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Magic Wallpaper - Als die Bücher sprechen lernten

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Das Mainzer Literaturfestival wirft u. a. einen Blick in die Hörbuchnische der kleinen Verlage ...

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Das erste Mal

Das erste Mal sitzen, das erste Mal stehen, plappern, laufen, schreien, in die Schule gehen, eine Familie gründen ... Für den Menschen bedeutet das erste Mal - Lebensaufgabe. Immerwährend und immerfort die Herausforderung - DAS ERSTE MAL. Die erste Geschichte geschrieben. Ungelenk und holprig. Die Worte fließen noch nicht. Der Satz widersetzt sich der Melodie, die in meinem Inneren schwingt. Das Können humpelt dem Wollen hinterher.

Der erste Literaturwettbewerb. Vernichtende Kritik. Texte für Kinder zu schreiben ist schwierig. Sie sollten sich erst einmal mit den Schreibgrundlagen beschäftigen ... Beleidigte Stille. Waren die Geschichten wirklich so schlecht? In sich gehen! Sie waren nicht gut - stimmt. Weiterarbeiten, weiterlernen, lesen, hören, beobachten, wieder und immer wieder Kritik einstecken, Kritik verarbeiten, Kritik annehmen ...

Der erste Erfolg. Finale bei einem Literaturwettbewerb erreicht. Stolz geschwellte Brust. Na, jetzt sind wir doch wer! Die Rückschläge folgen auf dem Fuß. Nichtbeachtung anderer Geschichten. Verzweiflung. Werde ich die Worte packen können, sie zwingen, mir zu gehorchen? Oder werden sie sich mir dauerhaft entziehen? Zweifel ... immer wieder Zweifel und Nach-denken. Hören und lesen, um die Kunst des Weglassens erfassen zu können, die Bilder plastisch zu malen. Wann werde ich zufrieden mit mir sein? Niemals? Niemals!

Das erste Buch mit vorgegebenem Plot. Ich bin froh darüber, ihn nicht selbst entwickeln zu müssen. Ich lerne, wie ein Buch entstehen kann, von der Idee zur Ausführung. Meine Fantasie sieht alles vor sich, nicht nur mein Buch, nein, auch die folgenden. Aber es ist nicht mein Plot, also heißt´s: Konzentration auf das erste Buch - meins.

Das erste Mal vorlesen. Zittern in der Stimme, Zittern der Finger ... Wo stand gleich der Absatz, den ich lesen wollte? Er ist weg. Ich finde ihn nicht. Fahrig blättere ich durch die Seiten und - endlich, ich hab ihn. Ist der Text gut, ist er schlecht? Ich weiß es nicht ... nicht mehr. Je öfter ich ihn lese, desto unbeholfener und blasser erscheint er mir. Stimmt die Atmosphäre? Zieht sie andere in den Bann? Fühlen sie dasselbe wie ich, als ich die Kapitel geschrieben habe? Fühlen sie die Angst, das Dunkel? Ich bin innerlich zerrissen? Mein Kind steht auf dem Prüfstand. Werden die anderen mein Kind lieben oder es zurückweisen? Wird mein Kind mich anklagen: Du hast es verpatzt, gib’s zu. Du hast deine Chance vergeben? Oder wird mir mein Kind auf die Schulter klopfen und sagen: Okay, das war dein erster Roman, dafür ist er ganz gut geworden. Die Ungewissheit ist die Mutter und der Vater des ersten Mals. Vertrauen wir den Eltern - einfach so. Versuchen wir es ... nein, machen wir es. Petra Wilhelmi lebt in Leipzig und schreibt mit viel Elan. Sie hat bereits einige Bücher veröffentlicht und u. a. das Lektorat zu „Valongatu. Die Verbündeten“ in die Hand genommen.

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Der Trost der Hoffnung Ich sitze auf einer Bank im Waldfriedhof. Vor mir liegt die Aufbahrungshalle, das Tor weit geöffnet, langsam schiebt sich eine Menschenschlange hinein, das Schwanzende dieser Schlange ist nicht zu sehen, es ist irgendwo außerhalb des Friedhofes. Die Sonne sticht unbarmherzig vom wolkenlo-sen Vormittagshimmel herunter. Neben mir sitzt ein älterer Herr, aber jünger als ich, mit einer gelben Armbinde und drei schwarzen Punkten darauf, auch im Sitzen stützt er sich auf einen Stock ab. Langsam komme ich mit ihm ins Gespräch, er hat ihn gekannt, den, der hier verabschiedet wird. Er wohnte im selben Haus. Dennoch weiß er nicht, was passiert ist, woran er gestorben ist, er war ja erst knapp über vierzig Jahre alt, meint er. „Ja, viel zu jung war er“, pflichte ich ihm bei. „In unserem Alter ist das anders“, fahre ich fort, „in unserem Alter muss man jeden Tag mit Komplikationen rechnen!“ Da beginnt mein Bankgefährte zaghaft zu sprechen. Ihn hatte es schon viel früher „erwischt“. Mit 42 Jahren erlitt er einen Schlaganfall, verlor die Sehkraft und war über die Stunde in den Rollstuhl verbannt. Er verlor seine Familie, da sich seine Frau von ihm trennte und ihr natürlich die Kin-der zugesprochen wurden. In einem jahre-langen Kampf lernte er wieder einigerma-ßen laufen, aber die Sehkraft blieb stark reduziert. Diese Erzählung passte irgend-wie zu der traurigen Stimmung, die hier, trotz des Sonnenscheines, über Waldfried-hof und Aufbahrungshalle liegt. Der Tote, der drinnen kalt und steif im Sarge liegt, und an dem Hunderte zum Abschied vor-beidefilieren, ist der Sohn meines besten Freundes, des Freundes meiner frühesten Jugend. Oft spielten wir im Hause seiner Eltern zusammen mit seinen Geschwistern DKT, er war der Freund meiner Schulzeit, wir machten gemeinsam die Matura. Er studierte dann, ich blieb in Steyr und so

verloren sich langsam die intensiven Kon-takte und die gemeinsamen Interessen. Mein Freund hatte ein karge Jugend. Das Haus seiner Eltern war 1946 noch nicht elektrifiziert, die einzige Beleuchtung über dem Küchentisch, auf dem wir DKT spiel-ten, war eine Petroleumlampe. Es gab also keinen Kühlschrank, kein Radio und auch keine anderen elektrischen Geräte. Das Wasser zum Kochen, Waschen und Trin-ken musste vom Brunnen vor dem Haus geholt werden, die Toilette war ein Plumpsklo in einer Hütte hinter dem klei-nen Haus. Sein Vater, der vor dem Krieg aus dem Sudetenland gekommen war, hatte fast alles an dem Haus mit seiner Hände Arbeit geschaffen. Für einen kleinen Fi-nanzbeamten war das eine unglaubliche Leistung. Mein Freund hatte zwei Ge-schwister, einen älteren Bruder und eine jüngere Schwester. Im kleinen Garten, der das Haus umgab, wurden Gemüse und Obst gezogen, ein Dutzend Hühner liefer-ten die Eier, Kaninchen in kleinen Käfigen das Fleisch. Diese Selbstversorgung ermög-lichte es, dass der Vater die finanziellen Mittel aufbringen konnte, die drei Kinder studieren zu lassen. Einige hundert Meter hinter dem kleinen Häuschen lag ein großer Wald mit einem beachtlichen Karpfenteich. So oft es mög-lich war, durchstreiften wir diesen Wald, als Indianer oder Trapper, mit Pfeil und Bogen pirschten wir Fasane an oder wir versuchten mit Angeln aus langen Hasel-nussstöcken, aber ohne Haken, mit Brot als Köder, Fische zu fangen. Wenn wir einen Fasan erlegt oder einen Fisch gefangen hät-ten, dann wäre das für uns sicherlich ein großes Problem gewesen, denn wir hätten nicht gewusst, was wir damit anfangen soll-ten. Im Realgymnasium war mein Freund ein-same Spitze, er wusste alles, er konnte al-les, und nicht selten musste er Professoren

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korrigieren. Schularbeiten mit der Note „sehr gut“ waren die Regel, Latein konnte er aus dem Stehgreif fehlerlos übersetzen und er sprach fließend und ohne zögern alles rückwärts. Manchmal versuchte ein Mitschüler mitzuschreiben, um ihm einen Fehlers nachzuweisen, aber diese Versuche wurden bald aufgegeben, da er so schnell verkehrt reden konnte, dass ein Mitschrei-ben und damit ein Kontrollieren kaum möglich war. Während des Studiums schloss er sich ei-ner nationalen, schlagenden Verbindung an und ab dieser Zeit lagen unsere Gesprächs-themen nur mehr in der Vergangenheit, denn ich musste in Gesprächen mit ihm peinlichst genau vermeiden, über den letz-ten Krieg, über Politik oder über Ausländer und Immigranten zu sprechen. Zu unter-schiedlich waren unsere Auffassungen zu diesen Themen. Lange saß ich auf der Bank im Waldfried-hof, umgeben von sicherlich mehr als drei-hundert farbentragenden Studenten und „alten Herren“ von den verschiedensten schlagenden Studentenverbindungen, Käp-pis in allen Farben schmückten die Köpfe. Manche dieser Kopfbedeckungen waren den alten Herren viel zu klein und erinner-ten an Faschingsdekorationen. Schließlich begann die offizielle Verabschie-dung in der Aufbahrungshalle. Verschiede-ne Herren aus den Studentenverbindungen hielten Reden, Reden, die mich wirklich erschütterten, Reden, die den Tod als ab-soluten und endgültigen Schlusspunkt eines Menschenleben darstellten, keine Rede war von einem Weiterleben des Geistes, einer Seele oder einer Hoffnung auf ein Wiedersehen. Nach dem Verlust des Sohnes mussten diese Reden auf die trauernden Eltern wie weitere Keulenschläge des Schicksals ge-wirkt haben. Da wurde mir so richtig be-

wusst, wie gut ich es mit meinem christli-chen Glauben hatte, mit der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tode, mit der Hoff-nung auf ein Wiedersehen. Etwa ein Jahr vor diesem Begräbnis konnte ich meine Mutter beim Sterben begleiten, ich empfand es als große Gnade, sie wäh-rend der letzten, immer schwächer wer-denden Atemzüge streicheln und ihr die Hand halten zu können, ihr damit danken zu können für alles, was sie für mich getan hatte. Die Kraft dazu, ihr diesen letzten Dienst mit Freude und ohne einen alles verzehrenden Schmerz erweisen zu kön-nen, gab mir das Wissen, dass sie mich auf meinem weiteren Lebensweg begleiten würde und ich sie irgendwann wiedersehen werde. Um so mehr hat mich die hoffnungslose Trauer meines Freundes und seiner Frau über den Tod ihres so früh verstorbenen, geliebten Sohnes erschüttert. Diese farben-tragenden Männer geben sich alle stark, einige hielten beim Begräbnis markige Re-den, aber keiner konnte den Eltern echten Trost spenden. Die Eltern taten mir sehr, sehr leid. Ich umarmte die Mutter, ich um-armte den Vater und sehr traurig verließ ich den Friedhof, ich folgte nicht der Einla-dung zur Zehrung, was sollte ich mit den farbige Käppis tragenden alten Herren mit ihren Schmissen im Gesicht reden? Ich setzte mich ins Auto und fuhr nachdenklich nachhause. Ludwig Pullirsch

Ludwig Pullirsch lebt in Steyr und hat schon eine Rei-he von Buchtiteln veröffentlicht. Sein letztes Buch „hineingboren“ ist im Wunderwaldverlag erschienen. Darin hat er die Tagebücher seines Vaters aus seiner Zeit als Gebirgsjäger im Ersten Weltkrieg literarisch aufgearbeitet.

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Mein erstes Mal Beim ersten Anblick des Corpus Delicti war ich zugegebenermaßen ein wenig aufgeregt. Um nicht zu sagen leicht nervös. Wie man sich halt so fühlt, wenn man genau weiß, dass man das ehr-würdige Alter, welches einem erlauben würde, so ganz nach Belieben zu tun und zu lassen, wie einem der Sinn steht und sämtliche Barrieren aus dem Weg zu räumen, doch noch nicht endgültig erreicht hat. Es galt ja auch, Rücksichten zu neh-men. Aber da stand er nun mal und wartete auf mich: nicht zu groß für die erste Begegnung, auch nicht zu klein, wahrscheinlich genau passend für mich. Ich bin ja auch kein Riese. Er sah sehr ein-ladend aus, leuchtete von Weitem schon ein wenig rot und, was zu dem Zeitpunkt für mich von Bedeutung war: er stand wie ein Fels in der Brandung, ragte förmlich aus seiner beengten Verkleidung heraus, winkte mich zu sich und machte seinem Namen alle Ehre. Sein Anblick machte Appetit. In gewissener Weise fungierte er auch als Tor zu Welt, sozusagen als erste Eintrittskarte in das Reich der Großen. Man kam nicht darum herum. Irgendwann musste es mal sein. Sonst würde man nie mitreden können. Und wie konnte man sich doch später damit interessant machen: „Ja, ich habe auch schon mal ... Nein, nur zu Anfang ist es ein wenig schmerzhaft, wenn einem ein bisschen der Notschweiß ausbricht, wenn die Versagensängste hochkommen, wenn man sich zu sehr selbst beobachtet, dann aber gewöhnt man sich schnell daran, und meistens, ja in der Mehrheit aller Fälle, wenn es leider auch gleich schon wieder vorbei ist, fängt es gerade an, richtig Spaß zu machen ... Es hat auch so etwas wie Suchtcharakter ...“ Haben Sie schon mal in aller Öffentlichkeit ...? Um eine gewisse Entblößung meiner selbst wür-de ich wohl nicht herumkommen. Was, wenn ich dabei zu laut werden würde? Wenn ich mangels Erfahrung eine schlechte Figur abgeben würde? Oder aber, was mindestens genauso schlimm wäre, wenn ich viel zu zurück-haltend sein würde? Zu leise, zu unbedeutend, zu wenig forsch, zu schüchtern, zu unbeholfen, rot anlaufend bei dem ersten Laut, den ich zwangs-läufig ausstoßen würde? Was, wenn niemand Notiz nehmen würde? Wenn niemand die Ver-änderung in mir bemerken würde?

Ich beschloss, den Moment in mich aufzusaugen. Es war nicht so, dass ich ihn komplett in mich hereinließ, nein, ich wurde liebvoll in Empfang genommen. Es war auch nicht so, dass er total Besitz von mir ergriff und mich und mein Be-wusstsein vollständig ausfüllte, sondern ich füllte ihn aus: ich stülpte meine gesamte Präsenz über ihn herüber, um ihn herum, auf ihn herauf, und gab vor, ihn zu vergessen. Ob der eine oder an-dere Voyeur Notiz von mir nahm, sollte mich nicht weiter interessieren; wer waren denn diese Leute, die sich vermeintlich ein Urteil über mich bilden würden und über meine keineswegs schamvollen, geschweige denn geräuscharmen Absonderungen? Hatten sie jemals ...? In aller Öffentlichkeit ...? Nein, die meisten wohl eher nicht. Dann ging alles viel zu schnell vorbei. Wir waren noch eine Weile miteinander verwoben, ver-strickt sozusagen, er in mir oder besser ich in ihm, wie immer man es sehen wollte. Ich glühte noch lange nach. Es hatte Spaß gemacht. Mit zu-nehmender Dauer hatte es immer mehr Spaß gemacht. Wie konnte ich es bloß anstellen, dass ich Gleiches oder Ähnliches noch einmal ...? An wen würden Sie sich wenden, wenn Sie unbe-dingt noch einmal ...? Ich überlegte, wem ich zwischenzeitlich meine Dienste anbieten könnte. Ich konnte mich doch nicht so aufdringlich und direkt prostituieren! Aufgrund der äußeren Um-stände würde ich sicher mindestens ein halbes Jahr warten müssen. Aber ob ich demnächst in Frankfurt oder überhaupt jemals wieder die Ge-legenheit bekommen würde, an einem so gast-freundlichen Messestand lesen zu dürfen, stand wohl in den Sternen.

© Franziska Röchter ... sinnlich hören: Diesen Text gibt´s auch als Podcast unter talktalk.podhost.de Mehr von Franziska Röchter: www.franzis-litfass.de

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Erste Schritte Langsam, fast bedäch-tig schreite ich durch den Wald. Mein Blick sucht den Himmel, der durch die Schat-ten spendenden

Baumkronen kaum sichtbar ist. Nur hin und wieder leuchtet tiefes Blau durch die verzweig-ten Wipfel. Diese Ruhe hier, ich höre nur den Gesang verschiedener Vogelarten. Es fällt mir schwer, die Vogelstimmen zu unterscheiden. Früher konnte ich es, ja, früher ... das ist lange her. Unvermittelt stehe ich an einer Lichtung. Der frühe Dunst des Sommersonnenlichtes flimmert mir vor Augen.

Auf der hoch gewachsenen Wiese steht wilder Mohn, dazwischen Kornblumen, einzelne ver-sprengte Getreidearten. Die Sonne hüllt alles in mildes, verschwommenes Licht. Lange stehe ich versonnen da, betrachte dieses friedliche Bild, als wäre es ein kostbares Gemälde.

Behutsam streife ich meine Sandaletten von den Füßen, löse meine Haarspange, bevor ich mich mit einem tiefen Seufzer einfach in die herrliche Wiese fallen lasse. Dieses intensive Empfinden zu spüren, mit all meinen Sinnen, ist das größte Geschenk für mich.

Durch die langen Jahre meiner Haft empfand ich mehr und mehr eine Verrohung meiner Gefühlswelt, meiner Seele. Fünfzehn Jahre ... da hat man den Duft eines feuchten Waldbodens vergessen ... auch das Gefühl der warmen Son-ne auf der Haut ... den wundervollen Moment, da die Sonne durch die Baumkronen bricht, um lange Silberstreifen bis zur Erde zu ziehen.

Durch ein Kitzeln auf der Nase werde ich wach. Ich muss eine Weile vor Erschöpfung geschlafen haben. Der Himmel hat sich inzwi-schen verdunkelt. Aus einer schwarzen Wolke fallen dicke Tropfen. Gemächlich stehe ich auf, recke und strecke mich. Ich stehe auf der Wie-se, breite die Arme aus und schreie aus Leibes-kräften, als ginge es um mein Leben. Alles schreie ich heraus, die ganze Not meiner wun-den Seele.

Meine Haare hängen jetzt triefnass herunter, der Regen rinnt mir über das Gesicht. Meine Kleidung klebt völlig durchnässt an meinem Körper. Ich drehe mich im Kreise ... schneller, immer schneller, bis ich total entkräftet zu-sammensacke. Von Weinkrämpfen geschüttelt, verharre ich eine endlos scheinende Zeit.

Beschwingt erhebe ich mich, fühle mich befreit, so, als hätte ich eben fünfzehn lange, düstere Jahre abgeschüttelt. Barfuss laufe ich über den mit Moos bewachsenen Waldboden. Jeder Schritt auf diesem kühlen, feuchten Boden gibt mir das Gefühl großer Freiheit. Vor Glück möchte ich die ganze Welt umarmen. Jawohl, ich habe meine Strafe verbüßt! Fünfzehn Jahre gelitten, jetzt bin ich frei!

Langsam perlen die Regentropfen über die hellgrünen Blätter der Farne, sie hängen wie Diamanten an den gezackten Rändern. Tränen benetzen meine Wangen, ich lasse ihnen freien Lauf.

Die unbestimmbaren Schuldgefühle, sie könn-ten mich eines Tages vernichten, geht es mir durch den Kopf.

Ein leichter Schauer läuft mir über den Rücken, lässt mich erzittern. Ich empfinde meine nassen Kleider wie eine zweite Haut. Als Judith mich damals das erste Mal berührte, habe ich das gleiche Gefühl verspürt, es war ein Schauer der Wonne. Wie konnte sie es nur darauf anlegen, mich so sehr an sich zu binden. Bevor ich Ju-dith traf, hatte ich niemals etwas für Frauen empfunden. Diese Seite an mir hat mich in tiefste Verzweiflung gestürzt. Durch unseren teuflischen Plan musste Enno sterben. Es ging doch jahrelang gut mit unserer Dreierbezie-hung ... sinniere ich. Warum kam nur diese entsetzliche Eifersucht ins Spiel?

Das Wasser quillt durch meine Fußzehen ... herrlich, dieses Gefühl der Freiheit. Direkt vor mir steht ein

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mannshoher Farn, in den ich mich jetzt fallen lasse. Trauer und Wut kommen in mir hoch, wenn ich an Judith denke. Warum musste sie sich davonstehlen, sich mit Tabletten aus der Krankenstation das Leben nehmen? Konnte sie die Gefangenschaft nicht mehr verkraften? An mich hat sie dabei nicht einen Moment gedacht! Unsere Liebe ist ganz langsam, mit jedem wei-teren Monat in Haft, gestorben. Schleichend wurde aus Liebe tiefer Hass, das hat sie wohl nicht mehr ertragen.

Der Regen hat aufgehört. Die ersten Sonnen-strahlen suchen ihren Weg durch die dichten Baumkronen. Große Regentropfen fallen von den Blättern direkt auf mein Gesicht, aber ich beachte es gar nicht. Eingehüllt in große Farnblätter, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, denke ich noch einmal über das Geschehene nach.

Es ist nicht mehr rückgängig zu machen, das habe ich mir immer und immer wieder in mei-ner Zelle vor Augen geführt. Dieser furchtbare Zwang, in den wir uns hineingesteigert hatten. Wir wollten füreinander frei sein. Enno stand uns im Wege. Unser Entschluss stand fest.

Meinen Mann, die Bronzestatue, alles sehe ich wieder vor mir. Tausendmal habe ich es schon bereut. Judith hat niemals ein Wort des Bedau-erns über die Lippen gebracht, hat mich einfach verlassen. Ihre Mitschuld an Ennos Tod hat sie durch ihren Selbstmord gesühnt. So einfach war das. „Wie ich dich hasse, wie ich dich has-se, Judith!“

Langsam richte ich mich auf, nehme die Sanda-letten in die Hand, beginne zu laufen. Nach

einer halben Stunde verspüre ich Schmerzen in den Beinen und Füßen. Früher hatte ich diese Probleme nicht, ich war immer topfit.

Vor mir liegt jetzt der weiße, breite Elbstrand, er ist zu dieser Zeit menschenleer. Das Ge-räusch der wiederkehrenden Wellen beruhigt mich. Meine Füße graben sich tief in den feuch-ten Boden. Mit den Zehen versuche ich den Sand zu halten, aber er rinnt immer wieder durch sie hindurch. Es erinnert mich an eine Sanduhr. Genau so schnell vergeht die Zeit, denke ich erfreut. Die Zeit heilt die Wunden, sagt der Volksmund, vielleicht stimmt´s ja.

„Frau Georgi, ich entlasse Sie jetzt in die große Freiheit, hoffentlich wissen Sie damit etwas anzufangen. Machen Sie noch etwas aus Ihrem Leben. Ich hoffe, wir werden uns niemals wie-dersehen!“

Plötzlich kommt ein Glücksgefühl in mir auf, während ich an die letzten Worte des Direk-tors der Haftanstalt denke.

Das erste Mal habe ich Schritte in die neue Freiheit gewagt ...

Marlis David wurde 1940 in Hamburg geboren. Nach einer Kaufmännischen Ausbildung war sie zunächst bei einem großen Hamburger Zei-tungsverlag tätig, später hat sie jahrelang bei einer namhaften Bank gearbeitet. Inzwischen im Ruhestand, widmet sie sich dem Verfassen von Kurzgeschichten. Zusammen mit ihrem Mann und zwei Katzen lebt sie am nördlichen Stadtrand Hamburgs.

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DER VERLAACH

Ich hab jetzt einen Verlaach für mein Buch. -Ein Verlaach für dein Buch? Ja. Wunderbar, nicht? -Ist das ein Vorteil? (verwundert) Natürlich, der Verlaach verleecht. -Dein Buch? Ja. -Und dafür gibts Geld? Aber ja doch. -Das könnte ich doch auch. Was? -verleechen. Aber du hast doch gar keinen Namen. -Natürlich habe ich einen Namen. Du weiß doch wie ich heiße. Ja aber keinen bekannten Verleechernamen. -Ach, nur wenn ich einen bekannten Namen habe ist mein verleechen mehr Wert als so? Genau, weil dann mehr darauf achten und das Buch lesen wollen. -Und dann stehst du ganz schön deppert da, wenn einer kommt und du mußt sagen: Sorry, Buch ist verleecht, aber von 'nem berühmten Namen. Wieso deppert? Dann bin ich stolz! -Magst du nicht, dass dein Buch auch gelesen wird? Aber ja doch. - (Murmelt vor sich hin) Merkwürdig, des Autorengetue (lacht) Ich glaube, du weißt nicht, was ein Verlaach macht. -Natürlich weiß ich das. Woher denn? -Na von dir. Und was macht der? -Der Verlaach verleecht. Und was heißt das? -(grübelt) Na? -net verschmeißen? Nein, nicht verschm...wegtun. Sondern Korrigieren, Lektorieren, Umschlaggestaltung, Absatz- und Umbruchkontrolle, Druck, Vertrieb, Abrechnung und noch viel mehr.

-und des heißt verleechen? (stolz) Ja. -Mein Frau werde ich das nächste mal was erzählen, wenn sie mir vorwirft, ich hätte wieder mal was verleecht. Die wird sich umschaun, was das für eine Sauärbäit ist. Und der Verlaach, der kümmert sich dann. Veranstaltet Werbung und Lesungen. Bringt die Bücher zur Buchmesse. Je bekannter der Namen, desto besser für den Autor. - Geil. Und wie heißt jetzt dein Verlaach? Der Wunderwaldverlaach -Was? Ja. -Erzähl nix. Doch. -Ja sowas. Klasse was -Super Spitze -Wie heißt der nochmal? Wunderwaldverlaach -Der aus der Zeitung? Ja -Der aus dem Fernsehen? Natürlich -Der von der Buchmesse? Richtig -Der mit den vielen Bestsellern? Künftige, genau. -Der Wunderwaldverlaach Jou -Kenn ich net. (brummig) Dir wär ja auch die Bildzeitung zu schwer. -Warum? Wegen der großen Buchstaben. -Ach so. ES FOLGT SCHWEIGEN.

Michael Milde Autor von „Das Post Scriptum Gottes“ Weitere Dialoge und Literatexperimente auf blog.fragmente-literatur.de © 2009 Alle Rechte vorbehalten

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Fischfütterig Mein Freund Frank ist begeisterter Wasser-sportler – Segeln, Surfen, Wasserski, alles seine Sache. Ich bin wassermäßig nicht ganz so begeistert, aber auch nicht wirklich abge-neigt. Meine Sache ist mehr das am-Wasser-sein, am besten bei Sonne und Wind und einem netten Buch. Auf dem Wasser ist mir normalerweise eher mulmig, wenn nicht so-gar fischfütterig. Eines schönen Vorsommerabends erzählt Frank begeistert, dass ein Kollege von ihm im Tauchverein ist und ebendieser Verein bietet nun ein Probetauchtraining an, in der Halle. Ich bin nun dem Erlernen neuen Sportarten grundsätzlich positiv gegenüber eingestellt und sage mir, als mich in der noch-frisch-verliebt-sein-und-viel-guten-Eindruck-machen-Phase-befindend, optimistisch „na ja, UNTER Wasser wird man bestimmt nicht seekrank“ und stimme mehr oder weniger enthusiastisch zu. Das Probetauchen im Schwimmbad bringt Spaß. Witzig, so schwerelos rumzublubbern! Frank ist sowieso begeistert und ich find’s auch nett und, wups, ist der Kursvertrag un-terschrieben. Theoriestunden gibt’s auch, alles sehr professionell aufgezogen. Und so lernen wir beide tauchen – praktisch immer noch im Schwimmbad, wohlbemerkt. Theoretisch in den Räumlichkeiten einer Tauchschule. Alles gut soweit. Sogar der (theoretische) Abschlusstest wird ohne Probleme überstanden. Dann geht’s los, an die dänische Ostseeküste, zur praktischen Prüfung im Freiwasser. Schon der ca. 200m-Weg vom Campingplatz zum Taucheinstieg, in voller Montur, Sauer-stoffflaschen-schleppend, in enge Neopre-nanzüge gequetscht, lässt mich darüber sin-nieren, ob es nicht unkompliziertere Sportar-ten mit weniger und vor allem leichterer Ausrüstung gibt. Aber jetzt wird durchgezo-gen. Frank ist sowieso vollends begeistert, hat ja schließlich mit Wasser zu tun. Ab ins selbige. Brrrr, kalt, Ostseewasser halt. Auch die Sicht unter Wasser ist eher

schlammig-trüb-öde, was wohl auch mit der Ostsee zu tun hat. Unterwasserströmung ist stark, sind ja nicht mehr im Hallenbad. Erster Kurz-Tauchgang läuft soweit okay. Am nächsten Morgen dann fängt die prakti-sche Prüfung an. Die Schwerelosigkeit unter Wasser entschädigt etwas für die kiloschwe-re Monturschlepperei an Land. Wie am Vor-abend: Wasser kalt und trüb, Sicht schlecht. Instruktionen vom Tauchlehrer, Einteilung in 2er-Teams. Frank und ich natürlich zusam-men, mit Tauchlehrer. Runter geht’s, sämtli-che erforderliche Dreh- und Wendübungen samt Orientierung und Zeichensprache wer-den erfüllt. Strömung ist stark, Tauchen im Freiwasser ist doch sehr anstrengend, vor allem für mich. Mir wird schlecht, in ca. 4m Tiefe, alles kommt mir spontan hoch, ich reiße mir das Mundstück aus dem Mund, kotze Frank und ein bisschen den Tauchleh-rer an, stecke mir das Munstück wieder rein und atme weiter. Mir ist zwar immer noch schlecht, aber besser. Frank und Tauchlehrer gucken schockiert, glücklicherweise ist unter-Wasser-angekotzt-werden nicht ganz so eklig wegen sofortiger Verwässerung und Weg-spülung, aber trotzdem fies genug. Ich steige kontrolliert auf und dann auch aus dem Was-ser. Es reicht mir für heute. Männer machen weiter, Frank besteht auch die Prüfung. Ich darf am nächsten Tag noch den letzten Teil alleine nachmachen und bin auch sehr stolz auf mich, dass ich mich noch mal ins Wasser traue und noch stolzer, als ich die Prüfung bestehe. Der Tauchlehrer war sehr beeindruckt von mir und meinte, es wäre das erste Mal gewe-sen, dass er jemanden so professionell unter Wasser hätte kotzen sehen. Annette Andresen wohnt in Norddeutschland und zeichnet sich durch anspruchsvolle Wortfindungen in unkonventionellen Situationen aus. Es bleibt zu hoffen, dass sie uns weiterhin mit ihrem schier unendlichen Geschichtenfundus beglückt.

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Erdbeeren & Griesbrei Neil

„Was bildest du dir ein?!”, schrie ich ihn an. „Ich, ich dachte ...”, stammelte Cam mit Tränen in den Augen. „Was dachtest du? Dass ich dich liebe?!”, schnaubte ich verächtlich. Alles um mich herum fing an sich zu drehen. Was sollte das? Wieso hatte er das getan? Wieso machte er alles nur noch komplizierter? Wut staute sich in mir an. Wut über Cam und mich. „Neil, bitte, ich…” „Lass mich in Ruhe!” „Aber ich dachte, du würdest mich ...” „Was?”, funkte ich argwöhnisch dazwischen. „Ich würde dich lieben? Dich lieben? Pah, da hast du dich aber mächtig getäuscht, mein Lieber. ICH BIN KEINE VERDAMMTE SCHWUCHTEL!” Mit diesen Worten rannte ich aus dem Haus. Ich hörte nur noch, wie Cam weinend in sich zusammenfiel, dann waren nur noch Autos und das Rauschen der Ostsee zu hören. Ich lief und lief, unwissend wie lange, unwissend warum und wohin. Ich nahm nichts um mich herum wahr. Keuchend blieb ich stehen. Die Hände auf meine Knie gestützt, schwer atmend, rang ich nach Luft. Oh Cam, was hast du nur getan? Warum? Bevor ich weiter nachdenken konnte, riss mich lautes Hupen aus meinen Gedanken. Stimmen drangen an mein Ohr. „Hey Junge, weg da!” „Mann, bist du lebensmüde??” „Trottel!” Erst jetzt bemerkte ich, wo ich war: Mitten auf der Straße. Langsam, verfolgt von wildem Hupen, bewegte ich mich an den Rand der Fahrbahn und ließ mich auf der Kante des Bürgersteigs nieder. Den Kopf in die Hände gestützt, dachte ich noch einmal über das Geschehene nach.

Doch je mehr ich mir die letzten Minuten ins Gedächtnis rief, umso stechender wurde der Schmerz in meinem Herzen, konstant dazu wuchs aber die Wut in meinem Kopf. Was sollte das? Wieso? Was dachte er sich dabei? Dachte er wirklich ich wäre … schwul …? Wie kam er darauf? Wie? Hatte ich ihm Hoffnung gemacht? Hatte ich mit ihm gespielt? Oh nein, ich dachte, ich hätte meine Gefühle und Handlungen im Griff … Es war nicht so, dass ich … dass ich … dass er mich kalt ließ. Ganz im Gegenteil, ich genoss jede Sekunde mit ihm. Erfreute mich an seinem Lachen, an seiner Tollpatschigkeit und an seinem Wesen. Ich wollte immer alles Böse und Schlechte von ihm fernhalten, oh ja, ich wäre barfuß um die Erde gelaufen, um seine Tränen zu trocknen und ihn lächeln zu sehen. Aber war das Liebe? Kann das sein? Aber ich bin doch nicht homosexuell … Oder vielleicht doch? Nein, ausgeschlossen, warum auch? Ich, der Womanizer schlechthin … Neil, kein Grund zur Beunruhigung. „DU BIST NICHT SCHWUL!” Diese Worte klangen gut, als ich sie aussprach, aber warum kaufte ich mir das selber nicht ab? Eine Frauenstimme riss mich aus meiner Fragerei: „Seht euch den Penner an, einfach erbärmlich!” Ich drehte mich um, sie konnte doch nicht etwa mich meinen? Doch als ich sah, wie eine Herde Weiber mich anstarrte und eine mit gestrecktem Zeigefinger auf mich zeigte, begriff ich. Entsetzt starrte ich an mir hinunter. War ich schon so weit gesunken? Diese Unsicherheit hielt nicht lange an. Zorn stieg in mir auf, unaufhaltsamer roter Zorn. Ich raffte mich auf und ging auf die Ansammlung der gickernden

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Mädchen zu. Mein Blick traf das Großmaul. Stechend und eisig starrte ich ihr direkt in die Augen. „Wie war das?”, fragte ich langsam. „Was soll ich sein?” „Ich meinte doch nur ...” Sie blieb mitten im Satz hängen. Ich schätzte, sie war zu blöd ihre Worte vernünftig zu formulieren. „Was meinten Sie nur, my Lady?”, fragte ich spöttisch, aber immer noch bedrohlich. „Nichts, ich… ”, stammelte sie verlegen. „Gibt es Probleme?”, erkundigte sch eine der anderen Puten. Alle starrten mich an, als wäre ich der Abschaum unserer Zeit. Doch das schüchterte mich nicht ein, im Gegenteil, es stärkte mein Verlangen nach Streit. „Ja genau, was hast du für ein Problem?” Anscheinend war das Großmaul doch in der Lage, ihre Wörter zu halbwegs vernünftigen Sätzen zu formen. „Ich habe viele Probleme und eins davon steht vor mir”, versicherte ich ihr. „Wie jetzt?” „Ach vergiss es, mit so jemanden wie dir kann man sich geistig nicht messen”, beteuerte ich. Diese Worte riefen ein arrogantes Lächeln auf ihre Lippen. „Warum denn das?” „Weil das einfach unfair wäre”, ich grinste. „Du bist mir so weit unterlegen, da würde ich mir ja noch jahrelang Vorwürfe machen.” Mit diesen Worten ließ ich die Tussen hinter mir. So was eingebildetes und zugleich dämliches … Leider nicht selten heutzutage … Penner, hm … im Grunde hatte sie recht. Penner betteln meistens und ich, ich bettelte auch und zwar um Rat, um die Wahrheit! Aber sah man mir das etwa schon an? Kopfschüttelnd ging ich ein Stück durch die Stadt. In der Hoffnung, Ablenkung zu finden. Doch die bekam ich natürlich nicht. Überall standen Pärchen, küssend, redend

oder fummelnd. Aber warum interessierte ich mich plötzlich dafür? Brauchte ich mal wieder eine Freundin? Brauchte ich es mal wieder? Nein, so notgeil kann man nun wirklich nicht sein. Es musste ein anderer Grund dahinter stecken. Ein paar Minuten später bemerkte ich, dass die Pärchen das kleinere Übel waren: Werbung. Überall Werbung.

Oute dich! Irgendetwas fehlt … Gib dir einen Ruck!

Steh zu dir und deiner Linie! Du darfst!

Worauf wartest du? Ich liebe es!

Ohne Ö fehlt dir was! Fass das Glück!

Aufgewühlt lief ich durch die Straßen. Nein! Aufhören! Ich hielt mir die Ohren zu. Bitte! Nein! Stopp! Wieso tun die das? Wieder hastete ich planlos über den Asphalt. Wie Schatten fuhren die Autos an mir vorbei. Ihr kriegt mich nicht dazu! Meine Gedanken schlugen förmlich Purzelbäume. Es fing an zu regnen, das fehlte ja noch. Wie in einem billigen Schnulzenfilm. Ich raste bis zum Anschlag, wurde langsamer, ließ mich plötzlich fallen und rechnete damit, auf den harten Steinboden der Stadt zu knallen, spürte dann aber, dass mich meine Füße instinktiv zu dem verlassenen Strand getragen hatten. So lag ich eine Weile, an nichts denkend und nur dem Rauschen des Meeres lauschend. Wie vertraut mir das doch alles erschien, dieses Rauschen, der kalte Wind… Herrlich. Für einen kurzen Moment spürte ich Ruhe. Die Wut, der Schmerz, alles weg. Nur Ruhe und das Rauschen ... Ein Frösteln durchfuhr meinen Körper und weckte mich. Ich fuhr hoch. Meine Klamotten klebten schon an mir. Zitternd erhob ich mich. Langsam setzte ich mich in Bewegung. Noch nie hatte ich mich

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so eklig gefühlt, überall klebte und kratzte es. Sandkörner überall. Noch nie habe ich mich so erbärmlich gefühlt. Ein Flyer riss mich aus meinem Selbstmitleid. Mit zitternden Händen hob ich ihn auf. Nur schwer konnte ich die Buchstaben entziffern: Die Angst vorm Fliegen Die größte Feindin der Liebe, Der Erkenntnis und der Weisheit Ist die Angst vor dem Neuen, Dem Unbekannten, Unberechenbaren - Also letztendlich vor dem Leben. Doch welchen Sinn hat es, Angst vor dem zu haben, Was uns geboren hat Und was uns sterben lässt? Kein Vogel hat Angst vorm Fliegen, Deine Seele will fliegen, muss fliegen, Hindere sie nicht daran Mit deiner Angst vorm Absturz, Sonst verkümmern ihre Flügel. Und du wirst traurig, Ohne zu wissen warum. (Hans Kruppa)

Cam

Meinen Kopf in ein großes, weiches Kissen gedrückt, lag ich schluchzend in einem der vielen Zimmer. Alles drehte sich um mich herum. Wieso hatte er mich bloß weggestoßen? Hatte er etwa Angst davor? Nein, eher war ich derjenige, der sich das einbildete. Das war egoistisch von mir! So etwas Absurdes auch nur im Entferntesten zu glauben! Schließlich war er nicht schwul, wie ich! Das wäre abnormal… Plötzlich seine Sexualität zu ändern, nur wegen mir. War ich es überhaupt wert, geliebt zu werden? Ich hätte es am besten wissen sollen, dass er mich abstoßend finden würde… Ich bin doch anders als die anderen, viel zu sehr! Und dann sein Blick:

Verachtend. Als ob ich das letzte Stück Dreck gewesen wäre! Auch wollte ich nie jemandem zur Last fallen. Meine Mutter hatte einmal gesagt, dass es ab und zu gut sei, auch mal an sich zu denken und nicht anderen alles recht machen zu wollen. Was spielte das jetzt schon für eine Rolle! Er hatte mich ausgenutzt, verletzt! Mit geballten Fäusten schlug ich wütend auf das Kissen ein. Bezaubernde Klänge drangen allmählich zu mir durch. Es musste von unten kommen. Nur er konnte es sein, er war also wieder da… . Weshalb? Ich erhob mich und ging mit hastigen Schritten die harten, kalten Treppenstufen hinunter. Die Melodie lockte verführerisch, tragisch und bewegend. In der Ferne hörte ich das Rauschen des Meeres. Träumerisch, beinahe schlafwandelnd ging ich auf den Flügel zu, an dem Neil spielte. Er deutete auf den leeren Platz neben sich. Schüchtern, und voller Angst setzte ich mich. Die Aufregung hinderte mich daran ihm direkt in die Augen zu sehen. Meine Hände zitterten, das Herz schlug so laut, dass ich das Pochen noch in meinem Kopf vernehmen konnte. Ruckartig wurde mein rechtes Handgelenk in die Höhe gerissen. Aufgeschreckt schaute ich ihn an. Ich konnte gar nicht schnell genug reagieren ... Steffi & Juliane gehen noch zur Schule und schreiben in ihrer Freizeit an „Erdbeeren & Griesbrei“, aus dem sie hier eine Leseprobe veröffentlichen. Ernstgemeinte Kritik bitte an [email protected], Betreff: Erdbeeren & Griesbrei

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Impressum der Onlineausgabe

Magic Wallpaper, die Autorenzeitschrift des Wunderwaldverlages, erscheint unregelmäßig bis zu 6 x im Jahr als Beilage zum Sägeblatt oder als selbst-ständige Publikation. Die Texte geben nicht unbedingt die Meinung der Re-daktion wieder. Alle Rechte liegen bei den Autoren. Abdruck nur nach Genehmigung. Sämtliche Grafiken und Fotografien stammen aus dem Projekt „Das erste Mal“ von Bettina Unghulescu. Unverlangt eingeschickte Beiträge werden nicht zu-rückgeschickt, es sei denn, es liegt ein ausreichend frankierter Rückumschlag bei. Einsendungen, Vorschläge, Wünsche & Kritik bitte an: Michaela Stadelmann Der Wunderwaldverlag Kulmbacher Str. 14 91056 Erlangen [email protected] www.wunderwaldverlag.de Die Mediadaten für die Printversion finden Sie unter www.wunderwaldverlag.de Die Printversion dieser Ausgabe erscheint zum Mainzer Literaturfestival, 22.-24.05.2009.