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Institut f¨ ur Mathematische Stochastik Maß- und Integrationstheorie (Kurzskript zur Vorlesung Wintersemester 2009/10) von Prof. Dr. Norbert Gaffke

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Institut fur Mathematische Stochastik

Maß- und Integrationstheorie

(Kurzskript zur Vorlesung Wintersemester 2009/10)

von

Prof. Dr. Norbert Gaffke

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Inhaltsverzeichnis

1 Mengensysteme, Inhalte und Maße 11.1 Sigma-Algebren und Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 (Semi-) Ringe und Inhalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21.3 Bedingungen fur Sigma-Additivitat eines endlichen Inhalts . . . . . . . . . . . . . . . . 41.4 Dynkin-Systeme und Erzeuger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

2 Die Maß-Fortsetzung 62.1 Hilfsresultat uber außere Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62.2 Der Maß-Fortsetzungssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72.3 Eindeutigkeit der Maß-Fortsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

3 Die Borel’sche Sigma-Algebra und Borel-Maße im Rk 83.1 Semi-Ring der k-dimensionalen Intervalle und Borel’sche Sigma-Algebra . . . . . . . . 83.2 Delta-monotone Funktionen und Borel-Maße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93.3 Verteilungsfunktionen und Wahrscheinlichkeitsmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113.4 Regularitat von Borel-Maßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

4 Messbare Abbildungen 124.1 Begriff der Messbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124.2 Bildmaße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134.3 Erweitert-reelle Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134.4 Elementarfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

5 Produktraume 185.1 Produkt von Sigma-Algebren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185.2 Produkt von sigma-endlichen Maßen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19

6 Integrale erweitert-reeller Funktionen 216.1 Integral fur Elementarfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216.2 Integral fur nicht-negative messbare Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226.3 Integral fur messbare Funktionen und Integrierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236.4 Eingeschrankte Integrationsbereiche und Nullmengen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

7 Weiter gehende Resultate uber Integrale 267.1 Konvergenzsatze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267.2 Der elementare Transformationssatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277.3 Maße mit Dichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287.4 Produktmaße und Satz von Fubini . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

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Inhaltsverzeichnis ii

8 Speziellere Themen 328.1 Integral in Rk bezuglich des Lebesgue-Maßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328.2 Integral fur Vektor-wertige und komplexwertige Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . 368.3 Die Funktionenraume Lp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38

9 Kurven- und Flachenintegrale in Rk 419.1 Kurvenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419.2 Flachenintegrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

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Kapitel 1

Mengensysteme, Inhalte und Maße

1.1 Sigma-Algebren und Maße

Definition 1.1 (Sigma-Algebra)

Seien M eine nicht-leere Menge und A ⊆ P(M) (Potenzmenge von M). Das Mengensystem A heißteine Sigma-Algebra in M , wenn es die folgenden drei Bedingungen erfullt.

(i) M ∈ A .

(ii) Wenn A ∈ A, dann Ac ∈ A (wobei Ac = M \A).

(iii) Wenn An ∈ A fur alle n ∈ N, dann∞⋃

n=1An ∈ A .

Wenn A eine Sigma-Algebra in M ist, dann heißt das Paar (M,A) ein Messraum oder ein messbarerRaum.

Definition 1.2 (Maß)

Seien (M,A) ein Messraum und µ : A −→ [ 0 ,∞ ] . Die Funktion µ heißt ein Maß auf A, wenn µ diefolgenden beiden Bedingungen erfullt.

(i) µ(∅) = 0 .

(ii) Wenn An ∈ A (n ∈ N) eine Folge paarweise disjunkter Mengen ist, dann

µ( ∞⋃

n=1An

)=

∞∑

n=1

µ(An

).

(Diese Bedingung nennt man die Sigma-Additivitat von µ).

Wenn µ ein Maß auf A ist, dann heißt das Tripel (M,A, µ) ein Maßraum.

Bemerkung Die Sigma-Additivitat eines Maßes µ impliziert insbesondere die Additivitat von µ :

Wenn A,B ∈ A und A ∩B = ∅, dann µ(A ∪B) = µ(A) + µ(B) .

1

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1.2 (Semi-) Ringe und Inhalte

Definition 1.3 (Semi-Ring, Ring, Algebra)

Sei M eine nicht-leere Menge.

(a) Ein Mengensystem S ⊆ P(M) heißt ein Semi-Ring in M , wenn gilt:

(a1) ∅ ∈ S.

(a2) Wenn A,B ∈ S, dann A ∩B ∈ S (Durchschnitt-Stabilitat von S).

(a3) Wenn A,B ∈ S, dann existieren ein n ∈ N und paarweise disjunkte Mengen C1, . . . , Cn ∈ S,

so dass A \B =n⋃

i=1Ci .

(b) Ein Mengensystem R ⊆ P(M) heißt ein Ring in M , wenn gilt:

(b1) ∅ ∈ R.

(b2) Wenn A,B ∈ R, dann A ∪B ∈ R .

(b3) Wenn A,B ∈ R, dann A \B ∈ R .

(c) Ein Ring R in M mit M ∈ R heißt eine Algebra in M .

BemerkungFur ein Mengensystem A ⊆ P(M) gelten die folgenden Implikationen:

A ist Sigma-Algebra =⇒ A ist Algebra =⇒ A ist Ring =⇒ A ist Semi-Ring.

Definition 1.4 (Inhalt, sigma-additiver Inhalt)

Seien S ein Semi-Ring in M und µ : S −→ [ 0 , ∞ ] . Die Funktion µ heißt ein Inhalt auf S, wenn µdie beiden folgenden Bedingungen erfullt.

(i) µ(∅) = 0 .

(ii) Wenn n ∈ N, A1, . . . , An ∈ S und paarweise disjunkt sind undn⋃

i=1Ai ∈ S , dann

µ( n⋃

i=1Ai

)=

n∑

i=1

µ(Ai) . (Additivitat)

Ein Inhalt µ auf S heißt sigma-additiv, wenn µ die folgende Bedingung (ii∗) erfullt, (die starker alsBedingung (ii) ist).

(ii∗) Wenn Ai ∈ S (i ∈ N) eine Folge paarweise disjunkter Mengen ist und∞⋃i=1

Ai ∈ S , dann

µ( ∞⋃

i=1Ai

)=

∞∑

i=1

µ(Ai

).

Bemerkungen

1. Wenn S ein Ring ist, dann ist die Additivitat (ii) aquivalent zur folgenden Bedingung:Wenn A,B ∈ S und A ∩B = ∅, dann µ(A ∪B) = µ(A) + µ(B) .

2. Ein sigma-additiver Inhalt auf einer Sigma-Algebra A ist dasselbe wie ein Maß auf A.

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Lemma 1.5 (Weitere Eigenschaften eines Inhaltes auf einem Ring)

Seien R ein Ring in M und µ ein Inhalt auf R. Dann gilt:

(a) Wenn A,B ∈ R und A ⊆ B, dann µ(A) ≤ µ(B) ;wenn außerdem µ(A) <∞, dann µ(B \A) = µ(B)− µ(A) .

(b) Wenn n ∈ N und A1, . . . , An ∈ R, dann µ( n⋃

i=1Ai

)≤

n∑i=1

µ(Ai

).

Fur einen sigma-additiven Inhalt µ auf dem Ring R gilt daruber hinaus:

(c) Wenn Ai ∈ R fur alle i ∈ N und∞⋃i=1

Ai ∈ R , dann µ( ∞⋃

i=1Ai

)≤

∞∑i=1

µ(Ai

).

(d) Wenn An ∈ R (n ∈ N) eine isotone Mengenfolge ist (d.h. An ⊆ An+1 ∀ n ∈ N) und∞⋃

n=1An ∈ R ,

dann µ( ∞⋃

n=1An

)= lim

n→∞µ(An) . (Stetigkeit von unten)

Wenn Bn ∈ R (n ∈ N) eine antitone Mengenfolge ist (d.h. Bn+1 ⊆ Bn ∀ n ∈ N) mit µ(B1) <∞und

∞⋂n=1

Bn ∈ R , dann µ( ∞⋂

n=1Bn

)= lim

n→∞µ(Bn) . (Stetigkeit von oben)

BemerkungWenn R = A eine Sigma-Algebra und µ ein Maß auf A sind, dann ist in (c) und in (d) jeweils die

Voraussetzung∞⋃

n=1An ∈ A uberflussig, und in (d) ist die Voraussetzung

∞⋂n=1

Bn ∈ A uberflussig.

Man beachte auch: Die Voraussetzung µ(B1) <∞ in (d) ist wichtig (auch im Fall eines Maßes µ).

Lemma 1.6 (Vom Semi-Ring erzeugter Ring)

Sei S ein Semi-Ring in M . Definiere das Mengensystem

ρ(S) := n⋃

i=1Ai : n ∈ N , Ai ∈ S ∀ i = 1, . . . , n

.

Dann ist ρ(S) ein Ring in M mit S ⊆ ρ(S), und es gilt:

ρ(S) = n⋃

i=1Bi : n ∈ N , B1, . . . , Bn ∈ S paarweise disjunkt

.

Lemma 1.7 (Inhalt auf Semi-Ring S hat eindeutige Fortsetzung zum Inhalt auf Ring ρ(S))

Sei µ ein Inhalt auf einem Semi-Ring S in M . Dann existiert genau ein Inhalt µ auf dem Ring ρ(S)mit µ

∣∣S = µ .

Wenn µ endlich ist, dann ist auch µ endlich.1

Wenn µ sigma-additiv ist, dann ist auch µ sigma-additiv.

1 Ein Inhalt heißt endlich, wenn seine Werte endlich sind, also in [ 0 , ∞ ) liegen.

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1.3 Bedingungen fur Sigma-Additivitat eines endlichen Inhalts

Lemma 1.8 (Endlicher Inhalt auf einem Ring)

Sei µ ein endlicher Inhalt auf einem Ring R in M . Dann sind die beiden folgenden Bedingungenaquivalent.

(1) µ ist sigma-additiv.

(2) µ ist Null-stetig, d.h. fur jede antitone Folge An ∈ R (n ∈ N) mit∞⋂

n=1An = ∅ gilt:

limn→∞µ(An) = 0 .

Lemma 1.9 (Endlicher Inhalt auf einem Semi-Ring in Rk)

Sei µ ein endlicher Inhalt auf einem Semi-Ring S in Rk. Wenn µ die folgende Bedingung (i) erfullt,dann ist µ sigma-additiv.

(i) Zu jedem A ∈ S und jedem ε > 0 existieren ein B ∈ S und eine kompakte Teilmenge K ⊆ Rk

(auch ∅ als kompakt verstanden), so dass

B ⊆ K ⊆ A und µ(A)− µ(B) ≤ ε .

1.4 Dynkin-Systeme und Erzeuger

Definition 1.10 (Dynkin-System)

Seien M eine nicht-leere Menge und D ⊆ P(M). Das Mengensystem D heißt ein Dynkin-System inM , wenn D die folgenden drei Bedingungen erfullt.

(i) M ∈ D .

(ii) Wenn A,B ∈ D und A ⊆ B, dann B \A ∈ D .

(iii) Wenn An ∈ D (n ∈ N) eine Folge paarweise disjunkter Mengen ist, dann∞⋃

n=1An ∈ D .

Bemerkung: A ist eine Sigma-Algebra =⇒ A ist ein Dynkin-System .

Lemma 1.11 (Durchschnitt-stabiles Dynkin-System ist Sigma-Algebra)

Wenn D ein Dynkin-System in M ist und wenn D Durchschnitt-stabil ist (d.h. ∀ A,B ∈ D : A∩B ∈ D),dann ist D eine Sigma-Algebra in M .

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Lemma 1.12 (Erzeugtes Dynkin-System; erzeugte Sigma-Algebra)

Seien M eine nicht-leere Menge und E ⊆ P(M). Dann:

(a) Es existiert genau ein Dynkin-System D0 in M , das die beiden folgenden Bedingungen (a1) und(a2) erfullt.

(a1) E ⊆ D0 .

(a2) Fur jedes Dynkin-System D in M mit E ⊆ D gilt D0 ⊆ D .

(b) Es existiert genau eine Sigma-Algebra A0 in M , die die beiden folgenden Bedingungen (b1) und(b2) erfullt.

(b1) E ⊆ A0 .

(b2) Fur jede Sigma-Algebra A in M mit E ⊆ A gilt A0 ⊆ A .

Definition:Das Dynkin-System D0 in (a) heißt das von E erzeugte Dynkin-System in M , abkurzende Schreibweise:D0 = δ(E) ;die Sigma-Algebra A0 in (b) heißt die von E erzeugte Sigma-Algebra in M , abkurzende Schreibweise:A0 = σ(E) .Bemerkung: Es gilt stets δ(E) ⊆ σ(E) .

Lemma 1.13 (Durchschnitt-stabiler Erzeuger)

Das Mengensystem E ⊆ P(M) sei Durchschnitt-stabil, d.h. A ∩ B ∈ E ∀ A,B ∈ E . Dann giltδ(E) = σ(E) .

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Kapitel 2

Die Maß-Fortsetzung

2.1 Hilfsresultat uber außere Maße

Theorem 2.1 (Hilfsresultat)

Seien M eine nicht-leere Menge und µ∗ : P(M) −→ [ 0 , ∞ ] eine Funktion mit den folgenden dreiEigenschaften:

(i) µ∗(∅) = 0 .

(ii) Wenn A ⊆ B ⊆M , dann µ∗(A) ≤ µ∗(B) .

(iii) Wenn An ⊆M ∀ n ∈ N, dann µ∗( ∞⋃

n=1An

)≤

∞∑n=1

µ∗(An

).

Dann ist das Mengensystem

A∗ :=A ⊆M : µ∗(A ∩B) + µ∗(Ac ∩B) ≤ µ∗(B) ∀ B ⊆M

eine Sigma-Algebra in M , und die Restriktion µ∗∣∣A∗ ist ein Maß auf A∗.

Bemerkungen1. Eine Funktion µ∗ : P(M) −→ [ 0 , ∞ ] mit den Eigenschaften (i), (ii), (iii) des Theorems heißtein außeres Maß auf P(M), und das im Theorem definierte Mengensystem A∗ wird auch die Sigma-Algebra der µ∗-messbaren Mengen genannt.2. Da Eigenschaften (i) und (ii) von µ∗ implizieren, dass

µ∗(A ∩B) + µ∗(Ac ∩B) ≥ µ∗((A ∩B) ∪ (Ac ∩B)

)= µ∗(B) ∀ A,B ⊆M ,

ist die Sigma-Algebra A∗ des Theorems auch gegeben durch

A∗ =A ⊆M : µ∗(A ∩B) + µ∗(Ac ∩B) = µ∗(B) ∀ B ⊆M

.

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2.2 Der Maß-Fortsetzungssatz

Theorem 2.2 (Maß-Fortsetzungssatz von C. Caratheodory)

Seien M eine nicht-leere Menge, S ein Semi-Ring in M und µ ein sigma-additiver Inhalt auf S.Definiere µ : σ(S) −→ [ 0 , ∞ ] durch

µ(A) := inf ∞∑

n=1µ(Bn) : Bn ∈ S ∀ n ∈ N , A ⊆

∞⋃n=1

Bn

, A ∈ σ(S) ,

wobei inf ∅ := ∞ .

Dann ist µ ein Maß auf σ(S) mit µ∣∣S = µ .

2.3 Eindeutigkeit der Maß-Fortsetzung

Theorem 2.3 (Maß eindeutig bestimmt durch seine Restriktion auf einen Erzeuger?)

Seien M eine nicht-leere Menge, E ⊆ P(M) ein Durchschnitt-stabiles Mengensystem und µ und ν zwei

Maße auf σ(E) mit µ∣∣E = ν

∣∣E . Außerdem existiere eine isotone Folge En ∈ E (n ∈ N) mit

∞⋃n=1

En = M

und µ(En) <∞ ∀ n ∈ N . Dann gilt µ = ν .

Theorem 2.4 (Eindeutigkeitssatz der Maß-Fortsetzung)

Seien M eine nicht-leere Menge, S ein Semi-Ring in M und µ ein sigma-additiver Inhalt auf S, der

außerdem sigma-endlich sei, d.h. es existiere eine isotone Folge En ∈ S (n ∈ N) mit∞⋃

n=1En = M und

µ(En) <∞ ∀ n ∈ N .Dann existiert genau ein Maß µ auf σ(S) mit µ

∣∣S = µ , (namlich µ von Theorem 2.2).

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Kapitel 3

Die Borel’sche Sigma-Algebra undBorel-Maße im Rk

3.1 Semi-Ring der k-dimensionalen Intervalleund Borel’sche Sigma-Algebra

Fur a = (a1, . . . , ak) ∈ Rk und b = (b1, . . . , bk) ∈ Rk definieren wir:

a ≤ b ⇐⇒ ai ≤ bi ∀ i = 1, . . . , k .a < b ⇐⇒ ai < bi ∀ i = 1, . . . , k .

Fur a, b ∈ Rk mit a ≤ b : (a , b ] :=x ∈ Rk : a < x ≤ b

,

(ein k-dimensionales Intervall, das links offen und rechts abgeschlossen ist);offensichtlich: (a , b ] 6= ∅ ⇐⇒ a < b .

Wir betrachten das Mengensystem aller (links offenen, rechts abgeschlossenen) k-dimensionalen Intervalle:

Ik :=

( a , b ] : a, b ∈ Rk , a ≤ b.

Lemma 3.1

Das Mengensystem Ik ist ein Semi-Ring in Rk.

Definition 3.2 (Borel’sche Sigma-Algebra, Borel-Maß)

Die Sigma-Algebra Bk := σ(Ik) heißt die Borel’sche Sigma-Algebra in Rk. Jede Menge B ∈ Bk heißteine Borel’sche Teilmenge von Rk.Ein Borel-Maß auf Bk ist ein Maß µ auf Bk mit der zusatzlichen Eigenschaft, dass µ(K) < ∞ furjede kompakte Teilmenge K ⊆ Rk.

BemerkungDie Borel’sche Sigma-Algebra Bk ist reichhaltiger als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ins-besondere sind alle offenen und alle abgeschlossenen Teilmengen von Rk Borel’sche Mengen. Es istsogar schwierig (aber moglich), die Existenz nicht-Borel’scher Mengen nachzuweisen, d.h. zu zeigen:Bk 6= P(Rk) .

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Theorem 3.3 (Borel-Maß auf Bk ←→ endlicher sigma-additiver Inhalt auf Ik)

Wenn µ ein endlicher und sigma-additiver Inhalt auf Ik ist, dann existiert genau ein Maß µ auf Bk

mit µ∣∣Ik = µ , und dieses Maß µ ist ein Borel-Maß.

Daraus ergibt sich die folgende Korrespondenz: Durch

µ 7−→ µ∣∣Ik , µ ein Borel-Maß auf Bk,

ist eine bijektive Abbildung von der Menge aller Borel-Maße auf Bk in die Menge aller endlichen undsigma-additiven Inhalte auf Ik gegeben.

3.2 Delta-monotone Funktionen und Borel-Maße

Fur feste Dimension k bezeichne fur i = 1, . . . , k :

ei = ( 0 . . . , 0 , 1︸︷︷︸Nr. i

, 0, . . . , 0) (der i-te elementare Einheitsvektor in Rk).

Definition 3.4 (Delta-Differenz, delta-monotone Funktion)

Fur eine Funktion G : Rk −→ R und a = (a1, . . . , ak) ∈ Rk , b = (b1, . . . , bk) ∈ Rk bezeichne

∆baG :=

I⊆1,...,k(−1)|I|G

(∑i∈I

aiei +∑i∈Ic

biei

),

(Delta-Differenz von G in den Grenzen a und b).

Eine Funktion G : Rk −→ R heißt delta-monoton, wenn gilt:

∀ a, b ∈ Rk mit a < b : ∆baG ≥ 0 .

Bemerkungen1. k = 1 : ∆b

aG = G(b)−G(a) ; G delta-monoton ⇐⇒ G isoton.2. k = 2 : ∆b

aG = G (b1, b2)︸ ︷︷ ︸=b

−G(a1, b2) − G(b1, a2) + G (a1, a2)︸ ︷︷ ︸=a

.

3. Fur feste a, b ist durch G −→ ∆baG ein lineares Funktional auf dem Raum aller Funktionen

G : Rk −→ R gegeben:∆b

a(α1G1 + α2G2) = α1∆baG1 + α2∆b

aG2

fur alle Funktionen G1, G2 : Rk −→ R und alle α1, α2 ∈ R.4. Rekursive Beziehung zwischen Delta-Differenzen fur Dimensionen k und k − 1 (wenn k ≥ 2) :

∆baG = ∆b

a

(G(·, bk)−G(·, ak)

),

wobei: a = (a1, . . . , ak−1, ak) , a = (a1, . . . , ak−1) , b = (b1, . . . , bk−1, bk) , b = (b1, . . . , bk−1) ,G(·, ak) die Funktion auf Rk−1, (x1, . . . , xk−1) 7−→ G(x1, . . . , xk−1, ak) ,analog: G(·, bk) : (x1, . . . , xk−1) 7−→ G(x1, . . . , xk−1, bk) .

5. Wenn a = (a1, . . . , ak) und b = (b1, . . . , bk) in mindestens einer Koordinate ubereinstimmen,d.h. ai0 = bi0 fur mindestens ein i0 ∈ 1, . . . , k, dann ∆b

aG = 0 fur jede Funktion G : Rk −→ R .

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Beispiel: G(x) =k∏

i=1

gi(xi) , x = (x1, . . . , xk) ∈ Rk ,

wobei gi : R −→ R , i = 1, . . . , k. Dann gilt, fur a = (a1, . . . , ak) , b = (b1, . . . , bk) ∈ Rk :

∆baG =

k∏

i=1

(gi(bi)− gi(ai)

).

Wenn alle gi isoton sind, dann ist G delta-monoton.

Speziell: Die Funktion G0(x) :=k∏

i=1xi ist delta-monoton.

Lemma 3.5 (Hilfsresultat: Additivitat der Delta-Differenz als Funktion auf Ik)

Sei (a , b ] ∈ Ik gegeben, wobei a ≤ b , und es sei eine Zerlegung von (a , b ] in n paarweisedisjunkte k-dimensionale Intervalle aus Ik gegeben:

( a , b ] =n⋃

j=1( cj , dj ] , wobei ( cj , dj ] (j = 1, . . . , n) paarweise disjunkt, sowie cj ≤ dj ∀j.

Dann gilt fur jede reelle Funktion G auf Rk : ∆baG =

n∑

j=1

∆bjajG .

Theorem 3.6 (Eine delta-monotone Funktion definiert einen endlichen Inhalt auf Ik)

Sei G eine reelle, delta-monotone Funktion auf Rk ; definiere µG : Ik −→ [ 0 , ∞ ) durch

µG

(( a , b ]

):= ∆b

aG ∀ a, b ∈ Rk mit a ≤ b .

Dann ist µG ein endlicher Inhalt auf Ik. Wenn außerdem G rechtsseitig stetig1 ist, dann ist µG

sigma-additiv und definiert gemaß Theorem 3.3 ein Borel-Maß µG auf Bk (mit µG|Ik = µG).

1 Eine Funktion G : Rk −→ R heißt rechtsseitig stetig, wenn gilt:Fur jedes x ∈ Rk und jede Folge xn ∈ Rk (n ∈ N) mit xn ≥ x ∀ n und lim

n→∞xn = x gilt:

limn→∞G(xn) = G(x).

Eine aquivalente Formulierung ist die folgende:Fur jedes x = (x1, . . . , xk) ∈ Rk und zu jedem ε > 0 existiert ein δ > 0 , so dass gilt:

Wenn y = (y1, . . . , yk) ∈ Rk mit 0 ≤ yi − xi ≤ δ ∀ i = 1, . . . , k , dann |G(y)−G(x)| ≤ ε .

Spezialisierung von Theorem 3.6 auf die delta-monotone, stetige Funktion

G0(x) =k∏

i=1

xi , x = (x1, . . . , xk) ∈ Rk ,

fuhrt zum k-dimensionalen Lebesgue-Maß auf Bk (s. nachfolgende Definition) bzw. zunachst zum Lebes-gue’schen Inhalt auf Ik :

µG0

(( a , b ]

)= ∆b

aG0 =k∏

i=1

(bi − ai) , a = (a1, . . . , ak) ≤ b = (b1, . . . , bk) .

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Inhaltsverzeichnis 11

Definition 3.7 (k-dimensionales Lebesgue-Maß)

Das Borel-Maß µG0auf Bk gemaß Theorem 3.6 heißt das k-dimensionale Lebesgue-Maß;

Bezeichnung: µG0= λλk .

Anders formuliert: λλk ist das eindeutig bestimmte Maß auf Bk mit

λλk(

( a , b ])

=k∏

i=1

(bi − ai) ∀ a = (a1, . . . , ak) , b = (b1, . . . , bk) ∈ Rk , a ≤ b .

3.3 Verteilungsfunktionen und Wahrscheinlichkeitsmaße

Eine besondere Klasse von delta-monotonen reellen Funktionen auf Rk sind die Verteilungsfunktionen,die in der Wahrscheinlichkeitstheorie wichtig sind: Das durch eine Verteilungsfunktion gemaß Theorem3.6 gegebene Borel-Maß ist ein Wahrscheinlichkeitsmaß auf Bk. Allgemein, fur irgendeinen gegebenenMessraum (M,A), versteht man unter einem Wahrscheinlichkeitsmaß auf A ein Maß µ auf A mit derEigenschaft µ(M) = 1.

Definition 3.8 (Verteilungsfunktion auf Rk)

Eine Funktion F : Rk −→ R heißt eine Verteilungsfunktion auf Rk, wenn F die folgenden Bedin-gungen (i), (ii), (iii) erfullt.

(i) F ist delta-monoton.

(ii) F ist rechtsseitig stetig.

(iii) F (x1, . . . , xk) → 0 fur mini=1,...,k

xi → −∞ ; F (x1, . . . , xk) → 1 fur mini=1,...,k

xi → ∞ .

Theorem 3.9 (Korrespondenz: Verteilungsfunktion ←→ Wahrscheinlichkeitsmaß)

Wenn F eine Verteilungsfunktion auf Rk ist, dann ist das gemaß Theorem 3.6 gegebene Borel-Maßµ = µF ein Wahrscheinlichkeitsmaß, und es gilt:

F (x) = µ( k×

i=1(−∞ , xi]

)∀ x = (x1, . . . , xk) ∈ Rk . (*)

Umgekehrt: Wenn µ irgendein Wahrscheinlichkeitsmaß auf Bk ist, dann definiert Formel (*) eineVerteilungsfunktion F , und diese liefert gemaß Theorem 3.6 das Borel-Maß µ zuruck: µF = µ.

3.4 Regularitat von Borel-Maßen

Theorem 3.10 (Innere und außere Regularitat eines Borel-Maßes)

Sei µ ein Borel-Maß auf Bk. Dann gilt fur jedes A ∈ Bk :

µ(A) = supµ(K) : K ⊆ A , K kompakt

= infµ(U) : A ⊆ U , U offene Teilmenge von Rk

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Kapitel 4

Messbare Abbildungen

4.1 Begriff der Messbarkeit

Fur eine Abbildung T : M −→ N (wobei M und N zwei nicht-leere Mengen sind) haben wir dieUrbilder von Teilmengen von N :

T−1(B) :=x ∈M : T (x) ∈ B fur B ⊆ N ; (das Urbild von B unter T ).

Definition 4.1 (Messbarkeit einer Abbildung)

Seien (M,A) und (N,B) zwei Messraume und T : M −→ N . Die Abbildung T heißt messbar(bezgl. der Sigma-Algebren A und B), wenn gilt:

T−1(B) ∈ A ∀ B ∈ B .

Als Kurzschreibweise verwenden wir dann:

T : (M,A) −→ (N,B) ,

was bedeuten soll, dass T eine Abbildung von M in N ist und messbar ist bezgl. der Sigma-AlgebraA in M und der Sigma-Algebra B in N .

Lemma 4.2 (Verwendung eines Erzeugers der Sigma-Algebra B)

Seien (M,A) und (N,B) zwei Messraume und T : M −→ N . Sei E ⊆ P(N) ein Erzeuger derSigma-Algebra B : B = σ(E) . Dann gilt die Aquivalenz:

T : (M,A) −→ (N,B) ⇐⇒ T−1(E) ∈ A ∀ E ∈ E .

Lemma 4.3 (Komposition messbarer Abbildungen ist messbar)

Seien (M,A), (N,B) und (Ω, C) Messraume und T : (M,A) −→ (N,B) und U : (N,B) −→ (Ω, C).Betrachte die Komposition

U T : M −→ Ω , (U T )(x) = U(T (x)

) ∀ x ∈M .

Dann ist U T : (M,A) −→ (Ω, C) .

12

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Inhaltsverzeichnis 13

4.2 Bildmaße

Lemma 4.4 (Messbare Abbildung transportiert Maß)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum, (N,B) ein Messraum und T : (M,A) −→ (N,B) . Dann ist

µT : B −→ [0 , ∞] , µT (B) := µ(T−1(B)

),

ein Maß auf B und heißt das Bildmaß von µ unter T .

Lemma 4.5 (Bildmaß unter einer Komposition)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum, (N,B) und (Ω, C) Messraume und T : (M,A) −→ (N,B) undU : (N,B) −→ (Ω, C) . Dann gilt:

µUT = (µT )U.

4.3 Erweitert-reelle Funktionen

Wir betrachten die erweitert-reelle Zahlengerade

R := R ∪ −∞,∞ ,

wobei die hinzugenommenen Punkte −∞ und ∞ die Ordnungsrelation auf der Zahlengeraden fortset-zen (oder “abschließen”): −∞ <∞ und −∞ < a < ∞ ∀ a ∈ R . Die Intervallschreibweisen werdenentsprechend erweitert, also neben den echt reellen Intervallen wie bisher jetzt auch z.B. [−∞ , a]oder (a , ∞] fur x ∈ R : x ≤ a bzw. x ∈ R : x > a (fur ein a ∈ R).Auch die algebraischen Operationen in R werden z.T. auf R fortgesetzt durch die folgenden Konven-tionen:

a+∞ = ∞+ a := ∞ ∀ a ∈ (−∞ ,∞] ;

a+ (−∞) = −∞+ a := −∞ ∀ a ∈ [−∞ ,∞) ;

−(∞) := −∞ und − (−∞) = ∞ ;

a− b := a+ (−b) fur a, b ∈ R mit Ausnahme der Falle a = b ∈ ±∞;

a · ∞ = ∞ · a :=

∞ , falls a > 00 , falls a = 0−∞ , falls a < 0

∀ a ∈ R ;

a · (−∞) = (−∞) · a := − (a · ∞) ∀ a ∈ R ;

∞a := ∞ · 1

a ,−∞a := (−∞) · 1

a ∀ a ∈ R \ 0 ;

Absolutbetrag: | −∞| := ∞ , |∞| := ∞ .

Beachte: Undefiniert bleiben −∞+∞ , ∞+ (−∞) , ∞−∞, (−∞)− (−∞) ,sowie Division durch ±∞ .

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Inhaltsverzeichnis 14

Lemma 4.6 (Erweiterte Borel’sche Sigma-Algebra in R)

Das MengensystemB1 :=

B ⊆ R : B ∩ R ∈ B1

ist eine Sigma-Algebra in R, und wir nennen sie die erweiterte Borel’sche Sigma-Algebra (in R).Desweiteren gilt:

B1 =A , A ∪ ∞ , A ∪ −∞ , A ∪ ∞,−∞ : A ∈ B1

.

Wir betrachten erweitert-reelle Funktionen f : M −→ R, wobei mit (M,A) ein Messraum gegebensei. Von Interesse ist die Frage der Messbarkeit von f (bezgl. A und B1). Der (wichtige) Fall der reellenFunktionen ist eingeschlossen, denn eine reelle Funktion f : M −→ R konnen wir auch auffassen alsf : M −→ R, und – wie man leicht sieht – gilt dann die Aquivalenz:

f : (M,A) −→ (R,B1) ⇐⇒ f : (M,A) −→ (R,B1) .

Im Folgenden werden als Kurzschreibweisen verwendet, wenn f : M −→ R und α ∈ R :

f ≤ α = x ∈M : f(x) ≤ α , f < α = x ∈M : f(x) < α ,f ≥ α = x ∈M : f(x) ≥ α , f > α = x ∈M : f(x) > α ,sowie f = α = x ∈M : f(x) = α .

Wenn außerdem g : M −→ R , dann schreiben wir:f ≤ g = x ∈M : f(x) ≤ g(x) , f < g = x ∈M : f(x) < g(x) , undf = g = x ∈M : f(x) = g(x) .

Lemma 4.7 (Kriterien fur Messbarkeit)

Seien (M,A) ein Messraum und f : M −→ R. Die folgenden funf Bedingungen sind aquivalent.

(1) f : (M,A) −→ (R,B1) .(2) f ≤ α ∈ A ∀ α ∈ R .(3) f < α ∈ A ∀ α ∈ R .(4) f ≥ α ∈ A ∀ α ∈ R .(5) f > α ∈ A ∀ α ∈ R .

Lemma 4.8 (Summe, Produkt, Quotient zweier messbarer Fkt’en)

Seien f : (M,A) −→ (R,B1) und g : (M,A) −→ (R,B1) . Dann gilt:

(a) Falls f(x) + g(x) fur alle x ∈M definiert ist, so ist f + g : (M,A) −→ (R,B1) .

(b) f · g : (M,A) −→ (R,B1) , wobei (f · g)(x) = f(x) g(x) , (x ∈M).

Insbesondere: α f : (M,A) −→ (R,B1) fur eine Konstante α ∈ R.

(c) Falls g(x) ∈ R \ 0 fur alle x ∈M , so ist fg : (M,A) −→ (R,B1) ,

wobei fg (x) = f(x)

g(x) , (x ∈M).

(d) f ≤ g , f < g , f = g ∈ A .

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Fur jede nicht-leere Teilmenge B ⊆ R sind das Supremum und das Infimum von B definiert:sup(B) ∈ R und inf(B) ∈ R .sup(B) ist das kleinste c ∈ R mit x ≤ c ∀ x ∈ B .inf(B) ist das großte c ∈ R mit x ≥ c ∀ x ∈ B .

Die Existenz dieser Werte ergibt sich leicht aus den entsprechenden Resultaten fur nach oben bzw. nachunten beschrankte nicht-leere Teilmengen von R.

Fur eine Folge an ∈ R (n ∈ N) ist Konvergenz (in R) gegen a ∈ R, (Schreibweise: limn→∞ an = a), in

Erweiterung der Konvergenz (in R) reeller Folgen wie folgt definiert:

Wenn a ∈ R: limn→∞ an = a bedeutet, dass ab einem n0 ∈ N alle an reell sind und die reelle Folge an

(n ≥ n0) in R gegen a konvergiert.

limn→∞ an =∞ bedeutet, dass zu jedem c ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass an > c ∀ n ≥ n0.

limn→∞ an = −∞ bedeutet, dass zu jedem c ∈ R ein n0 ∈ N existiert, so dass an < c ∀ n ≥ n0.

Jede monotone (isotone oder antitone) Folge an ∈ R (n ∈ N) ist konvergent in R:Im Fall der Isotonie: lim

n→∞ an = supn∈N

an ;

Im Fall der Antitonie: limn→∞ an = inf

n∈Nan .

Fur eine beliebige Folge an ∈ R (n ∈ N) definiert man den limes superior und den limes inferior derFolge, beides Werte in R, wie folgt:

lim supn→∞

an = limn→∞

(sup

m∈N: m≥nam

), lim inf

n→∞ an = limn→∞

(inf

m∈N: m≥nam

).

Aus einer Folge von Funktionen fn : M −→ R (n ∈ N) bilden wir die folgenden Funktionen von Min R :

supn∈N

fn , infn∈N

fn , lim supn→∞

fn , lim infn→∞ fn ,

sowie im Fall, dass limn→∞ fn(x) fur jedes x ∈M existiert, die Funktion lim

n→∞ fn .

Diese Funktionen sind durch die entsprechenden “punktweisen” Operationen definiert, also z.B.

supn∈N

fn : x 7−→ supn∈N

fn(x) , lim infn→∞ fn : x 7−→ lim inf

n→∞ fn(x) , etc.

Lemma 4.9 (Folge messbarer Funktionen)

Seien fn : (M,A) −→ (R,B1) fur alle n ∈ N. Dann sind auch die Funktionen

supn∈N

fn , infn∈N

fn , lim supn→∞

fn , lim infn→∞ fn

messbar (bezgl. A und B1), sowie auch limn→∞ fn messbar sofern lim

n→∞ fn(x) fur jedes x ∈M existiert.

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4.4 Elementarfunktionen

Definition 4.10 (Elementarfunktion auf einem Messraum)

Sei (M,A) ein Messraum. Eine Elementarfunktion f auf (M,A) ist eine messbare reelle nicht-negativeFunktion, die nur endlich viele Werte annehmen kann:

f : (M,A) −→ (R,B1), f ≥ 0 (d.h. f(x) ≥ 0 ∀ x ∈M), f(M) = f(x) : x ∈M ist endlich.

Einfachstes Beispiel einer Elementarfunktion: Eine messbare Indikatorfunktion, d.h. f = 11A mitA ∈ A .

Dabei ist 11A(x) =

1 , falls x ∈ A0 , falls x 6∈ A ∀ x ∈M .

Lemma 4.11 (Lineare Struktur der Menge aller Elementarfunktionen)

Die Menge aller Elementarfunktionen auf (M,A) ist gleich der Menge aller Linearkombinationenmessbarer Indikatorfunktionen mit nicht-negativen Koeffizienten, d.h. gleich der Menge

n∑

i=1

αi 11Ai : n ∈ N , α1, . . . αn ∈ [0 , ∞) , A1, . . . , An ∈ A.

Bemerkung: Normaldarstellung einer Elementarfunktion.

Wenn f eine Elementarfunktion auf (M,A) ist, dann lasst sich f als Linearkombination f =r∑

j=1βj 11Bj

darstellen, wobei jetzt aber B1, . . . , Br ∈ A paarweise disjunkt mitr⋃

j=1Bj = M gilt. Eine solche

Darstellung der Elementarfunktion f heißt eine Normaldarstellung von f und lasst sich so gewinnen:Sei r := |f(M)| und f(M) = y1, . . . , yr . Dann leisten βj := yj und Bj := f = yj (j = 1, . . . , r)das Verlangte.Die soeben angegebene Normaldarstellung von f ist insbesondere nutzlich zur Interpretation des µ-Integrals von f (wenn noch µ ein Maß auf A ist), das in Kapitel 6 behandelt wird:

M

f dµ =r∑

j=1

yj µ(f = yj

), (y1, . . . , yr die verschiedenen Werte von f) .

Das folgende Lemma zeigt u.a., dass auch fur irgendeine andere Darstellung der Elementarfunktion fgemaß Lemma 4.11 gilt:

n∑

i=1

αi µ(Ai) =∫

M

f dµ , wenn f =n∑

i=1

αi 11Ai .

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Inhaltsverzeichnis 17

Lemma 4.12 (Hilfsresultat, vergl. Aufgabe 7)

Sei (M,A, µ) ein Maßraum.

(a) Seien m,n ∈ N , α1, . . . , αm , β1, . . . , βn ∈ [0 , ∞] und A1, . . . , Am , B1, . . . , Bn ∈ A . Dann gilt:

Ausm∑

i=1αi 11Ai(x) ≤

n∑j=1

βj 11Bj (x) ∀ x ∈M folgtm∑

i=1αiµ(Ai) ≤

n∑j=1

βjµ(Bj) .

(b) Seien α ∈ [0 , ∞] , A ∈ A , βj ∈ [0 , ∞] ∀ j ∈ N und Bj ∈ A ∀ j ∈ N . Dann gilt:

Aus α 11A(x) ≤∞∑

j=1βj 11Bj (x) ∀ x ∈M folgt αµ(A) ≤

∞∑j=1

βjµ(Bj) .

Theorem 4.13 (Approximation nicht-neg. messbarer Fkt’en durch Elementarfkt’en)

Sei f : (M,A) −→ (R,B1) , und f ≥ 0 . Dann existiert eine isotone1Folge fn (n ∈ N) von Elementar-funktionen auf (M,A) mit lim

n→∞ fn = f .

1 Die Funktionenfolge fn (n ∈ N) heißt isoton, wenn fn ≤ fn+1 ∀ n ∈ N,d.h. fn(x) ≤ fn+1(x) ∀ x ∈M , ∀ n ∈ N.

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Kapitel 5

Produktraume

Die folgende Fragestellung wird hier behandelt und beantwortet:Gegeben seien k ≥ 2 Maßraume (Mi,Ai, µi) , i = 1, . . . , k.

Lassen sich im cartesischen Produktk×

i=1Mi eine Sigma-Algebra A und ein Maß µ auf A definieren,

so dass gilt:

k×i=1

Ai ∈ A und µ( k×

i=1Ai

)=

k∏

i=1

µi(Ai) ∀ Ai ∈ Ai (i = 1, . . . , k). ?

Die Antwort ist positiv, sofern die Maße µi (1 ≤ i ≤ k) sigma-endlich sind.

5.1 Produkt von Sigma-Algebren

Definition 5.1 (Produkt-Sigma-Algebra)

Seien k Messraume (Mi,Ai) , i = 1, . . . , k, gegeben. Betrachte das cartesische Produkt der Mengen

M1, . . . ,Mk :k×

i=1Mi =

x = (x1, . . . , xk) : xi ∈Mi ∀ i = 1, . . . , k

.

Definiere das Mengensystem S ⊆ P( k×

i=1Mi

)durch

S := k×

i=1Ai : Ai ∈ Ai ∀ i = 1, . . . , k

.

Dann heißt die von S ink×

i=1Mi erzeugte Sigma-Algebra σ(S) das Produkt der Sigma-Algebren

A1, . . . ,Ak; Bezeichnung:

σ(S) =k⊗

i=1Ai = A1 ⊗ . . . ⊗Ak .

Lemma 5.2

Mit den Voraussetzungen und Bezeichnungen von Definition 5.1 gilt: S ist ein Semi-Ring ink×

i=1Mi.

18

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Inhaltsverzeichnis 19

Wir betrachten die Projektionsabbildungen pr1, . . . ,prk vonk×

i=1Mi auf M1, . . . ,Mk ,

prj :k×

i=1Mi −→Mj , prj(x1, . . . , xk) = xj ∀ (x1, . . . , xk) ∈

k×i=1

Mi , (j = 1, . . . , k).

Lemma 5.3 (Messbarkeit der Projektionsabbildungen)

Seien (Mi,Ai) (i = 1, . . . , k) Messraume. Dann gilt:

prj :( k×

i=1Mi ,

k⊗i=1Ai

)−→ (

Mj ,Aj

), j = 1, . . . , k .

Lemma 5.4 (Messbare Abbildung in einen Produktraum)

Seien (M,A) ein Messraum und (Ni,Bi) (i = 1, . . . , k) Messraume. Seien Ti : M −→ Ni (i = 1, . . . , k)und

T = (T1, . . . , Tk) : M −→ k×i=1

Ni , T (x) =(T1(x), . . . , Tk(x)

) ∀ x ∈M .

Dann gilt die Aquivalenz:

T : (M,A) −→( k×

i=1Ni ,

k⊗i=1Bi

)⇐⇒ Ti : (M,A) −→ (Ni,Bi) ∀ i = 1, . . . , k .

Spezielle Produktraume:(a) Mi abzahlbar und Ai = P(Mi) fur i = 1, . . . , k . Dann:

k×i=1

Mi abzahlbar undk⊗

i=1P(Mi) = P

( k×i=1

Mi

)(wie man leicht sieht).

(b) Mi = R und Ai = B1 fur i = 1, . . . , k. Dann:k×

i=1R = Rk (klar) und

k⊗i=1B1 = Bk (nicht offensichtlich).

5.2 Produkt von sigma-endlichen Maßen

Lemma 5.5

Seien (Mi,Ai, µi) (i = 1, . . . , k) Maßraume. Wir betrachten den Semi-Ring S ink×

i=1Mi

von Definition 5.1 und Lemma 5.2 und definieren µ : S −→ [0 , ∞] durch

µ( k×

i=1Ai

):=

k∏

i=1

µi

(Ai

) ∀ Ai ∈ Ai , i = 1, . . . , k .

Dann ist µ ein sigma-additiver Inhalt auf S .

Definition 5.6 (Sigma-Endlichkeit eines Maßes)

Sei (N,B, ν) ein Maßraum. Das Maß ν heißt sigma-endlich, wenn es eine isotone Folge Bn ∈ B (n ∈ N)

gibt mit∞⋃

n=1Bn = N und ν(Bn) <∞ ∀ n ∈ N .

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Inhaltsverzeichnis 20

Theorem 5.7 (Produktmaß)

Seien (Mi,Ai, µi) Maßraume mit sigma-endlichen Maßen µi , i = 1, . . . , k.

Dann existiert genau ein Maß µ aufk⊗

i=1Ai mit der Eigenschaft

µ( k×

i=1Ai

)=

k∏

i=1

µi

(Ai

) ∀ Ai ∈ Ai , i = 1, . . . , k .

D.h. µ ist die eindeutige Fortsetzung des sigma-additiven Inhalts µ von Lemma 5.5 zu einem Maß auf der

Produkt-Sigma-Algebrak⊗

i=1Ai .

Desweiteren gilt: Das Maß µ ist wiederum sigma-endlich.Das Maß µ heißt das Produkt der (sigma-endlichen) Maße µ1, . . . , µk ; Bezeichnung:

µ =k⊗

i=1µi = µ1 ⊗ . . . ⊗ µk .

Spezielle Produktraume:

(a) Mi abzahlbar, Ai = P(Mi) und µi das abzahlende Maß auf P(Mi) , i = 1, . . . , k. Dann:k⊗

i=1µi ist das abzahlende Maß auf P

( k×i=1

Mi

)(wie man leicht sieht).

(b) Mi = R , Ai = B1 und µi = λλ1 fur i = 1, . . . , k. Dann:k⊗

i=1λλ1 = λλk (nicht offensichtlich).

Offensichtlich konnen wir das cartesische Produktk×

i=1Mi als cartesisches Produkt zweier cartesischer

Produkte schreiben (Assoziativitat des cartesischen Produkts),

k×i=1

Mi =( `×

i=1Mi

( k×i=`+1

Mi

), wobei 1 ≤ ` < k .

Dabei sei uber den kleinen Unterschied in der Schreibweise zwischen den Tupeln(x1, . . . , x`, x`+1, . . . , xk

)und(

(x1, . . . , x`) , (x`+1, . . . , xk))

hinweggesehen.Entsprechende Identitaten gelten auch fur die Produkte der Sigma-Algebren und der Maße:

Lemma 5.8 (Assoziativitat der Produktbildung von Maßraumen)

Seien (Mi,Ai, µi) Maßraume mit sigma-endlichen Maßen µi , i = 1, . . . , k. Sei ` ∈ 1, . . . , k−1 gegeben.Dann gilt:

k⊗i=1Ai =

( `⊗i=1Ai

)⊗

( k⊗i=`+1

Ai

)und

k⊗i=1

µi =( `⊗

i=1µi

)⊗

( k⊗i=`+1

µi

).

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Kapitel 6

Integrale erweitert-reeller Funktionen

Thema dieses Kapitels:Gegeben sei ein Maßraum (M,A, µ) ; fur moglichst viele messbare Funktionen

f : (M,A) −→ (R,B1)

soll das µ-Integral von f (uber M), ∫

Mf dµ ∈ R

definiert werden. Das tun wir schrittweise (“Ochsentour”).

6.1 Integral fur Elementarfunktionen

Definition 6.1

Sei f eine Elementarfunktion auf (M,A) ,

f =n∑

i=1

αi 11Ai mit n ∈ N , α1, . . . , αn ∈ [0 , ∞) und A1, . . . , An ∈ A ,

(s. Definition 4.10 und Lemma 4.11). Dann:

Mf dµ :=

n∑

i=1

αi µ(Ai) ∈ [ 0 , ∞ ] .

Bemerkung:Nach Lemma 4.12 (a) ist damit das µ-Integral der Elementarfunktion f wohldefiniert, d.h. unabhangig von derWahl der Darstellung von f als Linearkombination von (messbaren) Indikatorfunktionen mit nicht-negativen Ko-

effizienten. Insbesondere konnen wir die Normaldarstellung von f verwenden: f =r∑

j=1

yj 11Bj , wobei y1, . . . , yr

die verschiedenen Elemente von f(M) sind und Bj := f = yj , j = 1, . . . , r ; dann haben wir:

M

f dµ =r∑

j=1

yj µ( f = yj

).

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Inhaltsverzeichnis 22

Lemma 6.2 (Linearitat und Monotonie des µ-Integrals)

(a) Wenn f und g Elementarfunktionen auf (M,A) und a, b ∈ [ 0 , ∞) , dann ist af + bg wiederumeine Elementarfunktion auf (M,A), und es gilt:

M(af + bg) dµ = a

Mf dµ + b

Mg dµ .

(b) Wenn f und g Elementarfunktionen auf (M,A) sind und f ≤ g (d.h. f(x) ≤ g(x) ∀ x ∈M), dann∫

Mf dµ ≤

Mg dµ.

6.2 Integral fur nicht-negative messbare Funktionen

Nach Theorem 4.13 lasst sich jede nicht-negative messbare Funktion f : (M,A) −→ (R,B1) , f ≥ 0 ,durch eine isotone Folge von Elementarfunktionen fn (n ∈ N) approximieren: f = lim

n→∞ fn . Wegen

der Monotonie des µ-Integrals fur Elementarfunktionen (Lemma 6.2 (b)) ist dann∫M

fn dµ (n ∈ N) eine

isotone Folge in R, die daher einen Grenzwert (in R) besitzt. Naheliegend ist daher die Definition:∫

Mf dµ := lim

n→∞

Mfn dµ .

Es stellt sich jedoch die Frage der Wohldefiniertheit, d.h. es ist zu zeigen: Der Grenzwert auf der rechtenSeite der definierenden Gleichung ist unabhangig von der speziellen Wahl der f approximierendenisotonen Folge von Elementarfunktionen. Dies leistet das folgende Lemma.

Lemma 6.3

Seien fn (n ∈ N) und gn (n ∈ N) zwei isotone Folgen von Elementarfunktionen auf (M,A) mit

limn→∞ fn ≤ lim

n→∞ gn , (d.h. limn→∞ fn(x) ≤ lim

n→∞ gn(x) ∀ x ∈M ).

Dann:lim

n→∞

Mfn dµ ≤ lim

n→∞

Mgn dµ .

Definition 6.4

Sei f : (M,A) −→ (R,B1) , f ≥ 0 (d.h. f(x) ≥ 0 ∀ x ∈M).Sei fn (n ∈ N) eine isotone Folge von Elementarfunktionen auf (M,A) mit f = lim

n→∞ fn .Dann wird definiert: ∫

Mf dµ := lim

n→∞

Mfn dµ ∈ [ 0 , ∞ ] .

Bemerkung:Gemaß Lemma 6.3 ist damit das µ-Integral der nicht-negativen messbaren Funktion f wohldefiniert.Diese Definition ist konsistent mit Definition 6.1: Wenn f selbst schon eine Elementarfunktion auf (M,A) ist,dann ist das jetzt definierte µ-Integral von f dasselbe wie in Definition 6.1

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Lemma 6.5 (Linearitat und Monotonie des µ-Integrals)

Seien f : (M,A) −→ (R,B1) , f ≥ 0 , und g : (M,A) −→ (R,B1) , g ≥ 0 .

(a) Wenn a, b ∈ [ 0 , ∞] , dann ist (offensichtlich) af + bg : (M,A) −→ (R,B1) , af + bg ≥ 0und es gilt: ∫

M(af + bg) dµ = a

Mf dµ + b

Mg dµ .

(b) Wenn f ≤ g , dann∫

Mf dµ ≤

Mg dµ .

6.3 Integral fur messbare Funktionen und Integrierbarkeit

Fur a ∈ R bezeichnet:

a+ := max0, a (Positivteil von a) und a− := max0,−a (Negativteil von a) .

Dann: a+, a− ∈ [ 0 , ∞ ] , a = a+ − a− und |a| = a+ + a− .

Fur eine Funktion f : M −→ R haben wir daher die Funktion f+ (Positivteil von f), definiert durchf+(x) :=

(f(x)

)+ ∀ x ∈M , und f− (Negativteil von f), f−(x) :=(f(x)

)− ∀ x ∈M .Offensichtlich: f+ ≥ 0 , f− ≥ 0 , f = f+ − f− und |f | = f+ + f− ,wobei |f | : M −→ R , |f |(x) = |f(x)| ∀ x ∈M .

Mit Lemma 4.8 und Lemma 4.9 sehen wir:Wenn f : (M,A) −→ (R,B1) , dann: f+ : (M,A) −→ (R,B1) und f− : (M,A) −→ (R,B1) ,

sowie auch |f | : (M,A) −→ (R,B1) .

Damit ist jede messbare (erweitert-reelle) Funktion f als Differenz f = f+ − f− der nicht-negativenmessbaren Funktionen f+ und f− darstellbar.

Definition 6.6

Sei f : (M,A) −→ (R,B1) .

(i) Wenn∫

Mf+ dµ < ∞ oder

Mf− dµ < ∞ , dann wird definiert:

Mf dµ :=

Mf+ dµ −

Mf− dµ ∈ R .

(ii) f heißt µ-integrierbar, wenn gilt:∫

Mf+ dµ < ∞ und

Mf− dµ < ∞ .

In diesem Fall (f µ-integrierbar) ist gemaß (i)∫

Mf dµ ∈ R .

Bemerkungen:1. Wenn

∫M

f+ dµ = ∞ =∫M

f− dµ , dann bleibt das µ-Integral von f undefiniert, und man sagt dann: Das

µ-Integral von f existiert nicht.2. Die gegenwartige Definition des µ-Integrals in (i) ist konsistent mit der fruheren Definition 6.4 fur den Fallf ≥ 0. In diesem Fall ist offensichtlich f+ = f und f− = 0 , und das µ-Integral von f existiert und ist dasselbewie in Definition 6.4. Die µ-Integrierbarkeit von f im Fall f ≥ 0 bedeutet:

∫M

f dµ < ∞ .

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Lemma 6.7 (µ-Integrierbarkeit)

Sei f : (M,A) −→ (R,B1) . Dann gilt die Aquivalenz:

f ist µ-integrierbar ⇐⇒∫

M|f | dµ <∞ .

Lemma 6.8 (Linearitat und Monotonie des µ-Integrals)

Seien f : (M,A) −→ (R,B1) und g : (M,A) −→ (R,B1) .(a) Wenn f und g µ-integrierbar sind, a, b ∈ R und af + bg definiert ist, dann ist af + bg

µ-integrierbar, und es gilt:∫

M(af + bg) dµ = a

Mf dµ + b

Mg dµ .

(a1) Wenn das µ-Integral von f existiert, g µ-integrierbar ist, a, b ∈ R und die Funktion af + bgdefiniert ist, dann existiert das µ-Integral von af + bg und

M(af + bg) dµ = a

Mf dµ + b

Mg dµ .

(b) Wenn f ≤ g und die µ-Integrale von f und g existieren, dann gilt:∫

Mf dµ ≤

Mg dµ .

Diskreter Maßraum:Sei M abzahlbar, A = P(M) und µ sei ein Maß auf P(M). Dann (lasst sich beweisen):Jede Funktion f : M −→ R ist messbar (bezgl. P(M) und B1) .

Wenn f ≥ 0 :∫

Mf dµ =

x∈M

f(x)µ(x) .

Fur beliebiges f : M −→ R gilt die Aquivalenz:

f ist µ-integrierbar ⇐⇒∑

x∈M

|f(x)|µ(x) < ∞ .

Wenn f µ-integrierbar, dann∫

Mf dµ =

x∈M

f(x)µ(x) .

6.4 Eingeschrankte Integrationsbereiche und Nullmengen

Definition 6.9 (Integrale mit eingeschranktem Integrationsbereich)

Seien f : (M,A) −→ (R,B1) und A ∈ A. Wenn das µ-Integral der Funktion f 11A existiert, dannsagen wir: “das µ-Integral von f uber A existiert” und schreiben:

Af dµ :=

Mf 11A dµ .

Wenn f 11A µ-integrierbar ist, dann heißt f uber A µ-integrierbar.

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Bemerkung:Eine andere Moglichkeit, das µ-Integral von f uber A zu definieren ist die folgende:Betrachte die Restriktion f |A von f auf A, die Spur-Sigma-Algebra AA von A in A,

AA =B ∈ A : B ⊆ A ,

und die Restriktion des Maßes µ auf diese Spur-Sigma-Algebra:

µA := µ∣∣∣AA

.

Dann ist f |A :(A,AA

) −→ (R,B1) , und wir betrachten das µA-Integral von f |A – sofern dieses

existiert – und definieren im Fall der Existenz:∫

Af dµ :=

Af |A dµA .

Es ist nicht schwer zu zeigen, dass dieses dasselbe wie Definition 6.9 ist.Anmerkung: Wenn g :

(A,AA

) −→ (R,B1)

, und wenn das µA-Integral von g existiert, dann schreibt maneinfacher: ∫

A

g dµA =∫

A

g dµ ,

und man spricht wieder vom µ-Integral von g uber A.

Lemma 6.10 (µ-Nullmengen sind unwesentlich fur µ-Integrale)

Sei A ∈ A eine µ-Nullmenge, d.h. µ(A) = 0 . Sei f : (M,A) −→ (R,B1) .

(a) Dann ist f uber A µ-integrierbar, und∫

Af dµ = 0 .

(b) Das µ-Integral von f (uber M) existiert genau dann, wenn das µ-Integral von f uber Ac existiert,und in diesem Fall gilt: ∫

Mf dµ =

Ac

f dµ .

Lemma 6.11 (µ-integrierbare Funktion ist µ-fast uberall endlich)

Sei f : (M,A) −→ (R,B1) eine µ-integrierbare Funktion. Dann gilt:

µ( f =∞ ∪ f = −∞ ) = 0 .

Das formuliert man auch so:f ist µ-fast sicher (oder µ-fast uberall) endlich, kurz: f(x) ∈ R µ-f.s.

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Kapitel 7

Weiter gehende Resultate uberIntegrale

7.1 Konvergenzsatze

Fragestellung:

Seien (M,A, µ) ein Maßraum, fn : (M,A) −→ (R,B1) (n ∈ N) eine Funktionenfolge mit limn→∞ fn = f

(eine erweitert-reelle Funktion). Die µ-Integrale der Funktionen fn und f mogen existieren.Frage: Gilt dann – bzw. unter welchen weiteren Voraussetzungen gilt dann

(*) limn→∞

Mfn dµ =

Mf dµ ?

Eine Antwort wurde bereits per Definition 6.4 gegeben: Wenn fn (n ∈ N) eine isotone Folge vonElementarfunktionen ist, dann gilt (*). Das wird durch den Satz von der monotonen Konvergenz(Theorem 7.1 unten) auf isotone Folgen nicht-negativer Funktionen verallgemeinert. Der Satz von dermajorisierten Konvergenz (Theorem 7.4 unten) verzichtet auf die Voraussetzung der Isotonie, benotigtaber eine Majorisierungsbedingung fur die Folge fn (n ∈ N). Damit sind die beiden wichtigstenKonvergenzsatze fur µ-Integrale gegeben.

Theorem 7.1 (Monotone Konvergenz)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum und fn : (M,A) −→ (R,B1) mit fn ≥ 0 (∀ n ∈ N) eine isotone Folge(d.h. fn ≤ fn+1 ∀n). Bezeichne f = lim

n→∞ fn . Dann gilt:

Mf dµ = lim

n→∞

Mfn dµ .

Korollar 7.2

Seien (M,A, µ) ein Maßraum und gn : (M,A) −→ (R,B1) mit gn ≥ 0 ∀ n ∈ N . Dann gilt:∫

M

( ∞∑n=1

gn

)dµ =

∞∑n=1

Mgn dµ .

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Lemma 7.3 (Lemma von Fatou)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum und fn : (M,A) −→ (R,B1) mit fn ≥ 0 ∀ n ∈ N . Dann gilt:∫

Mlim infn→∞ fn dµ ≤ lim inf

n→∞

Mfn dµ .

Theorem 7.4 (Majorisierte Konvergenz)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum und fn : (M,A) −→ (R,B1) (n ∈ N) eine Folge, die (punktweise) gegeneine Funktion f : M −→ R konvergiert: lim

n→∞ fn(x) = f(x) ∀ x ∈ M . Desweiteren erfulle dieFolge fn (n ∈ N) die Majorisierungsbedingung:

Es existiert eine µ-integrierbare Funktion g : (M,A) −→ (R,B1) , g ≥ 0 , mit |fn| ≤ g ∀ n ∈ N .

Dann sind die Funktionen fn (n ∈ N) und f µ-integrierbar und∫

Mf dµ = lim

n→∞

Mfn dµ .

Anmerkung:Es ergibt sich sogar eine starkere Konvergenzaussage:

limn→∞

M|fn − f | dµ = 0 .

Streng genommen ist hierbei i.A. der Integrationsbereich jeweils nicht M , sondern der Teilbereich Bn ⊆ M ,auf dem die Differenz fn − f definiert ist: Bn =

( fn = f = ∞ ∪ fn = f = −∞ )c . Wegen der µ-Integrierbarkeit von fn und f ist µ

(Bn

c)

= 0 (s. Lemma 6.11); die Menge Bnc ist daher unwesentlich fur das

Integral (s. Lemma 6.10). Die Funktion |fn − f | ist eine µ-fast-uberall definierte Funktion und man schreibt(etwas lax) als Integrationsbereich M statt Bn.

7.2 Der elementare Transformationssatz

In Lemma 4.4 wurde das Bildmaß µT eines Maßes µ unter einer messbaren Abbildung T definiert.Daraus resultiert eine Transformationsformel fur Integrale bezuglich dieser beiden Maße.

Theorem 7.5 (Elementarer Transformationssatz)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum, (N,B) ein Messraum und T : (M,A) −→ (N,B) .

Dann gilt fur jede Funktion g : (N,B) −→ (R,B1) :Das µT -Integral von g existiert genau dann, wenn das µ-Integral der Komposition g T existiert;im Fall der Existenz der Integrale gilt:

Ng dµT =

Mg T dµ .

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7.3 Maße mit Dichten

Aus einem Maß µ und einer nicht-negativen (erweitert-reellen) messbaren Funktion f lasst sich mitDefinition 6.9 und dem nachfolgenden Lemma ein neues Maß gewinnen.

Lemma 7.6

Seien (M,A, µ) ein Maßraum und f : (M,A) −→ (R,B1) , f ≥ 0 . Dann ist durch

ν(A) :=∫

Af dµ ∀ A ∈ A

ein Maß ν auf A gegeben.Man nennt ν das Maß mit der µ-Dichte f ; abkurzende Schreibweise: ν = f µ .

Lemma 7.7 (ν-Integrale fur ν = fµ)

Seien (M,A, µ) ein Maßraum, f : (M,A) −→ (R,B1) , f ≥ 0 und ν = f µ.

Dann gilt fur jede Funktion g : (M,A) −→ (R,B1) :Das ν-Integral von g existiert genau dann, wenn das µ-Integral von g f existiert, und im Fall derExistenz ist ∫

Mg dν =

Mg f dµ .

Spezialfall: Diskreter Maßraum und Zahldichten:Seien M abzahlbar und A = P(M). Sei µ das abzahlende Maß auf P(M).Fur f : M −→ R , f ≥ 0 , ist das Maß ν := f µ gegeben durch

ν(A) =∑

x∈A

f(x) ∀ A ⊆M ; insbesondere: ν(x) = f(x) ∀ x ∈M.

ν = fµ ist also das Maß auf P(M) mit der Zahldichte f .

Umgekehrt: Wenn ν irgendein Maß auf P(M) ist, dann gilt mit f(x) := ν(x) ∀ x ∈ M (dieZahldichte von ν) , dass ν = fµ.Insbesondere sehen wir: Jedes Maß auf P(M) beitzt eine µ-Dichte, (wobei µ das abzahlende Maß auf P(M)ist). Das ist aber der hier vorliegenden speziellen Situation geschuldet (wie wir nun sehen werden).

Definition 7.8 (Die Relation “<<” zwischen Maßen)

Seien (M,A) ein Messraum und µ und ν zwei Maße auf A.Man sagt, ν werde durch µ dominiert oder ν sei µ-stetig , abkurzende Schreibweise: ν << µ , wenngilt:Jede µ-Nullmenge ist auch eine ν-Nullmenge. D.h.: Aus A ∈ A und µ(A) = 0 folgt ν(A) = 0.

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Lemma 7.9 (Notwendige Bedingung fur die Existenz einer Dichte)

Seien (M,A) ein Messraum und µ und ν zwei Maße auf A.Wenn das Maß ν eine µ-Dichte besitzt1, dann gilt ν << µ .

1 d.h., es existiert eine Funktion f : (M,A) −→ (R,B1) , f ≥ 0 , so dass ν = f µ

Beispiel:M = R , A = B1 , µ = λλ1 und ν = δx0 (das Dirac-Maß auf B1 in einem gegebenen Punkt x0 ∈ R) .Wegen x0 ∈ B1 , λλ1

(x0)

= 0 und δx0

(x0)

= 1 ist δx0 nicht λλ1-stetig und besitzt daher keineλλ1-Dichte.

Fur den Beweis des beruhmten Satzes von Radon-Nikodym benotigen wir zwei Hilfsresultate, wovondas erste (Hahn-Zerlegung eines endlichen signierten Maßes) fur sich genommen interessant ist.

Lemma 7.10 (Hilfsresultat: Endliches signiertes Maß und Hahn-Zerlegung)

Seien (M,A) ein Messraum und ρ ein endliches signiertes Maß auf A , d.h.:ρ : A −→ R , und fur jede Folge An ∈ A (n ∈ N) paarweise disjunkter Mengen gilt

ρ( ∞⋃

n=1An

)=

∞∑n=1

ρ(An

)(Sigma-Additivitat).

Dann existieren zwei disjunkte Mengen M+ ∈ A und M− ∈ A mit M+ ∪M− = M , so dass

ρ(A) ≥ 0 ∀ A ∈ AM+ und ρ(A) ≤ 0 ∀ A ∈ AM− .

Lemma 7.11 (Hilfsresultat)

Seien (M,A) ein Messraum und µ und ν zwei Maße auf A mit ν << µ , µ(M) <∞ und ν(M) =∞ .

Dann existiert eine Folge paarweise disjunkter Mengen Mi ∈ A (i = 0, 1, 2, . . .) mit∞⋃i=0

Mi = M

und : ∀ A ∈ AM0 : entweder µ(A) = ν(A) = 0 oder µ(A) > 0 , ν(A) =∞ ;

∀ i ≥ 1 : ν(Mi) <∞ .

Theorem 7.12 (Satz von Radon-Nikodym)

Seien (M,A) ein Messraum und µ und ν zwei Maße auf A. Das Maß µ sei sigma-endlich, und es gelteν << µ . Dann besitzt ν eine µ-Dichte, d.h. es existiert eine Funktion f : (M,A) −→ (R,B1) ,f ≥ 0 , so dass ν = f µ .Wenn auch das Maß ν sigma-endlich ist, dann besitzt ν eine endliche µ-Dichte f .

Lemma 7.13 (Fast-sichere Eindeutigkeit der Dichte)

Seien (M,A) ein Messraum, µ und ν zwei Maße auf A, und f1 und f2 µ-Dichten von ν , also:ν = f1µ = f2µ . Das Maß µ sei sigma-endlich. Dann gilt: f1 = f2 µ-f.s., also µ

( f1 6= f2)

= 0.

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Inhaltsverzeichnis 30

7.4 Produktmaße und Satz von Fubini

Fur k ≥ 2 Maßraume (Mi,Ai, µi) (i = 1, . . . , k) mit sigma-endlichen Maßen µi wurde der Produkt-Maßraum ( k×

i=1Mi ,

k⊗i=1Ai ,

k⊗i=1

µi

)

in Kapitel 5 eingefuhrt. Es interessieren uns nun die( k⊗i=1

µi

)-Integrale fur Funktionen

f :( k×

i=1Mi ,

k⊗i=1Ai

)−→ (

R,B1).

Dabei beschranken wir uns auf den Fall k = 2; fur k ≥ 3 erhalt man entsprechende Resultate durchsukzessive Anwendung der Resultate fur k = 2 gemaß der Assoziativitat der Produkte (Lemma 5.8).

Lemma 7.14

Seien (M1,A1) und (M2,A2) zwei Messraume und f : (M1×M2 , A1⊗A2) −→ (R,B1) . Dann:

(a1) Fur jedes x2 ∈M2 ist die Funktion x1 7−→ f(x1, x2) , x1 ∈M1 , messbar (bezgl. A1 und B1).

(a2) Fur jedes x1 ∈M1 ist die Funktion x2 7−→ f(x1, x2) , x2 ∈M2 , messbar (bezgl. A2 und B1).

(b1) Wenn f ≥ 0 und µ1 ein sigma-endliches Maß auf A1 ist, dann ist durch

x2 7−→∫

M1

f(x1, x2) dµ1(x1) , x2 ∈M2 ,

eine messbare (bezgl. A2 und B1) erweitert-reelle nicht-negative Funktion gegeben.

(b2) Wenn f ≥ 0 und µ2 ein sigma-endliches Maß auf A2 ist, dann ist durch

x1 7−→∫

M2

f(x1, x2) dµ2(x2) , x1 ∈M1 ,

eine messbare (bezgl. A1 und B1) erweitert-reelle nicht-negative Funktion gegeben.

Theorem 7.15 (Satz von Fubini fur nicht-negative Funktionen)

Seien (Mi,Ai, µi) , i = 1, 2 , zwei Maßraume mit sigma-endlichen Maßen µ1 , µ2 und

f :(M1×M2 , A1⊗A2

) −→ (R,B1) , f ≥ 0 . Dann:∫

M1×M2

f d(µ1⊗µ2) =

M2

(∫

M1

f(x1, x2) dµ1(x1))

dµ2(x2) =∫

M1

(∫

M2

f(x1, x2) dµ2(x2))

dµ1(x1) .

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Hinsichtlich der Formulierung des Fubini-Theorems fur µ1⊗µ2 - integrierbare Funktionen (nicht not-wendig nicht-negativ) erinnern wir an die Begriffsbildung einer µ-fast uberall definierten messbarenFunktion : Sei (M,A, µ) irgendein Maßraum. Eine µ-fast-uberall definierte messbare (erweitert-reelle)

Funktion ist ein Funktion f : (D,AD) −→ (R,B1) mit D ∈ A und µ(Dc) = 0 ; eine solche Funk-tion f nennen wir µ-integrierbar, wenn f uber D µ-integrierbar ist. Wahlen wir irgendeine messbareFortsetzung f auf ganz M der µ-fast uberall definierten Funktion f ,

f : (M,A) −→ (R,B1) mit f |D = f , z.B. f(x) :=f(x) , falls x ∈ D

0 , falls x ∈ Dc ,

so gilt die Aquivalenz: f ist µ-integrierbar ⇐⇒ f ist µ-integrierbar ,

und im Fall der µ-Integrierbarkeit gilt (unabhangig von der speziellen Wahl der messbaren Fortsetzung f ) :∫

Df dµ =

Mf dµ , (s. Lemma 6.10).

Man verzichtet oft auf die explizite Angabe des Definitionsbereichs D einer µ-fast-uberall definiertenmessbaren Funktion und schreibt im Fall der µ-Integrierbarkeit

∫M

f dµ anstatt∫D

f dµ .

Lemma 7.16 (µ1⊗µ2 - integrierbare Funktion)

Seien (Mi,Ai, µi) , i = 1, 2 , zwei Maßraume mit sigma-endlichen Maßen µ1 , µ2 und

f :(M1×M2 , A1⊗A2

) −→ (R,B1) eine µ1⊗µ2 - integrierbare Funktion. Dann:

(a) Mit den Bezeichnungen

D1 :=x1 ∈M1 : Die Funktion M2 3 x2 7−→ f(x1, x2) ist µ2-integrierbar

,

D2 :=x2 ∈M2 : Die Funktion M1 3 x1 7−→ f(x1, x2) ist µ1-integrierbar

gilt: D1 ∈ A1 , µ1

(D1

c)

= 0 , und D2 ∈ A2 , µ2

(D2

c)

= 0 .

(b1) Durch D1 3 x1 7−→∫

M2

f(x1, x2) dµ2(x2) ist eine µ1-fast-uberall definierte messbare reelle

Funktion gegeben, die µ1-integrierbar ist.

(b2) Durch D2 3 x2 7−→∫

M1

f(x1, x2) dµ1(x1) ist eine µ2-fast-uberall definierte messbare reelle

Funktion gegeben, die µ2-integrierbar ist.

Theorem 7.17 (Satz von Fubini fur integrierbare Funktionen)

Seien (Mi,Ai, µi) , i = 1, 2 , zwei Maßraume mit sigma-endlichen Maßen µ1 , µ2 und

f :(M1×M2 , A1⊗A2

) −→ (R,B1) eine µ1⊗µ2 - integrierbare Funktion.

Dann gilt (unter Beachtung von Lemma 7.16) :∫

M1×M2

f d(µ1⊗µ2) =

M2

(∫

M1

f(x1, x2) dµ1(x1))

dµ2(x2) =∫

M1

(∫

M2

f(x1, x2) dµ2(x2))

dµ1(x1) .

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Kapitel 8

Speziellere Themen

8.1 Integral in Rk bezuglich des Lebesgue-Maßes

Wir betrachten zunachst den Fall k = 1.Mit Ubungsaufgabe 30 sehen wir: Das in der Grundlagenvorlesung uber Analysis definierte Integralfur Regelfunktionen ist im maßtheoretischen λλ1-Integral enthalten. Genauer:Wenn f : [ a , b ] −→ R eine Regelfunktion (wobei a, b ∈ R, a < b), dann ist f messbar, d.h.f :

([a, b] , B1

[a,b]

) −→ (R,B1) , und λλ1-integrierbar uber [ a , b ] mit

[a,b]f d λλ1 =

∫ b

af(x) dx .

Anmerkung:Auch fur eine Funktion f :

([a, b] , B1

[a,b]

) −→ (R,B1) , deren λλ1-Integral uber [ a , b ] existiert, die aber

nicht notwendig eine Regelfunktion ist, verwendet man oft die Schreibweise∫

[a,b]

f(x) dx oderb∫

a

f(x) dx statt∫

[a,b]

f d λλ1 .

Der Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung fur eine stetige Funktion f : [ a , b ] −→ R sagtzum einen, dass eine Stammfunktion F von f existiert, und zum anderen, dass fur jede StammfunktionF von f gilt:

∫ ba f(x) dx = F (b)− F (a) .

Den letzteren Teil des Hauptsatzes konnen wir auf eine großere Klasse von Funktionen f erweitern:

Theorem 8.1 (Integralberechnung mittels Stammfunktion)

Sei f : [ a , b ] −→ R messbar und beschrankt, (wobei a, b ∈ R, a < b). Sei F : [ a , b ] −→ R stetigund auf ( a , b ) differenzierbar mit F ′(x) = f(x) ∀ x ∈ ( a , b ) . Dann:

[a,b]f d λλ1 = F (b)− F (a) .

Anmerkung: Eine messbare und beschrankte reelle Funktion auf [ a , b ] ist λλ1-integrierbar uber [ a , b ] .

32

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Inhaltsverzeichnis 33

λλ1-Integrale uber beliebige (nicht-degenerierte, d.h. nicht nur aus einem Punkt bestehende) Intervalle I ⊆ R,insbesondere uber unbeschrankte Intervalle, lassen sich durch entsprechende Integrale uber abgeschlos-sene beschrankte Intervalle approximieren:Jedes nicht-degenerierte Intervall I ⊆ R lasst sich schreiben als

I =∞⋃

n=1[ an , bn ] ,

mit einer antitonen Folge an ∈ R (n ∈ N) und einer isotonen Folge bn ∈ R (n ∈ N) und an < bn∀ n ∈ N . Dann folgt mit dem Satz von der monotonen Konvergenz und dem Satz von der majorisiertenKonvergenz:

(i) Wenn f :(I,B1

I

) −→ (R,B1) und f ≥ 0 , dann∫

If d λλ1 = lim

n→∞

[an,bn]f d λλ1 .

(ii) Wenn f :(I,B1

I

) −→ (R,B1) und λλ1-integrierbar uber I ist, dann∫

If d λλ1 = lim

n→∞

[an,bn]f d λλ1 .

Anmerkung: Die λλ1-Integrierbarkeit von f uber I ist aquivalent mit∫I

|f |d λλ1 < ∞ , was mit dem

zuerst genannten Punkt (i) dasselbe ist wie

limn→∞

[an,bn]

|f |d λλ1 < ∞ .

Wir beschaftigen uns nun mit Transformationseigenschaften des Lebesgue-Maßes λλk fur beliebigeDimension k ≥ 1. Zunachst berachten wir eine (affin-) lineare Transformation, d.h.

LA,c : Rk −→ Rk , LA,c(x) = Ax + c ,

wobei A eine regulare (reelle) n× n Matrix und c ∈ Rk,

(und wobei in diesem Kontext die Vektoren x ∈ Rk sowie auch c ∈ Rk als Spaltenvektoren geschrieben seien).

Theorem 8.2 (Affin-lineare Transformation des Lebesgue-Maßes)

Fur das Bildmaß (s. Abschnitt 4.2) von λλk unter der oben eingefuhrten affin-linearen Abbildung LA,c

gilt: (λλk

)LA,c =1

| detA| λλk .

Jetzt betrachten wir allgemeiner eine C1-invertierbare Transformation (Abbildung):

T : U −→ V bijektiv, wobei U, V ⊆ Rk offen, und T und T−1 stetig-differenzierbar.

Eine solche Abbildung T heißt C1-invertierbar oder ein C1-Diffeomorphismus. Die Jacobi-Matrix vonT in einem beliebigen Punkt x ∈ U ,

JT (x) =(∂Ti

∂xj(x)

)1≤i,j≤k

, (wobei T = (T1, . . . , Tk) ),

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Inhaltsverzeichnis 34

ist dann regular, und es gilt(JT (x)

)−1 = JT−1(y) mit y = T (x) .

Anmerkung: Aquivalent ist eine C1-invertierbare Abbildung auch charakterisiert durch:

T : U −→ V bijektiv und stetig-differenzierbar, wobei U, V ⊆ Rk offen, und JT (x) regular ∀ x ∈ U .

Mit λλkU und λλk

V bezeichnen wir die Einschrankung des Lebesgue-Maßes auf die Borel’schen Spur-Sigma-Algebren Bk

U und BkV .

Theorem 8.3 (C1-invertierbare Transformation des Lebesgue-Maßes)

Fur das Bildmaß von λλkU unter einer C1-invertierbaren Abbildung T : U −→ V gilt:

(λλk

U

)T = fT λλkV mit fT (y) :=

1∣∣det JT

(T−1(y)

)∣∣ ∀ y ∈ V .

Korollar 8.4 (Transformationsformel fur λλk-Integral)

Sei T : U −→ V (wobei U, V ⊆ Rk offene Teilmengen) eine C1-invertierbare Abbildung.

(a) Fur jede Funktion g : (V,BkV ) −→ (R,B1) gilt:

Wenn eines der beiden nachfolgend genannten Integrale existiert, dann existiert auch das andereund beide stimmen uberein:

Ug(T (x)

)d λλk(x) =

V

g(y)∣∣det JT

(T−1(y)

)∣∣ d λλk(y) .

(b) Fur jede Funktion h : (V,BkV ) −→ (R,B1) gilt:

Wenn eines der beiden nachfolgend genannten Integrale existiert, dann existiert auch das andereund beide stimmen uberein:

Uh(T (x)

) | detJT (x)| d λλk(x) =∫

Vh(y) d λλk(y) .

Bemerkung: Eingeschrankte Integrationsbereiche.Wenn B ∈ Bk

V , und die Funktionen g und h wie oben sind (oder auch nur messbare Funktionen aufB sind), dann (mit dem entsprechenden Vorspann, den wir jetzt nicht formulieren):

T−1(B)g(T (x)

)d λλk(x) =

B

g(y)∣∣det JT

(T−1(y)

)∣∣ d λλk(y) ;

T−1(B)h(T (x)

) | detJT (x)| d λλk(x) =∫

Bh(y) d λλk(y) .

Auch mag ein Integrationsbereich A ∈ BkU fur ein Integral der linken Seite gegeben sein;

dann: A = T−1(B) mit B := T (A) .

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Inhaltsverzeichnis 35

Beispiel: Polarkoordinaten in Dimensionen k = 2 und k = 3.(a) k = 2. U :=

(r, ϕ) ∈ R2 : r > 0 , 0 < ϕ < 2π

, V := R2 \ S0 mit S0 :=

(x, 0) : x ≥ 0

,

T : U −→ V , T (r, ϕ) :=(r cosϕ , r sinϕ

);

T ist C1-invertierbar, da bijektiv, stetig-differenzierbar und

JT (r, ϕ) =(

cosϕ −r sinϕsinϕ r cosϕ

), detJT (r, ϕ) = r .

Fur B ∈ B2 und eine messbare erweitert-reelle Funktion h auf B mit existierendem λλ2-Integral uberB haben wir daher die folgende Transformationsformel:

B\S0

h(x, y) d λλ2(x, y) =∫

T−1(B\S0)h(r cosϕ , r sinϕ) r d λλ2(r, ϕ) .

Wenn einem die Menge S0 (die eine λλ2-Nullmenge ist) lastig ist, dann lasst sie sich auf der linken Seiteder Formel ohne weiteres streichen (Integrationsbereich B statt B \ S0), und fur das Integral auf derrechten Seite lasst sich so verfahren:Betrachte die Fortsetzung der Abbildung T auf U :=

(r, ϕ) ∈ R2 : r ≥ 0 , 0 ≤ ϕ ≤ 2π

,

T : U −→ R2 , T (r, ϕ) :=(r cosϕ , r sinϕ

).

T ist surjektiv und T−1(B) = T−1(B \ S0) ∪ T−1(B ∩ S0) , sowie:

T−1(S0) =

(0×[0 , 2π]

)∪ (

[0 , ∞)×0 , 2π), (eine λλ2-Nullmenge),

und daher auch λλ2(T−1(B ∩ S0)

)= 0 . Die obige Integralformel lasst sich also auch so schreiben:

Bh(x, y) d λλ2(x, y) =

T−1

(B)h(r cosϕ , r sinϕ) r d λλ2(r, ϕ) .

(b) k = 3. U :=(r, ϑ, ϕ) ∈ R3 : r > 0 , 0 < ϑ < π , 0 < ϕ < 2π

,

V := R3 \H0 mit H0 :=(x, 0, z) : x ≥ 0 , z ∈ R

,

T : U −→ V , T (r, ϑ, ϕ) :=(r sinϑ cosϕ , r sinϑ sinϕ , r cosϑ

);

T ist C1-invertierbar, da bijektiv, stetig-differenzierbar und

JT (r, ϑ, ϕ) =

sinϑ cosϕ r cosϑ cosϕ −r sinϑ sinϕsinϑ sinϕ r cosϑ sinϕ r sinϑ cosϕ

cosϑ −r sinϑ 0

, detJT (r, ϑ, ϕ) = r2 sinϑ .

Fur B ∈ B3 und fur eine messbare erweitert-reelle Funktion h auf B mit existierendem λλ3-Integraluber B haben wir daher die folgende Transformationsformel:

B\H0

h(x, y, z) d λλ3(x, y, z) =∫

T−1(B\H0)h(T (r, ϑ, ϕ)

)r2 sinϑ d λλ3(r, ϑ, ϕ) .

Wieder konnen wir zur Eliminierung der Menge H0 eine (surjektive) Fortsetzung T der Abbildung Tnehmen:

T : U −→ R3 , mit U :=(r, ϑ, ϕ) ∈ R3 : r ≥ 0 , 0 ≤ ϑ ≤ π , 0 ≤ ϕ ≤ 2π

,

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wobei die Formel fur T (r, ϑ, ϕ) dieselbe wie die obige fur T (r, ϑ, ϕ) ist. Da H0 und T−1(H0) λλ3-

Nullmengen sind, konnen wir die Integralformel auch so schreiben:∫

Bh(x, y, z) d λλ3(x, y, z) =

T−1

(B)h(T (r, ϑ, ϕ)

)r2 sinϑ d λλ3(r, ϑ, ϕ) .

Bemerkung: k = 1 .Hier gilt noch eine andere Transformationsformel (“Substitutionsformel”), die einerseits eine schwache-re Voraussetzung an die “Transformation” T stellt, aber anderserseits eine starkere Voraussetzung andie Funktion h (von Korollar 8.4 (b)) benotigt:

Wenn T : [ a , b ] −→ R stetig-differenzierbar (nicht notwendig bijektiv) ist

und h : T([ a , b ]

) −→ R stetig ist, dann:

∫ b

ah(T (x)

)T ′(x) d λλ1(x) =

∫ T (b)

T (a)h(y) d λλ1(y) (Substitutionsformel),

mit der Konvention:∫ T (b)

T (a)h(y) d λλ1(y) = −

∫ T (a)

T (b)h(y) d λλ1(y) im Fall T (a) > T (b) .

8.2 Integral fur Vektor-wertige und komplexwertige Funktionen

In diesem Abschnitt sei (M,A, µ) ein beliebiger Maßraum.

Definition 8.5 (Rk-wertige Funktionen und µ-Integral)

Sei f = (f1, . . . , fk) : (M,A) −→ (Rk,Bk) .Die Funktion f heißt µ-integrierbar, wenn f1, . . . , fk µ-integrierbar sind, und in diesem Fall:

Mf dµ :=

(∫

Mf1 dµ , . . . ,

Mfk dµ

)∈ Rk .

Lemma 8.6 (Linearitat des Integrals)

(a) Wenn f : (M,A) −→ (Rk,Bk) µ-integrierbar, g : (M,A) −→ (Rk,Bk) µ-integrierbar undα, β ∈ R, dann ist die Funktion αf + βg µ-integrierbar, und es gilt

M(αf + βg) dµ = α

Mf dµ + β

Mg dµ .

(b) Seien f = (f1, . . . , fk)t : (M,A) −→ (Rk,Bk) und A eine reelle `× k Matrix.(Vektoren seien hier als Spalten-Vektoren geschrieben).Wir definieren die Funktion Af : M −→ R` durch Af : x 7−→ Af(x) . Dann:Af : (M,A) −→ (R`,B`) ;wenn f µ-integrierbar ist, dann ist Af µ-integrierbar, und es gilt

MAf dµ = A

Mf dµ .

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Lemma 8.7

Sei ‖ · ‖ eine Norm auf Rk. Sei f : (M,A) −→ (Rk,Bk) . Dann gilt die Aquivalenz:

f ist µ-integrierbar ⇐⇒∫

M‖f‖dµ < ∞ ,

wobei ‖f‖ die (reelle, nicht-negative) Funktion x 7−→ ‖f(x)‖ bezeichnet.Wenn f µ-integrierbar ist, dann gilt:

∥∥∥∫

Mf dµ

∥∥∥ ≤∫

M‖f‖dµ .

Die Menge C der komplexen Zahlen,

C =z = u+ iv : u, v ∈ R

,

ist zunachst – bis auf die Schreibweise – identisch mit der euklidischen Ebene R2 und ist daherinsbesondere mit der Borel’schen Sigma-Algebra B2 versehen. Hinzu kommt naturlich die algebraischeKorperstruktur. Eine Funktion f : M −→ C lasst sich durch zwei reelle Funktionen f1, f2 : M −→ Rbeschreiben gemaß

f(x) = f1(x) + if2(x) ∀ x ∈M , kurz: f = f1 + if2 .

f1 nennen wir auch den Realteil von f und f2 den Imaginarteil von f , da ja in der Tat

f1(x) = Re(f(x)

)und f2(x) = Re

(f(x)

) ∀ x ∈M .

Die Funktion f = f1 + if2 : M −→ C genau dann messbar, d.h. f : (M,A) −→ (C,B2) , wennf1, f2 : (M,A) −→ (R,B1) . Eine messbare Funktion f : (M,A) −→ (C,B2) , f = f1 + if2 , heißtµ-integrierbar, wenn beide reellen Funktionen f1 und f2 µ-integrierbar sind, und in diesem Fall:

Mf dµ :=

Mf1 dµ + i

Mf2 dµ .

Bezeichnen wir, fur eine komplexwertige Funktion f = f1 + if2 auf M , mit |f | die Funktionx 7−→ |f(x)| =

√(f1(x))2 + (f2(x))2 und mit f die Funktion x 7→ f(x) (konjugiert komplexer Wert

von f(x)), so sieht man leicht (unter Verwendung von Lemma 8.7), fur eine messbare komplexwertigeFunktion f :

(i) f ist genau dann µ-integrierbar, wenn∫M |f | dµ < ∞ ;

(ii) wenn f µ-integrierbar ist, dann gilt

∣∣∣∫

Mf dµ

∣∣∣ ≤∫

M|f | dµ , und

Mf dµ =

Mf dµ ;

(iii) wenn f und g zwei µ-integrierbare komplexwertige Funktionen auf M und α, β ∈ C sind, dannist die Funktion αf + βg µ-integrierbar, und es gilt:

M(αf + βg) dµ = α

Mf dµ + β

Mg dµ .

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Bemerkung

Hinsichtlich des Maßraums(

[ a , b ] , B1[a , b ] , λλ

1[a , b ]

)gilt das Resultat uber Integralberechnung mittels

Stammfunktion von Theorem 8.1 entsprechend auch fur Rk-wertige und komplexwertige Funktionen:

Wenn f :([ a , b ] , B1

[a , b ]

) −→ (Rk,Bk) oder f :([ a , b ] , B1

[a , b ]

) −→ (C,B2) eine beschrankteFunktion und F : [ a , b ] −→ Rk bzw. F : [ a , b ] −→ C eine stetige Funktion, die auf ( a , b )differenzierbar mit F ′(x) = f(x) ∀ x ∈ (a , b ) ist, dann:

[a , b ]f d λλ1 = F (b)− F (a) .

Beispiel: Komplexwertige Funktion f(x) = ecx , x ∈ [ a , b ] , mit einem gegebenen c ∈ C , c 6= 0 .Eine Stammfunktion ist F (x) = 1

c ecx , folglich

∫ b

aecx dx =

1c

(ecb − eca )

.

Betrachten wir noch die Realteile und Imaginarteile der Funktionen f und F : f = f1 + if2 undF = F1 + iF2 ; wegen F ′(x) = F ′1(x) + iF ′2(x) ist F1 eine Stammfunktion von f1, und F2 ist eineStammfunktion von f2. Wir haben, mit c = c1 + ic2 :

f1(x) = ec1x cos(c2x) , f2(x) = ec1x sin(c2x) ,

und fur F (x) = 1c e

cx berechnet man:

F1(x) = 1c21+c22

ec1x(c1 cos(c2x) + c2 sin(c2x)

)

F2(x) = 1c21+c22

ec1x(c1 sin(c2x)− c2 cos(c2x)

).

8.3 Die Funktionenraume Lp

Sei im Folgenden (M,A, µ) ein gegebener Maßraum. Sei K entweder die Menge der reellen Zahlen(K = R) oder die Menge der komplexen Zahlen (K = C), und bezeichne B(K) die Borel’sche Sigma-Algebra in K, also B(R) = B1 und B(C) = B2.

Definition 8.8 (Lebesgue’sche Funktionenraume Lp(µ))

Sei p ∈ [1 , ∞) . (Im folgenden: 0p := 0).Lp(µ) = Lp(µ,K) bezeichnet die Menge aller Funktionen f : (M,A) −→ (

K,B(K))

mit∫

M|f |p dµ <∞ . Fur jedes f ∈ Lp(µ) wird definiert:

‖f‖p :=(∫

M|f |p dµ

)1/p∈ [0 , ∞) .

Fur p = ∞ bezeichnet L∞(µ) = L∞(µ,K) die Menge aller Funktionen f : (M,A) −→ (K,B(K)

),

die µ-f.s. beschrankt sind, d.h. fur die ein c ∈ R, c ≥ 0 , existiert mit |f | ≤ c µ-f.s.Fur jedes f ∈ L∞(µ) wird definiert:

‖f‖∞ := minc ≥ 0 : |f | ≤ c µ-f.s.

.

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Theorem 8.9 (Lp-Raume sind normierte Raume)

Fur p ∈ [1 , ∞ ] gilt:Lp(µ) = Lp(µ,K) ist ein linearer K-Vektorraum, d.h.:Fur alle f, g ∈ Lp(µ) und α, β ∈ K gilt αf + βg ∈ Lp(µ) .Das Funktional ‖ · ‖p hat die folgenden Eigenschaften:

‖f‖p ∈ [ 0 , ∞) ∀ f ∈ Lp(µ) , und ‖f‖p = 0 ⇐⇒ f = 0 µ-f.s.

‖αf‖p = |α| ‖f‖p ∀ f ∈ Lp(µ) , ∀ α ∈ K .

‖f + g‖p ≤ ‖f‖p + ‖g‖p ∀ f, g ∈ Lp(µ) (Minkowski-Ungleichung).

Wenn wir zwei messbare Funktionen f und f , die µ-fast uberall ubereinstimmen (f = f µ-f.s.), alsidentisch ansehen (was wir hier im Folgenden tun wollen), dann ist ‖ · ‖p eine Norm auf Lp(µ) und(Lp(µ) , ‖ · ‖p

)somit ein (reeller oder komplexer) normierter Raum.

Theorem 8.10 (Vollstandigkeit der Lp-Raume)

Fur p ∈ [1 , ∞ ] gilt:Der normierte Raum

(Lp(µ) , ‖ · ‖p

)ist vollstandig, also ein Banachraum, d.h. es gilt:

Wenn fn ∈ Lp(µ) , n ∈ N , eine Cauchy-Folge ist,d.h. zu jedem ε > 0 existiert ein n0 ∈ N , so dass ‖fn − fm‖p ≤ ε ∀ m,n ≥ n0 ,

dann existiert ein f ∈ Lp(µ) mit limn→∞ ‖fn − f‖p = 0 .

Lemma 8.11 (Spezielle Eigenschaften der Lp-Konvergenz, 1 ≤ p <∞)

Im Fall p <∞ gilt:(a) Wenn die Folge fn ∈ Lp(µ) , n ∈ N , gegen f ∈ Lp(µ) konvergiert (im Sinne der Norm ‖ · ‖p, d.h.

limn→∞

‖fn − f‖p = 0) , dann existiert eine Teilfolge fnj , j ∈ N , mit limj→∞

fnj (x) = f(x) µ-f.s.

(b) (Majorisierte Konvergenz in Lp(µ)) :Seien fn : (M,A) −→ (

K,B(K))

, (n ∈ N) , eine Folge (messbarer) Funktionen,f : (M,A) −→ (

K,B(K))

mit limn→∞ fn(x) = f(x) µ-f.s. , und es existiere eine Funktion

g ∈ Lp(µ) mit |fn| ≤ |g| µ-f.s. ∀ n ∈ N . Dann: fn ∈ Lp(µ) ∀ n ∈ N , f ∈ Lp(µ) und

limn→∞ ‖fn − f‖p = 0 bzw. aquivalent: lim

n→∞

M|fn − f |p dµ = 0 .

Lemma 8.12 (Dichter Teilraum der “einfachen Funktionen” in Lp(µ))

Im Fall p <∞ bezeichne

Sp(µ) := n∑

j=1αj 11Aj : n ∈ N , Aj ∈ A mit µ(Aj) <∞ , αj ∈ K ∀ j = 1, . . . , n

,

und im Fall p =∞ sei S∞(µ) := n∑

j=1αj 11Aj : n ∈ N , Aj ∈ A , αj ∈ K ∀ j = 1, . . . , n

.

Dann gilt (in beiden Fallen): Sp(µ) ist ein linearer Teilraum von Lp(µ), und Sp(µ) ist dicht in Lp(µ)(bezuglich der Norm ‖ · ‖p) , d.h.:Zu jeder Funktion f ∈ Lp(µ) und zu jedem ε > 0 existiert eine Funktion h ∈ Sp(µ) mit ‖f −h‖p ≤ ε .

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Definition 8.13 (Konjugierte Paare Lebesgue’scher Funktionenraume)

Zwei (erweiterte) Zahlen p, q ∈ [ 1 , ∞ ] heißen zueinander konjugiert, wenn 1p + 1

q = 1 , (hier mit derKonvention 1

∞ := 0) , und dann nennen wir die beiden zugehorigen Lebesgue-Raume Lp(µ) = Lp(µ,K)und Lq(µ) = Lq(µ,K) zueinander konjugiert.

Lemma 8.14 (Holder’sche Ungleichung)

Seien p, q ∈ [ 1 , ∞ ] zueinander konjugiert.Dann gilt fur jedes f ∈ Lp(µ) und jedes g ∈ Lq(µ) :

M|f g|dµ ≤ ‖f‖p ‖g‖q ,

und folglich auch

f g ∈ L1(µ) und∣∣∣∫

Mf g dµ

∣∣∣ ≤ ‖f‖p ‖g‖q .

Besonderer Fall: p = q = 2Offenbar sind p = 2 und q = 2 zueinander konjugiert. Die Holder-Ungleichung impliziert in diesemFall, dass der Raum L2(µ) sogar ein Hilbert-Raum ist mit dem Skalarprodukt

〈f, g〉2 :=∫

Mf g dµ ∀ f, g ∈ L2(µ) im Fall K = R ;

〈f, g〉2 :=∫

Mf g dµ ∀ f, g ∈ L2(µ) im Fall K = C .

Fur ein beliebiges konjugiertes Paar p, q ∈ [ 1 , ∞ ] ergibt sich als weitere Konsequenz aus der Holder-Ungleichung: Jedes g ∈ Lq(µ) definiert ein lineares stetiges Funktional auf Lp(µ) :

g∗ : Lp(µ) −→ K , g∗(f) :=∫

Mf g dµ .

Damit ist der Lebesgue-Raum Lq(µ) eingebettet in den (topologischen) Dualraum von Lp(µ) , d.h. inden Raum (Lp(µ))∗ aller linearen stetigen Funktionale auf Lp(µ) . Eine wichtige Frage (etwa in derFunktionalanalysis) ist, ob die obige Einbettung von Lq(µ) in den Dualraum (Lp(µ))∗ surjektiv ist, obalso jedes lineare stetige Funktional auf Lp(µ) durch ein g ∈ Lq(µ) wie oben zu erhalten ist. Im Fallp = q = 2 ist die Frage sofort zu bejahen wegen eines allgemeinen Resultats fur Hilbert-Raume. Furbeliebige konjugierte Paare p, q lautet die Antwort so:

Theorem 8.15 (Dualraum von Lp gegeben durch Lq fur konjugierte p, q ?)

Seien p, q ∈ [ 1 , ∞ ] zueinander konjugiert.In jedem der beiden folgenden Falle (i) und (ii) ist die Einbettung von Lq(µ) in (Lp(µ))∗ surjektiv,d.h. fur jedes g∗ ∈ (Lp(µ))∗ existiert ein g ∈ Lq(µ) mit

g∗(f) =∫

Mf g dµ ∀ f ∈ Lp(µ) .

(i) 1 < p <∞ .

(ii) p = 1 und das Maß µ ist sigma-endlich.

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Kapitel 9

Kurven- und Flachenintegrale in Rk

9.1 Kurvenintegrale

Eine Kurve oder ein Weg in Rk ist eine stetige Funktion γ : [ a , b ] −→ Rk , wobei a, b ∈ R mita < b. Das Bild der Kurve γ, γ

([ a , b ]

)=

γ(t) : t ∈ [ a , b ]

⊆ Rk , nennt man oft ebenfalls eine“Kurve”, was wir aber vermeiden wollen. Ferner verwendet man noch die folgenden Bezeichnungen,wenn γ : [ a , b ] −→ Rk eine gegebene Kurve ist: Der Punkt γ(a) heißt der Anfangspunkt der Kurve,und der Punkt γ(b) heißt der Endpunkt der Kurve. Im Fall γ(a) = γ(b) heißt γ eine geschlosseneKurve.

Definition 9.1 (Glatte oder stuckweise glatte Kurve)

Eine Kurve γ : [ a , b ] −→ Rk heißt glatt, wenn die Funktion γ stetig-differenzierbar ist.Die Kurve γ heißt stuckweise glatt, wenn es eine Zerlegung a = c0 < c1 < . . . < c`−1 < c` = b desIntervalls [ a , b ] gibt, so dass fur jedes einzelne j = 1, . . . , ` die Restriktion γ|[ cj−1,cj ] eine glatteKurve ist.

Lemma 9.2 (Integralformel fur die Kurvenlange)

Fur eine glatte oder auch nur stuckweise glatte Kurve γ : [ a , b ] −→ Rk ist ihre Lange gegebendurch

L(γ) =∫ b

a‖γ ′(t)‖dt ,

wobei ‖ · ‖ die euklidische Norm auf Rk bezeichnet.Im Fall einer nur stuckweisen glatten Kurve existieren die Ableitungen von γ an den Stellen cj , 1 ≤ j ≤ `− 1,moglicherweise nicht, da die “linksseitige” und die “rechtsseitige” Ableitung von γ an der Stelle cj verschiedensein konnen. Es ist aber fur das Integral der Formel gleichgultig, welche Werte fur γ′(cj) genommen werden.Im stuckweise glatten Fall wird man auch verwenden:

∫ b

a

‖γ′(t)‖dt =∑

j=1

∫ cj

cj−1

‖γ′(t)‖dt

Beispiel: Zwei geschlossenen Kurven mit gleichem Bild (Kreislinie)Betrachte die beiden (glatten, geschlossenen) Kurven in R2 :

γ(t) = R(cos(t) , sin(t)

), t ∈ [ 0 , 2π ] ;

γ(t) = R(cos(2t) , sin(2t)

), t ∈ [ 0 , 2π ] ;

41

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mit einem festen Radius R > 0. Fur jedes t ∈ [ 0 , 2π ] gilt:

γ′(t) = R(− sin(t) , cos(t)

), folglich ‖γ′(t)‖ = R ;

γ′(t) = 2R(− sin(2t) , cos(2t)

), folglich ‖γ′(t)‖ = 2R ,

und daher:

L(γ) =∫ 2π

0

R dt = 2π R , L(γ) =∫ 2π

0

2R dt = 4π R .

Beide Kurven haben offensichtlich dasselbe Bild, namlich die Menge aller Punkte der Kreislinie um 0 mit RadiusR,

γ([ 0 , 2π ]

)= γ

([ 0 , 2π ]

)=

(x, y) ∈ R2 : x2 + y2 = R2

.

Definition 9.3 (Kurvenintegral einer reellwertigen Funktion)

Seien γ : [ a , b ] −→ Rk eine stuckweise glatte Kurve und f : U −→ R eine stetige Funktion, wobeiU ⊆ Rk . Es gelte γ

([ a , b ]

) ⊆ U . Dann heißt

γf ds :=

∫ b

af(γ(t)

) ‖γ ′(t)‖dt

das Kurvenintegral von f uber γ.

Bemerkungen:

1. L(γ) =∫

γ1 ds .

2. Betrachte eine “Umparametrisierung” der Kurve γ :Sei ψ : [ c , d ] −→ [ a , b ] bijektiv und stetig-differenzierbar. Dann ist γ := γ ψ wiederum einestuckweise glatte Kurve mit demselben Bild wie γ, und es gilt (mit f wie in Definition 9.3):

eγf ds =

γf ds .

Definition 9.4 (Kurvenintegral eines Vektorfeldes)

Seien γ : [ a , b ] −→ Rk eine stuckweise glatte Kurve und f : U −→ Rk eine stetige Funktion(“Vektorfeld”), wobei U ⊆ Rk. Es gelte γ

([ a , b ]

) ⊆ U . Dann heißt

γ〈f(x) , dx〉 =

∫ b

a

⟨f

(γ(t)

), γ ′(t)

⟩dt .

das Kurvenintegral von f entlang γ.

Dabei steht 〈 · , ·〉 fur das Skalarprodukt in Rk : 〈a , b〉 =k∑

i=1

aibi ∀ a = (a1, . . . , ak) , b = (b1, . . . , bk) ∈ Rk .

Zur Interpretation:⟨f

(γ(t)

), γ′(t)

⟩=

⟨f

(γ(t)

),

γ′(t)‖γ′(t)‖

⟩‖γ′(t)‖ , (sofern γ′(t) 6= 0 );

⟨f

(γ(t)

),

γ′(t)‖γ′(t)‖

⟩ist die (skalare) Tangentialkomponente von f

(γ(t)

)an die Kurve im Punkt γ(t) .

Bemerkungen1. Fuhren wir die Komponentenfunktionen des Vektorfeldes f und auch die der Kurve γ ein,

f(x) =(f1(x) , . . . , fk(x)

)und γ(t) =

(γ1(t) , . . . , γk(t)

),

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so haben wir γ ′(t) =(γ′1(t) , . . . , γ

′k(t)

)und

⟨f

(γ(t)

), γ ′(t)

⟩=

n∑i=1

fi

(γ(t)

)γ′i(t) ; das Kurven-

integral von Definition 9.4 schreibt sich daher auch so:

γ〈f(x) , dx〉 =

∫ b

a

( k∑i=1

fi

(γ(t)

)γ′i(t)

)dt =

n∑

i=1

∫ b

afi

(γ(t)

)γ′i(t) dt ,

Daraus erklaren sich auch Schreibweisen fur das Kurvenintegral wie

γ

k∑i=1

fi(x) dxi oderk∑

i=1

γ

fi(x) dxi , (interpretiere: x = γ(t) , dxi = γ′i(t) dt , 1 ≤ i ≤ k) .

2. Fur eine “Umparametrisierung” γ der Kurve γ, d.h.

γ = γ ψ , mit ψ : [ c , d ] −→ [ a , b ] bijektiv und stetig-differenzierbar,

gilt:∫

eγ〈f(x) , dx〉 = sgn(ψ′)

γ〈f(x) , dx〉 , wobei sgn(ψ′) :=

+1 , falls ψ′(u) ≥ 0 ∀ u ∈ [ c , d ]−1 , falls ψ′(u) ≤ 0 ∀ u ∈ [ c , d ]

Beispiel Physik: Arbeit eines KraftfeldesEin Massenpunkt befinde sich in einem Kraftfeld,

F : U −→ Rk , wobei U ⊆ Rk, (k = 2, 3),

d.h. wenn der Massenpunkt den Ort x ∈ U hat, dann wirkt auf ihn die Kraft F (x). Um den Massenpunktentlang einer Kurve γ (mit Bild in U) zu verschieben, muss vom Kraftfeld Arbeit geleistet werden, die als dasKurvenintegral von F entlang der Kurve γ definiert ist:

Arbeit =∫

γ

〈F (x) , dx〉 .

Beachte: Diese Arbeit kann auch negativ sein, namlich wenn die Verschiebung des Massenpunktes entlang derKurve uberwiegend entgegen der Kraftrichtung erfolgt; das Kraftfeld “verbraucht” dann Arbeit. Ein angeneh-mer Fall ist der eines konservativen Kraftfeldes, d.h. es gibt eine Potentialfunktion: Eine reellwertige differen-zierbare Funktion

Φ : U −→ R mit F (x) = gradΦ(x) fur alle x ∈ U ,

(wobei jetzt die Menge U als offen vorausgestzt sei).Dann ist die Arbeit (also das obige Kurvenintegral) gleich der Potentialdifferenz

Φ(γ(b)

) − Φ(γ(a)

),

wobei also γ(b) der Endpunkt und γ(a) der Anfangspunkt der Kurve sind, (s. nachfolgendes Theorem).

Allgemeiner heißt ein Vektorfeld

f : U −→ Rk , wobei U ⊆ Rk offen ,

ein Gradientenfeld, wenn es eine differenzierbare Funktion Φ : U −→ R gibt mit f = gradΦ .

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Lemma 9.5 (Kurvenintegral eines Gradientenfeldes)

Seien f = gradΦ ein stetiges Gradientenfeld auf der offenen Menge U ⊆ Rk und γ : [ a , b ] −→ Rk

eine stuckweise glatte Kurve mit Bild γ([ a , b ]

) ⊆ U . Dann gilt:∫

γ〈f(x) , dx〉 = Φ

(γ(b)

) − Φ(γ(a)

).

Insbesondere: Wenn die Kurve γ geschlossen ist, dann∮

γ〈f(x) , dx〉 = 0 .

Beispiel: Ein Radialfeld und ein Wirbelfeld(1) Das Vektorfeld (ein Radialfeld)

f(x) =c

‖x‖2x

‖x‖ , x ∈ Rk \ 0 , (mit einer reellen Konstanten c 6= 0).

ist ein Gradientenfeld, da f = gradΦ mit der Funktion

Φ(x) = − c

‖x‖ , x ∈ Rk \ 0 .

Wenn also γ : [ a , b ] −→ Rk eine stuckweise glatte Kurve mit Bild in Rk \ 0 ist, dann gilt:∫

γ

〈f(x) , dx〉 = − c

‖γ(b)‖ +c

‖γ(a)‖ .

(2) Betrachte fur k = 2 das Vektorfeld (ein Wirbelfeld um den Nullpunkt)

f(x) =c

‖x‖2 (−x2, x1) , x = (x1, x2) ∈ R2 \ 0 , mit einer reellen Konstanten c 6= 0.

Dieses ist kein Gradientenfeld, denn: Betrachte die geschlossene (kreisformige) Kurve

γ(t) = R(cos(t) , sin(t)

), t ∈ [ 0 , 2π ] ,

mit einem gegebenen Radius R > 0. Wir berechnen das Kurvenintegral des Vektorfeldes f entlang γ :

f(γ(t)

)=

c

R2(cos2(t) + sin2(t)

) R (− sin(t) , cos(t))

=c

R

(− sin(t) , cos(t)),

γ′(t) = R(− sin(t) , cos(t)

),

〈f(γ(t)

), γ′(t)〉 = c

(sin2(t) + cos2(t)

)= c (konstant),

γ

〈f(x) , dx =∫ 2π

0

cdt = 2π c .

Insbesondere ist also dieses Kurvenintegral ungleich Null, und das Vektorfeld f ist daher (mit Lemma 9.5) keinGradientenfeld.

Tieferliegend als Lemma 9.5 ist das folgende Resultat.

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Theorem 9.6 (Eine Charakterisierung von Gradientenfeldern)

Sei f : U −→ Rk eine stetige Funktion, wobei U ⊆ Rk offen. Die folgenden drei Bedingungen (i),(ii) und (iii) sind aquivalent.

(i) f ist ein Gradientenfeld.

(ii) Fur je zwei stuckweise glatte Kurven γ und γ, die denselben Anfangspunkt und denselbenEndpunkt haben und deren Bilder in U enthalten sind, gilt:

γ〈f(x) , dx〉 =

eγ〈f(x) , dx〉 .

(iii) Fur jede stuckweise glatte geschlossene Kurve γ mit Bild in U gilt:∮

γ〈f(x) , dx〉 = 0 .

Eine andere notwendige Bedingung dafur, dass ein gegebenes stetig-differenzierbares Vektorfeldf : U −→ Rk (mit U ⊆ Rk offen) ein Gradientenfeld ist, ergibt sich aus:

f = gradΦ =⇒ ∂fi

∂xj=

∂2Φ∂xj∂xi

=∂2Φ∂xi∂xj

,

folglich muss die Jacobi-Matrix von f symmetrisch sein.Ein wichtiges Resultat sagt nun, dass die Symmetrie der Jacobi-Matrix auch hinreichend fur dieExistenz einer Potentialfunktion Φ zu f ist, sofern der (offene) Definitionsbereich U einfach zusam-menhangend ist (s. unten). Folgendes Standardbeispiel zeigt schon, dass dieses Resultat nicht furbeliebige (offene) Definitionsbereiche gelten kann.Beispiel: Betrachte das zwei-dimensionale Wirbelfeld auf U = R2 \ 0 von oben:

f(x) =c

‖x‖2 (−x2, x1) , x = (x1, x2) ∈ R2 \ 0 , mit einer reellen Konstanten c 6= 0.

Dieses ist kein Gradientenfeld, wie wir gesehen haben. Aber:

∂f1∂x2

(x) = −c ∂

∂x2

x2

x21 + x2

2

= −c x21 + x2

2 − 2x22

(x21 + x2

2)2= c

x22 − x2

1

‖x‖4 ,

∂f2∂x1

(x) = c∂

∂x1

x1

x21 + x2

2

= cx2

1 + x22 − 2x2

1

(x21 + x2

2)2= c

x22 − x2

1

‖x‖4 ,

also gilt :∂f1∂x2

=∂f2∂x1

, d.h. die Jacobi-Matrix von f ist symmetrisch (in jedem Punkt).

Eine Teilmenge U ⊆ Rk heißt einfach zusammenhangend, wenn sie – anschaulich gesprochen – diefolgende Bedingung erfullt:Jede geschlossene Kurve, die in U verlauft, lasst sich auf einen Punkt in U zusammenziehen, ohne dieMenge U zu verlassen.Prazise Formulierung: Wenn γ : [ a , b ] −→ U eine geschlossene Kurve ist, dann gibt es eine stetigeFunktion Γ : [ 0 , 1 ] × [ a , b ] −→ U und einen Punkt x0 ∈ U , so dass gilt:(i) Fur jedes s ∈ [ 0 , 1 ] ist durch t 7−→ Γ(s, t) , t ∈ [ a , b ] , eine geschlossene Kurve gegeben.(ii) Γ(0, t) = γ(t) und Γ(1, t) = x0 fur alle t ∈ [ a , b ] .

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Insbesondere ist jede konvexe Teilmenge U ⊆ Rk einfach zusammenhangend, auch ist schon einesternformige Teilmenge U ⊆ Rk einfach zusammenhangend.Sternformigkeit einer Teilmenge U ⊆ Rk ist eine schwachere Eigenschaft als die Konvexitat; sie besagt:Es gibt einen Punkt u0 ∈ U , so dass fur jeden anderen Punkt x ∈ U die Verbindungsstrecke zwischenu0 und x in U enthalten ist.

Theorem 9.7 (Weitere Charakterisierung von Gradientenfeldern)

Sei f : U −→ Rk eine stetig-differenzierbare Funktion, wobei U ⊆ Rk offen.

(a) Wenn f ein Gradientenfeld ist, dann ist die Jacobi-Matrix Jf (x) symmetrisch fur jedes x ∈ U .

(b) Wenn die Jacobi-Matrix Jf (x) symmetrisch ist fur jedes x ∈ U und wenn U einfach zusammen-hangend ist, dann ist f ein Gradientenfeld.

9.2 Flachenintegrale

Definition 9.8 (p-dimensionale Flache in Rk)

Sei p ∈ 1, . . . , k − 1. Seien V ⊆ Rp offen und σ : V −→ Rk eine stetig-differenzierbare undregulare∗ Abbildung. Dann heißt σ eine p-dimensionale Flache in Rk.∗ D.h. die Jacobi-Matrix Jσ(v) hat den Rang p fur jedes v ∈ V .

Beispiel: Kugeloberflache in R3 (beschrieben durch eine Abbildung)

V :=(ϑ, ϕ) ∈ R2 : 0 < ϑ < π , 0 < ϕ < 2π

= ( 0 , π ) × ( 0 , 2π ) ,

σ : V −→ R3 , σ(ϑ, ϕ) :=(cosϕ sinϑ , sinϕ sin(ϑ) , cosϑ

).

σ ist eine 2-dimensionale Flache in R3; das Bild σ(V ) ist im Wesentlichen die Oberflache der Einheitskugel inR3 (bis auf eine “Linie” dieser Oberflache). Eine andere Flache mit demselben Bild ist z.B.

σ : V −→ R3 , σ(ϑ, ϕ) :=(cos(2ϕ) sinϑ , sin(2ϕ) sin(ϑ) , cosϑ

).

σ ist injektiv, σ ist nicht injektiv (jeder Punkt des Bildes tritt zweimal als Funktionswert σ(ϑ, ϕ) auf).

Beispiel: Graph einer Funktion als FlacheEine 2-dimensionale Flache in R3, deren Bild die Oberflache der (oberen) Einheitshalbkugel in R3 ist:

V :=(u, v) ∈ R2 : u2 + v2 < 1

, σ : V −→ R3 , σ(u, v) :=

(u , v ,

√1− u2 − v2

).

Das Bild σ(V ) ist offensichtlich der Graph der Funktion f : V −→ R , f(u, v) :=√

1− u2 − v2 .

Allgemeiner:

Sei f : V −→ Rk−p eine stetig-differenzierbare Abbildung, wobei V ⊆ Rp offen.Definiere: σ : V −→ Rk , σ(v) :=

(v , f(v)

).

Dann ist σ eine p-dimensionale Flache in Rk; offensichtlich: σ ist injektiv und das Bild σ(V ) ist der Graph derFunktion f .

Definition 9.9 (“Umparametrisierung”: Aquivalente Flachen)

Seien σ : V −→ Rk und σ : W −→ Rk zwei p-dimensionale Flachen in Rk , wobei V,W ⊆ Rp

offen. Die beiden Flachen σ und σ heißen aquivalent, wenn es einen Diffeomorphismus (C1-invertierbareAbbildung) T : W −→ V gibt, so dass σ = σ T .

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Definition 9.10 (Flacheninhalt, Flachenintegral reellwertiger Funktionen)

Sei σ : V −→ Rk eine p-dimensionale Flache in Rk , (wobei V ⊆ Rp offen). Der Flacheninhalt von σist gegeben durch

S(σ) :=∫

V

√det [J t

σ(v)Jσ(v)] d λλp(v) ,

wobei Jσ(v) =(∂σi

∂vj(v)

)i=1,...,kj=1,...,p

und σ = (σ1, . . . , σk) .

Sei noch f : U −→ R eine stetige Funktion, wobei U ⊆ Rk , und es gelte σ(V ) ⊆ U .

Wenn die Funktion (f σ) ·√

det [J tσJσ] λλp-integrierbar uber V ist, dann heißt

σf dS :=

Vf(σ(v)

)√det [J t

σ(v)Jσ(v)] d λλp(v)

das Flachenintegral von f uber σ.

Bemerkung:Wenn σ und σ aquivalente p-dimensionale Flachen in Rk sind, dann gilt fur eine Funktion f wie inDefinition 9.10 unter der dort genannten Integrierbarkeitsbedingung:

eσf dS =

σf dS .

Das zeigt man mit Hilfe der Integraltransformationsformel von Korollar 8.4.

Beispiel: Kugeloberflache in R3.

V := ( 0 , π ) × ( 0 , 2π ), σ(ϑ, ϕ) := R · ( cosϕ sinϑ , sinϕ sinϑ , cosϑ),

wobei R > 0 (Radius) gegeben. Wir berechnen:

Jσ = R

cosϕ cosϑ − sinϕ sinϑsinϕ cosϑ cosϕ sinϑ− sinϑ 0

, J t

σJσ = R2

(1 00 sin2 ϑ

),

√det J t

σJσ = R2 sinϑ .

Folglich: S(σ) =∫

( 0 , π ) × ( 0 , 2π )

R2 sinϑ d λλ2(ϑ, ϕ) = R2 2π∫ π

0

sinϑdϑ = 4πR2 .

Flachenintegrale von Vektorfeldern in Rk konnen wir nur fur (k − 1)-dimensionale Flachen (Hyper-flachen) in Rk definieren.

Lemma 9.11 (Kleines Hilfsresultat)

Seien a1, . . . ,ak−1 ∈ Rk linear unabhangige Spalten-Vektoren. Bezeichne A :=(a1, . . . , ak−1

)

(die k× (k− 1) Matrix mit den Spalten a1, . . . ,ak−1) und mit A\i die (k− 1)× (k− 1) Matrix, die ausA durch Streichen der i-ten Zeile von A entsteht, i = 1, . . . , k.Wir definieren einen Spalten-Vektor n ∈ Rk :

n = (n1, . . . , nk)t , ni := (−1)k+i det A\i ∀ i = 1, . . . , k .

Dann: n ⊥ aj ∀ j = 1, . . . , k − 1 , ‖n‖ =√

det [AtA] und det(a1, . . . , ak−1, n

)> 0 ,

wobei ‖ · ‖ die euklidische Norm auf Rk bezeichnet.

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Bemerkung: k = 3Im Fall zweier Vektoren a1 = a ∈ R3 und a2 = b ∈ R3 ergibt sich:

n =

(n1

n2

n3

)=

(a2b3 − a3b2a3b1 − a1b3a1b2 − a2b1

), wobei a =

(a1

a2

a3

), b =

(b1b2b3

).

Man schreibt auch n = a×b (Vektorprodukt).

Definition 9.12 (Normalenvektoren auf einer Hyperflache)

Sei σ : V −→ Rk eine (k − 1)-dimensionale Flache in Rk, wobei V ⊆ Rk−1 offen.Fur gegebenes v ∈ V bezeichne nσ(v) den Vektor n von Lemma 9.11, der sich mit den Spalten

aj =∂σ

∂vj(v) (j = 1, . . . , k − 1) der Jacobi-Matrix Jσ(v) ergibt, d.h.

nσ(v) = (−1)k+i det J\iσ (v) , i = 1, . . . , k .

Der Vektor nσ(v) heißt ein Normalenvektor zur Flache σ im Punkt v.

Name “Normalenvektor”, da nσ(v) orthogonal zu den Vektoren∂σ

∂vj(v) (j = 1, . . . , k − 1) ist;

der von letzteren Vektoren aufgespannte (k − 1)-dimensionale lineare Teilraum verschoben um σ(v) bildet dieTangentialhyperebene an die Flache σ im Punkt v.

Definition 9.13 (Flachenintegral eines Vektorfeldes uber eine Hyperflache)

Sei σ : V −→ Rk eine (k − 1)-dimensionale Flache in Rk , , wobei V ⊆ Rk−1 offen.Sei f : U −→ Rk eine stetige Funktion, wobei U ⊆ Rk , und es gelte σ(V ) ⊆ U .

Wenn die Funktion⟨f σ , nσ

⟩uber V λλk−1-integrierbar ist, dann heißt das Integral

σ〈f , dS 〉 :=

V

⟨f

(σ(v)

), nσ(v)

⟩d λλk−1(v)

=∫

V

⟨f

(σ(v)

),

nσ(v)‖nσ(v)‖

⟩ √det [J t

σ(v)Jσ(v)] d λλk−1(v)

das Flachenintegral von f uber σ.

Anmerkung: Die Gleichheit der letzteren beiden Integrale folgt aus Definition 9.12 und Lemma 9.11:

‖nσ(v)‖ =√

det [J tσ(v)Jσ(v)] .

Bemerkung: Wenn σ : W −→ Rk eine zu σ aquivalente (k − 1)-dimensionale Flache, alsoW ⊆ Rk−1 offen und σ = σ T mit einem Diffeomorphismus T : W −→ V , dann gilt fur f wiein Definition 9.13 unter der dort genannten Integrierbarkeitsbedingung:∫

eσ〈f , dS 〉 = sgn(detJT )

σ〈f , dS 〉 , wobei sgn(det JT ) :=

+1 , falls detJT (w) > 0 ∀ w ∈W−1 , falls det JT (w) < 0 ∀ w ∈W

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Beispiel: Oberflache einer Kugel (Mittelpunkt 0 und Radius R) in R3.V := ( 0 , π ) × ( 0 , 2π ) , σ(ϑ, ϕ) := R · ( cosϕ sinϑ , sinϕ sinϑ , cosϑ

). Man erhalt:

nσ(ϑ, ϕ) =∂σ

∂ϑ×∂σ

∂ϕ= R2

(cosϕ cosϑsinϕ cosϑ− sinϑ

( − sinϕ sin ϑcosϕ sinϑ

0

)= R2

cosϕ sin2 ϑsinϕ sin2 ϑcosϑ sinϑ

= R sinϑ ·[σ(ϑ, ϕ)]t .

Sei nun f = (f1, f2, f3) : U −→ R3 ein stetiges Vektorfeld, wobei U ⊆ R3 , und es geltex ∈ R3 : ‖x‖ = R

⊆ U . Wir erhalten fur das Flachenintegral von f uber σ :∫

σ

⟨f , dS

⟩= R

(0 , π)×(0 , 2π)

⟨f

(σ(ϑ, ϕ)

), σ(ϑ, ϕ)

⟩sinϑ d λλ2(ϑ, ϕ) =

R2

(0 , π)×(0 , 2π)

[f1

(σ(ϑ, ϕ)

)cosϕ sin2 ϑ + f2

(σ(ϑ, ϕ)

)sinϕ sin2 ϑ + f3

(σ(ϑ, ϕ)

)cosϑ sinϑ

]d λλ2(ϑ, ϕ) .

Speziell: f ein radiales Vektorfeld auf R3 \ 0 :

f(x) = h(‖x‖) x

‖x‖ , x ∈ R3 \ 0 ,

mit einer stetigen Funktion h : ( 0 , ∞) −→ R . Mit der ersten Formel von oben erhalten wir fur dasFlachenintegral von f uber σ :

R

(0 , π)×(0 , 2π)

⟨f

(σ(ϑ, ϕ)

), σ(ϑ, ϕ)

⟩sinϑ d λλ2(ϑ, ϕ) = 2π R

∫ π

0

⟨h(R)

σ(ϑ, ϕ)R

, σ(ϑ, ϕ)⟩

sinϑ dϑ

= 2π h(R)∫ π

0‖σ(ϑ, ϕ)‖2︸ ︷︷ ︸

= R2

sinϑ dϑ = 2π h(R)R2

∫ π

0sinϑdϑ = 4π R2 h(R) .

Anmerkung: Im Fall h(r) =c

r2, r ∈ ( 0 , ∞) , mit einer Konstanten c 6= 0, ist der Wert des Flachenintegrals

also gleich 4π c und damit unabhangig vom Radius R.