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LINDA HOWARD Mörderische Küsse

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LINDA HOWARD

Mörderische Küsse

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Buch

Sie ist effizient, professionell und ohne falsche Skrupel: Lily Mans-field ist die Frau für höchstgefährliche Einsätze in einer verdeckt ar-beitenden Spezialeinheit der CIA. Ihre Zielpersonen: Täter, dieSelbstjustiz geübt haben, weil man sie über den Tisch gezogen hat,Delinquenten, die sich auf Gesetzeslücken spezialisiert haben, oder

solche, die betrogen wurden und nun auf Rache sinnen.Doch eines Tages wird Lily selbst an ihrer Achillesferse getroffen:Während sie gerade einen waghalsigen Geheimauftrag erfüllt, wirdihre Adoptivtochter zusammen mit dem sie betreuenden Ehepaar er-mordet. Lily ist außer sich und will die Mörder auf eigene Faust stel-len. Das missfällt allerdings ihren Vorgesetzten, die befürchten, dassLily unvorsichtig handeln und dadurch die ganze Einheit in Gefahr

bringen könnte.Sie schicken einen Kollegen los – Lucas Swain, der erkennt, dass Lilytraumatisiert ist und sich daher viel zu großer Gefahr aussetzt. Er hatden Auftrag, Lily vor sich selbst zu schützen und sie notfalls aus demVerkehr zu ziehen. Aber Lily ist ein Racheengel, der kein bisschenLust hat, sich die Flügel stutzen zu lassen. Schon gar nicht von diesem

unverschämt attraktiven Lucas …

Autorin

Linda Howard hat sich mit ihren historischen und modernen Roma-nen, die mehrfach ausgezeichnet wurden, eine riesige Fangemeindeerobert und weltweit mehr als fünf Millionen Exemplare verkauft. Sielebt als freie Schriftstellerin mit ihrem Mann auf einer Farm bei

Alabama.

Als Blanvalet Taschenbuch von Linda Howard lieferbar:

Auch Engel mögen’s heiß (35778) – Gefährliche Begegnung (35731) –Mister Perfekt (35700) – Vor Jahr und Tag (35152) – Wie Tau auf mei-ner Haut (35036) – Ein tödlicher Verehrer (35916) – Ein gefähr-

licher Liebhaber (36008) – Heiße Spur (35967)

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Linda Howard

Mörderische KüsseRoman

Aus dem Amerikanischenvon Christoph Göhler

BLANVALET

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Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

Der Blanvalet Verlag ist ein Unternehmender Verlagsgruppe Random House.

1. AuflageDeutsche Erstveröffentlichung April 2005

Copyright © der Originalausgabe 2004 by Linda HowingtonCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005

by Blanvalet Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: ifa Judith RothenbuschLW · Redaktion: Ilse Wagner

Satz: deutsch-türkischer fotosatz, BerlinDruck: GGP Media GmbH, Pößneck

Verlagsnummer: 35968Herstellung: Heidrun Nawrot

Made in GermanyISBN 3-442-35968-6

www.blanvalet-verlag.de

Die Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel»Kiss me While I Sleep« bei Ballentine Books, New York.

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Paris

Lily neigte den Kopf und lächelte ihren Begleiter SalvatoreNervi an, während ihr der Ober schweigend und mit voll-endeter Eleganz einen Stuhl am besten Tisch im Restaurantherauszog; zumindest ihr Lächeln war echt, wenn schonsonst so gut wie nichts an ihr echt war. Das blasse Eisblauihrer Augen wurde von farbigen Kontaktlinsen zu einemweichen Haselnussbraun erwärmt; ihr blondes Haar warzu einem vollen Nerzbraun abgedunkelt und mit dezentenHighlights durchsetzt. Sie frischte den Haaransatz alle paarTage auf, damit sich kein verräterisches Blond zeigen konn-te. Für Salvatore Nervi hieß sie Denise Morel, ein Nachna-me, der aufgrund der zahlreichen Morels in Frankreichnicht allzu außergewöhnlich, aber auch nicht so gewöhn-lich war, dass er unterbewusst Alarm ausgelöst hätte. Salva-tore Nervi war von Natur aus misstrauisch, ein Charakter-zug, der ihm schon so oft das Leben gerettet hatte, dass erdas Zählen wahrscheinlich längst aufgegeben hatte. Aberwenn heute Abend alles glatt ging, würde sie ihn trotzdemzu packen kriegen – und zwar an seinem Schwanz. Was füreine Ironie.

Ihre selbst fabrizierte Vergangenheit reichte nur ein paarSchichten tief; mehr hatte sie in der kurzen Zeit nicht prä-parieren können. Sie hatte einfach darauf gesetzt, dass erseine Leute nicht allzu tief graben lassen und nicht die Ge-

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duld aufbringen würde, alle Ergebnisse abzuwarten, ehe erzur Tat schritt. Normalerweise übernahm es die Zentrale inLangley, sie mit einer fiktiven Vergangenheit zu versehen,aber diesmal war sie auf sich allein gestellt. Sie hatte in derknappen Zeit, die ihr zur Verfügung stand, ihr Bestes ver-sucht. Wahrscheinlich wühlte Rodrigo, Salvatores ältesterSohn und die Nummer zwei im Nervi-Clan, immer noch;ihr blieb nicht allzu viel Zeit, bis er erkennen musste, dassdiese geheimnisvolle Denise Morel vor wenigen Monatenaus dem Nichts aufgetaucht war.

»Ah!« Salvatore ließ sich mit einem zufriedenen Seufzenin seinen Stuhl zurücksinken und erwiderte ihr Lächeln. Erwar ein gut aussehender Mann von Anfang fünfzig undvom Aussehen her ein typischer Italiener mit glänzendem,dunklem Haar und flinken, dunklen Augen über einemsinnlichen Mund. Er legte großen Wert darauf, in Form zubleiben, und hatte noch kein einziges graues Haar – entwe-der das, oder er war genauso geschickt im Auffrischen wiesie. »Sie sehen heute Abend besonders bezaubernd aus;habe ich Ihnen das schon gesagt?«

Auch sein Charme war klassisch italienisch. Zu dumm,dass er ein kaltblütiger Killer war. Na ja, das war sie auch.Darin waren sie einander ebenbürtig, wobei sie allerdingshoffte, dass sie sich nicht genau ebenbürtig waren. Ein Vor-teil, so klein er auch sein mochte, käme ihr sehr gelegen.

»Das haben Sie«, antwortete sie mit warmem Blick. Siesprach mit Pariser Akzent, den sie lang und mühsam ein-studiert hatte. »Nochmals vielen Dank.«

Der Geschäftsführer des Restaurants, M. Durand, kaman ihren Tisch und verneigte sich höflich. »Es ist mir eineEhre, Sie wieder bei uns begrüßen zu dürfen, Monsieur. Ichhabe eine sehr gute Nachricht für Sie: Es ist uns gelungen,eine Flasche 82er Château Maximilien zu erstehen. Sie ist

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gestern eingetroffen, und ich habe sie sofort beiseite gelegt,als ich Ihren Namen auf der Gästeliste sah.«

»Exzellent!« Salvatore strahlte vor Glück. Der 82er Bor-deaux war ein außergewöhnlicher Jahrgang, von dem nurnoch wenige Flaschen im Umlauf waren. Und für diese we-nigen Flaschen wurden exorbitante Preise verlangt. Salva-tore war Weinkenner und bereit, für einen seltenen Weinfast jeden Preis zu zahlen. Damit nicht genug, er war einechter Weinliebhaber; wenn er einen guten Wein trank, ze-lebrierte er jeden Schluck, indem er in den höchsten Tönenvon dem Bukett und den verschiedenen Aromen schwärm-te. Er strahlte Lily glückselig an. »Dieser Wein ist das reins-te Ambrosia; Sie werden sehen.«

»Wohl kaum«, erwiderte sie gelassen. »Mir hat noch keinWein geschmeckt.« Von Anfang an hatte sie klar gemacht,dass sie mit ihrer Abneigung gegen jeden Wein eine rechtuntypische Französin war. Ihre Geschmacksnerven warengeradezu schändlich plebejisch. In Wahrheit hatte Lilynichts gegen ein Glas Wein einzuwenden, aber wenn sie mitSalvatore zusammen war, war sie nicht Lily; dann war sieDenise Morel, und Denise trank ausschließlich Kaffee oderMineralwasser.

Salvatore lachte leise und sagte: »Wir werden sehen.«Trotzdem bestellte er einen Kaffee für sie.

Dies war ihr dritter Abend mit Salvatore; sie hatte sichvom ersten Moment an deutlich mehr geziert, als ihm liebwar, und ihn zweimal abblitzen lassen, ehe sie auch nur mitihm ausgegangen war. Es war ein kalkuliertes Risiko gewe-sen, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Salvatore war es ge-wohnt, dass die Menschen seine Nähe, seine Gunst such-ten; dass ihn jemand abwies, war er ganz und gar nicht ge-wohnt. Ihr scheinbares Desinteresse hatte im Gegenzugsein Interesse gesteigert, denn so war das bei allen mächti-

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gen Menschen: Sie erwarteten, dass ihre Mitmenschen umsie buhlten. Außerdem war Denise Morel nicht gewillt, sichseinem Geschmack anzupassen, wie zum Beispiel beimWein. Bei ihren beiden vorangegangenen Treffen hatte er je-des Mal versucht, sie zu einem Schlückchen Wein zu über-reden, aber sie hatte sich eisern verweigert. Weil er noch niemit einer Frau zusammen gewesen war, die nicht automa-tisch versucht hatte, ihm zu gefallen, reizte ihn ihre reser-vierte Art umso mehr.

Lily konnte es nur mit Mühe ertragen, in seiner Nähe zusein, ihn anzulächeln, mit ihm zu plaudern, seine beiläufi-gen Berührungen zu erdulden. Meist schaffte sie es, ihrenGroll im Zaum zu halten, indem sie sich ausschließlich aufihren Plan konzentrierte, aber manchmal wurde ihr vorZorn und Schmerz richtig speiübel, sodass sie sich nur mitgrößter Mühe beherrschen konnte und ihm am liebsten mitbloßen Händen an die Gurgel gegangen wäre.

Wenn sie gekonnt hätte, hätte sie ihn einfach abgeknallt,aber Salvatore wurde professionell abgeschirmt. Sie wurderegelmäßig von Kopf bis Fuß abgetastet, bevor man sie zuihm ließ; die beiden ersten Male hatten sie sich bei gesell-schaftlichen Anlässen getroffen, wo alle Gäste vorsorglichdurchsucht worden waren. Niemals stieg Salvatore im Frei-en in ein Auto; das Auto wurde stets unter ein schützendesVordach gefahren, bevor Salvatore aus dem Haus trat, under fuhr nirgendwohin, wo er ungeschützt aus dem Wagensteigen musste. Im Zweifelsfall fuhr er eben nicht. Lily warsicher, dass es in seinem Haus in Paris einen geschütztenGeheimausgang gab, durch den er ungesehen verschwindenkonnte, aber falls dem so war, dann hatte sie ihn noch nichtentdeckt.

Dieses Restaurant zog er allen anderen vor, weil es hiereinen überdachten Seiteneingang gab, der von fast allen

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Gästen benutzt wurde. Außerdem war es ein höchst exklu-sives Lokal; die Warteliste war lang und wurde kaum je be-rücksichtigt. Die Gäste zahlten gut, um ungestört an einemsicheren Ort speisen zu können, und der Geschäftsführerscheute keine Mühe, um ihre Sicherheit zu gewährleisten.So gab es beispielsweise keine Fenstertische; stattdessenwaren in allen Fensterlaibungen Blumenkästen aufgestellt.Überall im Essbereich erhoben sich gemauerte Säulen, diealle Sichtachsen von den Fenstern aus zerteilten. Die At-mosphäre war gleichzeitig gemütlich und nobel. Ein Ge-schwader schwarz befrackter Kellner schwebte zwischenden Tischen herum, füllte Wein nach, leerte Aschenbecher,fegte Krümel zusammen und erfüllte möglichst jedenWunsch, noch bevor er ausgesprochen war. Draußen reih-ten sich am Straßenrand die Limousinen mit verstärktenStahltüren, kugelsicheren Scheiben und gepanzerten Un-terböden. In den Autos saßen bewaffnete Leibwächter, diemit scharfem Blick die Straße und die Fenster der umlie-genden Gebäude beobachteten, ob von dort Gefahr drohte,real oder imaginär.

Die sicherste Methode, dieses Restaurant und all seine be-rüchtigten Gäste auszuradieren, wäre eine ferngelenkte Ra-kete gewesen. Alles mit einem kleineren Kaliber erforderteeine große Portion Glück und war bestenfalls unberechen-bar. Zu schade, dass sie keine ferngelenkte Rakete besaß.

Das Gift war in dem Bordeaux, der gleich serviert wür-de, und es war so stark, dass schon ein halbes Glas Weintödlich wirkte. Der Geschäftsführer hatte keine Mühe ge-scheut, diesen Wein für Salvatore zu besorgen, und Lilyhatte keine Mühe gescheut, die Flasche vor ihm in die Handzu bekommen und dafür zu sorgen, dass M. Durand davonerfuhr. Erst als sie sicher gewesen war, dass sie und Salvato-re hier speisen würden, hatte sie die Flasche liefern lassen.

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Salvatore würde bestimmt versuchen, sie zu einem Gläs-chen Wein zu überreden, aber er würde nicht ernsthaft da-mit rechnen, dass er Erfolg haben würde.

Dafür rechnete er wahrscheinlich sehr wohl damit, dasssie heute Nacht sein Bett teilte, aber auch darin würde er einweiteres Mal enttäuscht werden. Ihr Hass war so ätzend,dass sie sich kaum überwinden konnte, seine Küsse zu er-tragen und mit gespielter Erregung auf seine Berührungenzu reagieren. Um keinen Preis der Welt würde sie ihn nochnäher an sich heranlassen. Außerdem wollte sie nicht in sei-ner Nähe sein, wenn das Gift zu wirken begann, was vierbis acht Stunden nach der Einnahme geschehen würde,wenn Dr. Speer richtig geschätzt hatte; bis dahin wollte siemöglichst schon außer Landes sein.

Bis Salvatore merkte, dass etwas nicht stimmte, wäre esbereits zu spät; bis dahin hätte das Gift bereits seine Wir-kung entfaltet, seine Nieren und die Leber zerstört und dasHerz angegriffen. Er würde an mehrfachem massivem Or-ganversagen krepieren. Vielleicht hätte er noch ein paarStunden zu leben, möglicherweise sogar einen vollen Tag,bevor sein Körper endgültig den Geist aufgeben würde.Rodrigo würde ganz Frankreich durchkämmen lassen, umDenise Morel aufzuspüren, aber die hätte sich in Luft auf-gelöst – zumindest vorübergehend. Sie hatte keineswegsvor, unsichtbar zu bleiben.

Gift war normalerweise nicht das Mittel ihrer Wahl;dazu hatte sie Salvatores Sicherheitsfanatismus gezwungen.Am liebsten setzte sie die Pistole ein, und das hätte sie so-gar getan, auch wenn sie gewusst hätte, dass sie daraufhinselbst niedergeschossen worden wäre, aber sie hatte keineMöglichkeit gesehen, mit einer Waffe nahe genug an ihn he-ranzukommen. Wenn sie nicht allein gearbeitet hätte, dannvielleicht … aber vielleicht auch nicht. Salvatore hatte schon

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mehrere Attentate überlebt und aus jedem eine Lehre gezo-gen. Nicht einmal ein Scharfschütze konnte ihn ins Visiernehmen. Wenn sie Salvatore Nervi umbringen wollte,musste sie entweder Gift einsetzen oder eine Waffe mitenormer Sprengkraft, die auch die Menschen in seiner Um-gebung töten würde. Lily hätte keine Skrupel gehabt, Rod-rigo oder irgendeinen anderen aus Salvatores Organisationins Jenseits zu befördern, aber Salvatore war schlau genug,sich immer auch mit Unschuldigen zu umgeben. So gewis-senlos und unterschiedslos zu morden brachte Lily nichtfertig; darin unterschied sie sich von Salvatore. Vielleichtwar es der einzige Unterschied, aber diesen Unterschiedmusste sie um jeden Preis bewahren, wenn sie nicht denVerstand verlieren wollte.

Sie war siebenunddreißig. Sie arbeitete in diesem Job,seit sie achtzehn war, damit war sie über die Hälfte ihresLebens eine Auftragsmörderin gewesen, und zwar eineverdammt gute, sonst hätte sie in diesem Geschäft nicht solange überlebt. Anfangs war ihre Jugend von Vorteil gewe-sen: Sie hatte so frisch und unschuldig gewirkt, dass nie-mand sie als Bedrohung wahrgenommen hatte. DiesenVorteil hatte sie nicht mehr, aber das machte sie durch ihreErfahrung wett. Allerdings zehrte die Erfahrung auch anihr, weshalb sie sich manchmal spröde wie eine ange-knackste Eierschale fühlte; ein letzter Schlag, und sie wür-de zerbrechen.

Falls sie nicht bereits zerbrochen war und es nur nochnicht gemerkt hatte. Sie wusste, dass sie sich fühlte, als wäreihr nichts mehr geblieben, als wäre ihr Leben eine öde Wüs-te. Nur ein einziges Ziel stand ihr noch vor Augen: Salvato-re Nervi sollte untergehen, und mit ihm seine ganze Orga-nisation. Er war der erste, der wichtigste Punkt auf ihrerListe, denn er hatte den Befehl gegeben, die Menschen um-

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zubringen, die sie mehr liebte als alle anderen. Dieses Zielwar so übermächtig, dass sie nichts anderes mehr sehenkonnte, keine Hoffnung, kein Lachen, keinen Sonnen-schein. Dass sie ihre selbst gestellte Aufgabe wahrscheinlichmit dem Leben bezahlen würde, zählte kaum.

Das bedeutete aber nicht, dass sie einfach aufgeben wür-de. Sie spürte keine Todessehnsucht; im Gegenteil, ihre Be-rufsehre gebot, dass sie nicht nur ihren Job erledigte, son-dern auch noch damit durchkam. Und in ihrem Herzenflackerte immer noch die allzu menschliche Hoffnung,dass sie nicht nur überleben, sondern dass eines Tages die-ser namenlose Schmerz nachlassen und sie wieder Freudeam Leben finden würde. Die Hoffnung war nur eine klei-ne Flamme, aber sie leuchtete hell. Lily vermutete, dass esgenau diese Hoffnung war, weswegen die meisten Men-schen selbst im Angesicht nackter Verzweiflung unver-drossen weiterrackerten, weswegen so wenige tatsächlichaufgaben.

Trotzdem machte sie sich keine Illusionen über dieSchwierigkeiten bei ihrem Vorhaben und über ihre Überle-benschancen währenddessen und danach. Nachdem siediesen Job erledigt hätte, würde sie spurlos verschwindenmüssen, vorausgesetzt, sie war dann noch am Leben. DieSchreibtischhengste in Washington wären bestimmt nichtbegeistert, wenn sie Nervi abservierte. Nicht nur Rodrigowürde nach ihr suchen, sondern auch ihre eigenen Leute,und sie wusste nicht, ob es einen Unterschied machte, wersie letztendlich aufspürte. Sie hatte sozusagen die schüt-zende Hand abgeschüttelt, und das bedeutete, dass sie nichtnur entbehrlich war – das war sie immer gewesen –, son-dern dass man kein Interesse mehr an ihrem Weiterlebenhatte. Alles in allem eine eher unerfreuliche Situation.

Nach Hause konnte sie auf keinen Fall, und das nicht

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nur, weil sie längst kein Heim mehr hatte. Sie durfte ihreMutter und Schwester nicht in Gefahr bringen, von der Fa-milie ihrer Schwester ganz zu schweigen. Außerdem hattesie seit zwei, drei Jahren nicht mehr mit ihren Verwandtengesprochen … nein, inzwischen waren mindestens vier Jah-re vergangen, seit sie zum letzten Mal mit ihrer Mutter te-lefoniert hatte. Oder fünf. Sie wusste, dass alle wohlauf wa-ren, weil sie sich regelmäßig darüber informierte, aber dienackte Wahrheit war, dass sie nicht mehr in jene Welt gehör-te und dass ihre Mutter und Schwester Lilys Welt genausowenig verstehen würden. Gesehen hatte sie ihre Verwand-ten seit einem knappen Jahrzehnt nicht mehr. Sie gehörtendem »Zuvor« an, während sie selbst unwiderruflich im»Danach« lebte. Ihre Freunde in der Firma waren ihre neueFamilie gewesen – und die hatte man abgeschlachtet.

Von jenem Zeitpunkt an, als sich herumgesprochen hat-te, dass Salvatore Nervi hinter dem Tod ihrer Freundesteckte, hatte sie sich nur noch auf ein einziges Ziel kon-zentriert: Salvatore so nahe zu kommen, dass sie ihn tötenkonnte. Er hatte kein Hehl daraus gemacht, dass er denMord befohlen hatte; stattdessen hatte er die Tat dazu ge-nutzt, allen vor Augen zu führen, dass man ihm bessernicht in die Quere kam. Die Polizei brauchte er nicht zufürchten; dank seiner zahlreichen Verbindungen war er vondieser Front her nicht angreifbar. Salvatore hatte nicht nurin Frankreich, sondern in ganz Europa so viele einflussrei-che Menschen in der Hand, dass er tun und lassen konnte,was ihm gerade einfiel.

Ihr wurde bewusst, dass Salvatore etwas zu ihr gesagthatte und sie jetzt verärgert ansah, weil sie ihm so offen-sichtlich nicht zugehört hatte. »Verzeih mir«, entschuldig-te sie sich. »Ich mache mir Sorgen um meine Mutter. Sie hatheute angerufen und mir erzählt, dass sie die Treppe hinun-

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tergefallen ist. Sie behauptet, sie hätte sich nichts getan,aber ich glaube, ich sollte mich selbst davon überzeugen. Sieist schließlich schon über siebzig, und alte Leute brechensich leicht etwas, nicht wahr?«

Es war eine gewitzte Lüge, und das nicht nur, weil sie tat-sächlich gerade an ihre Mutter gedacht hatte. Salvatore warItaliener bis ins Mark; er hatte seine Mutter abgöttisch ver-ehrt und besaß einen ausgeprägten Familiensinn. Umge-hend sah er sie bestürzt an. »Aber natürlich musst du zu ihr.Wo lebt sie denn?«

»In Toulouse.« Die Stadt lag in Südfrankreich und damitso weit wie möglich von Paris entfernt. Falls Salvatore sei-nem Sohn von ihrer Mutter in Toulouse erzählen sollte,konnte sie sich damit ein paar Stunden erkaufen, währendRodrigo den Süden nach ihr durchkämmte. Natürlich wares genauso gut möglich, dass Rodrigo annahm, sie hätteToulouse nur erwähnt, um ihn in die Irre zu führen; ob ihrPlan aufging oder nicht, war ein Schuss ins Blaue. Sie hattekeine Zeit vorauszuberechnen, mit welchen Winkelzügenihr Gegner auf ihre eigenen Winkelzüge reagieren würde.Sie würde einfach ihrem Plan folgen und darauf bauen, dasser funktionierte.

»Wann kommst du zurück?«»Übermorgen, vorausgesetzt, ihr ist nichts passiert. An-

dernfalls –« Sie zuckte die Achseln.»Dann müssen wir diese Nacht bis zur Neige auskos-

ten.« Das Glühen in seinen dunklen Augen verriet nur zudeutlich, woran er dabei dachte.

Sie verstellte sich nicht. Stattdessen wich sie kaum merk-lich zurück und zog die Brauen hoch. »Vielleicht«, meintesie kühl. »Vielleicht auch nicht.« Ihr Tonfall ließ erkennen,dass sie nicht allzu scharf darauf war, mit ihm zu schlafen.

Wenn überhaupt, dann heizte ihre Abfuhr sein Interesse

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zusätzlich an; sofort glühten seine Augen noch intensiver.Vielleicht erinnerte ihn ihr Zögern an seine unbeschwerteJugendzeit, als er seine inzwischen verstorbene Gemahlinumworben hatte, die Mutter seiner Kinder. Zu seiner Zeithatten die jungen Italienerinnen ihre Tugend noch sorgsamgehütet; möglicherweise war das auch heute noch so, daswusste sie nicht. Sie hatte kaum Kontakt zu jungen Frauenaus irgendeinem Land.

Zwei Ober kamen an ihren Tisch, von denen einer die be-stellte Weinflasche präsentierte wie eine kostbare Trophäe,während der andere ihren Kaffee servierte. Sie lächelte zumDank, als der Kaffee vor ihr abgestellt wurde, und war danndamit beschäftigt, dicke Sahne in ihre Tasse zu gießen,scheinbar ohne Salvatore zu beachten, für den der andereOber mit großen Gesten die Flasche entkorkte und dannden Korken zum Beriechen hinhielt. In Wahrheit richtetesie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Flasche und dasbalzartige Ritual, das vor ihr aufgeführt wurde. Weinken-ner machten ein großes Getue um dieses Ritual; ihr persön-lich war es völlig egal. Einschenken und Austrinken warenfür sie die einzig wichtigen Rituale beim Weintrinken. Siehatte nicht die geringste Lust, an einem Korken zu schnüf-feln.

Nachdem Salvatore wohlgefällig genickt hatte, schenkteder Ober mit ernster Miene und großer Geste den Wein inSalvatores Glas. Mit angehaltenem Atem verfolgte Lily, wieSalvatore den roten Bordeaux im Kelch kreisen ließ, seinBukett erschnupperte und dann vorsichtig kostete. »Ah!«,urteilte er nach einer halben Ewigkeit und mit genießerischgeschlossenen Augen. »Exzellent.«

Der Ober verbeugte sich, als wäre die Qualität des Wei-nes allein sein Verdienst, stellte die Flasche in den Weinstän-der auf ihrem Tisch und entfernte sich.

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»Den musst du probieren«, sagte Salvatore zu Lily. »Das wäre Verschwendung.« Sie trank einen Schluck

Kaffee. »Mir schmeckt der hier wesentlich besser.« Sie deu-tete auf ihre Tasse. »Wein … igitt!«

»Dieser Wein wird dich bekehren, das verspreche ichdir.«

»Das haben mir schon viele versprochen. Und alle habensich geirrt.«

»Nur ein winziges Schlückchen, nur für den Ge-schmack«, gurrte er, und zum ersten Mal sah sie so etwaswie Unwillen in seinen Augen aufflackern. Er war Salvato-re Nervi, er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand wider-sprach, und schon gar nicht eine Frau, die er mit seiner Auf-merksamkeit beehrt hatte.

»Ich kann Wein nicht ausstehen –«»Diesen Wein hast du noch nicht probiert«, sagte er,

griff nach der Flasche, schenkte einen Fingerbreit in einzweites Glas und reichte es ihr dann über den Tisch.»Wenn du den hier nicht für göttlich hältst, werde ich dichnie wieder bitten, einen Wein zu kosten. Darauf gebe ichdir mein Wort.«

Damit hatte er unbestreitbar Recht, denn dann wäre ertot. Und sie auch, wenn sie jetzt von dem Wein trank.

Als sie den Kopf schüttelte, wurde er wirklich zornigund stellte das Glas hart auf der Tischplatte ab. »Nie tustdu das, was ich möchte.« Wütend sah er sie an. »Ich würdegern wissen, warum du überhaupt hier bist. Vielleicht soll-te ich dich von meiner Gesellschaft erlösen und den Abendbeenden, hm?«

Nichts hätte ihr besser gefallen – wenn er nur schonmehr Wein getrunken hätte. Sie glaubte nicht, dass ein klei-ner Schluck genug Gift enthielt, um ihn zu erledigen. DasGift war angeblich hochwirksam, und sie hatte genug da-

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von durch den Korken in die Flasche injiziert, um mit die-ser Flasche sämtliche Ober im Restaurant abzuservieren.Aber was würde mit der entkorkten Weinflasche passieren,wenn er jetzt wutentbrannt aufstand? Würde er sie mitneh-men, oder würde er sie auf dem Tisch stehen lassen und ausdem Restaurant stürmen? Der Wein war viel zu teuer, alsdass man ihn wegschütten würde, so viel war klar. Nein,entweder würde man ihn glasweise an die anderen Gästenverkaufen, oder die Belegschaft würde ihn unter sich auf-teilen.

»Na gut«, gab sie sich geschlagen und griff nach demGlas. Ohne zu zögern, setzte sie es an den Mund und kipp-te es, bis der Wein ihre zusammengekniffenen Lippen be-netzte, aber ohne dass sie auch nur einen Tropfen ge-schluckt hätte. Wirkte das Gift auch durch die Haut? Siewar fast sicher, dass es so war; immerhin hatte Dr. Speer sieermahnt, Latexhandschuhe zu tragen, wenn sie damit han-tierte. Die folgende Nacht könnte äußerst interessant wer-den, befürchtete sie, und zwar auf ganz andere Art als ge-plant, aber ihr blieb kein anderer Ausweg. Sie konnte dieFlasche nicht einmal auf den Boden fegen, weil das Perso-nal beim Aufputzen unweigerlich in Kontakt mit dem Weinkommen würde.

Sie gab sich keine Mühe, das Schaudern zu unterdrü-cken, das sie bei diesem Gedanken durchlief, und setztehastig das Glas wieder ab, um anschließend ihre Lippenmit der Serviette abzutupfen, bevor sie das Tuch sorgsamso zusammenfaltete, dass sie den feuchten Fleck nicht be-rührte.

»Und?«, fragte Salvatore ungeduldig, obwohl er ihrSchaudern bemerkt haben musste.

»Faule Trauben«, sagte sie und schüttelte sich wieder.Er sah sie an wie vom Donner gerührt. »Faule –?« Er

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konnte einfach nicht fassen, dass sie diesen fantastischenTropfen nicht zu schätzen wusste.

»Genau. Wenn du mich fragst, lassen das Aroma, das Bu-kett sowie sämtliche Haupt- und Nebennoten auf verfaul-te Trauben schließen. Bist du jetzt zufrieden?« Sie ließ inihren Augen ebenfalls zornige Blitze aufblinken. »Ich mages nicht, wenn man mich zu etwas zwingt.«

»Ich habe dich doch nicht –«»O doch. Indem du mir gedroht hast, dich nicht mehr

mit mir zu treffen.«Er nahm wieder einen Schluck, auch um Zeit zu gewin-

nen. »Entschuldige bitte«, antwortete er dann vorsichtig.»Ich bin es nicht gewohnt, dass man –«

»Dir widerspricht?«, nahm sie ihm das Wort aus demMund und imitierte ihn dann, indem sie einen Schluck Kaf-fee trank. Würde durch das Koffein das Gift schneller wir-ken? Oder würde die fette Sahne es abschwächen?

Sie wäre bereit gewesen, ihr Leben zu opfern, wenn siedafür einen gut gezielten Schuss auf seinen Kopf frei gehabthätte; im Grunde war das hier nichts anderes. Sie hatte dasRisiko so weit minimiert wie nur möglich, aber ein Restri-siko blieb immer, und ein Gifttod war ausgesprochen unan-genehm.

Er zog die stämmigen Schultern hoch und sah sie betre-ten an. »Genau«, bestätigte er und ließ dabei seinen legen-dären Charme spielen. Er konnte ausgesprochen charmantsein, wenn es ihm gefiel. Wenn sie nicht gewusst hätte, werer wirklich war, hätte sie sich vielleicht täuschen lassen;wenn sie nicht an jenen drei Gräbern gestanden hätte, indenen zwei enge Freunde und ihre Adoptivtochter gelegenhatten, hätte sie vielleicht philosophisch geschlossen, dassin ihrer Branche der Tod zum Berufsrisiko gehörte. Averillund Tina hatten gewusst, welches Wagnis sie eingingen, als

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sie sich auf dieses Spiel eingelassen hatten; aber die drei-zehnjährige Zia war vollkommen unschuldig gewesen.Dass Zia gestorben war, konnte Lily nicht vergessen undschon gar nicht vergeben. Da half alles Philosophierennichts.

Als sie drei Stunden später aufstanden und gingen, hat-ten sie ein luxuriöses Mahl verzehrt, und der gesamte In-halt der Weinflasche schwappte in Salvatores Bauch. Es warkurz nach Mitternacht, und der Novemberhimmel spucktewirbelnde Schneeflocken aus, die bei der ersten Berührungmit dem nassen Asphalt zerschmolzen. Lily fühlte sichelendig, aber das konnte genauso an der ständigen Anspan-nung liegen wie an dem Gift, das sich angeblich erst nachdeutlich mehr als drei Stunden bemerkbar machen sollte.

»Ich glaube, mir ist irgendwas nicht bekommen«, sagtesie, als sie im Auto saßen.

Salvatore seufzte schwer. »Du brauchst dich nicht krankzu stellen, nur damit du nicht mitkommen musst.«

»Ich spiele dir nichts vor«, erwiderte sie scharf. Er dreh-te den Kopf zur Seite und starrte auf die vorbeiziehendenLichter der Großstadt. Es war gut, dass er die ganze Flaschegetrunken hatte, denn sie war ziemlich sicher, dass er sienach diesem Abend endgültig abgeschrieben hatte.

Sie ließ den Kopf gegen die Nackenstütze sinken undschloss die Augen. Nein, das war keine Anspannung. Ihrwurde von Sekunde zu Sekunde schlechter. Sie spürte, wieder Druck in ihrem Hals zunahm, und sagte: »Lass bitteanhalten, mir wird schlecht!«

Der Chauffeur trat auf die Bremse – wie eigenartig, dasser angesichts dieser Drohung automatisch sein gesamtes Si-cherheitstraining vergaß –, sie stieß die Tür auf, noch eheder Wagen ganz ausgerollt war, beugte sich hinaus undübergab sich in den Rinnstein. Sie spürte Salvatores Hand

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auf ihrem Rücken und eine zweite als Stütze auf ihremArm, wobei er immer darauf achtete, sich nicht so weitnach vorn zu beugen, dass er von außen zu sehen war.

Nachdem sie unter Krämpfen ihren Magen entleert hat-te, sank sie in den Wagen zurück und wischte sich denMund mit dem Taschentuch ab, das ihr Salvatore schwei-gend reichte. »Ich muss dich um Verzeihung bitten.« Sie er-schrak, als sie hörte, wie schwach und zittrig sie klang.

»Nein, ich muss dich um Verzeihung bitten«, wider-sprach er. »Ich habe dir nicht geglaubt, dass dir wirklichschlecht ist. Soll ich dich zu einem Arzt bringen? Ich könn-te meinen Arzt anrufen –«

»Nein, es geht schon wieder«, log sie. »Bitte bring michnur heim.«

Das tat er, unter vielen fürsorglichen Angeboten unddem Versprechen, sie gleich morgen früh anzurufen. Als derFahrer endlich vor dem Gebäude hielt, in dem sie eine Woh-nung gemietet hatte, tätschelte sie Salvatores Hand undsagte: »Ja, bitte ruf mich morgen früh an, aber küss michnicht; vielleicht habe ich mir ein Virus eingefangen.« Mitdieser praktischen Entschuldigung zog sie ihren Mantelfester um sich und eilte durch die dichter fallenden Flockenzu ihrer Haustür, ohne sich ein letztes Mal nach dem anfah-renden Wagen umzudrehen.

Mit Mühe schaffte sie es in ihre Wohnung, wo sie imnächsten Sessel zusammenbrach. Sie konnte unmöglichihre Habseligkeiten zusammenraffen und zum nächstenFlughafen rasen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte.Vielleicht war es am besten so. Sich selbst in Gefahr zubringen war manchmal die beste Tarnung. Wenn sie eben-falls an Vergiftungserscheinungen litt, würde Rodrigo sienicht verdächtigen und sich vielleicht nicht dafür interes-sieren, was aus ihr wurde, nachdem sie sich erholt hatte.

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Vorausgesetzt, sie überlebte.Ganz ruhig wartete sie ab, dass passieren würde, was

passieren sollte.

2

Kurz nach neun Uhr am nächsten Morgen zersplitterte ihreTür unter lautem Krachen. Drei Männer stürmten mit ge-zogenen Waffen herein. Lily versuchte, den Kopf zu heben,ließ ihn dann aber mit einem schwachen Stöhnen zurück-sinken auf den Teppich, der das dunkel lackierte Parkett be-deckte.

Mit verschwommenem Blick bekam sie mit, dass einerder Männer neben ihr niederkniete und ihren Kopf grobzur Seite drehte. Blinzelnd versuchte sie, das Gesicht zu fi-xieren. Rodrigo. Sie schluckte und streckte in einer wortlo-sen Bitte eine zitternde Hand nach ihm aus.

Das war nicht gespielt. Die Nacht war lang und elend ge-wesen. Sie hatte sich mehrmals übergeben und war vonheißkalten Schüttelfrostattacken gebeutelt worden. WieMesserstiche hatten sich die Schmerzen durch ihren Magengebohrt, bis sie sich zu einem kleinen Ball zusammengerolltund nur noch kläglich gewimmert hatte. Schreckliche Stun-den lang hatte sie geglaubt, doch eine tödliche Dosis abbe-kommen zu haben, aber jetzt endlich schienen die Schmer-zen abzunehmen. Ihr war immer noch zu flau und viel zuübel, um vom Boden auf die Couch zu klettern oder umauch nur telefonisch Hilfe zu holen. Einmal hatte sie ges-tern Nacht versucht, ans Telefon zu kommen, doch da wares bereits zu spät gewesen. Der Apparat war knapp außer-halb ihrer Reichweite geblieben.

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Rodrigo zischte einen italienischen Fluch, schob die Waf-fe in das Holster und gab einem seiner Männer eine knap-pe, energische Anweisung.

Lily nahm ihre ganze Kraft zusammen und flüsterte lei-se: »Komm mir … nicht zu nah. Vielleicht ist es … anste-ckend.«

»Nein«, widersprach er in seinem ausgezeichneten Fran-zösisch. »Ansteckend ist das nicht.« Sekunden später ver-schwand ihr Körper unter einer weichen Decke, die Rodri-go energisch um sie wickelte, bevor er Lily auf die Armenahm und sie fast mühelos hochhob.

Er eilte aus der Wohnung die Treppe hinunter und durcheine Reihe von Hinterhöfen in eine Nebenstraße, wo seinWagen mit laufendem Motor wartete. Sobald der FahrerRodrigo kommen sah, sprang er aus dem Wagen und rissdie Hecktür auf.

Lily wurde wenig liebevoll in den Wagen verfrachtet,flankiert von Rodrigo und einem seiner Männer. Ihr Kopfkippte sofort gegen die Kopfstütze im Fond, und sieschloss wimmernd die Augen, weil sie schon wieder einenscharfen Stich in der Magengrube spürte. Sie hatte nicht dieKraft, sich aufrecht zu halten, und merkte, wie sie langsamzur Seite sank. Rodrigo schnaufte verärgert, setzte sich aberdicht neben sie, damit sie sich an ihn lehnen konnte.

Eigentlich war sie vollauf mit ihrem körperlichen Elendbeschäftigt, aber ein kühler, klarer Punkt in ihrem Geistblieb davon unbehelligt und hellwach. Noch war sie nichtüber den Berg, weder was das Gift noch was Rodrigo an-ging. Er hatte sein Urteil vorerst ausgesetzt, mehr nicht.Immerhin brachte er sie irgendwohin, wo sie behandeltwurde – hoffte sie. Wahrscheinlich würde er sie nicht querdurch die Stadt karren, nur um sie irgendwo abzuknallenund um ihre Leiche zu verscharren, denn es wäre für ihn

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Linda Howard

Mörderische KüsseRoman

DEUTSCHE ERSTAUSGABE

Taschenbuch, Broschur, 416 Seiten, 11,5 x 18,3 cmISBN: 978-3-442-35968-4

Blanvalet

Erscheinungstermin: März 2005

Für Lily Parks ist keine Gefahr zu groß. Seit Jahren übernimmt sie für eine verdeckt arbeitendeSpezialeinheit der CIA die schwierigsten Aufträge. Doch in der letzten Zeit scheint sie sichfür unbesiegbar zu halten: Sie geht immer größere Wagnisse ein und gefährdet ihr eigenesLeben. Deshalb hat die Einheit ihren Kollegen Lucas Swain auf sie angesetzt. Er soll Lily sanftaber bestimmt zur Seite stehen – und sie zurückhalten, bevor sie die ganze Einheit gefährdet.Doch Lily ist alles andere als angetan von ihrem neuen – zugegebenermaßen attraktiven –Beschützer...