Upload
others
View
1
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Matti, der Flügellose
von Michèle Liussi
Aufgeregt stapfte der Drachenpapa hin und her, den langen Hals und den großen Kopf in der niedrigen Höhle fest eingezogen. „Wie lange dauert es denn noch?“ fragte er die Drachenmama nun schon zum hunderten Mal. „Geduld, Geduld“, sagte sie lachend. Er warf frustriert die Flügel in die Höhe und brach dabei einen Stein aus der Decke der Höhle. Der Stein kullerte ihm über den blau geschuppten Rücken und verursachte dabei ein knirschendes Geräusch. „Es geht los!“ jubelte er. Wieder lachte die Drachenmama. „Nein, das warst du!“ Doch sie hob sicherheitshalber ihren großen, grünen Flügel um das Ei darunter zu betrachten. Und tatsächlich - ein kleiner Riss durchzog das grünblaue Drachenei. „Psssstt - es geht wirklich los!“ flüsterte sie atemlos und überraschte damit den Drachenpapa so sehr, dass ihm ein Schluckauf-Feuerball aus der Nase schoss. Dann steckte er seinen Kopf unter den Flügel seiner Frau und pustete warme Luft in das wohlige Nest, welches das Ei beherbergte. Inzwischen waren weitere Risse erschienen und man vernahm ein leises Fauchen. „Er wird ungeduldig“ grummelte der Drachenpapa.
1
„Oder sie...“ schmunzelte die Mama und er brummte zustimmend. Ein weiteres Knacken ertönte und die obere Kappe des Eis fiel ab. Beide hielten den Atem an und beobachteten wie sich ein kleiner Kopf an einem langen Hals in die Höhe streckte und vorsichtig aus dem Ei hervorlugte. Kräftige Vorderbeine zerbrachen die restliche Schale und das Drachenbaby richtete sich vollends auf. Der Drachenpapa warf einen verwirrten Blick zu seiner Frau. „Er...er...“ stotterte der große Drache. „Er ist perfekt!“ entgegnete die Drachenmama verträumt. „Aber er...er hat keine Flügel.“ murmelte er. Sie stupste ihren frisch geschlüpften Sohn mit ihrer Nase an und das kleine Drachenjunges schmiegte sich glücklich dagegen. Glückselig wiederholte sie: „Er ist perfekt.“
2
Die Jahre zogen vorbei und die drei lebten zufrieden in ihrem Hochgebirgstal. Bis auf den Vater hatten sie wenig Kontakt zu den anderen Drachen, die in diesem Gebirge lebten und blieben unter sich. Doch die Tradition sah vor, dass ein Jungdrache, der das 10. Lebensjahr erreichte, zum höchsten Gipfel reiste, um mit der Ausbildung zum magischen Winddrachen zu beginnen. In diesem Jahr würde es für Matti, wie ihn seine Mutter liebevoll nannte, soweit sein. Als der Tag des Aufbruchs kam, verabschiedete ihn seine Mutter mit Tränen in den Augen, doch Matti war zu aufgeregt, um traurig zu sein. Er umarmte sie lange und machte sich dann frohen Mutes auf den Weg. Von seinem Vater wusste er, dass an diesem Tag noch weitere Jungdrachen den Aufstieg zum Gipfel antreten würden, daher hielt er nach ihnen Ausschau. Er hatte schon ein gutes Stück zurückgelegt, als er hinter sich Stimmen vernahm. Eine Gruppe von vier jungen Drachen näherte sich ihm von der Seite. „Was ist denn das?“ rief der größte von ihnen, ein kräftig gebauter, schwarz geschuppter Drache. Die anderen lachten, während Matti sich verwirrt umsah.
3
„Von dem hab ich gehört...“ sagte das Drachenmädchen zu den anderen. „Der Drache ohne Flügel - er lebt mit seinen Eltern im nördlichsten Tal. Meine Eltern dachten, er würde nicht zur Ausbildung erscheinen - ein Winddrache ohne Flügel sei falsch, meinten sie.“ Matti schluckte hörbar. „Meine Mutter sagte, die Magie des Windes wohnt in uns und ist nicht an körperliche Merkmale gebunden.“ sagte er schüchtern. „Das hättest du wohl gern!“ verhöhnte ihn der schwarze Jungdrache. „Kommt, gehen wir weiter. Ich will nicht zusammen mit diesem Lindwurm beim Kaiserdrachen auftauchen.“ Die anderen nickten zustimmend und ließen Matti allein und geknickt zurück. Er setzte sich und ließ den Kopf sinken. Die Gedanken drehten sich in seinem Kopf. Sicher hatte er gewusst, dass er anders war. Der Unterschied war ihm bereits vor ein paar Jahren aufgefallen. Aber seine Eltern hatten ihm nie das Gefühl gegeben, als sei das etwas schlimmes. Die Ablehnung der anderen Jungdrachen traf ihn tief und der Mut verließ ihn. Frustriert trat er nach einem Stein, der hunderte Meter weiter flog. „AUA!!!!“ polterte es im Gebüsch und ein wütendes Murmeltier stapfte heraus. Als es den Drachen sah,
4
zögerte es einen Moment bevor es weiter schimpfte. „Was haben der Stein oder ich dir denn getan?“ fragte das Murmeltier und rieb sich dabei den Kopf. Matti senkte sein Haupt. „Bitte entschuldige vielmals, ich wollte dir nicht weh tun! Ich hab mich nur so geärgert...“ Er zuckte mit den Schultern und ließ sich wieder auf den Boden sinken. Das Murmeltier näherte sich vorsichtig und betrachtete den Drachen eingehend. „Worüber hast du dich geärgert?“ Matti seufzte laut. „Die anderen Drachen glauben, dass ich nie ein mächtiger Winddrache werden kann, weil ich keine Flügel habe... und sie haben mich Lindwurm genannt - Lindwurm!!!“ Das letzte Wort stieß Matti so wütend hervor, dass es von einer kleinen Rauchwolke aus seiner Nase begleitet wurde. „Und braucht man denn Flügel um dieses magische Winddings zu beherrschen?“ fragte das Murmeltier, während es sich nachdenklich die Nase rieb. „Ich bin nicht sicher“ gestand Matti leise. Dann erzählte er dem Murmeltier, dessen Name Murti war, von seinen Eltern, von der Ausbildung am höchsten Gipfel und dem mächtigen Kaiserdrachen.
5
Einen Moment lang war es ruhig um die beiden. Das Murmeltier ging ein paar Schritte nach links, wandte sich um und lief wieder ein paar Schritte nach rechts. dann straffte es die Schultern, baute sich vor dem geknickten Drachen auf und sprach:“ Du bist also anders als die anderen Drachen? Waren denn die anderen Drachen alle gleich? Gleiche Farbe, gleiche Schuppenform oder gleich große Nüstern?“ Matti legte den Kopf schief und blickte verwirrt. „Ist deine Mutter gleich wie die anderen Drachen?“ Matti schüttelte den Kopf. „Sie ist liebevoll und gütig mit jedem Lebewesen! Niemals könnte sie so gemein sein wie diese Jungdrachen.“ Murti fuhr fort: „Und dein Vater? Oder dieser Kaiserdrache? Er wird wohl nicht so sein, wie alle anderen, stimmt’s? Er ist vermutlich größer und mächtiger als die meisten!“ Jetzt nickte Matti kräftig. „Was macht deren ‚anders sein’ besser, als dein ‚anders sein’?“ Darauf musste der junge Drachen keine Antwort. „Ich schlage vor, du machst dich jetzt wieder auf den Weg zum höchsten Gipfel, um dort allen zu beweisen, dass es nur auf die Magie in dir drin ankommt!“ Matti war aufgestanden, während Murti gesprochen hatte. Die Worte des Murmeltiers
6
berührten ihn und gaben ihm neuen Mut. Er bedankte sich und marschierte los. Am Ende des Sommers, als in den höchsten Gipfeln bereits Schnee Fiel, kehrte Matti zu seinen Eltern zurück. Sie erwarteten ihn voller Vorfreude am Eingang des Hochgebirgstales. Als Matti sie sah, blieb er stehen und konzentrierte sich für einen Moment. Vor ihm erschien ein kleiner Wirbelsturm, gerade so groß, dass er ein Blatt tragen konnte. Diesen schickte er voraus, um seine Eltern zu begrüßen. Seine Mutter jubelte und machte einen riesigen Satz auf ihren Sohn zu, um ihn zu umarmen. Matti strahlte über das ganze Gesicht, denn er hatte die erste Stufe der Ausbildung Geschafft. Flügel brauchte es dafür keine, aber ein Großes Herz und eine Portion Mut.
7
Matti bewältigte in den nächsten Jahren alle Stufen der Ausbildung ohne größere Schwierigkeiten und wurde einer der stärksten Winddrachen in seiner Gruppe. Leider wurde er mit den Jahren aber auch immer einsamer und trauriger, denn die anderen Jungdrachen in Ausbildung mieden ihn immer noch. Zwar hatten sie aufgehört ihn zu hänseln als allen klar wurde, wie mächtig er war, doch Freunde hatte Matti keine gefunden. Er sehnte das Ende der Ausbildung herbei, um zu seinen Eltern in das abgelegen Tal zurückkehren zu können. Am Tag der Abschlussprüfung gab der Kaiserdrache ihm die Aufgabe, sich den Wind untertan zu machen und ihn eine Botschaft überbringen zu lassen. Die Botschaft war für Mattis Eltern bestimmt und lautete: Ich werde zu den Feen reisen und sie um einen Wunsch bitten. Bald kehre ich zu euch zurück. In Liebe, euer Matti Verwirrt blickte Matti seinen Mentor an. “Mir ist nicht entgangen, wie unglücklich du bist, mein Junge. Und das, obwohl du einer meiner stärksten Schüler bist. Daher habe ich beschlossen, dir das Geheimnis zu verraten, wohin sich die Feen zurückgezogen haben. Diese, mit Magie gefüllte
8
Schuppe von mir öffnet den Schleier, der ihre Insel umgibt. Und vielleicht erfüllen sie dir im Tausch für die Schuppe auch einen Wunsch.” Matti konnte sein Glück kaum fassen und sein Jubeln begleitete die Botschaft, die der Wind zu seinen Eltern trug. Er bedankte sich von ganzem Herzen beim Kaiserdrachen und machte sich an den Abstieg. “Wähle deinen Wunsch weise!” rief ihm der mächtige Drache hinterher. Matti wanderte viele Tage und Nächte Richtung Süden, bis er das Hochgebirge und die dichten Wälder seiner Hänge hinter sich ließ. Die Landschaft verwandelte sich nach und nach in grüne, saftige Hügel. Er folgte eine Weile einem Bach, bis dieser schließlich in einen kleinen See mündete. Im Schutz einiger größerer Sträucher verharrte Matti, denn er vernahm eine wunderschöne Stimme. Vorsichtig ging er weiter am Ufer des Sees entlang, um die Herkunft der traurigen Melodie zu finden, welcher die ganze Natur zu lauschen schien. Er folgte der Rundung des Sees und entdeckte einen kleinen Zugang zum Wasser, in dem sich eine Elefantendame singend abkühlte. Matti wollte sie nicht weiter stören, wie sie sich gedankenverloren
9
mit Wasser übergoss und dabei die zartesten Töne in die Welt hinaus sandte. Doch beim Versuch sich leise umzudrehen, verhedderte sich sein Schwanz im Gebüsch, seine Klauen fanden kein Halt im durchweichten Untergrund und Matti landete mit einem lauten Platsch im See. Ein kreischendes Trompeten beendete den wunderschönen Gesang und schreckte zahllose Vögel aus den Baumkronen. Er watete durch das Wasser und ärgerte sich furchtbar darüber, dass er die Elefantenkuh vertrieben hatte. Bei der flachen Stelle angekommen, wo diese eben noch gesungen hatte, schüttelte er sich trocken und blickte sich suchend um. Als er niemanden entdecken konnte rief er: ”Es tut mir wirklich leid, ich wollte dich nicht erschrecken! Komm doch bitte zurück!” In der Hoffnung, dass sie ihn gehört hatte ließ er sich auf den Boden sinken und wartete. Es vergingen ein paar Augenblicke bis es im Gebüsch raschelte und die Elefantendame wieder an den See zurückkehrte. “Hast du mich erschreckt…” nuschelte sie schüchtern. “Das wollte ich nicht! Ich hab dich singen gehört und wollte eben umdrehen, um dich nicht zu stören, da bin ich kopf voraus im Wasser gelandet!”
10
Nun kicherte sie leise und mit diesem Kichern entspannte sich alles. Es war als würde der See, seine Geschöpfe und die Natur ringsherum nach diesem Schrecken aufatmen. Sie setzte sich neben Matti ans Ufer und stellte sich vor. “Hi, ich bin Neela. Und wer bist du?” Matti nannte ihr seinen Namen und erzählte ein wenig von sich. So plauderten sie eine ganze Weile, bis Matti den Mut fand, sie zu fragen, was ihm schon die ganze Zeit auf der Seele brannte. “Warum hast du vorhin ein so trauriges Lied gesungen?” Neela zögerte einen Moment und schien nach den richtigen Worten zu suchen. “Vor kurzem hatten wir ‘Herdenkunde’ bei einer unserer Ältesten. Sie erzählte uns von den anderen Familienverbänden, die in diesem Teil der Erde heimisch sind, und welche Unterschiede und Gemeinsamkeiten es gibt. Außerdem ging es um die Aufteilung der Gebiete unter den einzelnen Herden und woran wir erkennen können, wo welche Elefantenfamilie ihr Wandergebiet hat. Eines der Kälber fragte, wo denn das Gebiet der blauen Elefanten läge und alle lachten.” Neela unterbrach ihre Erzählung und räusperte sich, um den Kloß in
11
ihrem Hals zu vertreiben. Dann fuhr sie fort: ”Dir ist vielleicht aufgefallen, dass meine Haut nicht wirklich grau ist… sie ist blaugrau. Und im Vergleich zum Rest meiner Herde bin ich einfach nur Blau.” Matti legte den Kopf schief und kniff die Augen zusammen. “Aber das sieht doch total toll aus!” rief er aus. “Wo liegt das Problem?” “Die anderen haben gelacht und geblödelt, dass die blaue Neela nicht zur Familie gehöre und sich ein eigenes Gebiet suchen solle.” Neelas Stimme klang erstickt und sie kämpfte mit den Tränen. “Als wir dann an diesem See vorbeikamen, ließ ich mich zurückfallen und blieb allein zurück.” Nun schluchzte sie laut. “Oh je… oh nein… nicht weinen…” stotterte Matti hilflos. Verunsichert rieb er sich über das Gesicht, stand er auf und ging hin und her. Dann besann er sich auf ein kleines Wunder, welches der Kaiserdrachen ihnen gezeigt hatte. Er hoffte inständig, er würde es auch so gut hinbekommen. In seinem Inneren konzentrierte er sich auf die melancholische Melodie, die Neela vorhin gesungen hatte, und atmete dann lange aus. Die Noten übertrugen sich in den Wind, der sie zu den Blättern der Sträucher und der Oberfläche des Wassers trug. Um die beiden herum verwandelte sich die Welt in ein Orchester.
12
Neela hob überrascht den Kopf, als sie die ersten Noten ihres Liedes erkannte. Die Tränen trockneten in der aufkommenden Brise und ein Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus, als die Klänge immer lauter und deutlicher wurden. “Bist du das?” fragte sie beinahe ehrfürchtig. Matti nickte nur, denn er musste sich sehr konzentrieren, um die Magie aufrecht zu erhalten. “Es ist wundervoll!” rief Neela. Er ließ die Töne verklingen und keuchte vor Anstrengung. Erfreut stellte er fest, dass er Neela aufgemuntert hatte. Doch der Zauber forderte seinen Tribut und Matti schlief bis zum nächsten morgen tief und fest. Ein Rüssel tippte ihn vorsichtig an und riss ihn aus seinen Träumen. Neela saß direkt vor ihm und blickte ihn erwartungsvoll an. Matti hob verwirrt den Kopf. “Ich hab Frühstück gesammelt und bin erst spät darauf gekommen, dass ich eigentlich gar nicht weiß, was Drachen frühstücken.” Sie zuckte amüsiert die Schultern. “Ich habe hier eine Auswahl an Gräsern und Blättern, ich hoffe es ist was passendes dabei.” Sie aßen gemeinsam und als sie fertig waren erhob sich Matti und verabschiedete sich. “Ich muss weiter. Es hat mich sehr gefreut dich kennenzulernen.” Doch er kam nicht weit. “Warte
13
auf mich!” bat Neela ihn. “Ich möchte dich begleiten. Du meintest, du suchst etwas. Vielleicht kann ich dir helfen. Wie du mir gestern geholfen hast, als ich so traurig war.” Mattis Herz machte einen Satz. Seine Reise würde nicht so einsam weitergehen, wie sie begonnen hatte. Er hatte eine Freundin gefunden.
14
Gemeinsam zogen sie weiter Richtung Süden, Richtung Meer. Bald hatten sie das Gebiet, in dem Neela heimisch war, hinter sich gelassen und die Natur um sie herum veränderte sich etwas. Die Bäume und Pflanzen waren nicht mehr so satt grün und die Luft war nicht mehr so schwül und feucht wie sie es bisher gewesen war. Matti gefiel das sehr, in Neelas Reich war ihm die Hitze doch etwas zu drückend geworden. Neela hingegen schien es egal zu sein, sie pfiff die meiste Zeit ein fröhliches Lied vor sich hin und schwenkte dabei ausgelassen den Rüssel hin und her. Dabei riss sie immer wieder Blätter und kleine Äste ab, um sie zufrieden kauend als Wegzehrung mit zu nehmen. Matti hatte eben erst bemerkt, dass sie inzwischen einem Weg folgten, der aus bereits platt getretener Erde bestand, als ihnen furchtbar schiefe Geräusche zu Ohren kamen. Neelas große graue Ohren zuckten unter dem kakophonischen Angriff. Verwirrt schauten sich die beiden um. Die Geräusche kamen ihnen entgegen, wurden lauter und schwollen an. Auf dem Hügel, der vor ihnen lag, erschien ein Wagen, der von zwei Pferden gezogen wurde. Hinter dem Wagen ging eine Gruppe Menschen, vollgepackt mit großen Körben auf dem Rücken. Matti und Neela hatten sich im Gebüsch versteckt, als sie den ersten Wagen entdeckt hatten
15
und beobachteten jetzt, wie eine Karawane aus Menschen, Tieren und mehreren Wagen über den Hügel zog. Bald darauf konnten sie auch den Ursprung des Lärms ausmachen - im zweiten Karren sang eine Schildkröte aus voller Kehle und furchtbar schief. Matti und Neela duckten sich noch tiefer in ihr Versteck, als der Tross an ihnen vorbeizog. Die Pferde, die das Gespann der Schildkröte zogen, wurden immer unruhiger und der Mensch, der sie führte, hatte Mühe sie zu beruhigen. Einer der Männer, der die Gruppe anführte, rief nach hinten: “Das gibt es doch nicht! Wirst du wohl diese Schildkröte zum Schweigen bringen! Das schlägt jetzt wirklich dem Fass den Boden aus!” Leider löste sein wütender Ausbruch genau das Gegenteil aus und die Unruhe breitete sich immer weiter aus. Die Pferde scheuten. Energischen Schrittes drängte sich der Anführer durch die Menschen hindurch, entriss dem Pferdeführer die Gerte und... Ein ohrenbetäubend lauter Schrei hallte durch die Luft und die Pferde nahmen Reißaus. Sie preschten in vollem Galopp links von Matti und Neela ins Gebüsch und ungebremst weiter Richtung Wald. Dort angekommen zerschellte der Wagen hinter
16
ihnen an zwei Bäumen und sie waren auf und davon. Indes hatten die Menschen der Karawane unter Mühe und mit vereinten Kräften die anderen Pferde und Maultiere beruhigt und sammelten ihr Hab und Gut wieder ein. Der Anführer zeigte auf einige Männer mit leichtem Gepäck. “Du, du und du. Geht und sucht die Pferde, wir warten im nächsten Dorf auf euch. Die Schildkröte…” er klopfte sich verärgert den Dreck von der Hose. “...die Schildkröte soll bleiben, wo der Pfeffer wächst.” Knurrend steckte er sich eine Pfeife in den Mund, schulterte seine Tasche und stapfte weiter. Hinter ihm setzte sich der Tross langsam wieder in Bewegung, was Matti nutzte, um sich langsam auf dem Boden Richtung Wald zu schieben. Er signalisierte Neela, ihm zu folgen. “Wir müssen der Schildkröte helfen.” flüsterte er. So vorsichtig wie möglich robbten sich die beiden zu der Stelle, an der das Holz des Fuhrwerks verteilt lag. “Er muss hier ja irgendwo sein…” flüsterte Neela genau in dem Moment, in dem rechts von ihr ein Stöhnen erklang. Matti blickte sich um und erhob sich dann langsam. Ein paar Meter weiter in den Wald hinein lag die Schildkröte auf dem Rücken und schaukelte auf dem Panzer hin und her.
17
Matti sandte einen kleinen Windstoß aus, der der Schildkröte wieder auf die Beine verhalf. “Oh woooowwwww, was war denn das?” rief diese erstaunt aus. Matti zuckte mit den Schultern, doch die Schildkröte beachtete ihn gar nicht sondern plapperte aufgeregt weiter. “Ich mein, eben war ich noch auf dem Rücken und es ging so hin und her und doch nicht weiter…” sie ahmte die Bewegung nach und wackelte mit dem Panzer. “Und dann plötzlich soooo ein - WUSCH - wisst ihr was ich meine?” Als keiner der beiden reagierte, warf die Schildkröte die Arme in die Luft und wiederholte das ‘Wusch’ einige Male. Irgendwann konnte Neela nicht mehr anders und begann zu kichern. “Endlich mal eine Reaktion - na dann können wir uns ja jetzt vorstellen. Hi, ich bin Lou, die tanzende Schildkröte.” Lou war einige Schritte auf die beiden zugegangen, blieb dann aber stehen, schürzte die Lippen und dachte nach. “Einfach nur Lou, jetzt wo ich diese Menschen los bin. Echt, die verstehen einfach üüüüüberhaupt nichts von Musik, immer sollte ich zum gleichen langweiligen Lied tanzen. Pah!” Jetzt musste auch Matti lachen. Kopfschüttelnd fragte er: “Holst du auch mal Luft?” Er hatte es zum Spaß gesagt, doch die Frage schien Lou traurig zu stimmen. Er drehte sich etwas von den beiden weg, als seine Mundwinkel herab
18
sanken und das Lächeln aus seinem Gesicht verschwand. Es war einige Momente still, bis Neela das Schweigen durchbrach. Sie stellte sich und Matti vor und erzählte der Schildkröte von ihrer Reise zum Meer. „Zum Meer? Das passt gut, ich war in den letzten Wochen mit den fahrenden Gauklern an der Küste in einigen Dörfern unterwegs, ich kann euch hinbringen. Wo genau wollt ihr denn hin?“ Matti scharrte verlegen mit seinen Krallen im Boden. „Das wissen wir nicht so genau…“ gestand er Lou. „Wir suchen die Insel der Feen, damit ich mir Flügel wünschen kann.“ Die tanzende Schildkröte dachte einen Moment nach. Sogar die Natur schien auf seine Antwort zu warten, kein Vogel zwitscherte und auch das Gras stand erwartungsvoll still und raschelte nicht. Als er wieder zu sprechen begann, tat er dies langsam und bedächtig. „Ich dachte mir schon, dass an dir etwas anders ist. Allerdings bin ich der Meinung, dass daran nichts schlechtes ist - jeder ist, so wie er ist, genau richtig. Oder sie natürlich“ unterbrach er sich selbst und deutete lächelnd eine Vorbeugung in Neelas Richtung an. „Aber wenn du diese Reise auf dich nehmen willst, weiß ich, wo du deine Suche beginnen solltest. Als Mitglied des fahrenden
19
Volkes habe ich viele Gerüchte über das Eiland gehört, auf das sich die Feen zurück gezogen haben. Beinahe jeden Tag startet ein Boot oder Schiff von Ralosch aus in den Nebel.“ Matti wollte eben etwas einwenden, als Lou ein Bein hob und ihn zum Schweigen brachte. „Schon klar… wir können nicht einfach zum Hafen gehen und eine Bootsfahrt buchen! Aber ich kenne andere Wege.“ Er zwinkerte Neela zu, schnappte sich einen Grashalm und begann selbstzufrieden zu kauen. Und so zogen sie zu dritt weiter. Lou führte sie zielsicher und mit überraschend schnellem Schritt Richtung Meer. Die Schildkröte wusste genau, wie man die Dörfer umgehen konnte und kannte einige gute Plätze für die nächtliche Rast. Matti hatte zwar das Zeitgefühl verloren und vermisste seine Eltern sehr, doch er hatte das Gefühl, dass sie gut voran kamen. Unterwegs erzählten sie sich Geschichten aus ihrem Leben und lernten sich besser kennen. Lou erzählte, wie er zu den Gauklern und Händlern gekommen war mit denen er unterwegs gewesen war. “Mein Großvater sagte immer ‘Hol doch mal Luft, Junge!’ und ‘Schildkröten leben deswegen so lange, weil sie alles langsam und mit gaaaannnnzzz
20
viiiiieeeellll Ruhhhhee machen’”, Lou zog die letzten Worte absichtlich in die Länge. “So schnell zu reden, zu gehen und gar zu tanzen, gehöre sich nicht für eine Schildkröte, meinte er stets.” Sie gingen schweigend weiter, Matti und Neela warteten ab und ließen Lou seinen Gedanken nachhängen. Matti nahm bereits an, dass er nicht weiter erzählen würde, als Lou plötzlich sagte: “Wenn wir um diese Biegung herum sind, sieht man die Küste und morgen abend schon sind wir am Strand. Dort ist ein kleiner Steg, an dem Fischerboote vertaut sind, von dort können wir die Suche nach deiner Feeninseln starten. Ich würde daher vorschlagen, dass wir hier übernachten und morgen die letzte Etappe angehen.” Sie stimmten zu und Neela machte sich auf die Suche nach etwas Essbarem. Matti sah sich etwas um und fand eine Hänge-Ulme, deren Baumkrone bis zum Boden hinab hing und darunter eine kleine Höhle bildete. Die drei zogen sich unter die dichten Blätter zurück als die Sonne unterging und legten sich zur Ruhe. In die Dunkelheit hinein sprach Lou wie zu sich selbst. “Irgendwann habe ich es nicht mehr ausgehalten. Das ewige ‘Shhhh’, wenn ich zu schnell sprach. Die Blicke, wenn ich tanzte. Dieses langsame Leben war einfach nichts für mich.” Neela musste unweigerlich etwas kichern. “Du und
21
langsam, das kann ich mir wirklich gar nicht vorstellen!” erklärte sie sich und Lou freute sich sehr darüber. “Eben. Das wäre nicht ich. Also zog ich fort, auf der Suche nach einem Ort, an dem ich so sein konnte, wie ich nunmal bin. Und für eine Weile dachte ich, im fahrenden Volk hätte ich eine Familie gefunden, die mich wertschätzen. Doch dort zählte nicht ich, sondern nur das Geld, das ich ihnen einbrachte.” Gegen Ende war seine Stimme immer leiser und gepresster geworden. Es folgte ein Moment, durchzogen von Traurigkeit und Einsamkeit, in dem jeder der drei Gefährten seinen Gedanken nachhing. Neela räusperte sich und begann leise zu singen und als Matti die Melodie erkannte ließ er das Blätterdach über ihnen in das Lied einstimmen. “Danke.” flüsterte Lou, als es vorbei war. “Dafür sind Freunde da…” antwortete Neela. Am nächsten Morgen wurde Matti durch ein Kitzeln in der Nase wach. Hauchdünne Sonnenstrahlen fielen durch das Blätterdach und ließen Lichtpunkt im inneren der Höhle tanzen. Es war ein wunderschöner Anblick und Matti rüttelte Neela sanft wach, um es ihr zu zeigen. Kurze Zeit später brachen die drei zur letzten Etappe ihrer Reise auf.
22
Nachdem die drei in Windeseile über den Strand gerannt waren, das Seil eines Bootes vom Steg gelöst hatten und alle darin Platz genommen hatten, wurden sie von einem herbeigezauberten Windstoß auf das Meer hinausgetragen. Matti holte die magische Schuppe seines Meisters hervor und betrachtete sie eingehend. Lou lehnte sich zu ihm hinüber. „Wofür ist das?“ „Laut unserem Kaiserdrachen wird diese Schuppe den Schleier lichten, der die Zuflucht der Feen umgibt.“ Alle drei blickten sich suchend um. Sie waren von türkisblauem Wasser so weit das Auge reicht umgeben und der Himmel über ihnen wurde von keiner Wolke getrübt. Kein Nebel oder Schleier weit und breit. Und auch nichts bewohnbares, wie eine Insel oder wenigstens ein Felsen. “Sagtest du nicht, dass vom Hafen in Ralosch immer wieder Schiffe in den Nebel starten, um die Insel der Feen zu finden?” wandte sich Matti zweifelnd an die Schildkröte. “Hey hey hey, jetzt schau mich nicht so an! Ich habe immer wieder Matrosen in den Tavernen am Hafen davon sprechen hören. Ich selbst bin noch nie bei einer solchen Unternehmung dabei gewesen.” Er zuckte entschuldigend die Schultern, wobei sich sein gesamter Panzer hob und senkte und sein Kopf
23
fast darin verschwand. Matti grummelte vor sich hin. “Haben diese Matrosen denn noch irgendetwas erwähnt? Außer den Nebel?” versuchte Neela zu helfen. Lou legte den Kopf schief und dachte nach. “Nun, es gab ein paar Seemänner, die davon sprachen, in den Sonnenuntergang zu segeln. Ich hatte angenommen, dass es darum ging, es in der Nacht zu versuchen, damit keiner etwas mitbekommen würde. Aber jetzt, wo ich so darüber nachdenke, könnte damit auch eine Richtung gemeint sein… wie war das nochmal?” Matti und Neela sahen ihn gespannt an. “Im Osten geht die Sonne auf, im Süden nimmt sie ihren Lauf.” Es folgte eine kleine spannungsgeladene Pause, bis dem jungen Drachen vor lauter Ungeduld ein feuriges Schnauben entkam. Hastig sprach Lou weiter. “Im Westen wird sie untergehen, im Norden ist sie nie zu sehen!” Vor lauter Aufregung rief er die letzten Worte laut hinaus. Umgehend ließ Matti die Luft um sie herum wirbeln und änderte den Kurs des Bootes nach Westen. In den nächsten Stunden glitten sie friedlich auf dem Wasser dahin, von einer Insel oder ähnlichem keine Spur. Als es zu dämmern begann schlief zuerst Neela ein, dicht gefolgt von Lou. Matti versuchte
24
durchzuhalten, doch als der Mond hoch oben am Himmelszelt Stellung bezogen hatte, fielen auch ihm die Augen zu. Das sanfte Schaukeln des Bootes begleitete ihn in einen tiefen Schlummer. Er erwachte, als das Schaukeln aufhörte und das Rauschen der Wellen leiser wurde. Stattdessen hörte er Vogelgezwitscher. Neela räusperte sich vernehmlich und Matti schlug vorsichtig die Augen auf. Die Sonne blendete ihn ganz furchtbar, er konnte nur Neelas großen Umriss erkennen. Die Elefantendame deutete unsicher mit ihrem Rüssel auf etwas hinter ihm. Matti erhob sich und drehte sich um. Das Boot war aus dem Wasser auf einen Strand gezogen worden, eine tiefe Spur im Sand beschrieb den Weg. Zur Inselseite hin, vor der Kulisse saftig grüner Pflanzen und Bäume, hatte sich eine Kette aus Feen gebildet. Hinter dieser Kette traten immer mehr Feen aus dem schattigen Dickicht auf den hell erleuchteten Strand hinaus und schirmten ihre Augen mit den Händen oder Flügeln ab. Die drei reisenden Freunde kletterten aus dem Boot. Sie waren am Ziel ihrer Reise angekommen.
25
In dem Moment, in dem Matti eine besonders prächtig gekleidete Fee ansprechen wollte, teilte sich die Menge vor ihm. Die Fee, die nun aus dem Wald heraus trat, war so schön, dass prächtig zur Beschreibung nicht annährend ausreichte. Neben sich spürte Matti wie Neela und Lou tief Luft holten. “Das ist bestimmt die Königin,” flüsterte Lou aufgeregt. Matti schluckte vernehmlich und hielt die Schuppe seines Meisters wie einen Schild vor sich. “Seid gegrüßt,” erklang ihre liebliche Stimme, schmeichelnd wie eine sanfte Frühlingsbrise. Sie nickten zögerlich, die richtigen Worte wollten ihnen nicht einfallen. “Mein Name ist Zira, Königin des unsterblichen Volkes. Folgt mir bitte.” Schweigend folgten sie und der restliche Hofstaat der Königin zurück zum Hof, der sich auf einer großen Lichtung befand und aus offenen Pavillons mit bunten Tüchern bestand. Im größten Pavillon in der Mitte ließ sich Zira auf einer erhöhten Plattform in weiche Kissen sinken. Dann forderte sie den Drachen auf, zu erklären, warum er und seine Freunde die Insel der Feen aufgesucht hatten. Matti räusperte sich, reichte ihr die magische Schuppe als Geschenk und begann zu erzählen. Am Ende der Geschichte erhob sich Königin Zira aus ihren Kissen.
26
“Wie lautet der Wunsch, der dich bewegt hat, die weite Wanderung aus den Bergen und fernab deiner Familie auf dich zu nehmen, junger Winddrache,” tönte ihre Stimme über die Lichtung und jeder Anwesende spitze gespannt die Ohren. “Ich wünsche mir Flügel.” gab Matti schüchtern von sich. Die Königin nickte und legte die Fingerspitzen aneinander, um nachzudenken. Am Hof der Feenkönigin war es so leise geworden, dass man ein Blatt zu Boden sinken hören würde… bis Lou die Stille unterbrach. “Warte...was hat er sich gewünscht?” brach er verwundert hervor, bevor unzählige Psssssttttsss auf ihn hereinprasselten. Neela beugte sich zu ihm und flüsterte ihm ins Ohr. “Was? Flügel?” rief Lou erneut. “Wofür sollte er denn Flügel brauchen?!” Einen Raunen ging durch die Menge. Einige Feen begannen zu tuscheln, andere zu kichern. Matti neigte mit einem entschuldigenden Lächeln auf dem Gesicht leicht den Oberkörper zur Königin, bevor er sich zu Lou und Neela umdrehte. “Lou, würdest du wohl einen Moment still sein? Ich würde gern hören, was die Königin auf meine Bitte erwidert.” Er kam nicht einmal dazu, sich wieder zurückzudrehen.
27
“Aber ich verstehe es nicht - was willst du denn mit Flügeln?” Die Schildkröte klang ehrlich verwirrt. Nun wurde Matti langsam ungeduldig und antwortet daher verzweifelter, als er eigentlich wollte. “Weil ich normal sein will! Und normale Drachen haben nunmal Flügel - Punkt, Aus.” Er wandte den beiden und allen anderen wieder den Rücken zu und blickte erwartungsvoll zur Plattform hinauf. Hinter sich hörte er eine verletzte Stimme. “So wie normale Schildkröten langsam gehen und sprechen? Oder so, wie normale Elefanten grau und nicht blau sind?” Der junge Drache atmete bestürzt ein, die Feenkönigin stutzte. Als sich Matti wieder seinen Freunden zu wandte, ließ Lou den Kopf hängen und Neela blickte ihn traurig an. “Was? Nein! So hab ich das nicht gemeint!” begann er, doch als er ihr Kopfschütteln bemerkte, verstummte er. “Eure Hoheit,” wandte er sich wieder an die Königin. “Ich danke Euch für euren freundlichen Empfang und dafür, dass ihr mich angehört habt. Allerdings ist mir soeben etwas klar geworden: ich brauche keine Flügel. Es wäre mir auf der gesamten Reise nicht einmal in den Sinn gekommen, etwas an meinen Freunden zu ändern. Und was noch wichtiger ist, sie wollten zu keiner Zeit, dass ich
28
mich ändere. Genau wie meine Eltern, die mich jeden Tag meines Lebens so liebten, wie ich aus dem Ei geschlüpft bin. Ich hoffe, sie alle vergeben mir, dass ich das nicht zu schätzen wusste.” In Zira’s Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, als sie sich mit ausgebreiteten Armen an sie wandte. “Seid willkommen, Neela, die blaue Elefantendame, Lou, die tanzende Schildkröte und Matti, der flügellose Drachen - bitte seid für heute unsere Gäste. Lasst uns gemeinsam die Liebe und die Freundschaft feiern, bevor ihr morgen eure Heimreise antreten werdet. Euch stehen noch viele Abenteuer bevor!”
29