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BerWissGesch 5, 263-268 (1982)
Rezensionen
Berichte zur WISSENSCHAFTSGESCHICHTE © Akademische Verlagsgesellschaft !9H2
Ludwig Boltzmann Gesamtausgabe, herausgegeben von Roman U. Sexl. Band 1: Vorlesungen über Gastheorie. I. und II. Teil. Einleitung, Anmerkungen und Bibliographie von Stephen G. Brush. -Band 2: Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes. I. und II. Teil. Einleitung, Anmerkungen und Bibliographie von Walter Kaiser. Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz; Friedrich Vieweg und Sohn, Braunschweig/Wiesbaden 1981 und 1982.
Neben Maxwell gehört Boltzmann zu den Hauptbegründern der statistischen Wärmelehre. Viele Begriffe aus der statistischen Mechanik wurden von ihm geprägt und werden für immer seinen Namen tragen. Als wichtigstes Ziel der Wissenschaft galt ihm die Zurückführung physikalischer Erscheinungen auf mechanische Vorgänge. Insbesondere die wahrscheinlichkeitstheoretische Deutung der Entropie war eine wichtige Stütze für diese Auffassung. Als Vorkämpfer der atomistischen Konzeption der Materie geriet Boltzmann zeitweilig in Widerspruch zu den tonangebenden Physikern seiner Zeit. Zum Teil von ihm selbst inszeniert, fand im September 1895 eine öffentliche Konfrontation mit seinen Gegnern während der Deutschen Naturforscherversammlung in Lübeck statt. Während er den Standpunkt der Atomistik einnahm, sammelten sich unter der Führung von Wilhelm Ostwald die sogenannten Energetiker, welche sich als modernere Richtung verstanden und rein phänomenologisch argumentierten. Sie bezichtigten Boltzmann des wissenschaftlichen Materialismus. Nur die anwesenden Mathematiker und die ihnen nahestehenden Theoretiker (unter ihnen Arnold Sommerfeld) ergriffen seine Partei, während der Rest den suggestiven Ausführungen Ostwaids zusprach. Noch unter dem Eindruck dieser Ereignisse entschloß sich Boltzmann, seine Vorlesungen über Gastheorie, die während seiner Veranstaltungen an der Münchener und Wiener Universität entstanden waren, in Buchform zu publizieren. Damit wurden Boltzmanns Auffassungen erstmals einem breiten Publikum zugänglich, weil die Mehrzahl seiner Spezialuntersuchungen in weniger verbreiteten Zeitschriften veröffentlicht war. Ein zweiter Band, der speziellere Probleme und die Theorie mehratomiger Moleküle enthielt, folgte 1898. Die äußerst didaktische Darstellung und der polemische Stil des Werkes machen es noch immer zu einer ansprechenden Lektüre. Was heute abgeklärter Vorlesungsstoff ist, wird hier von dem Begründer eingehend und scharfsinnig auseinandergesetzt. Das lückenhafte Verständnis über die Atom- und Molekülstruktur sucht Boltzmann durch phantasiereiche Spekulationen zu ergänzen. Zuweilen streut er erkenntnistheoretische Überlegungen und kosmologische Betrachtungen ein, welche auch weiterhin dem Forschenden Anregung sein können. Mit seinen Vorlesungen über Gastheorie faßte Boltzmann zum letzten Male den großen Bau der klassischen Physik zusammen, bevor dieser durch die Quantentheorie erschüttert wurde. Viele Inkonsistenzen der Theorie, auf die Boltzmann hingewiesen hatte, wurden dadurch beseitigt; aber an dieser Entwicklung konnte er sich wegen eines schweren Leidens nicht mehr beteiligen. Doch aus seinem nun zu einem Klassiker gewordenen Werk haben auch noch die folgenden Generationen gelernt.
Die Vorlesungen erlebten 1910/1912 eine zweite und 1920 eine dritte Auflage. Französische (mit Einleitung und Anmerkungen von M. Brillouin) und russische Übersetzungen folgten bald. Eine englische mit Anmerkungen versehene Übersetzung wurde 1964 von Stephen G. Brush herausgegeben. Der vorliegende Neuabdruck erscheint als erster Band einer mehrbändigen Gesamtedition, die zum ersten Mal das gesamte Werk Boltzmanns vereinigen soll. Die Einleitung von St. G. Brush vermittelt den historischen Rahmen, der den uneingeweihten Leser auf viele zeitbedingte Ausführungen aufmerksam machen soll. Ein kurzer Ausblick auf die neueren über Boltzmann hinausgehende Entwicklungen, ein ausftihrliches Literaturverzeichnis mit Hinweisen auf zeitgenössische und neuere Literatur über Boltzmann und sein Werk und ergänzende Anmerkungen zum Text sollen dem Leser die Arbeit erleichtern.
Boltzmann bereicherte die Wissenschaft nicht allein durch fundamentale Erkenntnisse, sondern auch durch sein energisches Eintreten, wenn es galt, neue Entwicklungen durchzusetzen, denen viele seiner Kollegen nicht zu folgen vermochten. Bekanntlich ließ erst durch Hertz' berühmte Versuche aus dem Jahre 1888 die Skepsis und das Mißtrauen zahlreicher Physiker gegen die Maxwellsehe Theorie nach; aber beseitigt waren damit die Bedenken noch lange nicht. Als Österreicher den Berliner Vorbildern weniger verpflichtet als so mancher andere Zeitgenosse, war Boltzmann schon in frühen Jahren mit den
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Arbeiten der englischen Schule in Berührung gekommen. In einer viel beachteten experimentellen Untersuchung hatte er 1874 die von der Maxwellsehen Theorie geforderte Relation zwischen Dielektrizitätskonstante und Brechungsindex in guter Übereinstimmung mit seinen Ergebnissen gefunden. Dieses Resultat war eine der ersten experimentellen Bestätigungen der Theorie überhaupt. Bald gehörte Boltzmann zu ihren besten Kennern und den eifrigsten Verfechtern auf dem europäischen Festlande. Immer wieder versuchte er in der folgenden Zeit - während der Naturforscherversammlungen und in seinen Schriften - der Maxwellsehen Theorie die gebührende Anerkennung zu verschaffen. Die 1891 und 1893 von ihm in zwei Teilen veröffentlichten Vorlesungen über Maxwells Theorie der Elektricität und des Lichtes dienten ebenfalls diesem Zwecke und bildeten wahrscheinlich den Grundstock der damals von ihm während seines Aufenthalts in München durchgeführten Veranstaltungen.
Dem Geiste der Zeit und seiner eigenen Neigung entsprechend, ist seine Darstellung noch von dem Bestreben erftillt, eine mechanische Grundlage ftir die elektromagnetischen Erscheinungen zu schaffen und diese durch handgreifliche Modelle zu veranschaulichen. Verfehlt wäre es jedoch, daraus zu schließen - wie auch Lorentz in seinem Nachruf auf Boltzmann betonte-, daß er in diesen sinnbildlichen Darstellungen mehr als nur ein heuristisches und didaktisches Hilfsmittel gesehen habe.
Trotz der raschen Entwicklungen in den folgenden Jahrzehnten infolge der vorwiegend von H. A. Lorentz entwickelten Elektronentheorie durch Heaviside und Hertz, erfreuten sich Boltzmanns Vorlesungen weiterhin großer Beliebtheit; nicht zuletzt wegen der ansprechenden, klaren und eleganten Darstellungsweise, aber wohl auch, weil mechanistisches Denken weiterhin der Mehrzahl der damaligen Physiker mehr zusagte. Bereits 1908 wurde eine zweite Auflage notwendig.
Auch wenn die Vorlesungen für den heutigen Physiker längst überholt sind, wird eine Lektüre selbst dem Fachmann noch manche Anregungen bieten können. Für historisch interessierte Leser gehört das Werk dagegen zu den großen Klassikern dieser Zeit, ohne welches ein Studium und Verständnis der Physik des ausgehenden 19. Jahrhunderts undenkbar wäre.
Besonders um diesen wissenschaftshistorischen Belangen gerecht zu werden, hat W alter Kaiser die geschichtlichen Zusammenhänge in einer Einleitung klarzulegen versucht. Zusätzliche Anmerkungen zum eigentlichen Text erschließen die von Boltzmann angesprochene Literatur und geben manchen nützlichen Hinweis. Wünschenswert wäre darüber hinaus manchmal auch eine kurze Erläuterung des Zusammenhanges mit der heute üblichen Auffassung gewesen. Eine Erweiterung des von Boltzmann beigefügten >>Schlüssels« zur Übersetzung der verschiedenen damals für die elektrodynamischen Größen verwendeten Bezeichnungen hätte dem modernen Benutzer die Handhabung wesentlich erleichtern können. Die spärlichen Verweise auf neuere wissenschaftshistorische Untersuchungen vermitteln den Eindruck, daß dieser Teil des Boltzmannschen Vermächtnisses von historischer Seite bisher kaum bearbeitet ist. Die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der hier von Boltzmann eingeführten Betrachtungsweise (wie z. B. die durch G. F. Fitzgerald, 0. Lodge, Kelvin, Rayleigh, H. Ebert, A.W.S. Franklin, F. Hasenöhrl, F. Kohlrausch u. a. fortgesetzten Modellkonstruktionen zur Veranschaulichung verschiedener Aspekte der Theorie und ihre Verwendung in der Schuldidaktik um die Jahrhundertwende) sind interessante Themen, die künftigen Untersuchungen vorbehalten bleiben. Die neuen Brieffunde aus der Korrespondenz Boltzmanns mit den englischen Kollegen (wie zum Beispiel mit Kelvin und Fitzgerald) werden wahrscheinlich noch einiges Licht auf die interessante internationale Zusammenarbeit der damaligen Physikergeneration werfen.
Zuletzt sei auch noch auf ein kleines technisches Versehen bei dieser Neuauflage hingewiesen. Durch Weglassung des Formelverzeichnissesam Ende des Werkes sind im Band 2 einige Verweise im Text für den uneingeweihten Leser unverständlich. Außerdem hätte ein sorgfältiges Personen- und Sachregister gerade wegen des vorwiegend historischen Charakters ohne Zweifel den Benutzerwert wesentlich erhöhen können. Es liegt mir jedoch fern, durch diese Bemerkungen die äußerst verdienstvolle Herausgabe dieser Boltzmannschen Schrift im Rahmen der großen Gesamtausgabe in irgendeiner Weise zu schmälern; vielmehr möchte ich sie als Ausdruck des lebhaften Interesses an dem weiteren Gelingen des Unternehmens verstanden wissen.
Karl von Meyenn, Stuttgart
Angiolo Procissi: lßibliografia matematica della Grecia classica e di altre civilta antiche. Florenz: La Nuova Italia Editrice. 149 Seiten, L. 12 000. ( = Bolletino di storia delle scienze matematiche [Herausgeber: Unione Matematica Italiana; Direttore responsabile: Carlo Pucci], Anno I, numero 1 /Juni 1981.)
Die von der Italienischen Mathematiker-Vereinigung herausgegebene neue mathematikgeschichtliche Zeitschrift startet mit einer Bibliographie zur Geschichte der griechischen und antiken außergriechischen Mathematik von Angiolo Procissi, die das gesamte erste Heft einimmt. ,Mathematik' ist hier