistätigkeit Erkenntnismittel

ctCD

CD

CoCD0,

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