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Lise

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Autobiographical notes of Elisabeth (Lise) Pfleiderer

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Basierend auf handschriftlichenAufzeichnungen von Elisabeth Pfleiderer(28. Mai 1899–14. Nov. 1989),größtenteils aus dem Jahr 1985.

Alle Rechte vorbehalten

© 2010 Ruth Lutz, geb. Pfleiderer,Stuttgart

Gestaltung,Repro und SatzMatthäus Felder,Lichtenstein

Druck undBindungwww.epubli.de, Berlin

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Immer wieder sagen die Kinder, ich solle alle meine Er-lebnisse schreiben. Ich will nun einen Versuch machen und anfangen mit den ältesten Ahnen, von denen wir etwas wissen. Es ist dies Johannes Jehle, Bietigheim (20. Okt. 1807 – 27. Apr. 1898). Im Stammbuch der Jehle steht „Bäcker, Wirt und Landwirt, Ritter des Olga-Ordens“. Er war ein vermögender Mann, Geldgeber von Bietigheim. Er habe über 60 weiße Hemden besessen und hat jeden Tag drei mal ein frisches angezogen. Das liebe Kätterle (siehe Seite 9), hat noch einen Mann gekannt, der als Kind eine Art Laufbursche bei ihm war, dieser Mann hieß Sauter, war Schreinermeister geworden und hat für mich die Truhe von Ruth ge-macht und den Schreibtisch von Anne, das war anfangs der 20-er Jahre. Die Frau von Johannes Jehle hieß

Friederike Dorothea Regine Sauter (8. Feb. 1812 – 13. Juli 1888). Die Hochzeit war am 29. Mai 1832. Ihr Vater hatte in Bietigheim eine Weberei. Er war einer von den jungen Leuten, die König Wilhelm I. nach Frankreich schickte, um dort das Weben von Bettzeugleinen zu lernen. Er sah in Paris die Hochzeit von Napoleon I. mit der Österreichi-schen. Die Webschule kam zuerst nach Bietigheim und wurde später nach Reutlingen verlegt. Martin Sauter hat dann in Bietigheim eine eigene Webe-rei angefangen.

Ein Sohn der beiden Jehle ist nach Amerika aus-gewandert (21. März 1837 – 23. Aug. 1916 in San José). Er kämpfte im amerikanischen Bürgerkrieg unter General Sherman. Das zweite Kind war

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er war ein echter Demokrat und deshalb von manchen bekämpft, er scheute sich nicht, seine Meinung offen und ehrlich zu sagen. Er schrieb im Jahr 1870 seinem Schwager (dem Bruder seiner Frau) ins Feld einen Brief, in dem seine Gesinnung zum Ausdruck kommt. Der Brief liegt hier bei, das Original liegt im Archiv in Waiblingen. Im Jahr 1970 wurde er im Remstalboten

Friederike Johanna Jehle (23. Apr. 1839 – 3. Dez. 1927). Die war meine Großmutter, von ihr wird noch viel zu schreiben sein. Die weiteren Kinder stehen alle im Stammbuch der Kornwestheimer und

Bietigheimer Jehle (1924). Im Lexikon steht über Sherman: 1820–91, bedeutendster General der Union im amerikanischen Sezessions krieg.

Nun kommt mein Großvater, der Vater meiner Mutter, Wilhelm Friedrich Etzel (9. Aug. 1834 – 10. Apr. 1900). Seine Mutter war Katharina Etzel, geb. Fender, verwitw. Konradi (8. Apr. 1794 – 19. März 1882). Sie war die Hirschwirtin von Enzweihingen. Ihr Bild ist bei den Ahnenbildern. Mein Großvater Etzel war zunächst Schultheiß in Korb etwa ab 1864. Der Empfang dort ist be-schrieben in einem Brief seiner Schwiegermutter Jehle.

Ich war letztes Jahr (1984) in Korb auf dem Rathaus, das heute noch steht und als Rathaus noch benützt und sehr schön als Fachwerkhaus gerichtet wurde. Das nebenstehende Haus wurde dazu genommen. Die Herren, die dort arbeiten, waren sehr liebenswürdig und zeigten mir das Zimmer, in dem der Großvater damals arbeitete. Ziemlich bald wurde er versetzt nach Waiblingen.

Fortsetzung Seite 9 (rechte Spalte) ☛

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Am 23. Dezember 1870 geht von Waiblingen aus eine „Feldpost-Sache“ an den „mit der K. würtemb. Felddivisi-on ausmarschirten Hochwürden Herrn Fr. Jehle, Königl. Lazarettgeistlichen“ in Lagny in Frankreich ab. Schreiber des Weihnachtsbriefes und der modernen Weihnachts-botschaft ist der Waiblinger Stadtschultheiß Etzel.

Etzels Frau, eine Schwester von Hochwürden Jehle, der viele Jahre lang Pfarrer an der Friedenskirche in Stutt-gart war und als einer der besten Bibelkenner seiner Zeit galt. Diese Angaben verdanken wir Frau Elisabeth Pflei-derer, einer Großnichte von Pfarrer Jehle. Frau Pfleiderer wohnt heute in Stuttgart.

Stadtschultheiß Etzel schreibt an seinen Schwager u.a.: „Nach den neuesten Nachrichten scheinen die Hoff-nungen auf baldigen Frieden wieder sehr in die Ferne ge-rückt zu sein, was für beide Theile sehr zu bedauern ist. Über Politik ist gegenwärtig nicht gut reden, viel weniger schreiben. Eine gewisse Parthie ist eben leidenschaft-lich kriegerisch gestimmt, will den Kelch bis zur Neige austrinken lassen, ist überhaupt ungenügsam. Wird bei solchen der Wunsch nach Frieden oder Mitleid ausge-

sprochen, so läuft man Gefahr, für unpatriotisch gehalten zu werden. Aber trotz alledem muß ich eben stets an die großen Opfer und an die Unmenschlichkeit denken und kann nicht begreifen, wie sich civilisierte Nachbarvölker, die so geeignet sind, einander zu ergänzen, in jetziger Zeit noch so zerfleischen; es sind dies freilich fruchtlose Gedanken oder Einbildungen mit denen man sich gegen-wärtig nur lächerlich machen kann …

Auffallend ist mit bei so viel Geistlichen die Kriegs-wuth; es scheint mir, daß ein großer Theil derselben es auch für einen Religionskrieg hält.“

Soweit ein Auszug aus dem Brief des Waiblinger Stadt-schultheißen an seinen Schwager, den Lazarettgeist-lichen. Es ist deshalb so bemerkenswert, weil er von einem Mann der Obrigkeit geschrieben worden ist, der von Amts wegen dazu gehalten war, die Franzosen nach Möglichkeit nicht als Menschen, sondern als Erbfeinde zu sehen. Hätten noch mehr Menschen solche Gedanken nicht nur im stillen Kämmerlein gepflegt, sondern wären damit hinaus gegangen auf den Markt, unseren beiden Völkern und der Welt wäre viel Unheil erspart geblieben.

„Über Politik ist nicht gut reden“

Ein interessanter Brief vom 23. Dezember 1870

Es gibt Zeitgenossen, die der Ansicht sind, dass die deutsch-französische Aussöhnung allein das Verdienst der Generation nach 1945 ist. Durch die Vermittlung von Rektor i. R. Hemming sind wir auf ein interessantes Zeitdokument gestoßen, das mitten in einem siegreichen Krieg eine „obrig-keitliche“ Stimme für den Frieden und für die Menschlichkeit hören lässt.

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Waiblingen veröffentlicht. Ich hatte einem Hei-matforscher in Waiblingen den Brief geschickt, der die Sache in die Wege leitete. Großvater besaß ein Haus in Waiblingen in der Rommelshauser-straße, ein Haus mit Garten, in dem seine ersten Enkelkinder Margret, Gotthold und Wilhelm sich tummeln konnten. Ich weiß nicht, ob das Haus noch steht. Großvater starb am 10. April 1900 in Waiblingen an Lungenentzündung. Er war in Waiblingen Stadtschultheiß und wurde dort Ober-amtmann, was heute Landrat heißt. Großmutter

Stadtschultheiß Et zel, 1867–1892

Bei der Wahl des Nachfolgers [von Stadtschultheiß Steinbuch, 1835–1867] wurde ein harter Wahlkampf ge-führt, der sich auch in der Lokalpresse, dem Amts- und Intelligenzblatt, wiederspiegelte. Von den ursprünglich acht Kandidaten hielten fünf ihre Bewerbung aufrecht: Schultheiß Etzel von Korb, Kaufmann Gasteyer von Waiblingen, Verwaltungskandidat Haas von Waiblin-gen, Verwaltungskandidat Häge und Schultheiß Simon von Strümpfelbach. Die drei mit der höchsten Stimmen-zahl wurden der Kreisregierung in Vorschlag gebracht. Bei der Wahl am 26. Juli erhielten Haas 264, Etzel 219 und Apotheker Theodor Marggraff von der Oberen Apotheke (der sich zur Wahl gar nicht gestellt hatte), 70 Stimmen. Die Kreisregierung bestätigte aber nicht den ersteren mit der höchsten Stimmenzahl, sondern ernannte Wilhelm Friedrich Etzel zum Schultheißen der Stadt Waiblingen, die damals 3500 Einwohner zählte.

Etzel wurde am 9. Aug. 1834 in Enzweihingen geboren. Am 29. August 1867 wurde er in sein Amt eingeführt. Unter Etzel wurde 1874/75 das soeben abgebrochene Rathaus erbaut, in dem 1876 die erste Waiblinger Ge-werbeausstellung stattfand und die am 26. Oktober 1876 von König Karl anlässlich der Eröffnung der Murrbahn besucht worden ist. Ein besonderes Verdienst erwarb sich Etzel um die Anlage der städtischen Wasserversor-gungsanlage (1884/89), die er trotz aller Widerstände durchsetzte. Mit ganzer Kraft widmete er sich dem er-sten Aufblühen der entstehenden Waiblinger Industrie.

Neben der Ziegelei Heß entstanden die Ziegeleien Pfander, die Stuttgarter Baugesellschaft (1873, später Schofer) und Sixt (1888). Der Konditor Kayser gründe-te seine Bonbon- und Nährmittelfabrik (1890). Stadt-schultheiß Etzel diente – wie sein Vorgänger – 25 Jahre uneigennützig dem Landwirtschaftlichen Bezirksverein und war zuletzt dessen Ehrenmitglied. Ebenso gehörte er dem Pfarrgemeinderat an. Als Etzel 1892 zum Ober-amtspfleger gewählt wurde, trat er als Stadtschultheiß zurück. Oberamtspfleger blieb er bis zu seinem Tode am 10. April 1900.

Aus einer „Festbeilage zur Rathaus­einweihung“, Waiblingen 1959

legte als Witwe großen Wert darauf, als Frau „Oberamtmann“ angeredet zu werden. Damals war es üblich, dass die Frauen mit dem Titel ihres Mannes angeredet wurden.

Seine Frau wurde Friederike Johanna Jehle (23. Apr. 1839 – 3. Dez. 1927), unsere vielgeliebte Großmutter, die ich kannte, als einzige von den vier Großeltern. Sie lebte nach dem Tode ihres Mannes bei uns in Stuttgart in der Hauptstätter-straße im 3. Stock zusammen mit Kätterle, ohne die ich mir unser Leben gar nicht vorstellen kann.

Kätterle wurde mit 15 Jahren als Waisenkind (1880) von Großmutter ins Haus genommen und

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erlebte alles mit, was in der großen Familie pas-sierte. Sie diente zunächst bei Großmutter, nach deren Tod blieb sie bei uns im Haus und versorgte Onkel Markus im 3. Stock und half bei uns im 2. Stock bis an ihr trauriges Ende am 26. Juli 1944 in dem Bombenhagel und dem Zusammenbruch unseres Hauses. Sie hat mir viel erzählt von frü-her, was so in der Familie passierte und das ich nicht wissen konnte, weil ich noch zu jung war. Und sie hat an meiner Mutter (unserer Mama) in unverbrüchlicher Treue gehangen.

Großmutter war eine tüchtige Hausfrau. Ihr Va-ter war auch Bäcker und das Backen war ihre be-sondere Leidenschaft. Im Alter, als sie nicht mehr fort konnte, wurde alles Backwerk bei ihr im Zim-mer gemacht, an Weihnachten waren alle Zutaten im Zimmer aufgebaut. Es musste ja alles warm sein. Und da wurde dann unter ihrer Aufsicht der Teig geknetet, gewellt, ausgestochen usw. Das war immer ein großartiges Werkeln und Schaffen und mir machte das immer viel Freude und Spaß,

mehr wie das Kochen. Und ich habe viel Kuchen- und Brotteig dort geknetet nach ihren Angaben. Großmutter hat seit ich mir denken kann schlecht gehört – es kam von einer Krankheit in der Jugend – und war dann viele Jahre ganz taub. Aber sie konnte uns gut vom Munde ablesen, wollte alles wissen und hat voll und ganz am Leben ihrer sieben Enkelkinder teil genommen. Sie war immer voll da und hat bis an ihr Ende (sie wurde 88 Jahre alt) nie am Geiste nachgelassen. Sie hat ihren beiden Kindern (meiner Mutter und Onkel Wilhelm) ins Grab sehen müssen – 1922 war das. Sie hatte im Wohn-zimmer ein altes, sehr schönes Tafelklavier stehen. Da saß sie manchmal, um die Schulter ein weißes gehäkel-tes Tuch, spielte einen Choral und sang dazu – und das in einer anderen Tonart als sie spielte. Sie hörte es nicht.

Großmutter bekam immer viel Besuche. Da war in ers-ter Linie ihr Bruder, „Onkel Stadtpfarrer“, wie wir ihn nannten. Er war Stadtpfarrer in Stuttgart in der Frie-

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denskirche am Neckartor. Von dieser Seite stammte die Musikalität in unserer Familie.

Dieser Großonkel hatte schon vor dem Ersten Welt-krieg in Briefwechsel gestanden mit dem Abt von Beu-ron, worin es sich um musikalische Dinge handelte. Er hatte einen Sohn, Johannes Jehle, der komponierte und dessen Nachfolger betreiben jetzt noch eine Musikali-enhandlung in Ebingen. Bei einer neuen Ausgabe des Gesangbuchs, etwa 1904, hat er auch mitgearbeitet.

Ein anderer Sohn war Musiklehrer, Richard hieß der, und ich vergesse nie wie er Klavier spielte und improvi-sierte, wenn er bei uns zu Besuch war; das war öfter der Fall.

Ich lag dann auf dem Boden auf einem Fell und lausch-te entzückt den Klängen auf dem Klavier. Der Großonkel lebte in seinem Ruhestand in Degerloch, wo er in der Ahornstraße ein Haus besaß, zusammen mit seiner Tochter Mathilde, die mit Hermann Clement verhei-ratet war, ein sehr netter Mann. Onkel Jehle wurde 97 Jahre alt. Eine andere Tochter hieß Gertrud Jehle. Sie war meine Patentante und war Diakonisse, sie arbeitete

wurde nicht Pfarrer, er trat aus Glaubensgründen aus der Kirche aus und wandte sich dem Lehrer-beruf zu, war später Professor am Friedrich-Eu-gen-Gymnasium.

Ein sehr lieber Gast war der Herr Stadtpfarrer Löffler von der Leonhardskirche. Er kam regel-mäßig alle paar Wochen und Großmutter hielt dann schon ihr Täfele bereit, auf das er ihr Bi-belsprüche schrieb, die sie bis zum nächsten mal immer wieder las und dann auslöschte, wenn er wieder kam. Löffler hat meine beiden Eltern, die Großmutter und meinen Bruder Wilhelm beerdigt auf dem Pragfriedhof (Großmutter in Waiblingen).

Noch ein berühmter Mann wohnte zeitweise bei Großmutter. Es war Pfarrer Blumhardt aus Bad Boll. Er war von 1900 bis 1906 Landtagsabgeord-neter der Sozialdemokraten. Wenn der Landtag tagte, wohnte Pfarrer Blumhardt bei Pfleiderer im Hause Hauptstätterstraße 52 ½. Dies hat mir seine Tochter Gottliebin erzählt, die auch aus die-sem Grunde immer wieder ins Geschäft kam, aus „Dankbarkeit“, wie sie mir sagte. Pfarrer Blum-hardt war seines Amtes enthoben worden, weil er ein Sozialdemokrat war. Ich nehme an, dass er bei Großmutter oben wohnte, denn bei uns waren schon fünf Kinder da.

im Büro des Diakonissenhauses. Ich habe sie als eine sehr liebe, stille und gescheite Tante in Erinnerung. Mein anderer Pate war Onkel Otto Bührlen in Korntal; Professor, den seine Schüler gehasst haben. Mein Mann Erwin und sein Bruder Hermann waren bei ihm in der Schule in Korntal.

Ein anderer häufiger Besuch bei Großmutter Etzel war ihre Schwester, Frau Finanzrat Rayhrer aus Schorndorf, und später deren Sohn Ernst Rayhrer, ein Vetter mei-ner Mutter. Diesen Mann habe ich besonders verehrt. Er war einer der wenigen lauteren Menschen, die ich kennen gelernt habe. Er hatte Theologie studiert und die ganze Verwandtschaft setzte große Stücke auf ihn und sah ihn schon auf der Kanzel der Stiftskirche stehen. Er

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Das schönste in Waiblingen bei den Großeltern war der große Garten hinter dem Haus. Zuerst kam ein Hof und wenn große Wäsche war, wurde oben auf dem Dach ein Rohr geöffnet und daraus floss in die Waschkübel im Hof Regenwasser, das oben unter dem Dach gespeichert war. Da war noch ein Hinterhaus, ein sehr romantisches kleines Haus mit einem verdeckten Sitzplatz im 1. Stock mit vielen Pflanzen. Dann war noch eine Scheuer da, die heute zum Geschäft mitbenutzt wird (Federnreinigung). Dann kam eine sehr große Wiese mit Obstbäumen.

Leicht abfallend ging’s bis zur Rems hinunter, wo sich die Gerberei befand. Heute stehen auf dieser Wiese viele Wohnhäuser. Oberhalb befanden sich damals Blumen und allerlei Pflanzen; auch viel Farnkraut, ein runder Sitzplatz mit Steinbänken und Tisch. Hier war auch ein richtiges Gartenhäusle mit einem eingerichteten Zim-mer drin mit Bett und vielen Bildern an den Wänden. Dies Häuschen fand ich ganz wunderbar. Zeitweise wohnte Tante Hermine drin, die jüngste Tochter der Großeltern. Eine besondere Attraktion war die An-pflanzung von Spargeln und ich sah, wie sie gestochen wurden. Der obere große ebene Platz neben dem Haus war das Refugium von Großmutter. Da gab’s Gemüse. Die elf Kinder der Großmutter werde ich noch extra beschreiben. Der Zusammenhalt dieser Geschwister war ungewöhnlich stark, wie ich dies in keiner Familie mehr erlebt habe. Wenn wir zu Besuch waren, bekamen wir immer einen schönen Blumenstrauß mit nach Hau-se, immer mit Farnkraut außen herum. Fast an jedem Sonntag machte unser Vater mit uns einen Ausflug zu seinen Geschwistern. Nach Korntal (Tante Maria), nach Backnang (Tante Dorothea), nach Waiblingen (Onkel Martin), nach Degerloch (Onkel Sigmund), nach Ruit (Tante Martha), nach Effringen über Wildberg (Tante Elise) – dort waren wir manchmal in den Ferien.

Mein Vater ist in Waiblingen am 8. Nov. 1863 geboren. Er ging zur kaufmännischen Lehre in Ludwigsburg bei der Firma Louis Demmler, Kleiderstoffe. Später war er Vertreter bei der Firma Grossmann-Kirchhofer in Stuttgart, Bopserstraße und Schlosserstraße. Die Firma besteht jetzt noch in Sindelfingen. Damals führte die Firma nur Weißwaren in allen Arten, Baumwolle, Halbleinen und Reinleinen – alles am Stück. Und da hat er sich wohl seinen großen Sachverstand erwor-ben auf diesem Gebiet, der später, als er das Geschäft betrieb, allgemein bekannt war. Als er sich mit Marie

Nun kommen die Eltern meines Vaters dran.Karl Pfleiderer, Rotgerber in Waiblingen

(12. Apr. 1832 – 22. Juni 1903)Dorothea Joos aus Untertürkheim

(13. Feb. 1838 – 19. Apr. 1905)Sie besaßen ein Haus in Waiblingen, Schmide-

nerstraße, das mir noch sehr gut in Erinnerung ist. Es steht heute noch und es befindet sich jetzt das Bettenhaus Pfleiderer drin. Am Eingang vor dem Haus stand eine Bank, rechts und links der Bank zwei Bäumchen, die mir besonders gut gefielen. Das sah so gemütlich und heimelig aus. Den Großvater kann ich mir nicht mehr denken; er starb schon 1903 an einem Schlaganfall. Auf den Bildern sieht er so lieb und gut aus. In der Ju-gend machte er wie damals noch üblich als Gesel-le seine Wanderzeit und kam bis nach Südfrank-reich. Mehr weiß ich von der Großmutter, die wohl der stärkere Teil in der Ehe war, sie gebar elf Kinder. Nach jeder Geburt stand an ihrer Tür zum Schlafzimmer ein Zettel: „Ich bin im Gar-ten.“ Die Besucher mussten sie also dort suchen. Sie herrschte über den sehr großen Gemüsegarten und bearbeitete ihn selbst. Sie beherrschte auch den Großvater. Wenn er sich einen Most vom Keller holte, ging sie nachher mit dem Mostkrügle in den Keller, gefüllt mit Wasser, und leerte es ins Fass. Der Großvater wunderte sich, dass der Most immer wässriger wurde.

Ich kann sie mir noch einmal denken, wie sie bei uns in Stuttgart auf der Eckbank aus Leder saß, auf dem Kopf ein schwarzes Kompotthütle mit einem lila Veilchensträußle drauf und einem schwarzen Umhang an. Sie machte mir einen sehr strengen Eindruck, streng und fromm. Als sie gestorben war, nahm mich mein Vater mit nach Waiblingen. Da sah ich sie im Sarg liegen. Da war ich sechs Jahre alt, die Großmutter war etwa 63 Jahre alt und damals war eine Frau in diesem Alter auch schon viel bälder uralt und kleidete sich auch dementsprechend. Das Kompotthüt-le war natürlich schwarz und wurde unter dem Kinn gebunden. Der Umhang auch schwarz. Die Großmutter Pfleiderer war mager, die Großmutter Etzel war ziemlich dick und rundlich. Da war der Umhang sehr angebracht.

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Etzel verlobte, waren einige Bewerber da. Einer war der Bruder Gotthold. Der war Gerber und sagte zu Christi-an: „Nimm Du sie. Sie ist zu schade für einen Gerber.“ Dieser Gotthold starb noch in jungen Jahren an einer Blutvergiftung. Da war Marie schon verheiratet. Als Gotthold im Sterben lag, hatte er noch einen Wunsch. Er wollte das Mariele noch einmal sehen. Und sie kam von Stuttgart angefahren und hat ihn besucht an seinem Sterbelager.

Ein anderer Verehrer von ihr war Ernst Backmeister, der auf dem Rathaus von Großvater Etzel arbeitete. Er heiratete dann die Schwester von Christian „Martha“. Er ist auch bald gestorben und liegt im gleichen Grab auf der Prag in Stuttgart, in dem später Marie und Christi-an beerdigt wurden.

Ein weiterer ernsthafter Bewerber war Ernst Rayhrer, der später noch oft zu uns ins Haus kam und den ich sehr verehrte.

Meine Mutter ist am 13. Jan. 1965 in Korb geboren, wo

der Großvater Schultheiß war. Sie war die einzige Tochter und hatte noch einen Bruder, Wilhelm, der Jura studierte und später Amtmann in Lud-wigsburg und dann Landrat in Urach war. Wir hatten den Onkel Wilhelm alle sehr gern, der so ganz anders wie die Pfleiderer war, viel ruhiger und – wie soll ich sagen – feiner. Mein Bruder Markus war ihm ähnlich. Sie heiratete 1889 in Waiblingen und zog mit ihrem Mann nach Stutt-gart in die Alexanderstraße. Die ersten Jahre kam kein Kind und sie machte deshalb Kur in Lie-benzell mit Erfolg. 1893 wurde Margret geboren, 1894 Gotthold, 1895 Wilhelm. Großmutter Pflei-derer meinte: „Jedes Jahr ein Kind ist zu viel.“ Dann kam Hans 1897, ich 1899, Hellmut 1901 und Markus 1904.

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1890 gründete mein Vater die Firma in der Haupt-stätterstraße 42, Ecke Färberstraße. Die Mitarbeit im Geschäft, was selbstverständlich war, und die Geburten, war sicher zu viel für meine Mutter. Man sieht es den Bildern an, die bei Großvater Etzel im Garten gemacht wurden, der für sie ein wichtiger Erholungsort war. Meine Mutter, wir sagten Mama zu ihr, war eine zierli-che kleine Frau, schwarze Haare, glatt mit Scheitel und Knoten mit indischem Zuschnitt, dazu braune Augen. Auch ihr Vater hatte dieses Aussehen, tiefschwarze Haare, leicht bräunlicher Teint und braune Augen. Als Stadtschultheiß wurde er einmal bei einer streitbaren Sitzung als Zigeuner beschimpft, worauf er meinte, das sei keine Beleidigung für ihn. Zigeuner seien schöne Leute. Es existierte ein großes Ölbild von ihm, das im Krieg verbrannte.

Mama war eine sehr liebe Frau, sensibel und mit künstlerischen Interessen. Sie wurde von unseren Ange-stellten geliebt und hoch verehrt.

Ich wurde also noch in der Färberstraße geboren und muss ein sehr zartes kleines Wesen gewesen sein. Der Großvater Etzel kam jede Woche zwei Mal von Waiblin-gen angefahren und fragte: „Lebt’s noch?“

1900 kaufte mein Vater das Haus Hauptstätter straße 52 ½, Ecke Torstraße. Er durfte das Haus vorher nur von außen anschauen. Der Umzug wurde in einer Nacht gemacht. Zwei Brüder von Papa halfen. Onkel Sigmund und Onkel Nathanael. Mit einem Handwagen wur-de die ganze Nacht alles hinauf gekarrt. Wir zogen in den 1. Stock; im 2. Stock wohnte eine Musikerfamilie namens Berg. Die kann ich mir noch denken. Und im 3. Stock zog Großmutter Etzel mit Kätterle ein. Der Großvater war gestorben. Sie hatte ihr Haus in Waiblin-gen verkauft und ich glaube, dass sie sich am Hauskauf beteiligt hat. Sie hatte umsonst das Wohnrecht bis zu ihrem Tode.

Die Hauptstätterstraße war damals eine interessante Straße und gute Geschäftslage. Sie war sehr breit. Bis zum Wilhelmsplatz und zur Torstraße, das war unsere Ecke, standen auf beiden Seiten die Botenwagen von den ganzen Fildern kommend. Sie brachten von dort ihre Waren und nahmen abends viele andere Sachen wieder mit. In fast jedem Haus von uns ab war eine Wirtschaft

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mit Stall, wo die Pferde tagsüber eingestellt wurden. Neben uns war die „Sonne“, der Wirt hieß Reuther, mit großem Hinterhaus und großem Stall und Hof und gro-ßer Einfahrt. Von unserem Klo aus sahen wir hinunter. Die anderen Eingänge in den Wirtschaften waren sehr eng, so dass die Pferde oft kaum durchkamen. Das ging bis zur Färberstraße. Dann gab es viele Geschäfte, einen Kolonialwarenladen, wo alle Waren noch in Säcken wa-ren und offen verkauft wurden. Besitzer waren Köhler & Zogbaum. Als Kind ging ich gern dorthin zum Ein-kaufen. Beim Hinausgehen griff Herr Köhler in einen Sack und ich bekam eine Hand voll getrockneter Äpfel oder so was. Er war ein sehr jovialer Herr mit Vollbart. Weiter unten stand der „Ochsen“, eine bekannte Wirt-schaft, in der schon Schiller seine kärglichen Mahlzeiten verzehrte. Eine unbezahlte Rechnung für Schiller hing noch an der Wand. Dann gab es einen Bäcker, der hieß der Spiegelbäck. Die ganze Decke war ein Spiegel und man sah sich auf dem Kopfe stehen. Dann gab es ein

sehr gutes Ledergeschäft namens Birmelin; die Fabrik war im Hinterhaus.

Auf der anderen Seite, Ecke Wilhelmsplatz und Richtgasse war das Zigarrengeschäft Riese, davor war ein Gemüsestand. Das war Frau Renninger, die ich mir noch gut denken kann. Sie hatte ein schönes großes [Haar-]Nest, blonde Zöpfe. Dann kam das frühere Siechenhaus, direkt uns gegen-über, das jetzt noch steht. Unter Denkmalschutz. Diese andere Seite steht jetzt noch bis zum Brun-nen, der nun auf dem Wilhelmsplatz steht.

Durch die Hauptstätterstraße ging jedes Jahr der Fastnachtsumzug. Wir Kinder wurden im 1. Stock hinausgehoben und standen im Firmen-schild Pfleiderer und sahen alles aus nächster Nähe. Dann gab es jedes Jahr ein Mal auf dem Wilhelmsplatz einige Tage Vorführungen der Seiltänzergruppe „Familie Knie“. Das waren für uns ganz besondere Attraktionen. Wir sahen alles

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das Diabolo tanzen und wurde in die Luft geschleu-dert – möglichst hoch – und wieder mit der Schnur aufgefangen. Es war nicht so einfach, aber wenn man die Technik beherrschte, machte es großen Spaß. Man konnte es auch zu zweit spielen und den Diabolo ein-ander zuwerfen und auffangen. Dies alles fand auf der Straße vor dem Haus statt. Für die Buben gab es auch Stelzen. Das war auch eine Sache der Geschicklichkeit.

Dies gab es alles bis zum Wilhelmsplatz. Dann geht es weiter. Zuerst kam der Bäcker Schweikhard, in dessen Haus wohnte im 2. Stock Dr. Sakmann (der Vater des späteren Regisseurs Sakmann). Im 3. Stock wohnten vier ledige Schwestern, die eine Nähschule hatten, wo viele nette junge Mädchen aus guten Familien das Nä-hen lernten. Das waren die Fräulein Rau, aus sehr guter Familie. Dann kam ein kleines Wäschegeschäft für Herren, den man den Sekeles-Maier nannte.

Anschließend war die Uhlands-Apotheke (das war schon der Wilhelmsplatz) in meiner Jugend geführt von Apotheker Roth (meistens leicht beschwipst). Deshalb hat unser Hausarzt Dr. Gundert immer empfohlen, nachdem er ein Rezept ausgeschrieben hatte: „Holen Sie’s bitte in der Hofapotheke.“

Anschließend kam ein sehr gutes Geschäft mit Be-schlägen und dergleichen wichtigen Dingen namens Köpf & Herr. Dann kam die Post und ein Geschäft für Öfen. Frau Daimler hieß die Inhaberin. Ecke Christoph- und Hauptstätterstraße ein Kolonialwarengeschäft – Frau Ertle – und ihr gegenüber der Konditor Nill. Da gab’s an Ostern die schönsten Osterhasen aus Zucker, Karamell und Schokolade und ich durfte meine Mutter begleiten, wenn sie dort die Hasen einkaufte für uns Kinder, für die Angestellten, Freunde und Bekannte. Da war meine Mutter immer sehr großzügig. Das Schenken war ihre Stärke – Weihnacht, Ostern, Ge-burtstage – immer fand sie etwas für den Beschenkten, was ihm Freude machte. Sie starb am 20. Mai 1922. Am 28. Mai war mein Geburtstag und da hatte sie noch einen Leder koffer für mich gerichtet, den ich viele, viele Jahre in Gebrauch hatte.

vom Fenster aus. Die Knies wohnten neben uns in der „Sonne“. Das waren die Vorfahren des jetzi-gen bedeutenden „Zirkus Knie“, der seinen Sitz in Rapperswil in der Schweiz hat.

Im Herbst war der Verkauf von Mostobst auf dem Wilhelmsplatz und ein Mal im Jahr war Pferdemarkt auf der Hauptstätterstraße. Die Pferde wurden von ihren Besitzern vorgeführt im Schritt und Trab. Mein Vater hatte dann draußen vor dem Geschäft einen Stand mit Pferdedecken. Ich erinnere mich noch an die schönen Bordüren, dunkelblaue Decken mit Hufeisen gelber Farbe, schöne wollene Qualität. Im Herbst kamen auch die Weinbauern aus dem Remstal angefahren mit ihren Weinfässern, im Spundloch ein bunter Asternstrauß. Das sah hübsch aus. Die Wirtschaf-ten wurden mit Wein beliefert, der durch einen Schlauch in den Keller transportiert wurde. Auch wir hatten einen großen Keller. Mein Vater bezog seinen Wein aus Kleinheppach; ein größeres Fass mit einfacherem Wein und ein kleines Fässle guten Weines für besondere Gäste und Gelegen-heiten.

Am schönsten war die Weihnachtszeit. Da stan-den die Weihnachtsbäume dicht an dicht vom Leonhardsplatz ab auf beiden Seiten um die Leonhardskirche herum, der ganze Wilhelmsplatz voll bis hinaus zum Lindle. Da machten wir jeden Abend einen Waldspaziergang, meine Freundin Ria Dengler und ich. Die Luft war erfüllt von dem Duft der frisch geschlagenen Tannen.

An Sonntagen war die Straße frei von Botenwa-gen und die Buben spielten Fußball, die Mädchen tanzten Reigen und sangen dazu. Autos gab’s fast keine, höchstens ab und zu ein Fuhrwerk. Sehr beliebt auf der Straße war das Spiel mit Tänzern. Die waren aus Holz oder Gummi. Die letzteren waren leichter und teurer, meiner war aus Holz. Der Tänzer wurde mit der Spitze zwischen die Pflastersteine gestellt. Dazu brauchte man einen Stab mit einer Schnur dran, die man um den Tänzer wickelte und so den Tänzer aus dem Loch trieb und ihn durch Schläge zum Tanzen brachte und das möglichst lange. Ich spielte leidenschaft-lich gern Diabolo. Zwei Stäbe waren verbunden mit einer Schnur. Und auf dieser Schnur musste

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Nun will ich noch von der Torstraße berichten. Nach uns kam das Schuhgeschäft der Denglers, die in Walheim eine kleinere Schuhfabrik hatten. Die jüngste Tochter Maria war in meinem Alter. Mit ihr ging ich jeden Tag – acht Jahre lang, leider nur acht Jahre – ins Evangelische Töchter-Institut. Das Haus hat (mein Mann) Erwin etwa 1934 gekauft, so dass das Geschäft wesentlich vergrö-ßert werden konnte.

Dann kam das Vereinshaus und dann eine Gewerbe-schule; dann die Bachstraße. Ich kann mir noch denken, wie da der Nesenbach noch offen war. Nun kam Mollen-kopf, eine Buchhandlung; dann der Hutmacher Breu-ning (Herrenhüte), das Schirmgeschäft Sixt und dann Feil (Ecke der Eberhardstraße 55, Handarbeiten).

Auf der anderen Seite, neben Bäcker Schweikhard der Frisör Wernicke und nun das Sarggeschäft von Frau Braun. Sie hatte im Hinterhaus eine Sargschreinerwerk-statt. Der Schreiner hieß Schurr, eine bekannte Persön-lichkeit. Wenn es einen Toten gab, brachte er den Sarg und legte selbst den Toten hinein, nachdem er vorher gerichtet wurde. Er hat auch die Großmutter und mei-nen Vater hineingelegt. Frau Braun hatte einen Sohn, der später Studienrat in München war. Dieser hatte eine Tochter, Eva, die die Geliebte von Hitler war.

Dann kam ein Gemüse- und Obstladen, die Drogerie Wohlfahrt und ein Schmied Berger, den man bei offener Türe an seinem Amboss arbeiten sah. Man sah das offe-ne Feuer. Ecke Bachstraße der Ochsenmetzger Beck, der stadtbekannt war und die Färberei Wachter.

„Was isch dui Torstroß für a Sträßle gwä.Oi Lädle isch am andra gwä.Dui Torstroß isch Agrarland gwä.Fürs leiblich Wohl hot gsorgt dr Bäcka Schweikert,dr Feinkost Schmid, dr Ochsametzger Beck.Dr Pfleiderer Hot gsorgt, beim guata Gwissa,für a sanfts Ruhekisse.Fürs Ausseh und fürs Seh,isch dr Mollenkopf gwä.Fürs sauber Bruschttuach hot gsorgt dr Wachter.Ond hosch wella macha a guata Figurbisch zur Grockenberger en d’Kur.Für Schirm, Charm und Melonewaren Sachs und Breuning au net ohne.

Was isch dui Torstroß für a Sträßle gwä.Do hots no koine Beatles gä.Dr Hertner hot en d’Grend scho grendlich gwäschaond ronter gschnitta, was z’viel isch gwä.Dui Torstroß hot sogar a Handelsschual besessa,de wissaschaftlich Buchhandlung net vergessa,hoscht kenna d’Weisheit fast mit Löffel fressa.

’s Schtuagerter Tagblatt hot au drzua g’hört;do hosch kenna lesa, was außerhalb dr Torstroß isch passiert.’s isch net älles akurat so gwesa,d’ Worat hosch au müesa zwischa de Zeila lesa.Und dass dui Zeitung isch morgens pünktlich vor de Türa glä,isch dr Uhra-Walter zuständig gwä.Was isch dui Torstroß für a Sträßle gwä.

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Es waren einfach schlechtere Zeiten, Nachkriegszeit, Inflation.

Die beiden kleineren Buben sind also in der Hauptstät-terstraße 52 ½ geboren und wir Kleinen waren viel bei der Großmutter und schliefen als kleine Kinder dort.

Hellmut war der ganz besondere Liebling von Groß-mutter und Kättele und hatte dort in der Küche eine Ecke für sich mit Tischle und Stühle.

Für unsere Mutter war dies alles viel zu viel, Kinder und Geschäft. Unser Vater sann auf Abhilfe und kam zu folgendem Entschluss: Seine jüngste Schwester hieß Hermine und war 20 Jahre alt. Sie war weit über 80, als sie mir selbst schilderte, wie das zuging. Ich schreibe wortwörtlich genau wie sie es mir sagte: „Der Christian fragte seine Eltern: Kann die Hermine zu uns kommen, zu den Kindern? Die Eltern erlaubten es und ich habe zwei Bedingungen gestellt (das „ich“ ist die 20-jähri-ge Hermine): Volle Erziehungsgewalt über die Kinder und ich muss nie ins Geschäft gehen. Christian hat die Bedingungen voll und ganz eingehalten.“ Was das heißt, kann sich jeder ausdenken. Meine Mutter hatte nichts mehr zu sagen. Es muss für meine Mutter eine bittere Zeit gewesen sein.

Ich selbst habe dies nicht mitbekommen, weil ich noch zu klein war. Aber ich habe noch eine Ahnung davon gespürt, als meine Mutter todkrank im Paulinenspital lag. Es war im Mai 1922. Ich war jeden Tag bei Mama im Krankenhaus. Eines Tages ging die Türe auf und herein wollte Tante Hermine. Mama sah mich an mit Schreck geweiteten Augen, winkte ab mit der Hand und sagte nur: „’naus bitte ’naus.“ Bevor sie im Zimmer war, führte ich die Tante wieder hinaus. Was muss alles passiert sein, wenn ein Mensch angesichts des Todes so reagiert? Und ein Mensch wie Mama, die die Liebe und Güte selbst war. Bei meinem Vater haben eben die Geschwis-ter alles gegolten. Dieser Zusammenhalt ist schön, hat aber auch seine Kehrseiten. Die Angeheirateten kamen erst in zweiter Linie.

Unsere Angestellten wohnten im Haus oben im Dach-stock, im 4. Stock. Es waren Rösle Öttle, die 48 Jahre bei uns war. Sie hatte ein Zimmerle für sich. Marie Knödler war auch über 25 Jahre da; Luise Bauer, später Frau Homolka; Frieda Feuchter aus Backnang – war später bei uns Kindern; zwei Lehrlinge, die Köchin. Alle wohnten oben. Da gab’s kein Wasser, keine Heizung und kein Klo. Das ging nur, weil Großmutter im 3. Stock

D’ Stadtplaner hent se aus am Stadtbild gstricha,dr U-Bahn hot se weicha müssa.

Doch zuvor hen dia no älles renoviertund jeden Backstoi nommeriertbevor se’s uf da Schuttplatz gführt.A Schwobastroich, so könnt mer moina,em Gegatoil, i wills Euch saga,en hondert Johr den dia älles wieder zammatrageund machet, ei der Tauß, a Antiquitätasträßle draus“.

Frau Walter, Uhren-Walter, Torstr.

Da wuchsen wir also auf – sieben Geschwister.1. Margarete (1893–1974) heiratete den Studien-

rat Felder2. Gotthold (1894–1915), gefallen in den Voge-

sen auf dem Hilsenfirst. Schneeschuhkompagnie geführt von Oberleutnant Schaller

3. Wilhelm (1895–1931) wollte Offizier werden; nach verlorenem Krieg sattelte er um, wurde Kaufmann, heiratete 1920 Helene Gonser, übernahm das Geschäft 1925; organisatorisch sehr begabt, arbeitete mit bei den Kickers, Württ. Meister im 100-Meter-Lauf; starb inner-halb drei Tagen an Blutvergiftung am 22. Jan. 1931, es gab noch kein Penicillin; hinterließ drei Söhne, Werner, der erste, ist gefallen, Zwillinge (2. Feb. 1928) Bernhard und Helmut.

4. Hans (1897–1909) starb an Leukämie, ein hübscher, aufgeweckter Bub

5. Elisabeth, 28. Mai 18996. Hellmut (1901–1945) vermisst in Jugoslawien,

Dipl.-Ing.; gründete in Berlin das Haus „Flüssi-ges Obst“; sehr begabt, viele Hoffnungen wurden vernichtet; er heiratete Gisela Aisch, vier Kinder; mit ihm war ich sehr verbunden, er stand mir im Alter am nächsten, hat mir viel geholfen, auch bei der Pflege unseres Vaters

7. Markus, 16. Feb. 1904, war mit Wilhelm ab 1925 beteiligt am Geschäft.

Hellmut, Markus und ich hießen immer die drei Kleinen. Wir durften vieles nicht, was die Großen durften. Da war der Erste Weltkrieg schuldig.

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wohnte. Dort wurde das Wasser geholt, im Winter die Bettflaschen gefüllt und am Abend saßen alle bei Groß-mutter im Wohnzimmer. Da wurde gestrickt, genäht, gesungen und manches Schöne gebastelt, meist für uns Kinder zu Weihnachten. Da ging es meist recht lustig zu. Rösle ging abends zu ihrem Bruder, der eine Wirtschaft in der unteren Hauptstätterstraße hatte, den „Welzhei-mer Wald“, dort unten aß sie ihr Abendbrot und half auch beim Bedienen. Sie war 48 Jahre bei uns, starb ganz schnell im Februar 1956. Sie war nie krank und war immer da. Sie kam 1908 zu uns, war vorher bei ei-ner Familie Wolter als Köchin und konnte hervorragend kochen, hat bei allen Konfirmationen im Haus gekocht. Sie war eminent tüchtig und gefürchtet bei den Lehr-lingen. Ihre Warenkenntnisse hat sie bei unserem Vater erworben. Wir haben sie in ihrer Heimat in Welzheim begraben.

Es kommen jetzt noch Kunden ins Geschäft, die nach ihr fragen (1986). Sie ist unvergessen. Sie war auch die Chefin, nachdem meine Mutter so früh gestorben war (1922).

Bei uns im Hause wurde sehr viel gespielt. Scharade war sehr beliebt, und da machte alles mit und alle Klei-der und Hüte musste zu den Verkleidungen herhalten. Quartett spielen taten wir sehr gern und alle Brettspiele, die es gab wie Mühle, Dame usw. Die Buben spielten mit unserem Vater Schach – Stunden lang. Es gab noch kein Radio, kein Fernsehen. Die Kinder waren noch nicht abgelenkt von den vielen Medien. Für mich war, seit ich mir denken kann, das Lesen die schönste Beschäf-tigung. Und ich verschlang alles, was mir in die Hände kam. Die Bücher der Buben, es gab die Gartenlaube, sicher verstand ich vieles noch nicht. Ich fand immer irgendwo ein Plätzle, wo ich ungestört war; auf der Büh-ne, im Klo und oft wurde ich durch Margret aufgestö-bert, die mich verklagte: „Da hockt sie wieder und liest.“

Im Sommer war dann der Garten da. Mein Vater hatte immer einen Garten. Der erste war in der Etzelstraße, der bis zur Neuen Weinsteige hinauf ging. Er war ziem-lich groß und da gab es sehr viel Obst, so dass wir oft im Herbst auf den Markt fuhren zum Verkauf des Obstes. Der einzige, der von uns Kindern gern im Garten schaff-te, war Hellmut. Er hatte in der Etzelstraße immer ein Beet für sich, das er selber anpflanzte. Es war dort ein sehr hübsches Gartenhaus mit zwei Räumen, in dem mein Vater oft übernachtete.

Der Garten war gepachtet. Etwa um 1908 kaufte unser Vater in der Altenbergstraße ein Grund-stück, 6 ar groß – kostete 6000 Mark. Das war zu Fuß etwa ¾ Stunde, anders konnte man ja gar nicht hinkommen. Und da wurde nun sehr viel gearbeitet und hinein gesteckt. Es war ein sehr steiles Stück. Aber beim Gartenhaus war ein ebe-nes Stück, wo Tisch und Stühle standen und ganz unten am Eingang war auch eine ebene Fläche, wo ein Kegelspiel (Luftkegel) angebracht wurde und das sehr fleißig benutzt wurde. Anpflanzen konnte man nicht viel. Es gab Obstbäume, haupt-sächlich gelbe Pflaumen. Wir nannten sie nur Schei…-Pflaumen. Wenn man sie mit nach Hause nahm, lief unten die Brühe raus bis wir daheim waren. Es wurden viele Feste und Einladungen veranstaltet und das ganze Essen wurde immer mitgenommen. Da gab es viel zu tragen und zu schleppen und wir wären auch manchmal gerne wo anders hingegangen; aber der Garten ging vor.

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und herein kam Maria Dengler, meine Nachbarin von der Torstraße 4 und wollte mich abholen. Den Schul-ranzen auf dem Rücken, einen großen Schirm in der Hand, eine schwarze Schürze an. Aber ich konnte nicht mitgehen.

Ich fuhr mit Mama mit der Pferdetaxe ins so genann-te Olgäle in der Schloss-Straße, kam zuerst in einen großen Saal mit vielen Kindern, betreut von Schwester Anna, vor der alle Kinder Angst hatten. Es wurde Schar-lach und Masern festgestellt. Ich wurde ins Hinterhaus in den 3. Stock verlegt und niemand durfte mich besu-chen. Manchmal durfte ich zum Fenster hinaus sehen. Da standen unsere Mama und vielleicht einige Ge-schwister. Das war bitter. Nicht einmal sprechen konnte ich mit denen. Der Großvater von Aichelberg besuchte mich. Das war der einzige Besuch in sechs Wochen.

Die Zeit ging vorüber und ich kam dann in die 1. Klas-se zu Herrn Götz in das Evangelische Töchter-Institut

Den Garten hat Hellmut geerbt und er hat ihn dann wieder verkauft, als er seine Firma in Berlin gründete. Gekauft hat ihn Onkel Gonser, der Schwiegervater von Wilhelm, für dessen Buben: Werner, die Zwillinge Helmut und Bernhard. Wilhelm war da schon gestorben (1931). Später ist der Garten verwildert. Im Häusle, das auch nett eingerichtet war und an dem außen eine Du-sche angebracht war, übernachteten Penner und niemand ging mehr hin. Jetzt hat ihn die Stadt übernommen (1986).

1905 kam ich in die Schule. Ich freute mich sehr darauf. Aber als der erste Tag anbrach, wurde ich krank. Ich sehe mich noch stehen auf der Bank, weinend an die Mama gelehnt. Die Türe ging auf

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in der Paulinenstraße im Hinterhof. Von dieser 1. Klasse weiß ich nur noch, dass ich von Herrn Götz vor versam-melter Klasse eine Tatze bekam, aus welchem Grund, weiß ich nicht mehr.

Über der Eingangstüre stand mit goldenen Buchsta-ben: „Weide meine Lämmer.“ Die Schule wurde allge-mein „der Lämmerstall“ benannt. Es war eine streng pietistische Schule und die meisten Lehrer mochte ich nicht, auch nicht die Lehrerinnen. Sie kamen mir alle schrecklich alt vor. Die Turnlehrerin, Fräulein Brude, war 70 Jahre alt.

Meine Lieblingsfächer waren Singen und Tanzen, und der Gesanglehrer, der in der 4. Klasse unser Klassen-lehrer war, war auch ganz anders wie die anderen. Ihn hatten wir leider nur ein Jahr, aber im Singen alle Jahre. Eines schönen Tages rief er mich auf und sagte: „Pfleide-rer, jedes neue Lied singst du von jetzt ab immer zuerst allein vor.“ Das hat mich sehr gefreut.

Es war Martin Metzger, später Professor an der Musikhochschule. Alle vier Jahre hat er ein Schulkonzert in der Liederhalle organisiert und das habe ich zwei Mal mitgemacht. Zuerst

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Ja, ich musste also raus aus der Schule. Mein Vater meinte, ich solle lernen, Aussteuern zu verkaufen. Das wäre nun das Wichtigste. Aber ich muss mir selbst Schuld geben. Wäre ich meinem Vater um den Hals gefallen und lieb zu ihm gewesen, hätte er mir bestimmt meinen Wunsch erfüllt; aber wir konnten unsere Ge-fühle nicht so zeigen – er übrigens auch nicht, da waren wir uns ähnlich, und so war ich fertig mit der Schule, was mich mein ganzes Leben bedrückt hat und mir jetzt noch leid tut.

Die Konfirmation war am 22. März 1914, mein Spruch hieß: „Es ist ein köstlich Ding, dem Herrn danken und lobsingen deinem Namen.“

Wir waren sieben Kinder und jedes Kind durfte ein In-strument spielen. Wir beiden Mädchen spielten Klavier. Wilhelm, Gotthold, Hellmut und Markus spielten Geige. Schade war nur, dass unser Vater mit den Musiklehrern kein Glück hatte.

Zuerst spielten die Buben, die zwei großen, bei einem Herrn Genssler, später bei Herrn Alfred Beschel, bei dem auch ich Klavier lernte. Der war Klarinettist am Theater und war ein furchtbar nervöser Mann. Wir hat-ten alle Angst vor ihm. Die Buben schnitten sich manch-mal absichtlich in den Finger, damit sie nicht mehr spielen konnten, oder wünschten sich zu Weihnachten, dass sie nicht mehr in die Geigenstunde mussten. Nur Gotthold hat auch später weiter gespielt. Er spielte in ei-nem Streichquartett mit. Der erste Geiger war Herr Bau-er, zweiter Gotthold, Bratsche Herr Fichtner und Cello Waldemar Mayer. Sie übten regelmäßig, nur Salonmusik und übten auch oft bei uns und hatten einen geselligen Freundeskreis. Einmal gab es einen Tanzabend in einem kleineren Saal der Liederhalle, wo ich auch eingeladen war. Auch mein Vater war dabei, so was machte ihm Freude. Gotthold war ganz anders wie wir drei jüngeren Kinder – wir waren viel gehemmter und schüchtern – ein fröhlicher und geselliger Mensch.

An dem Tag, wo ich Stunde hatte, wachte ich schon in aller Frühe auf mit Angst beladen vor der Klavier-stunde. Manchmal hatte Herr Beschel keine Zeit und seine Frau hat ihn vertreten. Ich ging hin in die Sil-berburgstraße – das Musikzimmer war außerhalb der Glastüre – und horchte zuerst am Schlüsselloch. Und

in der 4. Klasse, da hatten wir als die Jüngsten alle weiße Kleider an und ein Blumenkränzle im Haar. Beim zweiten Konzert war ich in der 8. Klasse. Da durfte jedes Mal eine Solo singen und er versprach mir: „Das nächste Mal darfst du Solo singen.“ Aber es kam leider nicht dazu, weil ich schon in der 8. Klasse die Schule verlassen musste.

In der 8. Klasse hatten wir noch einen Lehrer, der sich von allen anderen Kollegen abhob und wir schwärmten ihn an, das war unwahrschein-lich. Es war Max Rösch, später Professor und Direktor des Olga-Stifts. Er war Oberreallehrer und wir nannten ihn „Ober“.

Die Sitzordnung in der Klasse richtete sich damals nach den Zeugnissen. Die vier besten Schülerinnen saßen in der hintersten Bank. Die erste, d. h. die mit den besten Zeugnissen, hieß Jula Berrer, ihr Vater war Bäcker in der Char-lottenstraße; es folgte Else Liebhard, ihr Vater war der erste Prokurist der Firma E. Breuninger, ein sehr frommer Mann; die dritte war Marta Schwarz, Tochter eines Stadtmissionars und die vierte Emilie Keitel – alle in der hintersten Bank; ich selbst war die fünfte und saß in der zweiten Bank. Nur im Stricken saß ich vorne, damit die Lehrerin gleich bei der Hand war, wenn wieder eine Masche gefallen war. Wir strickten graue, dicke Männersocken. Der Name war unten ange-näht und wenn sie den Namen las, hieß es gleich: „Natürlich, die Pfleiderer.“ Es war schrecklich lang weilig.

Im Turnen waren wir die ersten, die Hosen an-ziehen durften, die wurden extra angefertigt aus dunkelblauem Wollstoff und gingen bis über die Knie und aus gleichem Stoff eine lange Bluse mit viereckigem Ausschnitt. Das war natürlich ein enormer Fortschritt und wir waren ganz stolz mit den Hosen.

Über die Mittagszeit, wenn keine Schule war, gingen wir manchmal in die nah gelegene Mari-enkirche. Dort gefiel es mir und wir bewunderten die geschmückten Altäre und die Bilder. Es war alles so anders wie bei uns. Eines Tages kamen diese Besuche heraus und wir durften nicht mehr dorthin. Es wurde streng verboten.

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welches Glück, wenn ich hörte, dass seine Frau da war. Bei ihm musste ich oft dableiben, im Nebenzimmer war noch ein Klavier, und musste dort weiter üben. Oder er schlug mir mit einem dicken Bleistift auf die Finger; das tat weh. Oder ich musste am anderen Tag nochmal kommen.

Herr Beschel hat auch den Albvereins-Männerchor dirigiert. Da sang Onkel Sigmund mit. Die hatten auch alle Angst vor ihm.

Der einzige, der es in der Geige zu etwas gebracht hat, war Onkel Markus. Er hatte auch viel bessere Lehrer, z. B. Willi Müller und später Herr Weinberger, dessen Tochter eine beachtliche Geigerin und befreundet mit Markus war.

Mein Bruder Hans spielte Zither. Übrigens später spielte Wilhelm Gitarre und Mundharmonika zugleich, welch letztere oben an die Gitarre angeschraubt wurde und Gotthold spielte noch Mandoline.

Etwa im Jahr 1913 kaufte unser Vater einen Schied-mayer-Flügel, einen Stutzflügel, der leider 1944 ver-

brannte. Ich hatte dann noch Unterricht bei Fräu-lein Schöntal aus Korntal. Die kam ins Haus, war Pauer-Schülerin. Da machte mir die Sache Spaß. Von Edward Grieg der Hochzeitstag auf Trold-haugen gefiel mir besonders gut und ich übte ihn ohne ihr Wissen ein, um ihr eine Überraschung zu machen.

Im Nebenzimmer saß meistens mein Vater und hörte zu. Ich spielte ihr also das Stück vor, voll Freude, was sie sagen würde. – Sie war beleidigt und sagte: „Da brauchst du ja mich nicht mehr.“ Im gleichen Moment guckte mein Vater rein und fragte: „Habet jetzt Sie des g’spielt oder mei’ Toch-ter?“

Ich war als Kind sehr zart und viel krank und hatte viele Krankheiten. Wie ich noch kleiner war kam als Arzt Medizinalrat Köstlin. Ich mochte

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der Brust operiert und 1922 an Darmkrebs, 14 Tage vor ihrem Tode nochmals. Sie starb am 20. Mai 1922. Ich war bei Mama jeden Tag im Krankenhaus von morgens bis am Abend. Dr. Gundert kam jeden Tag zu ihr und hat täglich selbst den Verband am Magen erneuert. Er erzählte dabei alle möglichen Dinge, die meine Mutter interessieren konnten und arbeitete dabei schnell und geschickt und meine Mutter war abgelenkt. Er stellte auch Fragen und sie musste sich besinnen. Ich habe viel später bemerkt, warum er das so machte. Er mochte unsere gute Mutter und sie ihn auch und vertraute sich ihm voll und ganz an.

Als er meine Mutter das erste Mal operiert hatte, sagte er nachher: „Sie lebt vielleicht noch sechs Wochen.“ Das war im Februar und sie starb am 20. Mai 1922. Im April ging es ihr ganz gut und sie machte Pläne, wo-hin sie zur Erholung gehen könnte. Auch mein Vater schöpfte wieder Hoffnung. Ich nicht. Ich wusste, wenn Gundert etwas sagt, stimmt es. Er hat sich nur in der Zeit getäuscht und sagte später zu mir: „Ich werde nie mehr eine Zeitangabe machen.“ Dies alles spielte sich im Paulinen-Hospital ab (das steht nicht mehr).

Die Betreuung der Schwestern war vorbildlich. Die Schwester, die meine Mutter pflegte, hieß Rosine Schaf aus Backnang. Die Stationsschwestern damals hatten ihr Zimmer auf der Station selber und waren Tag und Nacht zu erreichen. Schwester Rosine war rührend lieb und besorgt. Ich habe viel bei ihr gelernt. Es war abends, Rosine und ich betteten Mama frisch. Wir stan-den rechts und links von ihr und hielten sie an Arm und Schulter. Plötzlich verdrehte Mama die Augen und ließ den Kopf sinken. Rosine rannte fort und kam im Nu mit einer Spritze wieder und Mama kam wieder zu sich. Am nächsten Abend in der gleichen Situation sagte Mama nur: „Warum habt ihr mich gestern Abend nicht sterben lassen?“

Es wäre ihr viel erspart geblieben, wenn sie da hät-te sterben dürfen. Neben dem Zimmer meiner Mutter war der Operationssaal. Die Operationsschwester hieß Käthe und sie nahm mich manchmal mit und ich durfte bei Operationen zusehen. Einmal, es war schon Nacht, nahm mich Dr. Gundert mit zur Operation, es war niemand anderes greifbar, zum Helfen. Es war eine Ausschabung. Die Patientin war die Frau von Wilhelms Freund, Frau Göhrum. Ich musste die zwei Instrumen-te halten, die die Scheide öffneten; das ganze Blut ist

ihn nicht. Später kam Dr. Gustav Gundert, ein großartiger Mann. Er war praktischer Arzt und zugleich Operateur. Morgens operierte er, mittags machte er Besuche. Er kam jederzeit, wenn man ihn anrief, bei Tag und Nacht. Er hat vier Genera-tionen bei uns behandelt. Die Großmutter, meine Eltern, uns Kinder und teilweise auch meine Kinder. Er hat unseren Vater behandelt – bis zum Tode. Er hatte Zucker.

Er hat Wilhelm am Kropf operiert. Wilhelm ließ sich operieren, dass er bestimmt zum Militär kommen würde. Er hat unsere Mutter 1912 an

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mir über die Hände geflossen. Ich war stolz, dass ich es konnte und wäre später selber gerne Schwester gewor-den.

Schwester Rosine stand jeden Abend mitten ins Zim-mer und betete das Lied:

„Gott der Tage, Gott der Nächte, meine Seele harret Dein, lehnet sich an Deine Rechte, nie kannst Du mir ferne sein. Auch in stiller Nächte Stunden hat Dich manches Herz gefunden und sich aus dem Lärm der Welt einsam bei Dir eingestellt.

Vater, viele Brüder weinen, viele Kranke schmachten nun. Aber Du verlässest keinen, heißest wachen, heißest ruh’n, trocknest viele tausend Tränen und erfüllst das heiße Sehnen unzählbarer Leidenden, die nun Ruh und Lind’rung fleh’n …“

Alle sechs Verse hat sie gebetet. Dann ging ich heim und war am anderen Morgen wieder da.

Das war also Dr. Gundert. Ich habe ihn sehr verehrt und nie mehr einen solchen Arzt kennen gelernt. Ich erinnere mich noch, wenn ich als Kind krank war, und er war bei mir am Bett fertig, holte unser Vater einen Wein herauf und sie saßen beide im Zimmer, tranken ihr Viertele und unterhielten sich. So was wäre heute nicht mehr möglich. Zuletzt war er bei uns, es war im Krieg. Kätterle war krank und lag im Musikzimmer, es war, glaube ich, 1944. Ich begleitete ihn hinunter zur Haustüre. Er war ein Gegner von Hitler und sagte zum Abschied: „Jetzt können wir nichts anderes machen als fest zusammenhalten.“

Sein Grab auf dem Prag-Friedhof habe ich manch-mal besucht. Er hat vier Generationen unserer Familie behandelt.

Im Geschäft gab es auch immer wieder was zu tun für uns. Hellmut und ich machten das meistens zusammen. Z. B. Päckle austragen. Einmal ging’s in die Villa Gießler in der Hohenheimerstraße am Bopser; das Haus steht heute noch. Unten am Tor stand: „Eingang für Dienerschaft und Lieferanten hinten.“ Es war ein schöner Garten ums Haus (heute noch) und wir gingen brav ums Haus herum nach hinten. Dort war eine große Terrasse. Ein großer Bernhardinerhund kam auf mich zu, sprang an mir hoch und legte seine beiden Pfoten auf meine

Schultern. Ich stand nun Auge in Auge mit ihm und war sehr erschrocken. Hellmut stand hinter mir und flüsterte nur: „Lise.“ Ich blieb ganz still. Der Hund rutschte mit den Pfoten ganz langsam abwärts. Ich ging mit Helmut rückwärts auch langsam bis zur nächsten Hausecke und wir rann-ten dann zur vorderen Türe. Angst hatten wir schon. Vielleicht hätte uns der Hund nichts getan, wer weiß?

Mein Vater bezahlte die Rechnungen an die Stuttgarter Firmen mit Schecks, die ich austragen durfte. Eine Firma ist mir in besonderer Erinne-rung. Es war die Firma Steidinger, Taschentücher, in der Nähe der Garnisonskirche. Herr Steidin-ger war ein großer, stattlicher Herr mit grauem Vollbart, sehr freundlich und liebenswürdig. Von ihm bekam ich jedes Mal ein Madeira-Taschen-tuch Leinen, handfestoniert, so was vergisst man nicht. Es ist so wichtig, Kindern etwas zu schen-ken.

Weihnachten feierten wir immer schon am 24. Dezember morgens um sieben Uhr. Aus Rück-sicht auf Fräulein Rösle und Marie, die mittags um vier Uhr nach Hause fuhren nach Welzheim über Schorndorf mit der Bahn und von da weiter mit der Postkutsche mit Pferden. Unsere Mutter hat das immer sehr schön und feierlich gestaltet. Im Wohnzimmer waren auf dem langen Tisch alle Geschenke für unsere Mitarbeiter aufgebaut. Ich glaube, sie hat sich das ganze Jahr viele Gedan-ken gemacht und erkundet, was jedes brauchen kann oder sich wünscht. Damals gab es noch kein Geld als Geschenk. Es war alles schön eingepackt. Wir hatten damals schöne Schachteln im Ge-schäft für die Kleiderstoffe, die wir noch führten. An jedem Platz stand ein großer Teller mit herr-lichen Gutsle.

Die Gutsle wurden immer gut versteckt vor Weihnachten, aber wir Kinder, wahrscheinlich besonders ich, fanden sie immer wieder.

Mindestens fünf bis acht Jahre hintereinander waren wir in Ferien in Aichelberg über Beutels-bach im Remstal bei Bauer Gottlieb Wendnagel

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Abends um neun Uhr läutete die Betglocke. Großmutter stellte sich mitten ins Zimmer, wir alle drum herum, sie betete: „Liebster Mensch, was mag’s bedeuten, die-ses späte Abendleuten? Es bedeutet abermals, deines Lebens Ziel und Zahl. Dieser Tag hat abgenommen, bald wird auch der Tod herkommen. Drum oh Mensch so schicke dich, dass du sterbest seliglich.“

Noch später, wenn es dunkel war und die Sterne am Himmel funkelten, ging Mama mit uns auf die Straße und erklärte uns die Sternbilder – großer und kleiner Bär, Kassiopeia, Milchstraße, den Abendstern.

Das Haus von Gottlieb Wendnagel war ein so genann-tes Stundenhaus. Hier wurde an allen Sonntagnach-mittagen „Stunde“ abgehalten. Der Vater von Gottlieb Wendnagel, wir durften Großvater zu ihm sagen, war im Schurwald ein bekannter Stundenhalter und es kamen zu den Stunden viele Bauern mit ihren Frauen mit Pfer-den und Wagen angefahren. Das waren offene Wagen mit einem Dach drüber, zwei Sitzbänken an der langen Seite mit Stoffvorhängen, die aber nur bei schlechtem Wetter zugezogen wurden.

Als ich im Jahre 1906 zur Schule kam, musste ich vor Beginn der Schule ins Krankenhaus ins Olgäle in der Bismarckstraße. Ich war einige Wochen ganz allein isoliert in einem Hinterhaus. Da hat mich der Großva-ter aus Aichelberg besucht und brachte mir eine rie-sengroße Orange mit. Das habe ich ihm nie vergessen. Die Mama durfte nur unten im Hofe stehen und herauf schauen und ich schaute vom Fenster aus hinunter. Da hatte ich schreckliches Heimweh. Ich hatte Scharlach und Masern.

Im Jahre 1908 gab es ein ganz besonderes Ereignis. Im Dorfe verbreitete sich wie ein Lauffeuer die Nachricht: „Der Zeppelin ist in Echterdingen gelandet!“

Unser Bauer spannte seinen Berner Wagen an, wir stiegen ein. Es waren dabei: Unser Vater, Margret, Wilhelm, Gotthold, Markus, ich und ein Kurgast Nelli Tester, die Tochter der Stuttgarter Kammersängerin Emma Tester. Später habe ich sie oft in Kirchenkonzer-ten gehört. Sie war Jahre lang in Stuttgart der Sopran. Eben die Tester hatte eine herrliche klare und hohe Sopranstimme. Also nun ging’s fort nach Echterdin-gen über Esslingen. Unterwegs sahen wir ihn ganz in

etwa 1903–1908. Die Reise dorthin war immer eine besondere Attraktion. Unser Vater miete-te einen offenen Lastwagen mit zwei kräftigen Gäulen davor. Der Besitzer kam aus Beutelsbach, hieß Schwarz und fuhr uns selbst. Die gesamten Bettstücke mit Wäsche, alles Koch- und Essge-schirr wurden mitgenommen. In der Mitte des Wagens wurde das Kindertischle mit Stühlen auf-gestellt, auf denen wir Kinder saßen. Das kleinste Kinderbett stand auch oben, in dem Markus als Kleinster lag. Auf Kisten, Koffern und Schachteln saßen Kätterle, das Kinderfräulein, und hinter uns fuhr eine Kutsche, in der Mama und die Großmutter saßen. So ging es die Hauptstätter-straße hinunter und manchmal sprangen Kinder hinter uns her, die schrien: „Zigeuner kommen.“

Mir kam es immer vor, wie eine Reise nach Amerika. In Aichelberg bewohnten wir den 1. Stock. Es waren zwei große Zimmer, Küche, eine Kammer, ein kleiner Saal, in dem Stunde gehalten wurde, dahinter noch eine Kammer. Für jetzige Zeiten war es primitiv und eng. Und wo wir alle schliefen, ist mir rätselhaft. Im ganzen Ort gab es solche Ferienwohnungen und es waren immer viele Stuttgarter Familien mit Kindern da. Unsere Buben waren dann sehr beschäftigt in Scheuer und Stall und auf dem Acker. Überall halfen sie mit. Besonders schön waren die Fahr-ten mit dem leeren Leiterwagen und den Kühen aufs Feld und dann zurück oben sitzend auf dem hohen Garbenwagen.

Sehr interessant war das Dreschen, das von Hand mit Dreschflegeln ausgeführt wurde, auf dem Boden der Scheune. Einer nach dem anderen schlug zu im gleichen Takt. Jeder Schlag klang anders. Aus jeder Scheune tönte dieses rhyth-mische Klopfen: „Tick-tack-tock-tuck, tick-tack-tock-tuck.“ Ich habe es heute noch im Ohr, wenn ich daran zurück denke. Hinterm Haus war eine große Baumwiese, auf der wir tollen und spielen konnten.

Der Bauer war großzügig, schaffte sich stets neue Maschinen an, die er meist nicht verstand. Schließlich baute er hinterm Haus einen größeren Schuppen, in den die Maschinen nach und nach hinein gestellt und nicht benutzt wurden.

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der Ferne auf einem Felde liegen. Er sah aus wie eine silberne Zigarre. Als wir Stunden später ankamen war das Unglück passiert. Der Zeppelin war verbrannt. Wir sahen nur noch das Gerippe aus Aluminium liegen und drum herum staute sich eine Menge von Menschen.

Sonntags wurde immer gewandert. Mit der Straßen-bahn nach Degerloch und von da auf die Fildern, oft machten wir Halt in einer Wirtschaft. Der Eigentümer war Kunde von uns. Wir Kinder saßen außen im Garten und bekamen Kräuterkäse. Papa saß innen und trank sein Viertele. Öfter gingen wir nach Ruit, wo die älteste Schwester meines Vaters verheiratet war (Tante Mar-ta) mit Christian Werz. Er war Lehrer. Die Schule war gegenüber der Kirche, die jetzt nicht mehr steht. Eine neue Kirche wurde gebaut. Bei der alten Kirche war ein schöner Garten. Ich erinnere mich noch an eine alte Mauer, an der es viele Veilchen gab. Der Pfarrer hieß Mörike. Oft waren wir auf der Alb. Da ging meistens Onkel Sigmund mit, ein lediger Bruder meines Vaters. Er war beim Albverein und kannte sich auf der Alb gut aus und wanderte viel.

Das Hotel Traifelberg war damals noch ganz auf der Höhe. Herr Glück, der Inhaber, ein feiner Herr. Das war schon etwas Besonderes, wenn wir in dieses elegante Haus gingen.

Junge Mädchen konnten in seinem Betrieb das Kochen lernen. Ich war damals vielleicht 17 Jahre alt und bat ihn um Aufnahme in seine Küche. Er hat ab-gelehnt – warum? Vielleicht war ihm die Familie nicht gut genug.

Eine Wanderung ist mir bis heute in beglückter Erin-nerung. Es ging nach Warmbronn bei Leonberg zu dem Dichter Christian Wagner. Wir saßen bei ihm an seinem Tisch in der einfach eingerichteten Wohnstube. Mein Vater unterhielt sich längere Zeit mit ihm, über was, weiß ich nicht mehr. Ich habe es vielleicht auch nicht verstanden. Es war im Jahr 1908, ich war 9 Jahre alt. Aber verstanden habe ich den Ausdruck seiner blauen Augen, voll Güte und Warmherzigkeit, den ich bis heute nicht vergessen habe. Er schenkte mir zwei Gedichte, handgeschrieben von ihm selber. Beim Hinausgehen blieb er vor der Haustüre stehen und rief laut mit seiner hellen und hohen Stimme: „Weih, weih, weih!“

Und sogleich flatterten mit ausgebreiteten Flügeln drei Gänse daher und er fütterte sie. Auch dieses Bild ist mir unvergesslich! Die Gedichte habe ich vor einigen Jahren der Christian-Wagner-Gesell-schaft übergeben.

Sein Haus wurde renoviert und eingeweiht. Ich bekam eine Einladung und war mit Ruth dort. Albrecht Goes hielt die Ansprache. Er endete mit den Strophen:

„Dein ist alles, all der Blumen Blühen,Wenn hervor sie aus dir selber glühen,All die Rosenknospen auf der Erden,Wenn sie Rosen in dir selber werden.

Dein ist alles, was ob Tal und HügelnLichtvoll sich in Dir mag widerspiegeln,Dein die Himmel selbst und selbst die Sterne,Wenn du Glanz hast für den Glanz der Ferne.“

Viele Spaziergänge gingen nach Korntal zu Tante Maria. Das war die Lieblingsschwester meines Va-ters. Sie war verheiratet mit Otto Bührlen, Profes-sor am Internat in Korntal. Sie besaßen ein großes und schönes Haus mit sehr großem Garten. Sie hatten immer etwa zehn Buben als Pensionäre im Haus wohnen. Die Schlafzimmer der Buben waren unten zu ebener Erde. Das Klo befand sich außen vor dem Haus. Für die Buben war alles von spartanischer Einfachheit, besonders das Essen.

Onkel Otto, er war mein Patenonkel, war im Haus und in der Schule verhasst, während Tan-te Maria mit ihrer fröhlichen Art zu vermitteln versuchte. Wenn bei meinen Brüdern Gotthold und Wilhelm die Zeugnisse schlecht waren, das kam vermutlich öfter vor, hieß es: „Wenn ihr nicht besser werdet (die Zeugnisse), kommt ihr nach Korntal.“ Das war das Schlimmste, was passieren konnte. Ich erinnere mich, es war viele Jahre spä-ter, war ein Vertreter im Geschäft bei mir, er hieß Schöllkopf, der erzählte mir: „Ich war auch in Pension als Schüler im Hause Bührlen. Es kamen öfter Besuche ins Haus, die auch mit am Tisch saßen zum Essen. Es war wieder mal Besuch da,

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meistens drei Tage dauerte. Dazu kam Frau Zeh. Sie und Kätterle bügelten. Es war ein kleiner Bügelherd da, auf dem rundherum etwa sechs Eisen standen, die mit dem Griff des Eisens weg genommen wurden und wenn sie kalt waren, immer wieder ausgewechselt wurden. Oben stand ein großer Topf, in dem Kernles-Tee oder ähnliche Dinge gekocht wurden.

Wenn das Bügeln stattfand, war Großmutter nicht immer guter Laune. Sie sah, wie Kätterle und Frau Zeh sich so gut unterhielten und konnte es selbst nicht hören. Das war bitter. Sie hatte durch eine Krankheit in der Jugend schon schlecht gehört, was sich immer mehr verstärkte. Ich kannte sie nur als ganz taub.

Kätterle war befreundet mit Zeh und da wurden alle Nachbarn durchgesprochen. Herr Zeh wohnte mit seiner Frau auch in der Hauptstätterstraße. Er war Glaser-meister und er wechselte im Frühjahr und Herbst im ganzen Haus die Vorfenster aus oder ein. Im Sommer standen die Vorfenster bei uns oben auf der Bühne. Im Herbst wurden alle heruntergeholt, vor dem Haus auf der Straße aufgestellt und geputzt. Sie waren alle bezeichnet und es war eine Riesenarbeit, immer die passenden Fenster richtig einzusetzen. Im Frühjahr mussten alle wieder ausgehängt und auf die Bühne ge-tragen werden. Herr Zeh war ein bekannter Mann in der Gegend und meist gut aufgelegt und wusste natürlich Bescheid über jedermann, der hier wohnte.

In Großmutters Küche wurden auch die Bohnen ge-richtet, die im Keller eingelagert wurden. Die Bohnen wurden gegipfelt (die Fäden abgezogen und mit einer kleinen Maschine geschnitten). Dabei habe ich auch immer geholfen. Jedermann, der Zeit hatte, machte mit. Da wurde gesungen und erzählt, es war immer lustig. Auch das Sauerkraut wurde in einer Stande (so hieß das Gefäß) im Keller eingemacht. Vorher kam eine Frau, die in der Waschküche das Kraut geschnitten hat, auch mit einem besonderen Gerät, das sie mitbrachte. Da gab es in dem großen Haushalt immer viel zu tun und es war ein Glück, dass Großmutter oben wohnte. So konnte die Küche unten entlastet werden. Großmutter wurde auch immer das Gemüse zum Putzen gebracht, Kartoffel zum Schälen und was sie im Sitzen machen konnte.

Unsere Mutter war ja meistens im Geschäft. Aber eines machte sie immer selbst. Das war kochen für unseren Vater. Er war seit seinem vierzigsten Lebens-jahr zuckerkrank und durfte vieles nicht essen, was auf

der oben beim Professor saß. Und da wurden oben lauter gute Sachen aufgetischt, bei uns Buben natürlich wie immer das einfachste Essen. Ich musste lachen. Der Professor fragte mich: ‚Warum lachst du?‘ – Schweigen. – ‚Du wirst nicht bestraft, wenn du es sagst!‘ Also sagte ich mit lauter Stimme: ‚Ich freue mich, wenn ich einmal zu Besuch hierher komme und dann auch so feine Sachen zu Essen bekomme, wie jetzt der Gast.‘ “

Auch hier war einmal ein berühmter Dichter da, und ich sah ihn am Tisch bei den Buben stehen, eine hohe, sehr schlanke Gestalt; es war: „Her-mann Hesse.“ Sein Vater wohnte im Hause in einer kleineren Dachwohnung mit seiner Tochter. Der alte Herr war damals blind, eine ehrwürdige Erscheinung mit langem weißen Bart.

Tante Maria hielt ein großes Haus mit viel Ein-ladungen, zu denen ich oft eingeladen wurde. Das war 1920 oder später. Ich habe da oft gesungen und Tante Maria versuchte vergeblich, mich mit einem passenden Mann zu verheiraten, welche auch dazu eingeladen wurden; Gott sei Dank klappte das nicht.

Wenn bei uns große Wäsche war, kamen zwei Waschfrauen, morgens sicher etwa um fünf Uhr. Die wuschen alles per Hand – die Riesenwäsche von sieben Kindern und Eltern und allen Ange-stellten, die bei uns wohnten. Besonders schwie-rig war es mit dem Aufhängen zum Trocknen. Auf der Bühne bei uns war der Platz zu klein. Es gab verschiedene Nachbarn, die eine Plattform auf dem Dach hatten, z. B. auf dem Wilhelmsplatz bei Konditor Barhet, Ecke der Leonhardstraße. Dort-hin wurden die schweren Körbe drei Stockwerke hoch aufs Dach geschleppt, immer von Kätterle und noch jemand anderem. Das war eine schwere Arbeit und ich durfte als Kind meistens mitgehen und helfen beim hinaufreichen der Wäschestücke. Oder ging’s zum Bäcker Schweikhardt in der Tor-straße gegenüber, zum kleinen einstöckigen Hin-terhaus mit Plattform. Das war zum Glück nicht so hoch. Eine besondere Attraktion war dann das Bügeln, das in Großmutters Küche stattfand und

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den Tisch kam. Meine Mutter studierte viele Diätkoch-bücher, hat sich die besten Rezepte herausgeschrieben. Leider ist dieses handgeschriebene Kochbuch auch mit allem anderen verbrannt.

Hier war die Schwester meines Vaters, Elise, verheira-tet. Nachdem sie sieben Jahre auf einen Mann gewartet hatte, den sie liebte und nicht heiraten durfte, wurde sie hier die dritte Frau des Jakob Höhn. Seine zwei ersten Frauen waren gestorben. Ich habe die Tante sehr gern gehabt. Ich vergesse nie, wie sie beim Träublezopfen auswendig sämtliche Verse von der Bürgschaft (Schiller) mit großem Pathos aufsagte.

Er, Onkel Jakob Höhn, war ein großartiger Mann, für mich der liebste Onkel. Er war Bauer und Schultheiß von Effringen. Die Bauern kamen zu ihm, um sich Rat bei ihm zu holen. Er hat sich eingesetzt für seine Bauern und ist ihnen mit Rat und Tat beigestanden. Ich war einmal während des 1. Krieges einige Monate dort und habe ihm unter anderem manches geholfen auf dem Rat-haus, Bezugsscheine geschrieben, Zucker abge-wogen usw. Er kam oft müde und abgekämpft abends nach Hause. Da habe ich ihm manchmal einige Lieder vorgesungen und er sagte dann zu mir: „Du bist mein David.“ Dieser Dank hat mich mehr gefreut, wie viele Konzertbesprechungen in späteren Jahren.

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Plötzlich schlug mein Vater mit der Faust auf den Tisch und schrie den Matrosen an: „Du Lausbub, Du bist’s ja selber.“ Auf die gleiche Weise fuhr der Matrose nach Waiblingen zu seiner Mutter, die ihn auch nicht gleich erkannte.

Erzählen möchte ich noch, bei unseren Besuchen in der Bopserstraße sangen wir zum Schluss alle begeis-tert, er mit guter Stimme voran, alle Verse:

„Auf dem Meer bin ich geborenauf dem Meere ward ich groß;zu dem Meer hab ich geschworenes zur ewgen Braut erkoren:sinket drum des Todes Losauf dem Meer stirbt der Matros’

Schwingt der Mai die Sonnenflügellacht ein heitrer Sommertagziehen rebengrüne Hügellängs des Wassers Silberspiegelsing‘ ich bei dem Ruderschlagseinen hellen Furchen nach

Stürmt, den Winter zu verkündendurch die Nächte wild der Nord,rauscht die Flut aus tiefen Gründenwenn die Sternlein bleich verschwinden,spring ich keck von Bord zu Bordkühn zur Tat, wie treu zum Wort

Kracht der Kiel dann auch zusammenich halt’ aus in letzter Stund’;unter Masten, Schutt und Flammenbet‘ ich still zum Schicksal: Amen!blick‘ hinunter in den Schlundund fahr‘ mit dem Schiff zu Grund.

Unten schlaf ich doch nicht immerdenn der Himmel ist kein Spott;einst erweckt im Morgenschimmerauch der Herr die lecken Trümmer,und vom Stapel frank und flottläuft dahin ein neues Boot.

Aus dem Meere ew’ger Rosenwinkt des Leuchtturms gold’ner Strahl,

1914 musste ich also die Schule verlassen, obwohl ich noch gerne geblieben wäre, es waren acht Klassen. Ich machte meinem Vater viele Vor-schläge, was ich gerne lernen wollte, es half alles nichts. „Lerne Du Aussteuer verkaufen,“ war seine Antwort. Und ich ging sehr ungern ins Geschäft, es lag mir nicht. Erst als ich mich mit Erwin ver-lobte, hatte ich mehr Freude daran. Er fand alles großartig, was ich machte und da hat er sicher oft übertrieben. Aber mir tat es gut, weil ich nie vorher gelobt wurde.

Mein Vater hatte einen Bruder, er war der Jüngste von den elfen. Der hatte in der Bopserstraße Nr. 9 eine Bäckerei, Ecke der Heusteigstraße. Das Haus gehörte ihm; Nathanael. Er war noch unverheira-tet und kam manchmal morgens etwa um elf Uhr zu uns ins Geschäft, um meinen Vater zum Früh-schoppen abzuholen. Manchmal musste er etwas warten bis unser Vater Zeit hatte. Ich sehe ihn noch stehen in einer blendend weißen Bäckerjacke. Zu ihm durften wir auch ab und zu in die Bop-serstraße kommen, abends nach Ladenschluss. Wir saßen im Ladenzimmer, direkt neben dem Bäckerladen, auf einem schwarzen Ledersofa und er erzählte von früher. Er hatte seine Militärzeit bei der Marine abgedient auf S. M. Schiff Condor, ein wunderbares Bild von diesem Segelschiff hing an der Wand. Ich war fasziniert von diesem Bild und von den Geschichten, die er auf diesem Schiff erlebt hatte und ich wünschte mir brennend, ein Bub zu sein um auch zur Marine gehen zu kön-nen. Nach der Militärzeit fuhr er noch drei Jahre zur See auf diesem Schiff als Koch. Er bekam von seinem Kapitän ein Zeugnis, ein hervorragendes Zeugnis. Da stand, was er alles konnte; die letzte Bemerkung hieß: „Aber nur wenn er will.“

Während seiner Dienstzeit, es war zwischen 1890 und 1900, kam zu meinem Vater ein Mat-rose ins Geschäft mit Vollbart und brachte viele Grüße von seinem Kameraden Nathanael Pfleide-rer, mit dem er auf demselben Schiff diene. Mein Vater lud ihn ein zu einem Viertele in die nächste Wirtschaft und ließ sich noch mehr erzählen.

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und es landen die Matrosenals willkommne Festgenossenwo im heil’gen Heldensaalthront der grosse Admiral.

Dichter unbekannt, Volksweise Silcher im Albvereins-Liederbuch.

Als der Onkel verheiratet war, haben diese Besuche aufgehört.

Weiteres berichten möchte ich noch von Onkel Natha-nael. Als ich mich mit Erwin verlobte waren die ganzen Geschwister meines Vaters völlig gegen diese Heirat. Ich war damals 26 Jahre alt, hatte keine Eltern mehr und die ganze Familie fühlte sich verpflichtet, mich unter die Haube zu bringen. Mit 26 Jahren galt man damals schon als hoffnungslose alte Jungfer. Diese Bemühungen schlugen alle fehl und als ich plötzlich mich verlobte ohne das Zutun der großen Familie, war alles entrüstet. Der Mann war zu jung, kann nichts, hat nichts gelernt und will sich da nur ins warme Nest, also in die Firma reinsetzen. Ich erhielt einen Brief von meinem Paten onkel Otto Bührlen, Professor in Korntal, seine Frau Maria war die Schwester meines Vaters. In dem Brief waren alle diese Punkte angeführt und ich wurde mit großer Besorgnis vor dieser unmöglichen Heirat gewarnt. Erwin las diesen Brief. Er war wütend und schrieb einen entsprechenden Brief an diesen On-kel. Das Ende vom Lied war, dass wir nirgends Besu-che machten und niemand diesen unmöglichen Mann kennen lernte. Erwin hat dann einige Jahre später eine Tochter von Onkel Nathanael engagiert, um bei uns im Büro zu arbeiten, was sie annahm. Sie hieß auch Lise und hat dann zu Hause erzählt, wie hier gearbeitet wird und was für ein Mann eigentlich dieser verpönte Erwin war. Onkel Nathanael war dann der erste, der mit Erwin Verbindung aufnahm und sie verstanden sich bald sehr gut.

Als Erwin in Frankreich starb, war der Sohn Hans von Onkel Nathanael dabei und als ich von der Beerdigung ins Lazarett zurück kam, stand, leider zu spät, Onkel Nathanael da. Wie er es gemacht hat, die Einreise-erlaubnis, während des Krieges zu bekommen, war mir schleierhaft. Ich bin dann mit ihm heimgefahren und ich werde ihm das nie vergessen.

Ja ich bin der Zeit vorausgegangen. Es war noch vor dem Ersten Weltkrieg, da kam nach Stuttgart ein Mal im Jahr Pastor Paul Le Seur. Er war ein hervorragen-

der Redner, durfte aber nicht in einer Kirche predigen. Auf dem Marienplatz stand immer ein Zirkuszelt, da durfte er reden. Ria Dengler und ich gingen jeden Abend hin. Es war gestopft voll. Später war es anders, da durfte auch er in der Stiftskirche seine Predigten halten.

Ja, und dann kam der Krieg 1914–18, mein Bruder Gotthold ist gefallen am 18. Juni 1915.

Wilhelm wurde schon im Oktober 1914 schwer verwundet und war nicht mehr verwendbar im Krieg. Sie hatten sich beide freiwillig gemeldet. Wilhelm kam nach Ellwangen, als Ausbilder in

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kam (es war ¾ Std. Weg), seh’ ich ihn noch den Wil-helmsplatz herunter kommen mit einem großen Stroh-hut auf dem Kopf und mit einigen Rosen in den Händen, die schon ganz aufgeblüht waren und fast am Abfallen. Der Strohhut war von seinem Bruder, Onkel Hermann, der viel im Ausland war und diese Strohhüte von Indien mitbrachte.

Dieser Onkel Hermann lebte in Holland und kam manchmal auf Besuch zu uns. Er war ein schöner Mann, im Sommer in hellen Anzügen, und wurde von uns Kindern sehr angestaunt. Ich glaube, für meine Mutter gab es viel Arbeit, wenn er auftauchte. Wenn er ins Ge-schäft kam, war seine erste Frage: „Na, Christian, was macht das Lädchen?“ Er war natürlich andere Geschäfte gewohnt. Er war Direktor einer Großfirma.

Meine Mutter hat ihn wohl nicht gemocht. Er spiel-te den großen Herrn und war in kleinen Dingen, z.B. Trinkgelder, sehr sparsam. Er hat in seinem Testament seine ganzen Geschwister bedacht, ausgenommen die Kinder von Christian. Sie haben alle nicht viel be-kommen. Sein Geld lag fest in England. Er hatte keine Kinder, seine Frau war Holländerin. Wir haben sie nicht gekannt.

Hellmut, Markus und ich, wir wurden immer die drei Kleinen genannt. Wir drei Kleinen durften also im Sommer 1914 in die Ferien nach Hohenmemmingen bei Gingen a. d. Brenz ins Pfarrhaus zu Pfarrer Bührlen und seiner Frau. Er war der Bruder von Onkel Otto Bühr-

die Unteroffiziersschule und blieb dort die ganze Zeit während des Krieges. Nach dem Krieg ging er nach Berlin zur weiteren Ausbildung als Kauf-mann, verlobte sich dort mit Helene Gonser (ihr Vater war ein Vetter meines Vaters) und trat dann etwa 1922 ins Geschäft ein.

Er war ab seinem 40. Lebensjahr zuckerkrank und sehr reizbar. Es war nicht immer einfach mit ihm. Er hatte große Fachkenntnisse. Einmal war in Stuttgart ein Einbruch. Die Sachen wurden wieder gefunden. Es war viel weiße Strickware dabei. Als Fachmann wurde Christian Pfleiderer geholt. Er konnte jeden Stoff genau bezeichnen, ob Baumwolle, Halbleinen oder Leinen, wusste von jedem Stoff die Firma, die ihn herstellte und wer ihn in Stuttgart führt.

In Stuttgart gab es damals auch schon Penner. Die hießen Leonhardsschlamper und hielten sich teilweise in unserer Gegend auf. Einmal beob-achtete mein Vater, wie ein Schutzmann einen in der Hauptstätterstraße zusammenstauchte aber zu Unrecht, der Penner war im Recht. Mein Vater ging hin und klärte den Schutzmann auf, dass der Penner im Recht wäre. Die Penner grüßten von da ab meinen Vater immer besonders höflich.

Wir hatten einen Garten in der Altenbergstraße. Mein Vater war oft dort und hat viel und gern im Garten gearbeitet. Wenn er abends nach Hause

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len in Korntal. Er war im Wesen genau das Gegenteil von Onkel Otto. Er war ein fröhlicher und humorvoller Mann. Er und seine Frau waren ein liebes Ehepaar und wir hatten es sehr gut bei den Beiden. Wir erlebten dort den Anfang des Krieges und wir sahen, wie die jungen Männer vom Ort in großen Wagen nach Ulm fuhren – alle zum Einsatz für den Krieg.

Es war Erntebeginn und die jungen Männer fehlten. Da hat der Pfarrer und seine Frau beim Nachbarbau-ern bei der Ernte tüchtig mitgeholfen und wir halfen auch mit, soweit wir konnten. Der Bauer hat dann auch immer ein Extravesper aufs Feld mitgenommen für den Pfarrer und seine Frau.

Am Sonntag nach Beginn des Krieges hat der Pfarrer eine Predigt gehalten, die mir tiefen Eindruck machte.

Die Rückreise war dann nicht so einfach wegen der vielen Truppentransporte. Unser Vater hat uns abgeholt. Wir brauchten viele Stunden bis wir in Stuttgart waren. Der ältere Sohn musste auch einrücken, ich sah zum ersten Mal einen feldgrauen Soldaten, er war Reserveof-fizier. Er ging morgens bald weg. Ich sah ihn noch vom Fenster aus. Er kam nie wieder.

1914. In der Zeit ging ich in die Nähschule. Ich lernte im Martha-Haus bei den Schwestern das Weißnähen. Es gab keine Maschinen. Alles wurde von Hand genäht, das war schrecklich langweilig.Zu einem Hemd brauchte man Wochen. Morgens ging ich immer sehr bald und

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Gonser. Die Trauung war in Dahlem in der Dorfkirche. Die beiden Eltern waren mitgekommen.

Ja, ich vergaß noch, einmal während des Krieges wa-ren wir in Ferien auf der Oberaicher Höhe bei Rohr auf den Fildern. Dort standen damals nur zwei Häuser. Eine Wirtschaft und die moderne Villa, in der wir wohnten. Das Haus gehörte Herrn Schädle. Er war Prokurist bei der Firma Leicht in Vaihingen. Manchmal war auch sein Sohn da im oberen Stock, Kurt Schädle. Der hatte eine wunderbare Stimme. Ich sang manchmal mit ihm und er meinte, ich müsste unbedingt Gesangstunden nehmen. Er nahm mich mit zu seinem Lehrer, Hermann Ackermann. Bei dem habe ich viel gelernt, hauptsäch-lich Atemtechnik. Herr Ackermann sang im Stuttgarter Vokalquartett mit. Das waren Emma Tester (Sopran),

machte vor der Nähschule einen Spaziergang in den Bopserwald, ohne Straßenbahn natürlich. Das hat mir gut getan.

Im Jahr 1917 war ich einige Monate bei einem Vetter meiner Mutter, Professor Ernst Rayhrer in Degerloch, Alte Weinsteige 112. Seine Frau musste zu einer Kur fort und ich sollte die Familie betreu-en. Es waren drei Töchter da im Alter von etwa 8, 10 und 12 Jahren. Das Mittagessen wurde von der Kriegsküche gebracht. Die Kinder waren ziemlich unterernährt. Ernst Rayhrer nahm nichts an, was es nicht auf Lebensmittelmarken gab. Die mittlere, Hedwig, konnte an manchen Tagen gar nicht aufstehen, so schwach war sie. Meine Mutter schickte manchmal Kätterle mit Lebensmitteln herauf. Heimlich gab ich diese Sachen den Kin-dern zu essen. Ich hatte sehr Heimweh in dieser Zeit.

Der Krieg ging seinem traurigen Ende zu. Es gab Inflation und schlechte Zeiten. Trotzdem ging das Leben weiter. Wilhelm heiratete in Berlin Helene

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Meta Distel (Alt), Ackermann (Tenor) und Ludwig Feu-erlein (Bass). Die sangen in allen Stuttgarter Konzerten mit; Matthäus-Passion und alle diese Aufführungen. Emma Tester hatte eine wundervolle Stimme. Meta Dis-tel gefiel mir weniger, sie hatte einen Gießkannen-Alt.

Nach dem Kriege wurde ich also wieder eingeladen zur Tanzstunde in der „Hütte“ Eduard-Pfeiffer-Straße im Haus der Verbindung. Ich ging immer allein, bei den meisten kam die Mutter mit, und kam mir ziemlich verlassen vor. Einmal war ein Familien-Mittag und es wurde aufgefordert, jeder solle etwas beitragen. Ich ging zu dem Herrn, der immer zu den Gesängen auf dem Klavier begleitete. Ich bat ihn, mich zu einem Lied zu begleiten. Er war überrascht. Was wollen Sie sin-gen, gnädiges Fräulein? Ich sang das Lieblingslied der

Studenten. „Es liegt eine Krone im tiefen Rhein.“ Er begleitete auswendig, ich sang die drei Verse. Ich hatte einen ungeahnten Erfolg und nun war auf einmal alles ganz anders. Zuerst kam Günther Seyffart und engagierte mich zum Mitsingen bei einer Operette, die anlässlich des 50-jährigen Ju-biläums der Verbindung aufgeführt werden sollte. Es war eine Hauptrolle der Operette „Flotte Bur-schen“ von Franz von Suppé in der Liederhalle.

Bei dieser Aufführung war auch ein Klavierpart. Den spielte Hermann Donandt aus Hamburg. Er begleitete mich dann auch zu meinen Liedern und kam später öfter zu uns ins Haus.

Er machte mir dann eines Tages einen Heirats-antrag. Er war seiner Sache ziemlich sicher und

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ich war überrascht. Seine Eltern seien unterrich-tet und warteten jeden Tag auf ein Telegramm, was die Verlobung ankündigte. Er war ein großar-tiger Mann, ich schätzte ihn sehr. Aber ich liebte ihn nicht. So musste ich ihn enttäuschen, was mir leid tat. – Er war später Professor in Karlsruhe.

Ich wollte immer gerne fort von zu Haus und es kam eine Gelegenheit, die es möglich machte. Meine Schwägerin Helene war vor der Ehe Wo-chenbettpflegerin gewesen, unter anderem bei einer Frau von Flemming in Wald Sieversdorf. Die suchte ein junges Mädchen zu ihrer Hilfe im Haushalt. Mit Hilfe von Helene bekam ich nun von meinem Vater die Erlaubnis, die Stelle anzu-nehmen. Ich war überglücklich, und im Septem-ber 1920 fuhr ich nach Wald Sieversdorf, das an der Strecke von Berlin liegt. Ich habe dort viel er-lebt und feste geschuftet, vielleicht kann ich extra mal alles erzählen, was dort alles passiert ist.

Im Herbst 1921 kam ich wieder zurück und schriftlich ist es mir gelungen von meinem Vater die Erlaubnis zu erhalten, einen anderen Beruf zu erlernen. Ich trat im Oktober in das Städtische Kinderheim in der Türlenstraße ein, um Säug-lingspflege zu lernen. Dies dauerte nicht lange. Im Februar 1922 kam in aller Frühe meine Mutter in mein Zimmer. „Du kannst heute nicht fort gehen, ich bin krank.“

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ihr Mann Friedrich Felder, die 1920 geheiratet hatten. Er war Studienrat und hatte oft Ferien. Und als dann die Kinder da waren, kamen Hans und Else Marie zu mir während der Ferien, weil die Eltern dann verreisen wollten. Ich machte das sehr gerne und der Großvater war stolz auf seine Enkelkinder. Else Marie als Krabbel-kind setzte er einmal in ein leeres Schaufenster in der Torstraße und die Passanten hatten auch ihre Freude an dem Kind. Die Post kam damals noch mit dem Pferd und da setzte der Großvater die Else Marie auf das Post-pferd.

Markus war damals in Freiburg in Stellung bei Kitting & Heinze. Einmal brachte er einen Freund mit, er hieß auch Pfleiderer. Wir saßen am Tisch und mein Vater unterhielt sich sehr gut mit dem jungen Mann, der sich ohne Scheu gab und seine Meinung äußerte. Plötzlich stand mein Vater auf und sagte zu mir:

„Hol’ au’ ’en Wein ’rauf, aber den vom kleinen Fässle.“ Das war eine besondere Ehre, denn aus dem kleinen Fässle hat meistens nur er selber getrunken. Ich holte den Wein. Man musste immer zwei Stockwerke und noch in den Keller hinuntersteigen und Erwin – er war es – hat fröhlich mitgetrunken und wurde immer lusti-ger, er war den Wein nicht gewohnt. Mein Vater hat ihn

1922 wurde Mama sofort operiert von Dr. Gun-dert. Er hat nach der Operation telefoniert: „Sie hat Darmkrebs, sie lebt höchstens noch sechs Wochen.“ Nun ging ich jeden Tag ins Paulinen-hospital, wo sie lag. Nach sechs Wochen ging es ihr wieder so ordentlich, dass sie Pläne machte, wohin sie fahren könnte zur Erholung. Aber es war nichts. Am 20. Mai 1922 ist sie gestorben. Es war ein furchtbarer Schlag für uns alle. Sie war erst 57 Jahre alt. So blieb ich allein mit unserem Papa. Wir wohnten im 2. Stock.

Im 1. Stock, wo auch schon das Geschäft war, wohnten in zwei Zimmern Wilhelm und Helene. Sie hatten sehr oft Besuch und zum Mitagessen kamen immer die Besuche zu uns herauf. Ich hat-te ein Mädchen, so ging das gut.

Sehr oft waren zu Gast bei uns Margret und

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dann gleich für unser Geschäft engagiert, was er auch annahm.

Einige Zeit später war mein Vater sehr ärgerlich und sagte: „Da hat dieser Pfleiderer geschrieben, er könn-te diese Stelle nicht annehmen, ‚warum‘ hat er nicht mitgeteilt.“ Ich suchte überall nach diesem Brief, habe ihn nicht gefunden. Viel später habe ich ihn einmal gefragt: „Warum hast du damals abgesagt?“ Er meinte: „Ich habe mich da gleich so in dich verliebt und gedacht, dass ich dich doch nicht bekommen würde, so will ich auch nicht hingehen.“ Das war im Jahr 1924.

Ende des Jahres wurde mein Vater krank. Ich bekam in jenen Tagen eine Einladung von meiner Freundin Ilse Murhart, mit ihr ins Gebirge zu fahren. Ich wäre gerne mitgegangen, ich war noch nie irgendwo so gewesen. Ich fragte Dr. Gundert. Der hat mir dringend abgeraten, fort zu gehen. Und ich war froh, dass ich dageblieben bin. Er wurde bald schwer krank, er hatte Zucker schon seit seinem 40. Lebensjahr. Ein Knöchel am Bein war offen und schmerzte sehr.

Er war zur Zeit seiner Krankheit wie verändert; rück-sichtsvoll und geduldig und bedauerte immer wieder, dass ich nun dies alles machen müsse.

Dr. Gundert kam sehr oft. Anfang 1925 merkte Dr. Gundert, dass ich fast nicht mehr konnte und er-

klärte mir: „Morgen nehme ich ihren Vater ins Krankenhaus.“ In der Nacht darauf bekam er einen Hirnschlag. Wilhelm war in dieser Nacht auch da. Wir telefonierten Dr. Gundert und er kam sofort. Er bestellte eine Schwester und er

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bald, warum sie gekommen war. Erwin hatte zu Hause von uns erzählt. Und nun wollte sie das Mädchen sehen, die er erwählt hatte. Er war noch nicht 22 Jahre alt, und sie war vollständig im Recht. Nun, die Prüfung fiel gut aus und sie erzählte mir ihre eigene Geschichte. Sie war als junges Mädchen in Waiblingen verlobt mit einem Inhaber der Seidenfabrik Waiblingen. Er hieß Küderli und stammte aus der Schweiz. Die ganze Aussteuer lag schon bereit. Da verschwand eines Tages dieser Herr Küderli sang- und klanglos und sie hat nie mehr was von ihm gehört. Ich glaube, sie hatte dies damals noch nicht ganz überwunden gehabt.

Wir heirateten dann am 25. Oktober 1925 und wurden getraut in der Leonhardskirche von Onkel Adolf Pfleide-rer, dem Bruder meines Schwiegervaters. Die Hochzeit fand im Haus statt, in Wilhelms Wohnung. Es waren alle Geschwister da und meine Patentante Gertrud Jehle und Helene Stahl, die auch das Brautkleid gemacht hatte. Wir bekamen bei Großmutter im 3. Stock zwei Zimmer, die sich natürlich sehr freute.

Badezimmer war keines da. Gewaschen hat man sich

lebte noch eine Nacht und einen Tag. Er starb am 3. Januar 1925. Er sah im Tode wunderschön aus.

Er kam dann gleich auf den Friedhof und das nahmen uns die Geschwister meines Vaters sehr übel. Wir hätten ihn noch dalassen sollen, wie es früher üblich war.

Die Beerdigung hielt Pfarrer Löffler.Einige Zeit später hat Wilhelm Erwin wieder ge-

schrieben, dass er ihn nun dringend im Geschäft brauche. Und diesmal ist er gekommen. Er hat im Geschäft den ganzen Versand von Gminderlinnen gemacht. Mein Vater hat als erster in Stuttgart den Artikel von Gminder aufgenommen. Es gab viele Farben und Farbkarten und der Artikel wurde sehr bald populär und viel an Schulen oder Handarbeiterinnen verkauft. Einmal ver-anstaltete Wilhelm eine Gminderlinnen-Woche. Das war 1926. Sämtliche Schaufenster wurden mit Gminderlinnen dekoriert. Es wurden extra angefertigt Tischdecken, Schürzen, Kindersachen usw. Sämtliche Verkäuferinnen hatten Kleider aus Gminderlinnen an. Helene Stahl hatte diese zu-geschnitten und die Fräulein hatten’s dann selber genäht. Es war ein großer Erfolg und der Artikel wurde viel verkauft.

Erwin und ich kamen uns näher und waren ei-gentlich schon verlobt. Wir machten an einem Sonntag einen Ausflug nach Reutlingen zu meiner Schwester Margret Felder. Wir saßen beim Kaf-fee. Es läutete, Margret öffnete und herein kam Frau Pfleiderer aus Winnenden, Erwins Mutter. Im Nu waren alle verschwunden und ließen mich allein mit der Mutter Pfleiderer. Ich merkte sehr

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im Schlafzimmer am Waschtisch, da standen zwei Waschschüsseln. Das gebrauchte Wasser wurde in einen Eimer geleert mit Deckel, der oben ein Loch hatte. So hatten es meine Eltern schon gemacht. Ein Badezimmer war damals in den Wohnungen noch nicht üblich.

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blieb wie es war, Papa hat die Möbel in Waiblingen machen lassen bei Schreiner Eichenbrenner. Es war alles wertvolle Handarbeit aus Eiche. Auch Mama hatte schon 1920 dort ein Schlafzimmer für mich machen lassen. Es hatte noch keinen Platz bei Großmutter und konnte erst in Winnenden aufgestellt werden. Ich habe es evakuiert im Krieg nach Hochdorf. Jetzt steht es in Rapperswil bei Anne. Alles ist auch aus schweren Eichen. In die übrigen Zimmer kamen Helenes Sachen ’rein, die alle nicht viel Wert hatten. Mein Flügel stand noch im vorderen Zimmer.

Also, wir zogen nach Winnenden im Sommer 1926. Dort bekamen wir eine sehr schöne Wohnung im 1. Stock. Ein großes Wohn- und Schlafzimmer. Ein kleineres Zimmer mit Aussicht zum Turm und noch ein Kinderzimmer. Ein Badezimmer hat Erwin noch später einbauen lassen. Ich arbeitete morgens in der Wohnung und mittags im Geschäft.

Wir arbeiteten beide im Geschäft. Kätterle hat ge-kocht, so ging alles gut bis eines Tages ein Vertre-ter im Geschäft erzählte von Winnenden. Erwin solle doch wieder heimgehen, der Vater dort kön-ne es nicht mehr allein machen. So entschlossen wir uns schweren Herzens, nach Winnenden zu ziehen. Es war im Sommer 1926. Das erste Kind war schon unterwegs.

Vergessen habe ich noch zu schreiben:Nach Papas Tod schickten sie (Helene) mich zur

Erholung nach Freudenstadt in das Christliche Erholungsheim unterhalb vom Palmenwald. Mar-gret wurde auch mitgeschickt.

Als wir wieder kamen, war der Haushalt meiner Mutter aufgelöst, Wilhelm und Helene wohnten nun in unserer Wohnung. Mein Zimmer durfte ich behalten. Es war neu mit einer scheußlichen Tapete tapeziert.

Papa war in meinem Zimmer gelegen und auch da gestorben. Wo die persönlichen Dinge hinge-kommen waren, weiß ich nicht. Das Esszimmer

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Erwin hat auch bald die Schaufenster umarbei-ten lassen, die noch in einem uralten Zustand waren. Im Geschäft war auch Erwins Schwester Elisabeth tätig. Erwin fuhr mit Feuereifer an die Arbeit, setzte alle Lager frisch, verbot sei-ner Schwester das Stricken im Geschäft, es gab manchmal Tränen.

Erzählen möchte ich noch: Als ich das erste Mal als Braut nach Winnenden kam, empfingen mich die Eltern in Winnenden sehr liebevoll. Die Mutter zeigte mir das ganze Haus Marktstraße 5a von oben bis unten, vom Keller bis zur Bühne. Alles war in großer Ordnung sauber und nirgends lag ein Krust herum. Wir zogen im Sommer 1926 um, Ruth war schon unterwegs. Es war ein wun-derschöner Herbst. Ich machte mit Ria Dengler, meiner Freundin von Torstraße 4 und Wochen-pflegerin jeden Tag schöne Spaziergänge Buoch zu bis am 23. Sept. 1926 unser erstes Kind „Ruth“ zur Welt kam. Die Geburt ging gut. Die Hebam-me war Frau Schunter, damals noch Fräulein Schmalzrieth. Erwin war dabei und vollführte die reinsten Freudentänze, als alles so gut vorbei-gegangen war. Er telefonierte nach Dr. Gundert nach Stuttgart, es war eigentlich gar nicht nötig. Aber er war in einer halben Stunde da und fand alles in Ordnung. Ich hatte genug Milch und sogar noch übrig und abends brachte die Hebam-me noch ein anderes Kind „Esther Giesser“, das noch bei mir trinken durfte. Dr. Gundert fand es nicht gut, ein fremdes Kind noch an die Brust zu nehmen.

Die Taufe von Ruth Marie war in Winnenden in der Kirche. Paten waren Wilhelm, Margret, Klara und Kätterle. Taufe war am 24. Okt. 1926.

Ruth wuchs gesund heran und das nächste Ge-schwisterle war Hans Markus, geb. am 26. März 1928. Taufe am 6. Mai 1928. Paten waren Markus, Helene Pfleiderer, Martin Pfleiderer und Helene Stahl.

Im Januar 1931 kam ein grßes Unglück über das Haus Pfleiderer. Mein Bruder Wilhelm, ein kern-gesunder Mann starb am 31. Januar 1931 inner-

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halb drei Tagen an Blutvergiftung. Für seine Frau Helene war dies schwer. Sie hatte drei Söhne, Werner, 1924 geboren und die beiden Zwillinge, Bernhard und Helmuth, 1928 geboren.

Das Geschäft ging weiter und Erwin fuhr nun von Winnenden jeden Tag nach Stuttgart ins Geschäft und kam erst Sonntags wieder und das Geschäft in Winnenden wurde auch von ihm weiter geführt.

Das ging ein Jahr so, aber es wurde zu viel für Erwin und er beschloss, das Geschäft in Winnen-den aufzugeben und mit der Familie nach Stutt-gart zu ziehen.

Zuerst kam noch in Winnenden unser drittes Kind auf die Welt. Anne Margarethe, geb. am 15. Mai 1931. Auch diese Geburt verlief glatt und

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also Erwins Mutter, gestorben ist. Sie wurde plötzlich krank und Dr. Rösler kam. Er untersuchte sie, schickte uns alle raus und sprach über eine halbe Stunde mit ihr. Sie könnte weiter leben, aber nicht mehr arbeiten, wenn sie die Arznei nimmt, die er verordnet. Das wollte sie nicht, sie wollte sterben. Sie lebte noch etwa drei Tage; sie sagte: „Heute Nacht sterbe ich.“ Am Morgen lebte sie immer noch und sie sagte: „Nun muss ich auch das noch lernen, dass ich sterbe, wenn ‚Er‘ will, nicht wenn ‚ich‘ will.“ Sie starb dann am gleichen Tag noch. Ihre Kinder waren alle um sie versammelt, auch ich. Wir sangen noch ein Lied zusammen. Sie sang mit lauter Stim-me mit und dann schlief sie ein. Vorher hatte sie noch jedem Kind eine Mahnung mitgegeben. Zu Erwin sagte sie: „Sei nicht so rasch mit Hans.“

Großvater lebte dann noch einige Jahre mit Martha Waldenmaier zusammen.

1934 kam in Stuttgart Hermann zur Welt. Es war ein wunderschöner Sommertag, der 17. Juni, es war Sonn-tag und Kirchenglocken klangen um zehn Uhr morgens, da erblickte Hermann das Licht der Welt. Schwester Gretel Körner war als Hebamme und Pflegerin da, alles ging gut und die Freude war groß. Die Taufe war in der Leonhardskirche und alles ging zu Fuß hin. Pfarrer Schneider taufte ihn.

Nun gingen wieder fünf Jahre vorbei und 1939 melde-te sich das fünfte Kind an „Manfred“. Diesmal war die Geburt nicht zu Hause sondern bei Schwester Sofie in der Schönleinstraße 13. Da war es ruhiger wie zu Hause, wo schon vier Kinder da waren und es war doch kein so großer Betrieb wie in einer Klinik. Auch die Taufe war noch bei Schwester Sofie. Die Patin war Emmi Koch, eine Base von Erwin. Wir wollten das Fest der Taufe zu Hause nachholen. Aber leider war es nicht möglich. Die Zeiten waren so unruhig und schon im Herbst des Jahres brach der Krieg aus. 1939.

normal, nur war Erwin leider nicht dabei. Er hatte morgens noch telefoniert und ich dachte, es geht nicht so schnell, und das Kind kam schon mittags. Erwin war ärgerlich, dass er nicht dabei war und trotzdem war die Freude wieder groß. Die Taufe war am 14. Juni 1931 in der Stadtkirche. Paten waren Helene, Klara und Adolf Giesser.

Ja, und nun folgte der Umzug. Erwin hat das Haus und Geschäft in Winnenden verkauft und hat alles nach Stuttgart mit übernommen. Die Geschwister von Erwin bekamen alle nichts. Ein Fall, der sicher einmal dasteht, und wurde von allen Geschwistern akzeptiert. Großvater in Winnenden ist das sicher nicht leicht gefallen und ich glaube, die Großmutter hat ihm sicher gehol-fen, diese Tatsache anzunehmen. Wir zogen also wieder nach Stuttgart.

Großmutter (Etzel) war 1927 gestorben. Helene wohnte im 2. Stock, Markus, Helmut und Kätterle im 3. Stock.

Helene musste ausziehen und Markus auch. Wir zogen in den 3. Stock; der 2. Stock kam zum Geschäft.

Helene zog in die Alexanderstraße und bei ihr bekam Rösle ein Zimmer. Kätterle zog nach Waiblingen zu ihrer Schwester, war aber die meiste Zeit bei uns. Besonders schwer hat Hans den Abschied genommen. Er war ein besonderer Liebling von der Großmutter in Winnenden und hing sehr an ihr. Fast sechs Wochen lang hat er wenig gegessen, bis er eines Tages sagte: „Ich möchte eine Suppe essen, wo so was Langes drin ’rumschwimmt, wie es bei der Großmutter immer gegeben hat.“ Endlich war es so weit. Gott sei Dank. Es wurde nun auch besser mit dem Essen.

Nachholen möchte ich noch, wie Großmutter,

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