Lucian Boia: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart · PDF fileGeschichtsauffassung, ausgeschmückt mit dem Daker Zamolxis, den Aufstandsführern Horea, Closca und Crisan, dem

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  • Lucian Boia: Geschichte und Mythos. ber die Gegenwart des Vergangenen in der rumnischen Gesellschaft (= Studia Transylvanica; Bd. 30), Kln / Weimar / Wien: Bhlau 2003, 291 S., ISBN 3-412-18302-4, EUR 27,90.

    Lucian Boia: Romania. Borderland of Europe, London: Reaktion Books 2001, 240 S., 68 Abb., ISBN 1861891032, GBP 16,95.

    Sorin Mitu: Die ethische Identitt der Siebenbrger Rumnen. Eine Entstehungsgeschichte (= Studia Transylvanica; Bd. 29), Kln / Weimar / Wien: Bhlau 2003, 354 S., ISBN 3-412-16402-x, EUR 37,90.

    Rezensiert von:Armin HeinenHistorisches Institut, RWTH Aachen

    Zeit hat mich die rumnische Historiographie in den 1980er-Jahren gekostet, Lebenszeit, viele Wochen, viele Monate, whrend der ich meine Dissertation vorbereitet habe. Mhsam zwischen den Zeilen musste ich lesen, statt Abstze schnell zu berfliegen, den Wust der Fakten durchdringen, die allzu schematischen Schnitte der wenig inspirierten Darstellungen ins Grau der Geschichte bersetzen. Dabei hatte die rumnische Geschichtswissenschaft bereits die stalinistische Phase berwunden, war zurckgekehrt zur national-romantischen Geschichtsschreibung des frhen 20. Jahrhunderts, freilich in einer spezifisch rumnisch-national-kommunistischen Variante. Sicherlich, es gab schlechtere und bessere Arbeiten, solche, die den ideologischen Vorgaben enger folgten, und solche, die vor allem auf Fakten und einzelne Personen setzten, um hierdurch ein gewisses kritisches Potenzial zu entfalten. Dennoch, allzu viel blieb ausgeblendet, disproportioniert; die auerrumnische Forschung wurde praktisch nicht zur Kenntnis genommen. Methodisch konnte man allenfalls lernen, wie man es nicht

    machen sollte: Darstellungen ohne jegliche theoretische Fundierung, Zitate und Funoten ohne przisen Quellennachweis, Helden- und Schurkengeschichten statt Strukturanalyse. Die wirklich interessanten Analysen stammten aus der Zeit vor 1947, und nicht zuletzt ein Marxist, Lucretiu Patrascanu, hatte scharfsinnige Deutungen vorgelegt. Er wurde von Gheorghiu-Dej als Intellektueller ausgebootet, zu stalinistischer Gefngnisstrafe verurteilt und 1954 umgebracht. Kein Wunder, dass dessen theoretische Stringenz die sptere rumnische Geschichtswissenschaft nie wieder erreichte.

    Nach 1989 verschwand die krude Parteigeschichtsschreibung in der Versenkung, nicht zuletzt eine Generationenfrage, denn mit Ceausescu mussten die alten Hardliner abdanken oder starben nach kurzer Zeit in hohem Alter, ohne Rechenschaft ber ihr Tun ablegen zu mssen. Dafr wurde Geschichte zum Tummelfeld zahlreicher tatschlicher

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  • oder selbst ernannter Historiker. Die ffentlichkeit drstete nach "wahrer" Geschichte, freilich fehlten ihr jede Vorstellung von Qualitt jenseits der Versicherung bewusst objektiver Darstellung und des Bezugs auf Quellen. So ist die heutige Geschichtslandschaft Rumniens hchst vielschichtig. Intellektuelle jeglicher Provenienz uern sich zur Vergangenheit und glauben, kompetent Aussagen machen zu knnen. Die national-romantische Geschichtsschreibung der Ceausescu-Jahre definiert ber weite Strecken, was in Schule und Universitt als verbindlich und glaubwrdig gelten soll. Bezeichnenderweise hat die Rumnische Akademie gerade eine vielbndige Geschichte Rumniens herausgegeben, welche die alten Werke aus kommunistischer Zeit ersetzen soll, in weiten Bereichen aber hchst langweilig ist und ohne Diskussion von Forschungsmeinungen und alternativen Deutungsmglichkeiten auskommt.

    Dennoch gibt es Bewegung in der rumnischen Historiographie. Bisherige Auenseiter drngen nach vorne. Es lohnt, die neueren Verffentlichungen sowie die dazu erscheinenden Stellungnahmen in den Zeitschriften und Zeitungen aufmerksam zu verfolgen. Methodisch ist die jngere Forschung innovativ, in mancher Hinsicht Vorreiter westlich-postmoderner Geschichtsschreibung. Zudem gibt sie einen ganz neuen Blick auf die rumnische Geschichte frei.

    Zu den Kombattanten gehren Sorin Antohi, Mirela-Luminita Murgescu, Lucian Boia, Sorin Mitu, Alexandru Zub und andere. Erfreulicherweise hat der Bhlau-Verlag jetzt zwei der in den letzten Jahren heftig diskutierten Werke von Sorin Mitu und Lucian Boia ins Deutsche bersetzt und damit einer breiten westlichen ffentlichkeit verfgbar gemacht. Wenn es denn richtig ist, dass Verlierer gute Geschichtsschreiber sind, wie Eric Hobsbawm meint, dann

    sind die Voraussetzungen fr die Neuerer in der rumnischen Geschichtsschreibung vorzglich. Herausgedrngt aus der rumnischen Geschichtsschreibung vor 1989, selbst danach politisch marginalisiert, konnten sie Distanz zu ihrem Forschungsgegenstand entwickeln und nahmen zugleich die Anregungen westlicher Historiographie begierig auf. Dennoch wre es falsch, allein die Nachahmung westlicher Forschungsanstze herauszustellen, denn Lucian Boia und Alexandru Zub, um nur die beiden zu nennen, konnten bereits zuvor wissenschaftlich ttig sein, freilich auf einem fr das System scheinbar unverfnglichen Feld, der Historiographiegeschichte, der Literaturgeschichte und der Fiktionen. Boia verffentlichte eine vielbeachtete Geschichte der Marsmenschen und brachte auch ein Handbuch ber die groen Historiker der Welt heraus. Nach 1989 wandten die Neuerer ihr Methodeninstrumentarium auf die Geschichtswissenschaft und die politische Kultur Rumniens an.

  • Wer wollte bezweifeln, dass Sprache Wirklichkeit schafft, wenn Ceausescu die Drfer ausradierte, die Kirchen zerstrte, die Stdte seinem eigenen Grenwahn anglich, der Landschaft mit Kanlen und Seen seinen Stempel aufprgte. Die Betonung der diskursiven Konstituierung der Gesellschaft, wie sie die Postmoderne-Debatte herausgestrichen hat, bedeutet auf dem rumnische Erfahrungshintergrund eine Selbstverstndlichkeit. Ein rumnisches Bonmot vor 1989 besagt, dass im Westen Vergangenheit bekannt sei, die Zukunft indes ungewiss. In Rumnien kenne man dagegen die Zukunft sehr wohl, aber man wisse nie, was die Vergangenheit bringe. Denn immer wieder gab die Kommunistische Partei neue Losungen aus, bis sie die Daker entdeckte und als Ursprung fr den eigenen Vorrang in der Weltgeschichte bestimmte.

    Der Versuch, fehlende Legitimation durch nationalistische Losungen auszugleichen, war beinahe bis zuletzt erfolgreich. Die Geschichte der rumnischen Provinzen ist die Geschichte europischer Peripherie und eines hchst

    komplizierten Nationsbildungsprozesses. Erst dem kommunistischen Regime gelang die ethnische Homogenisierung und die Sicherung eines generellen Vorrangs fr die Rumnen, freilich auf Kosten der Verarmung des Landes, des Herausdrngens ethnischer Minderheiten und der Willkr der Securitate. Eine zutiefst gespaltene Gesellschaft sucht heute ein neues Fundament. Jngeren Meinungsumfragen zufolge wrden 41 Prozent aller rumnischen Kinder und Jugendlichen Rumnien gerne verlassen!

    Die Antworten auf die Orientierungskrise sind so vielfltig, wie die rumnische Gesellschaft zerklftet ist. Esoteriker haben Konjunktur und Nationalkommunisten, Zyniker und ernsthafte Analytiker. In diesem Stimmenwirrwarr pldieren Sorin Mitu, Sorin Antohi, Lucian Boia, Bogdan und Mirela-Luminita Murgescu fr eine ffnung gegenber Europa, fr die Bereitschaft, sich von berkommenen Mythen zu lsen.

    Im Grunde greifen sie die Losungen postmoderner Geschichtswissenschaft auf, ohne indes radikale Positionen zu besetzen. Sie messen dem "Imaginren" genauso viel Bedeutung zu wie dem "Realen" und sie argumentieren, dass der Logik der konkreten Sachverhalte eine Logik geistiger Bilder entspreche. Das "griechisch-byzantinische Wehklagen ber den Verfall in der Gegenwart" sei beispielsweise ein immer wiederkehrender Topos des Nachdenkens ber die Welt. Nur wenn sich die Bevlkerung frei mache von berlieferten Deutungsmustern, lerne, sich der Manipulation mithilfe der Geschichte zu widersetzen, gewinne sie die Freiheit zur Gestaltung der Zukunft.

    Es ist also ein eminent politisches Programm, das die Neuerer der rumnischen Geschichtswissenschaft sich vorgenommen haben, und dementsprechend heftig sind die Reaktionen. Wovon handeln ihre Bcher?

    Sorin Mitu, Professor fr Neuere Geschichte in Klausenburg (Cluj), untersucht die Herausbildung des Selbstbildes der Siebenbrger Rumnen Ende des 18. und in der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts. Er zeigt, dass die rumnischen Intellektuellen sich in einer Verteidigungsposition fhlten und glaubten, auf bewusste Fehldarstellungen

  • interessierter Kreise reagieren zu mssen. berraschend ist, wie sehr die Stereotypen den heutigen Rumnien-Bildern hneln, und nicht zufllig referiert Mitu den Sachverhalt, indem er von "uns" spricht: "'Wir' sind auf dem letzten Platz" (85), "'Unser' Verharren im bel - die Feindseligkeit gegenber dem Fortschritt" (113), wobei er die Aussagen der Zeitgenossen pointiert zusammenfasst.

    Es ist keinesfalls ein sehr ansprechendes Bild, das die rumnischen Intellektuellen von ihrer Gesellschaft entworfen haben. Zwar werden "die Rumnen" "verleumdet", gibt es eine "Weltverschwrung gegen die Rumnen", andererseits stehen sie selbst den "Zigeunern" und "Juden" nicht fern. "Faul" seien sie, aber auch "intelligent", heit es. Schuld an ihrem bedauernswerten Kulturzustand seien die ueren Umstnde. Denn darum geht es vor allem, um die Anerkennung als vierte siebenbrgische Nation. Der Abwehr von Fremdzuweisungen und der Kritik der Gegenwart steht der Aufruf zur Umkehr und geistigen Erneuerung gegenber. Leitbild solle das die rumnische Kultur in reinster Form charakterisierende Bauerntum sein, eine Vorstellung, die langfristig fr den Modernisierungsprozess wenig hilfreich war. Die Bewahrung der rumnischen Sprache und Kultur ber die Jahrhunderte gibt den Intellektuellen Zukunftsgewissheit, ebenso wie die rmische Herkunft und der christliche Glaube. Freilich spaltet die Religion wiederum die Rumnen in Orthodoxe und Griechisch-Katholische, in Anhnger eines "dritten Weges" und Nicht-Konfessionell-Geb