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königs erläuterungen spezial der erste weltkrieg: literarische versuche zur bewältigung der „urkatastrophe des 20. jahrhunderts“ – Darstellung und Deutung des Krieges bei Remarque, Im Westen nichts Neues – Vergleich der Romanschlüsse von Remarque und Köppen (Heeresbericht, Zweiter Teil, Siebentes Kapitel): Erzählweise, Figurengestaltung, Bewertung des Krieges Rüdiger Bernhardt

literarische versuche zur bewältigung der … · Jahren des Ersten Weltkriegs (1914–1918); zum anderen von der Erscheinungszeit der Bücher, ... Forderungen laut, die Ergebnisse

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königs erläuterungen spezial

der erste weltkrieg: literarische versuche zur bewältigung der „urkatastrophe des 20. jahrhunderts“– Darstellung und Deutung des Krieges bei Remarque, Im Westen

nichts Neues– Vergleich der Romanschlüsse von Remarque und Köppen

(Heeresbericht, Zweiter Teil, Siebentes Kapitel): Erzählweise, Figurengestaltung, Bewertung des Krieges

Rüdiger Bernhardt

Über den Autor dieser Erläuterung:

Prof. Dr. sc. phil. Rüdiger Bernhardt lehrte neuere und neueste deutsche sowie skandinavische Literatur an Uni-versitäten des In- und Auslandes. Er veröffentlichte u. a. Studien zur Literaturgeschichte und zur Antikerezeption, Monografien zu Henrik Ibsen, Gerhart Hauptmann, August Strindberg und Peter Hille, gab die Werke Ibsens, Peter Hilles, Hermann Conradis und anderer sowie zahlreiche Schulbücher heraus. Von 1994 bis 2008 war er Vor-sitzender der Gerhart-Hauptmann-Stiftung Kloster auf Hiddensee. 1999 wurde er in die Leibniz-Sozietät gewählt.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelas-senen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Die öffent-liche Zugänglichmachung eines für den Unterrichtsgebrauch an Schulen bestimmten Werkes ist stets nur mit Einwilligung des Berechtigten zulässig.

1. Auflage 2014 OM0060 EPUB: 978-3-8044-1897-4 © 2014 by C. Bange Verlag GmbH, 96142 Hollfeld Alle Rechte vorbehalten!

1. DAS WichTigSTE AuF EinEn BlicK – SchnEllÜBERSichT 4

2. ZEiTgESchichTlichER hinTERgRunD 7

2.1 Vorkriegszeit und Erster Weltkrieg 7

2.2 Weltwirtschaftskrise und das Ende der Weimarer Republik 12

2.3 Angaben und Erläuterungen zu literarischen Werken über den Ersten Weltkrieg 14

Literarische Reaktionen auf den Kriegsausbruch 14 Literarische Auseinandersetzungen mit der Kriegserfahrung um 1929/1930 17

3. TExTAnAlySEn unD -inTERpRETATionEn 20

3.1 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues 20

3.1.1 Biografie 20

3.1.2 Entstehung und Quellen 21

3.1.3 Inhaltsangabe 22

3.1.4 Darstellung und Deutung des Krieges bei Remarque 23

3.2 Edlef Köppen: Heeresbericht (unter besonderer Beachtung des Zweiten Teils, Siebentes Kapitel) 30

3.2.1 Biografie 30

3.2.2 Entstehung und Quellen 31

3.2.3 Inhaltsangabe 31

3.2.4 Darstellung und Deutung des Krieges bei Köppen 33

4. VERglEichEnDE inTERpRETATion: VERglEich DER RoMAnSchlÜSSE Von REMARquE unD KöppEn 36

5. REZEpTion 41

5.1 Im Westen nichts Neues 41

5.2 Heeresbericht 44

5.3 Die letzten Tage der Menschheit 45

6. MATERiAliEn 46

liTERATuR 48

inhAlT

4

DAS WichTigSTE AuF EinEn BlicK – SchnEllÜBERSichT

Damit sich der Leser schnell zurechtfindet und das von ihm Gesuchte sofort findet, folgt eine Übersicht:

Im 2. Kapitel werden die zeitlichen Hintergründe für die hier erläuterten literarischen Veröffentlichungen zum Ersten Weltkrieg skizziert:

ÆÆ Der zeitgeschichtliche Hintergrund für die erläuterten Bücher von Erich M. Remarque und Edlef Köppen, aber auch von Ludwig Renn, Arnold Zweig wird gebildet einerseits vom deutschen Kaiserreich und den Jahren des Ersten Weltkriegs (1914–1918); zum anderen von der Erscheinungszeit der Bücher, der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 und der politisch polarisierten Endzeit der Weimarer Republik, die 1933 von der nationalsozialistischen Diktatur abgelöst wurde. Ausnahmen sind Ernst Jüngers Buch In Stahlge-wittern, das bereits 1920 erschien, sowie Karl Kraus‘ Stück Die letzten Tage der Menschheit, das 1919 in der Zeitschrift Die Fackel erschien (Buchausgabe 1922).

ÆÆ Der Erste Weltkrieg hat unterschiedliche metaphorische Bezeichnungen erhalten, vom schlichten „Großen Krieg“ über Arnold Zweigs Titel des sechsbändigen Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer bis zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“. Der Kriegsausbruch war die Folge einer brisanten Lage: Zum einen waren um 1900 von Industrieländern, besonders Deutschland, Ansprüche nach einer Neuaufteilung der Welt gestellt worden. Die Masse des Volkes sah dem Krieg zu Beginn erwartungsvoll entgegen; die vorbereitende journalistische Propaganda hatte ihr Werk getan. Allerdings ging die Begeis-terung in dem Maße zurück, wie die angekündigten Siege ausblieben und (v. a. an der Westfront) der ex-trem verlustreiche Stellungskrieg begann. Zum anderen hatten sich zivilisations- bzw. modernekritische Bewegungen in Europa entwickelt (Frühexpressionismus, Futurismus), die den Krieg als Erneuerung betrachteten. Der Erste Weltkrieg brachte eine neuartige, von der Technik abhängige Vernichtung, und er war ein Krieg der technischen Standards der feindlichen Armeen. Der Friede von Versailles (28. Juni 1919) zwischen Deutschland und den Siegerstaaten trat am 10. Januar 1920 in Kraft und hatte, mit den anderen Friedensverträgen, eine Umgestaltung Europas und die Gründung des Völkerbundes 1920 zur Folge.

ÆÆ Die Weimarer Republik entstand als demokratische Republik aus dem verkleinerten deutschen Kaiser-reich. Vor allem gegen Ende der Weimarer Republik wurden deutlich revanchistische und reaktionäre Forderungen laut, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu korrigieren. Eine neue Sicht auf den Ersten Weltkrieg entstand durch die sozialökonomische Krisensituation von 1929, durch die Weltwirtschafts-krise, mit Massenarbeitslosigkeit, Insolvenzen und sozialem Elend, verbunden mit einer zunehmenden Radikalisierung der politischen Gruppierungen auf beiden Seiten des politischen Spektrums.

Angaben und Erläuterungen zu Werken über den Ersten Weltkrieg:

Mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen sich Tausende von literarischen, autobiografischen und historischen Werken, auf die nur punktuell eingegangen wird. Zwei epische kritische Texte werden ausführlicher betrach-tet, die zehn Jahre nach dem Krieg veröffentlicht wurden. Um 1930 erschienen wichtige Antikriegsromane (von E. M. Remarque, Edlef Köppen, Ludwig Renn, Arnold Zweig und anderen). Um sie in den unübersicht-lichen Gesamtkomplex einordnen zu können, werden einige andere Werke, auch affirmative wie Jüngers In Stahlgewittern (1920), vergleichend betrachtet.

Das 3. Kapitel liefert Textanalysen und -interpretationen von E. M. Remarques Im Westen nichts Neues und Edlef Köppens Heeresbericht unter dem Aspekt Darstellung und Deutung des Krieges.

7

2. ZEiTgESchichTlichER hinTERgRunD

Der zeitgeschichtliche Hintergrund für die zu erläuternden Bücher von Erich M. Remarque, Edlef Köppen, Karl Kraus, Ludwig Renn, Arnold Zweig und anderen ist ein doppelter:

Æ Zum einen behandeln diese Werke den Ersten Weltkrieg von 1914 bis 1918 und einen Teil der unmittelba-ren Vor- und Nachkriegszeit.

Æ Zum anderen erscheinen sie nach 1929, weshalb in die Texte implizit Erfahrungen der Endzeit der Wei-marer Republik eingegangen sind (Weltwirtschaftskrise, politische Radikalisierung, Bedrohung durch Nationalsozialismus). Ausnahmen davon stellen die bereits kurz nach Kriegsende erscheinenden Werke von Ernst Jünger und Karl Kraus dar.

Die zur Diskussion stehenden Bücher sind Abbild zweier sehr unterschiedlicher Zeiträume: Es ist zum einen die Zeit des behandelten Themas „Erster Weltkrieg“ von 1914 bis 1918 und zum anderen die der bei Erschei-nen der Bücher aktuellen politischen, sozialen und ökonomischen Entwicklungen und Erfahrungen aus der Zeit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis zum Zusammenbruch der Weimarer Republik 1933, dem zunehmen-den völkischen Drängen nach einer Korrektur der Kriegsergebnisse von 1919 und der Festlegungen des Ver-sailler Friedensvertrages. (Ausnahmen sind Ernst Jüngers In Stahlgewittern und Karl Kraus‘ Die letzten Tage der Menschheit, die bereits kurz nach Kriegsende erschienen und daher nur die Zeit des Ersten Weltkrieges als zeitgeschichtlichen Hintergrund aufweisen.)

2.1 VoRKRiEgSZEiT unD ERSTER WElTKRiEg

Æ Der Erste Weltkrieg hat in der Folge unterschiedliche metaphorische Bezeichnungen erhalten, vom „Gro-ßen Krieg“ über Arnold Zweigs Titel des sechsbändigen Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer bis zur „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“.

Æ Der Kriegsausbruch war die Folge einer brisanten politischen Lage (komplexe Bündnissysteme, Aufrüs-tung), auch waren um 1900 von Industrieländern bzw. Großmächten, besonders von Deutschland, Forde-rungen nach einer Neuaufteilung der Welt erhoben worden.

Æ Im Deutschen Reich sah die Masse des Volkes dem Krieg erwartungsvoll entgegen; die vorbereitende Pro-paganda hatte ihr Werk getan. Hinzu kam ein verbreitetes Unbehagen an der Moderne. Auch hatten sich moderne- und zivilisationskritische Avantgardebewegungen in Europa entwickelt (Frühexpressionismus, Futurismus).

Æ Der Erste Weltkrieg führte zu bislang unbekannten Erfahrungen der Vernichtung und Zerstörung: Erstmals wurden Massenvernichtungswaffen (Giftgas) entwickelt und eingesetzt. Es wurde ein Krieg der techni-schen Standards der feindlichen Armeen.

Æ Der Friede von Versailles (28. Juni 1919) zwischen Deutschland und den Siegerstaaten trat am 10. Januar 1920 in Kraft und hatte mit den anderen Friedensverträgen ein völlig verändertes Europa – drei zerstörte Kaiserreiche, zahlreiche staatliche Neugründungen usw. – und die Gründung des Völkerbundes zur Folge.

Ein Attentat als Anlass zum KriegDer Erste Weltkrieg hat verschiedene metaphorische Umschreibungen erhalten, vom schlichten „Großen Krieg“ über Arnold Zweigs Titel des sechsbändigen Romanzyklus Der große Krieg der weißen Männer bis zur „Urkatastrophe des 20.  Jahrhunderts“1, wie dieser Krieg seit einer Bemerkung des amerikanischen Diploma-ten und Historikers George F. Kennan bezeichnet wird. Der Begriff der „Urkatastrophe“ trägt indessen den Vorgang kaum, denn der Krieg kam keineswegs unvermittelt und auch nicht ohne menschliches Zutun über

1 Thomas F. Schneider und Hans Wagener: Einleitung. In: Dies. (Hrsg.): Von Richthofen bis Remarque. Deutschsprachige Prosa zum I. Weltkrieg. Amsterdam/New York: Rodopi, 2003, S. 11.

Doppelter zeit-geschichtlicher Hintergrund

„Urkatastrophe des 20. Jahrhun-derts“?

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2.2 Weltwirtschaftskrise und das Ende der Weimarer Republik

2. Zeitgeschichtlicher hintergrund

2.2 WElTWiRTSchAFTSKRiSE unD DAS EnDE DER WEiMARER REpuBliK

Die Weimarer Republik entstand als demokratische Republik aus dem verkleinerten deutschen Kaiserreich. Gegen Ende der Weimarer Republik wurden deutlich revanchistische und reaktionäre Forderungen verbreitet, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu korrigieren. Eine neue Sicht auf den Krieg entstand aus der sozial-ökonomischen Krisensituation von 1929, der Weltwirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit, Insolvenzen und sozialem Elend.

Die Folgen des FriedensNach dem Ende des Krieges und dem Frieden von Versailles samt der Friedensverträge, die mit anderen Ländern geschlossen wurden, änderte sich die Landkarte Europas grundlegend:

Æ Reiche wie das Kaiserreich Österreich-Ungarn zerfielen, aus den Kaiserreichen Deutschland und Russ-land entstanden in Folge von Revolutionen sehr unterschiedliche Formen von Republiken (in Deutschland entstand eine parlamentarische Republik, in Russland die Russische Sozialistische Föderative Republik als Kern der späteren Sowjetunion).

Æ Zahlreiche neue Staaten entstanden – besonders aus Österreich-Ungarn – wie die Tschechoslowakei und der Staat der Slowenen, Kroaten und Serben, das Königreich Jugoslawien.

Æ Andere gewannen nach langer Zeit ihre nationale Souveränität zurück wie Polen. Æ Eine weitere Folge war die Gründung des Völkerbundes 1920, der als Vorläufer der UNO gilt. Aus dem Zarenreich – in Russland – wurde über Zwischenstufen ein sozialistisches Staatssystem.

Die Weimarer RepublikAus dem verkleinerten deutschen Kaiserreich – 13 % des Staatsgebietes und 10 % der Bevölkerung gingen verloren – wurde die Weimarer Republik. Am 6. Februar 1919 wählte die Nationalversammlung in Weimar den Sozialdemokraten Friedrich Ebert zum ersten Reichspräsidenten dieser Republik. – Gegen Ende der Weimarer Republik wurden revanchistisch-reaktionäre Forderungen verbreitet, die Ergebnisse des Ersten Weltkrieges zu korrigieren. Dazu trug auch die sogenannte „Dolchstoßlegende“ bei: Bereits am Ende des Krieges wurden die Truppen als ‚im Felde unbesiegt‘ dargestellt, zur Niederlage habe nach dieser geschichts-fälschenden Sichtweise allein die revolutionäre Situation in der Heimat geführt. Hindenburg behauptete unter Berufung auf einen englischen General, die deutsche Armee sei von hinten erdolcht worden, und den guten Kern des Heeres treffe keine Schuld.20 Die Dolchstoßlegende diente u. a. dazu, von der Verantwortung der deutschen militärischen Führung abzulenken.

Die Weltwirtschaftskrise 1929Die völkisch akzentuierten Revanche-Forderungen in der Weimarer Republik wurden durch mehrere Entwick-lungen ausgelöst: Eine veränderte Sicht auf den Krieg entstand aus der sozialökonomischen Krisensituation von 1929, der Weltwirtschaftskrise. Weltweit ging die Wirtschaftsleistung zurück, weil der Konsumgüterpro-duktion eine zu geringe Kaufkraft der breiten Bevölkerung gegenüberstand. Die von der Bevölkerung deshalb aufgenommenen Kredite verunsicherten die Märkte. Andererseits blühte die Spekulation. Ausgelöst wurde die weltweite Krise durch den Schwarzen Donnerstag (in Europa, da die Mitteilung erst am nächsten Tag wirkte: Schwarzer Freitag), den 25. Oktober 1929, an der New Yorker Börse: Unsicherheiten führten dazu, dass an einem einzigen Tag 16 Millionen Aktien verkauft wurden, Panik unter den Börsianern brach aus. Da die deutsche Wirtschaft intensiv mit der us-amerikanischen Wirtschaft verknüpft war – mehr als 1500 Un-ternehmen waren durch Anleihen, Kapitalbeteiligungen usw. von der US-Wirtschaft abhängig –, wirkte sich der Kursverfall nachdrücklich auch auf Deutschland aus; der Zustrom an ausländischem Kapital versiegte. Deutschland war in der Folge neben den USA am härtesten von der Krise betroffen, da es durch den Ersten Weltkrieg und die Reparationszahlungen bereits zuvor hoch verschuldet war und die Inflation, die mit der Einführung der Rentenmark im November 1923 zu Ende ging, noch nachwirkte. Insolvenzen, Bankenpleiten, Massenarbeitslosigkeit, Firmenpleiten, soziales Elend (Armut, Obdachlosigkeit) und – in dessen Gefolge – Kri-minalität führten in weiten Kreisen der Bevölkerung zur Verklärung der Vergangenheit, der Zeit vor der Wei-marer Republik, während diese für die Krise verantwortlich gemacht wurde. Radikale Gruppen betrieben die entsprechende Propaganda; die Faschisten gewannen an Bedeutung, ihre Partei – die NSDAP – verzeichnete

20 Aussage Hindenburgs am 18. November 1919 vor dem von der Weimarer Nationalversammlung eingesetzten Untersuchungsausschuss für Schuldfragen.

Veränderte Landkarte Europas

„Dolchstoß-legende“

Der „Schwarze Donnerstag“ an der Börse

Bankenpleiten und Massen-arbeitslosigkeit

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2.3 Angaben und Erläuterungen zu literarischen Werken über den Ersten Weltkrieg

2. Zeitgeschichtlicher hintergrund

2.3 AngABEn unD ERläuTERungEn Zu liTERARiSchEn WERKEn ÜBER

DEn ERSTEn WElTKRiEg

Mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigen sich Tausende von Werken, von denen im Folgenden zwei epische Texte (Remarque, Köppen) ausführlicher betrachtet werden. Beide sind allerdings – wie etliche andere wichtige Antikriegsbücher (von Ludwig Renn, Arnold Zweig u. a.) erst ein Jahrzehnt nach Ende des Krieges entstanden. Um sie in den kaum überschaubaren Gesamtkomplex einordnen zu können, werden wenige ver-gleichende Betrachtungen anderen Werken gewidmet.

Ähnlich wie beim zeitgenössischen Hintergrund ist auch bei der literarisch-künstlerischen Reaktion auf den Ersten Weltkrieg zwischen den Werken der Kriegszeit und denen aus späterer Zeit zu unterscheiden. 1930 erschien nicht nur Edlef Köppens Heeresbericht, sondern auch Ernst Jüngers Text- und Fotodokumentation Das Antlitz des Weltkrieges. Bereits zu dieser Zeit beschrieb Jünger das vorhandene Material als „unermesslich“; eine „riesenhafte Literatur“ habe sich gebildet, die „ununterbrochen im Wachstum begriffen“ sei und „die aus einem unübersehbaren Vorrat an persönlicher Erinnerung und aktenmäßigen Darstellungen“ schöpfe.23 Man muss im Hinterkopf haben: Mit dem Ersten Weltkrieg beschäftigten sich Tausende von Werken, von denen hier nur zwei epische Texte ausführlicher betrachtet werden, die stellvertretend für unzählige literarische Ver-suche zur Bewältigung des ersten Weltkrieges im 20. Jahrhundert stehen. Um sie in den riesigen und kaum überschaubaren Gesamtkomplex einordnen zu können, werden einige vergleichende Betrachtungen anderen Werken – auch affirmativen Gestaltungen des Ersten Weltkrieges wie Jüngers In Stahlgewittern – gewidmet.

literarische Reaktionen auf den Kriegsausbruch

Affirmative Stimmen zum Krieg Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat in Deutschland die Intelligenz und insbesondere viele Schriftsteller begeistert und zu patriotischen oder zumindest kriegsbejahenden Äußerungen veranlasst (darunter Größen wie Thomas Mann, Alfred Kerr, Robert Musil oder Hermann Hesse). Die meisten Autoren waren ebenso be-geistert wie das Gros der jungen Soldaten, die im August/September 1914 unbedingt in den Krieg ziehen und siegen wollten. In der Bevölkerung war die Begeisterung unterschiedlich: Während die bürgerlich städtischen Schichten die Begeisterung forcierten, war sie in proletarischen und bäuerlichen Kreisen nur gering ausge-prägt. Geistige Orientierung für die begeisterten Intellektuellen kam dabei auch von der modernen Kunst wie z. B. in Italien vom Futurismus. Filippo Tommaso Marinettis bekanntes Manifest des Futurismus (1909) pries den Krieg als „einzige Hygiene der Welt“, „die Vernichtungstat der Anarchisten, die schönen Ideen, für die man stirbt“.24 Der Futurismus sah in den technischen Neuerungen, die auch den Charakter des Kriegs verän-derten, eine entscheidende künstlerische Voraussetzung. Erst während des Kriegsverlaufes änderte sich die Haltung vieler Autoren und Künstler (s. u.).

Die anfängliche Zustimmung der Schriftsteller und Dichter zum Krieg hatte verschiedene Gründe. Bei dem Nobelpreisträger von 1912 Gerhart Hauptmann setzte sich ein aus seiner nationalen Überzeugung resultierendes patriotisches Bewusstsein durch, er sah den Krieg als „Elementarereignis“ und feierte in sei-nem Reiterlied den Opfertod fürs Vaterland: „Komm, wir wollen sterben gehen ...“ In einem Briefwechsel mit Romain Rolland verteidigte Hauptmann den Krieg, der Deutschland aufgezwungen worden und ein Verteidi-gungskrieg sei.25

Aus anderer Überzeugung entstand die Zustimmung Thomas Manns: Er schwärmte vielfach und publi-kumswirksam vom Krieg als „Reinigung, Befreiung“, letztlich „Veredlung des Menschen“. Es war ein kultur-missionarischer Ansatz, der sich auch bei anderen zeitgenössischen Denkern wie Harry Graf Kessler findet, der mit dem Krieg zu einer „neuen Welttendenz, die der der Renaissance entgegen ist“26, gelangen wollte. Manns Formulierungen stehen in verschiedenen Schriften wie den Gedanken im Kriege27 (1914). Den Höhe-punkt schuf er in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918).

23 Ernst Jünger (Hrsg.): Das Antlitz des Weltkrieges. Berlin: Neufeld & Henius, 1930, S. 9.24 Zur Rolle des Futurismus im Deutschland der Vorkriegszeit vgl. Peter Sprengel: Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1900–1918. München: Verlag C. H.

Beck, 2004, S. 110 f.25 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Gerhart Hauptmann. Eine Biografie. Fischerhude: atelier im bauernhaus, 2007, S. 125 ff. 26 Harry Graf Kessler: Tagebuch, 19. 4. 1918, zitiert nach: Friedrich Rothe: Harry Graf Kessler. Biographie. München: Siedler-Verlag, 2008, S. 234.27 Thomas Mann: Gedanken im Kriege. In: Ders.: Aufsätze, Reden, Essays, Bd. 2 (1914–1918). Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1983, S. 17.

„Riesenhafte Literatur“

Krieg als „einzi-ge Hygiene der Welt“

„Komm, wir wollen sterben gehen …“

20

3. TExTAnAlySEn unD -inTERpRETATionEn

Nach einem Vorabdruck erschien Remarques Im Westen nichts Neues 1929 im Propyläen-Verlag. Es wurde ein großer Erfolg. Köppens Heeresbericht erschien ein Jahr später, war literarisch Remarques Buch ebenbür-tig, fand aber kein so großes Publikum mehr, da sich inzwischen die Situation auf dem Buchmarkt durch den Erfolg völkisch-nationalistischer Literatur verändert hatte. In beiden Büchern wurden eigene Kriegserlebnisse bzw. authentische Ereignisse anderer und Dokumente verarbeitet.

3.1 ERich MARiA REMARquE: IM WesTeN NIcHTs Neues

3.1.1 Biografie

jahr ort ereignis alter

1898 Osnabrück 22. Juni: als Erich Paul Remark geboren.

1904–15 Osnabrück Volksschule, Lehrerbildungsanstalt. 17

1916 Osnabrück, Celle 21. November: Einberufung und Ausbildung zum Schanz-soldaten nach einem Notexamen.

18

1917 WestfrontDuisburg

12.  Juni: Einsatz als Schanzsoldat.31. Juli. Am ersten Tag der dritten Ypern-Schlacht verwun-det, St.-Vincenz-Hospital.Erste Arbeit an einem Buch über den Krieg.

19

1918 Osnabrück 31. Oktober: Aus dem St. Vincenz Hospital entlassen.11. November: Waffenstillstand.15. November: Verleihung des Eisernen Kreuzes erster Klasse.Weiterführung des Lehrerstudiums, erste literarische Arbeiten.

20

1919/20 Lohne, Lingen,Klein-Berßen, Nahne

1. August: Tätigkeit als Aushilfslehrer (Volksschullehrer) auf dem Dorf bis zum November 1920.

22

1920 Osnabrück, Han-nover, Berlin

Sein Debütroman Die Traumbude erscheint. Tätigkeit als Kritiker, Werbetexter und Journalist, Gelegenheitstätigkei-ten. Redakteur, u. a. ab 1925 für „Sport im Bild“.

22

1921 Unterschreibt erstmals als Erich Maria Remarque: Maria nach der Mutter und dem ursprünglich französischen Familiennamen.

23

1927 Berlin Sommer/Herbst: setzte Arbeit am Kriegsbuch fort. 29

1928/29 Berlin 10. Nov.–9. Dez.: Vorabdruck des Romans Im Westen nichts Neues in der „Vossischen Zeitung“.31. Jan.: Veröffentlichung im Propyläen-Verlag.

31

22

3. Textanalysen und -interpretationen

3.1 Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

„Den Ablauf der Geschehnisse zeichnen die ‚Stahlgewitter‘ mit der ganzen Macht der Frontjahre am stärksten, ohne jedes Pathos geben sie das verbissene Heldentum des Soldaten wieder, aufgezeichnet von einem Menschen, der wie ein Seismograph alle Schwingungen der Schlacht auffängt.“50

Vom 10. November bis zum 9. Dezember 1928 hatte die Vossische Zeitung Remarques Text als Vorabdruck veröffentlicht, am 31. Januar 1929 erschien er als Buch im Propyläen-Verlag. Die Fortsetzungsveröffentli-chung unterschied sich von der Buchveröffentlichung durch Streichungen von Stellen, „die Grausamkeiten, Verwundungen und das Grauen des Krieges beschreiben“51; es entstand eine weniger erschütternde Fassung. Auf dem Umschlag der Buchausgabe druckte der Verlag Walter von Molos Wertung: „Remarques Buch ist das Denkmal unseres unbekannten Soldaten. Von allen Toten geschrieben.“52

3.1.3 inhaltsangabe

Die von Remarque in seinem Roman dargestellten Szenen und Motive aus dem Kriegsalltag an der Westfront finden sich in ähnlicher Form auch in Edlef Köppens Heeresbericht und anderen Kriegsdarstellungen, dies zeigt, dass es sich hier um typische Geschehnisse einer Generation handelt53:

1. Paul Bäumer, der Ich-Erzähler des Berichtes, schildert ein gegenwärtiges Geschehen an der Westfront im Spätsommer 1915. Er vertritt ein plurales Wir, bestehend aus vier Soldaten, für die er stellvertretend spricht. Er berichtet, dass sie mit neunzehn Jahren von der Schulbank weg in den Krieg geschickt worden sind, scheinbar freiwillig, aber hinter dieser Entscheidung stand der internalisierte Zwang des preußi-schen Drills, vermittelt durch eine preußische Lehrerschaft, vertreten durch den Klassenlehrer Kantorek. Im Unterschied zur Idealisierung in den patriotischen Sprechhülsen, mit denen die Lehrer auf sie einge-wirkt haben, erweist sich der reale moderne Krieg als barbarisches Gemetzel, als dumpfe Vernichtung und als brutale Materialschlacht. Die Kompanie hat kurz zuvor an der Front schwere Verluste erlitten und wurde zurückverlegt. Dort werden die Verluste überraschend zum Glücksfall für die Überlebenden, denn sie erhalten das Essen für die gesamte Kompanie. – Die vier Soldaten nehmen im Lazarett Abschied von dem schwer verletzten Kemmerich, Müller hat bereits ein Auge auf Kemmerichs Stiefel geworfen.

2. So wie der Lehrer Kantorek sie in der Schule propagandistisch auf dem Krieg vorbereitet hat, so hat der Unteroffizier Himmelstoß sie in der Kaserne während der Ausbildung gedrillt und schikaniert. Kemmerich stirbt bald nach dem Besuch seiner Kameraden, Müller bekommt die Stiefel des Verstorbenen.

3. Die Kompanie wird aufgefüllt und zum Schanzen wieder an die Front geschickt. Die Soldaten erinnern sich, wie sie am Ende ihrer Ausbildung Himmelstoß nachts verprügelt und sich so gerächt hatten.

4. Auf dem Rückmarsch von der Front wird die Kompanie auf einem Friedhof von einem schweren Angriff des Gegners mit Gas und Artillerie überrascht. Bäumer überlebt in einer extremen Situation, neben einem Toten unter einem Sarg liegend, den Überfall.

5. Der Unteroffizier Himmelstoß kommt überraschend an die Front; unter den Rekruten, die er während der Ausbildungszeit brutal gedrillt hat, war der Sohn eines Regierungspräsidenten: „Das brach ihm das Genick.“ (Remarque, 58) Die Soldaten spekulieren, was sie im Frieden machen würden, und stellen fest, dass ihre bisherige Bildung ihnen für den Krieg nichts genutzt hat. Es kommt an der Front zu einem ers-ten Zusammenstoß mit Himmelstoß, der ihnen droht. Ein Gänsediebstahl mündet in einen kulinarischen Höhepunkt, an dem auch die Arrestanten, die Himmelstoß haben auflaufen lassen, beteiligt werden.

6. Die Kompanie wird wieder an die Front verlegt, auf dem Weg dahin verweisen zahlreiche angelieferte nagelneue Särge auf die geplante Offensive. In den Gräben werden die „Leichenratten“ (Remarque, 92) zur Plage. – Nachdem sich Himmelstoß an der Front als Feigling entpuppt hat, zwingt ihn Bäumer in den Kampf. Bäumer und seine Kameraden überleben einen Sturmangriff der Franzosen, der in ein schreck-liches Gemetzel übergeht (vgl. Remarque, 101 ff.), die Kompanie ist einmal mehr dezimiert worden: Von 150 Soldaten leben noch 32.

50 Sport und Bild 12/1928, zitiert nach: Antkowiak, S. 33.51 Vgl. Vorabdruck in der ‚Vossischen Zeitung‘. In: Remarque 2014, S. 321 ff. 52 Vgl. Bernhard, S. 237, vgl. auch: Remarque 2014, S. 370. 53 So typisch, dass sich in diesen Geschehnissen auch z. B. englische oder französische Kriegsteilnehmer später wiederkennen konnten, vgl. S. 41 dieser Erläu-

terung.

Vom Vorabdruck in der Zeitung zur Buchausgabe

Der Tod als Glücksfall für die Überlebenden

Besuch beim schwer verletzten Kemmerich

Lehrer Kantorek und Unteroffizier Himmelstoß

Gasangriff auf einem Friedhof

Himmelstoß an der Front

Bereitgestellte Särge kündigen neue Offensive an

36

4. VERglEichEnDE inTERpRETATion: VERglEich DER RoMAnSchlÜSSE Von REMARquE unD KöppEn

Æ In Remarques Im Westen nichts Neues ist das 12. Kapitel das Schlusskapitel. Neben der Zwölf erscheint zu Beginn des Kapitels eine weitere symbolträchtige Zahl, die Sieben: Bäumer ist „der Letzte von den sieben Mann aus unserer Klasse“ (Remarque, 257). Sein Leben ist so bedeutungslos geworden, dass der Tod nicht einmal im Heeresbericht Erwähnung findet.

Æ Das letzte Kapitel von Köppens Heeresbericht, es ist das 7. Kapitel des 2. Teils, ist ähnlich: Die neue Kriegs-technik triumphiert; der verzweifelnde Reisiger stellt sich gegen Kriegsende immer dringlicher die Frage nach dem Warum (Köppen, 379 ff.).

Æ Beide Werke haben biografische Erlebnisse ihrer Autoren zur Grundlage. Æ Die Hauptfiguren beider Romane werden vom Krieg entwurzelt und verlieren allen Lebensmut, der Krieg ist die Wirklichkeit gewordene Sinnlosigkeit. Bäumer und Reisiger sind frühe Ausprägungen eines literari-schen Typus, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Heimkehrer Beckmann in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür berühmt wurde.

Æ Beide Antikriegsromane beschreiben faktenreich die zunehmende Technisierung des Krieges; aus dem Kampf der Menschen wird die Schlacht der Maschinen.

Der Schluss von Im Westen nichts NeuesRemarques Im Westen nichts Neues gibt die Erfahrungen einfacher Frontsoldaten wider. Das Buch beabsich-tigt eine Desillusionierung jeglichen Heroismus des Krieges, wollte jedoch nach Meinung seines Verfassers unpolitisch sein. Statt heldischer Ereignisse werden grausame und erschreckende Wirkungen des Krieges geboten, die sich jeder sakralen Überhöhung durch Denkmale und Ähnliches entziehen müssten. In Remar-ques Im Westen nichts Neues ist das 12. Kapitel das Schlusskapitel. Neben der Zwölf erscheint zu Beginn des Kapitels eine weitere symbolträchtige Zahl, die Sieben: Bäumer ist „der Letzte von den sieben Mann aus unserer Klasse“ (Remarque, 257). Beide Zahlen werden oft symbolisch gebraucht, die Zwölf als Zahl der Jünger, der Monate, die Sieben vor allem im Märchen bei den sieben Zwergen hinter den sieben Bergen, aber auch bei den Wochentagen. Es sind Zahlen mit einer ausgeprägten Lebenssymbolik. Sie hat allerdings durch den Krieg ihren Sinn verloren. Märchenhaftes und Symbolträchtiges büßen ihre Bedeutung an eine sinnlos gewordene Wirklichkeit ein. Zwar hofft Bäumer wie viele andere auf den „Waffenstillstand“ (Remarque, 257), um seinen Gefühlen – „Lebensgier“, „Heimatgefühl“ (Remarque, 257) – gerecht werden zu können. Doch Ziele hat er keine mehr, und so kann er „ohne Erwartung“ (Remarque, 258) für den Augenblick leben, der ihm als Bestätigung der Sinnlosigkeit kurz vor Kriegsende das Leben nimmt, das aus Sicht der Heeresleitung so bedeutungslos ist, dass sein Tod nicht einmal im Heeresbericht Erwähnung findet.

Der Schluss von HeeresberichtDas letzte Kapitel von Köppens Heeresbericht, es ist das 7. Kapitel des 2. Teils, ist ähnlich angelegt. Die neue Kriegstechnik triumphiert; Reisiger übernimmt eines der Tankabwehrgeschütze. Durch eines der Dokumen-te – ein von französischen Fliegern abgeworfenes Flugblatt – gelingt es Köppen, auf Schuldige für den Krieg hinzuweisen: „(…) im Interesse des Zoller’schen [gemeint ist: Hohenzollerschen, R. B.] Größenwahns und einiger großer Geldsäcke (…)“ (Köppen, 375). Das Erlebnis des immer mörderischer werdenden Krieges macht auch die Sinnlosigkeit der Vernichtung immer deutlicher. Reisiger, der verzweifelt, stellt sich gegen Kriegsende immer dringlicher die Frage nach dem Warum (vgl. Köppen, 379 ff.). Anlage und Duktus ähneln dem nach dem Zweiten Weltkrieg erschienenen Heimkehrerdrama Draußen vor der Tür73 von Wolfgang Bor-chert. Reisiger flieht aus der Vernichtung und erklärt bei seinem Auffinden, „dass er den Krieg für das größte aller Verbrechen hält“ (Köppen, 394). Er wird in eine Irrenanstalt eingeliefert. Das Kapitel schließt mit einem Bericht über den Kranken, der nur noch einen Satz kennt: „Es ist ja immer noch Krieg. Leckt mich am Arsch!“ (Köppen, 396) Es ist die polar entgegengesetzte Wertung des Krieges zu der Jüngers, der im Krieg die Wie-

73 Vgl. Rüdiger Bernhardt: Textanalyse und Interpretation zu Wolfgang Borchert. Draußen vor der Tür. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2013 (Königs Erläuterungen, Bd. 299), S. 77 ff.

Desillusionierung jeglichen Herois-mus des Krieges

Symbolträchtige Zahlen

Triumph der neu-en Kriegstechnik

Das aufschluss-reiche Flugblatt

Nähe zu Draußen vor der Tür

37

4. Vergleichende interpretation: Vergleich der Romanschlüsse von Remarque und Köppen

dergeburt eines neuen heldischen Menschen sah, „in allen Feuern und Stichflammen gehärtet, konnten wir aus einer Schmiede des Charakters vor unser Leben treten, wie kaum ein anderes Geschlecht.“ (Jünger, 282)

Biografische grundlagen und hauptgestaltenBeide Werke haben biografische Erlebnisse zur Grundlage. Aufgrund des unterschiedlichen Kriegserlebnis-ses sind sie aber bei Köppen dichter und autobiograpischer als bei Remarque. Während Remarque, der nur wenige Wochen an der Front war, die verwendeten Erlebnisse literarisch verkleidet, kommen sie bei Köppen in ihrer sachlichen Grundstruktur zum Tragen. Während Remarque vorwiegend die Erlebnisse anderer ver-wertete, ist Köppens Darstellung des Krieges aus eigenem Erleben gespeist. Köppens Soldbuch weist aus, dass seine Laufbahn mit der Reisigers übereinstimmt: Kriegsausbildung in Burg, 40. Feldartillerieregiment, Front zum Winteranfang 1914, Urlaub 1916, zwei Lazarettaufenthalte, darunter einmal in Gernrode („Harz“, Köppen, 284).74 In Heeresbericht wurden Gedichte Köppens als Gedichte Reisigers aufgenommen, darunter Loretto, das 1915 in der Aktion erschien. Loretto ist auch ein Handlungsort des Heeresberichtes (Köppen, 15, 31, 96, 144). Bei Remarque entspricht nur der biografische Rahmen – Ausbildung und Ausbilder, Heimatstadt und Lazarett – der Biografie des Verfassers, bei Köppen auch die biografischen Details. Remarque war kein Kriegsfreiwilliger von 1914, sondern kam erst 1917 an die Front, nachdem er am 21. November 1916 zum Kriegsdienst eingezogen wurde.

Die Hauptgestalten beider Werke, Bäumer und Reisiger, sehen den Krieg aus der Perspektive des einfa-chen Soldaten, die Reisiger auch nach seinen Beförderungen beibehält. Beide Protagonisten werden vom Krieg entwurzelt und verlieren allen Lebensmut, weil sie ihrem Leben keinen anderen Sinn mehr als den des Krieges geben können, der Krieg aber die Verwirklichung der Sinnlosigkeit ist. Sie werden zunehmend ohnmächtig gegenüber dem Kriegsgeschehen. Bäumer und Reisiger zerbrechen an dieser Ohnmacht und Sinnlosigkeit: Bäumers sinnloser Tod ist geradezu die symbolische Vollendung eines sinnlos gewordenen Lebens, Reisigers Aufenthalt im Irrenhaus ist dazu das Pendant: Auch sein Leben ist durch den Krieg sinnlos geworden und wird, solange Krieg ist, nicht wieder zu einem Sinn finden.

Beide Gestalten haben dabei anfangs durchaus bürgerlich-humanistische Ideale zur Orientierung, ge-wonnen aus Bildung und Erziehung, die jedoch schnell zerstört und durch die Sicherung existenzieller Grundlagen wie Essen, Trinken und Überleben ersetzt werden. Beide kommen in ihrer alles umfassenden Enttäuschung über die Sinnlosigkeit und die Bedeutungslosigkeit des menschlichen Lebens, die der Krieg geschaffen hat, bis zur dringlichen Fragestellung des Warum, finden aber keine Antwort. Beide sind damit frühe Ausprägungen eines literarischen Typus, der nach dem Zweiten Weltkrieg als Heimkehrer Beckmann in Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür berühmt wurde und ebenfalls die Frage nach dem Warum stellte.

In beiden Werken bleibt keine Hoffnung; sie wird durch Entsagung bzw. Gleichgültigkeit (Monate und Jah-re nehmen „mir nichts mehr, sie können mir nichts mehr nehmen.“ Remarque, 198) oder auch durch völligen Rückzug aus den sozialen Bindungen („Reisiger liegt in seiner Isolierzelle.“ Köppen, 394) abgelöst. Auch der Glaube ist verloren gegangen. Köppen sah sein Vertrauen auf einen Gott durch den Krieg so sehr beschädigt, dass er Gott als „nicht gerecht“ ablehnte: Sein Zweifel habe

„vor den zerstückten Haufen der ‚Umgebrachten‘, vor den Blutlachen der ‚Gerichteten‘ Fuß gefasst; wenn das ein Gott zulässt, wenn das eine Kirche als eines Gottes Gebot zulässt (...), wenn das ‚im Na-men des Herrn‘ noch als eine Tat gepriesen wird, dann kann dieser Gott nicht gerecht“75 sein.

Der Zweifel an Gott wird zu einem bestimmenden Inhalt zu Beginn des 2. Teils in Heeresbericht: Zuerst wer-den Berufungen auf Gott aufgelistet, in denen er auf Seiten der deutschen Soldaten steht (vgl. Köppen, 209); dann wird das Gedicht Köppens Anruf als eines von Reisiger aufgenommen, in dem der persönliche Zweifel an Gott – „großes Irresein“ – angemeldet wird (Köppen, 217). Köppens Absage an Gott war jedoch keine Ab-sage an die christlichen Gebote, die er in seiner individuellen Moral anerkannte; sein Anruf schließt mit einer Variation des Vaterunser, das als moralisches Gebot erhalten bleibt, aber säkularisiert wird: „Und erlöse uns von dem Leben.“ (Köppen, 217) Das bedeutet nicht eine himmlische Erlösung, sondern den irdischen Tod als Sühne menschlicher Schuld.

74 Vgl. Vinzent, S. 23 f.75 Brief an einen jungen Mann, zitiert nach: Vinzent, S. 29, Anm. 41.

Köppens Kriegs-erfahrungen und die seines Prota-gonisten

Sinnloser Krieg

Keine Antwort auf die Frage nach dem Warum

Verlust von Hoff-nung und Glaube

41

5. REZEpTion

5.1 IM WesTeN NIcHTs Neues80

polarisierte RezeptionRemarques Im Westen nichts Neues wurde nach seinem Erscheinen 1929 (Buchausgabe) ein sensationeller Erfolg, der vom Verlag mit einer ausgefeilten Kampagne wesentlich vorbereitet worden war.81 Der Autor wur-de weltberühmt: Schon nach drei Monaten waren 500.000 Exemplare des Buches gedruckt. Ende 1929 hatte die Auflagenhöhe die Milliongrenze überschritten und ein Jahr später vier Millionen Exemplare erreicht. Zur gleichen Zeit lag der Roman in 25 Übersetzungen vor, heute sind es über 50. Die Wirkung betraf nicht nur deutsche Leser, sondern das Buch wurde auch in der englischen Übersetzung ein Erfolg. Remarques Dar-stellung erwies sich auch für englische Kriegsteilnehmer als anschlussfähig: Der britische Verleger schrieb an Remarque, das Buch enthalte alles, „absolut alles, was wir draußen ‚im Westen‘ durchgemacht haben. Und das ist für englische Soldaten genauso gültig und wahr wie für den deutschen.“82 Ebenso groß und ent-schieden wie die Zustimmung war jedoch auch die radikale Ablehnung von Remarques Buch. Für Remarque sprach in konservativen Kreisen noch, dass in dem Buch die Ablehnung des Krieges nicht auf Grundsätzliches zielte, sondern als Beschreibung eines Ausschnittes genommen werden konnte, der in sich durchaus auch heroische Momente hatte: „Die Ablehnung des Krieges verbleibt im Rhetorisch-Deklamatorischen, eine Stil-ebene, die bezeichnenderweise dann auch in die euphorischen Kritiken eingeht.“83

Die Wirkung des Buches Im Westen nichts Neues und anderer Antikriegswerke von Ludwig Renn über Ar-nold Zweig bis zu Adam Scharrer bestand darin, dass sie mit der detaillierten Beschreibung der unmenschli-chen Vorgänge im Krieg jedem Heroismus und Stolz auf Krieg und Kriegsteilnahme begegnen wollten. Diese Funktion erfüllten diese Werke letztlich aber nur kurze Zeit; schon Köppens Heeresbericht kam zu spät. Axel Eggebrecht, der mit Köppen um 1930 befreundet war, beschrieb die Situation in einer zeitgenössischen Re-zension: „Die ungeheuren Auflageziffern des vergangenen Jahres haben die breite Masse der Leser zurecht fasziniert. Dann abgestumpft. Und jetzt erklären sie sich für übersättigt.“84

Die Stellungnahmen bei der Veröffentlichung von Remarques Im Westen nichts Neues waren zahlreich; der Roman wurde gerühmt und bewundert. Der Grund war die Figurenkonstellation: In ihr erkannten sich die Soldaten wieder, die „Muschkoten“ (Musketiere, Fußsoldaten) des Schützengrabens. Ernst Toller (ebenfalls ein Kriegsfreiwilliger, der an der Westfront gekämpft hatte und seine Erlebnisse 1933 in seiner Autobiografie Eine Jugend in Deutschland verarbeitete) machte das in seiner Rezension in Die Literarische Welt deutlich:

„Einer hat für uns alle gesprochen, für uns Muschkoten, die im Schützengraben lagen, die verlaust und verdreckt waren, die schossen und erschossen wurden, die den Krieg nicht aus der Perspektive der Generalstäbe, nicht aus Schreibstuben und Redaktionsbüros sahen, die ihn erlebten als Alltag, als furchtbaren und monotonen Alltag.“85

Björnstjerne Björnson schlug Remarque für den Nobelpreis vor, der Deutsche Offiziersverband protestierte aber mit einer Note beim Preiskomitee dagegen.86 Andere versuchten den literarischen Gegenentwurf: 1931 erschien Paul Alverdes‘ Erzählung Reinhold im Dienst87, die im Dritten Reich überaus erfolgreich wurde: Der Kriegsfreiwillige Reinhold gerät mit ähnlichen Voraussetzungen wie Paul Bäumer in den Krieg und erlebt ihn ebenfalls als Höhepunkt der Kameradschaft, weiß sich aber auch mit den Bestialitäten des Krieges ab-zufinden. Dieser Kameradschaft opfert Reinhold sich; er verzichtet nach einer Verwundung auf das Lazarett,

80 Eine übersichtliche Auswahl von Rezeptionszeugnissen zu Im Westen nichts Neues bietet die Ausgabe Remarque 2014, S. 331 ff., vgl. auch Antkowiak, S. 22 ff. 81 Vgl. die Schilderung der PR-Strategie durch Angelika Howind, in: Gilbert, S. 126.82 Brief Herbert Reads von 1929, mitgeteilt bei Gilbert, S. 123.83 Prümm, S. 159, Anm. 13.84 Axel Eggebrecht: Heeresbericht und Heldentod, in: Das Tage-Buch,1930, S. 821, zitiert nach: Vinzent, S. 54 f.85 Zitiert nach: Remarque 2014, S. 335.86 Vgl. Gilbert, S. 142.87 Vgl. zu Alverdes‘ Erzählung Bernd Peschken: Klassizistische und ästhetizistische Tendenzen in der Literatur der faschistischen Periode. In: Horst Denkler und

Karl Prümm (Hrsg.): Die deutsche Literatur im Dritten Reich. Stuttgart: Reclam, 1976, S. 209 ff.

Millionenfache Auflage

Emphatische Zustimmung und radikale Ableh-nung

Rasche Abstump-fung des Publi-kums

„Einer hat für uns alle gesprochen“

Affirmative Gegendarstel-lungen

46

6. MATERiAliEn

Der Kriegsausbruch wurde für Theodor Lessing (1872–1933) zu einem lebenslangen Trauma. In seinem Buch Der jüdische Selbsthass (1930) erinnerte er sich:

„An die Tage des August 1914 werde ich bis zum Tode nie anders zurückdenken, als an die klarste Offenba-rung, die mir je zuteil ward über die schönen menschheitlichen Wahnideen. Ideale sind Krücken, Fortschritt ist nur ein Trug. Geschichte: Lüge.

Es war damals, wie wenn jeder Mensch nur eine einzige Angst hegte: hinter der ‚großen Stunde‘ zurück-zubleiben. Jeder wähnte, man könne von heute auf morgen ein Held werden. Und wenn man noch gestern dem Erfolgsschacher gelebt hatte. Da war zu Ende die Freiheit des Einzelnen. Da gab es kein Gewissen, kein Auswerten, keine Herzensprüfung. Da ballte sich aus Rauflust, Hochherzigkeit, Dummheit, Gewinnsucht, Feigheit, Herdenseligkeit, Abenteuergier, Gläubigkeit, kurz aus allem Guten und allem Schlimmen der Men-schennatur das Völkerschicksal. (…)

Wahrhaft glücklich aber waren die erst Halb-Enttierten. Nun entfiel endlich, was ihnen immer zuwider und immer hinderlich gewesen war: das zartere Gewissen, das reinere Herz. Jetzt galt das Tier. Und was nicht dem Tier diente – es war todesreif.“116

Den neuen technisiert-maschinellen Charakter des Krieges beschrieb Harry Graf Kessler (1868–1937), der zu Beginn des Krieges mehrfach heroische Schönheit konstatiert und sie an der Front in einsamen Inspektions-gängen gesucht hatte, sich aber dann distanzierte. Er berichtete Hugo von Hofmannsthal:

„Denn der moderne Krieg ist in seinem Wesen alles andere als romantisch. Es ist ein gigantisches geschäft-liches Unternehmen, dessen Hauptarbeit im Büro, am Schreibtisch und am Telefon geleistet wird, nichts gleicht mehr einer Bank oder dem Büro einer großen Fabrik, als ein Armee-Oberkommando während der Schlacht. Wenn man nicht wüsste, worum es sich handelt, könnte man annehmen, dass wichtige Orders und Börsengeschäfte abgeschlossen würden. Die Leichen, das Blut, selbst der Schlachtendonner sind weit: Man merkt in diesen ordentlichen Büros, in denen so viele Beamte ein und ausgehen, Aktenmappen aufgestapelt liegen und Telefone immerfort gehen, nichts vom Krieg.“117

Auf der Kundgebung der Deutschen Liga für Menschenrechte vom 2. Februar 1931, an der auch Edlef Köppen teilnahm, sprach Heinrich Mann über die Bedeutung der Verfilmung von Remarques Im Westen nichts Neues und deutete vorsichtig dessen Grenzen an:

„Der Film Im Westen nichts Neues ist dem deutschen Publikum vorenthalten worden. Die übrige Welt hat ihn gesehen und sieht ihn weiter. Sie findet, dass der Film den deutschen Soldaten nicht etwa zur Unehre, sondern im Gegenteil zum Ruhme gereicht. Davon können aber die Deutschen selbst sich nicht überzeugen. Alle anderen können es, sie selbst nicht. Sie haben ihre Kriegstaten nur vollbringen dürfen. Ihre Taten von der Bewunderung des Auslands, in einem von Fremden gespielten Film bestätigt zu sehen, das durften die Deutschen nicht. Ihnen war erlaubt gewesen, vieles zu erleiden, die Schrecken der Schlachten, den täglichen Verkehr mit dem Tode, Entbehrungen, Verzweiflung, die wahnsinnigste Überanstrengung der Menschen-natur, die jemals gefordert worden ist. Aber der späte Trost, dies alles wiederzusehen in wahren Bildern, verklärt von der Erinnerung an überstandene Schmerzen und von der Versöhnlichkeit früherer Feinde – nein, der Trost war den deutschen Soldaten nicht erlaubt.“118

Auf dem I. Unionskongress der Sowjetschriftsteller (17. August bis 1. September 1934) sprach der deutsche Kommunist Karl Radek über Die moderne Weltliteratur und die Aufgaben der proletarischen Kunst. Die Rede

116 Theodor Lessing: Wortmeldungen eines Unerschrockenen. Publizistik aus drei Jahrzehnten. (Gustav Kiepenheuer Bücherei 76.) Leipzig und Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag, 1987, S. 192 f.

117 Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler: Briefwechsel 1898–1920. Hrsg. von Hilde Burger. Frankfurt a. M.: Insel Verlag, 1968, S. 412 f. 118 Heinrich Mann: Die Zensur III. In: Ders.: Essays und Publizistik. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5. Hrsg. von Wolfgang Klein, Anne Flierl und Volker Riedel.

Bielefeld: Aisthesis Verlag, 2009, S. 119 f.

Kriegsbegeiste-rung im August 1914

Neuer techni-scher Kriegs-charakter

Über die Roman-verfilmung

Kommunistische Kritik an Re-marque