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ZfSl 56 (2011) 1, 18-36 Anja Burghardt Manifestation der Poetik: Osip Mandel’štams „Razgovor o Dante“ als li- terarisches Kunstwerk und poetologischer Essay Summary This paper investigates Mandel’shtam’s „Разговор о Данте“ both as a piece of literature and as a poetologi- cal work. It is argued that the structure of the text allows for an insight in some of the rather abstract notions, first and foremost the notion of “poetical matter” (“poeticheskaia materiia”). Mandel’shtam’s idiosyncratic discussion of Dante’s “Divine comedy”, it is argued, highlights the way in which reality leaves its traits or rather is integrated in a literary text in such a way that it can be brought to life again, at least by an active reader. Apart from the interplay between reality and poetry, the text’s imagery opens a deeper understanding of Mandel’shtam’s poetics in his later poems, i. e. the poems of the 1930s. keywords: 20 th century, Russian literature, O. Mandelshtam, Dante Представьте себе монумент из гранита или мрамора, который в своей символической тенденции направлен не на изображение коня или всадника, но на раскрытие внутренней структуры самого же мрамора или гранита. Другими словами, вообразите памятник из гранита, воздвигнутый в честь гранита и якобы для раскрытия его идеи. (Осип Мандельштам) In sculpture there must be a complete realisation of the structure and quality of the stone or wood which is being carved. But I do not think that this alone supplies the life and vitality of sculpture. I believe that the understanding of the material and the meaning of the form being carved must be in perfect equilibrium. (Barbara Hepworth) 1. Einleitung Osip Mandel’štams zu Beginn der 1930er-Jahre entstandener Essay „Razgovor o Dan- te“(im Folgenden „Dante“) ist Mandel’štams wichtigster poetologischer Text aus der zweiten Werkphase. 1 In manchem geht er über frühere poetologische Texte, wie zum Bei- spiel „O sobesednike“ (1913), „Utro akmeizma“ (1919), „Slovo i kul’tura“ (1921) oder „O prirode slova“ (1922) hinaus; einzigartig unter den poetologischen Essays ist seine literari- sche Gestalt. Er stellt zugleich eine eigenwillige Auseinandersetzung mit Dantes „Göttli- cher Komödie“ dar: 2 Mandel’štam greift einzelne Elemente aus Dantes Werk heraus und 1 Ich folge hier der üblichen Einteilung von Mandel’štams Gedichten in zwei Schaffensphasen, die Ge- dichte von 1908-1925 als erste, die zweite von 1930-37, vgl. beispielsweise J. HARRIS 1985, 217. Charles Isenberg (1986) argumentiert dafür, dass Mandel’štam seine literarische Prosa dazu diente, in einer Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft und der Reflexion über die Möglichkeiten des Schreibens, an deren Ende eine Auffassung von Prosa als „diskontinuierliches Zeichen einer Kontinui- tät“ (41) und damit einer nicht-mimetischen Kunstauffassung steht, wieder eine Stimme zu finden. – Im Folgenden beziehen sich alle Seitenangaben auf die zweite überarbeitete und erweiterte Auflage der dreibändigen Ausgabe MANDELŠTAM, O. Ė., Sobranie sočinenij, hrsg. von G. P. STRUVE und B. A. FILIPPOV, New York 1967-1971. Frühere Fassungen des Textes sind nicht erhalten; eine Reihe apho- rismenhafter Textstücke sind in der Werkausgabe unter dem Titel „»Razgovor o Dante« iz pervonačal’noj redakcii, iz černovych zapisej i zametok“ (1932), veröffentlicht (MANDELŠTAM, Sobranie sočinenij , III, 179-190). 2 Marina Glazova (1984) zeigt anhand verschiedener Themen und Motive die Bedeutung Dantes für

Manifestation der Poetik: Osip Mandel’štams „Razgovor o Dante“ als literarisches Kunstwerk und poetologischer Essay

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ZfSl 56 (2011) 1, 18-36

Anja Burghardt Manifestation der Poetik: Osip Mandel’štams „Razgovor o Dante“ als li-terarisches Kunstwerk und poetologischer Essay

Summary

This paper investigates Mandel’shtam’s „Разговор о Данте“ both as a piece of literature and as a poetologi-cal work. It is argued that the structure of the text allows for an insight in some of the rather abstract notions, first and foremost the notion of “poetical matter” (“poeticheskaia materiia”). Mandel’shtam’s idiosyncratic discussion of Dante’s “Divine comedy”, it is argued, highlights the way in which reality leaves its traits or rather is integrated in a literary text in such a way that it can be brought to life again, at least by an active reader. Apart from the interplay between reality and poetry, the text’s imagery opens a deeper understanding of Mandel’shtam’s poetics in his later poems, i. e. the poems of the 1930s. keywords: 20th century, Russian literature, O. Mandelshtam, Dante

Представьте себе монумент из гранита или мрамора, который в своей символической тенденции направлен не на изображение коня или всадника, но на раскрытие внутренней структуры самого же мрамора или гранита. Другими словами, вообразите памятник из гранита, воздвигнутый в честь гранита и якобы для раскрытия его идеи. (Осип Мандельштам) In sculpture there must be a complete realisation of the structure and quality of the stone or wood which is being carved. But I do not think that this alone supplies the life and vitality of sculpture. I believe that the understanding of the material and the meaning of the form being carved must be in perfect equilibrium. (Barbara Hepworth)

1. Einleitung

Osip Mandel’štams zu Beginn der 1930er-Jahre entstandener Essay „Razgovor o Dan-te“(im Folgenden „Dante“) ist Mandel’štams wichtigster poetologischer Text aus der zweiten Werkphase.1 In manchem geht er über frühere poetologische Texte, wie zum Bei-spiel „O sobesednike“ (1913), „Utro akmeizma“ (1919), „Slovo i kul’tura“ (1921) oder „O prirode slova“ (1922) hinaus; einzigartig unter den poetologischen Essays ist seine literari-sche Gestalt. Er stellt zugleich eine eigenwillige Auseinandersetzung mit Dantes „Göttli-cher Komödie“ dar:2

Mandel’štam greift einzelne Elemente aus Dantes Werk heraus und

                  1 Ich folge hier der üblichen Einteilung von Mandel’štams Gedichten in zwei Schaffensphasen, die Ge-

dichte von 1908-1925 als erste, die zweite von 1930-37, vgl. beispielsweise J. HARRIS 1985, 217. Charles Isenberg (1986) argumentiert dafür, dass Mandel’štam seine literarische Prosa dazu diente, in einer Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft und der Reflexion über die Möglichkeiten des Schreibens, an deren Ende eine Auffassung von Prosa als „diskontinuierliches Zeichen einer Kontinui-tät“ (41) und damit einer nicht-mimetischen Kunstauffassung steht, wieder eine Stimme zu finden. – Im Folgenden beziehen sich alle Seitenangaben auf die zweite überarbeitete und erweiterte Auflage der dreibändigen Ausgabe MANDEL’ŠTAM, O. Ė., Sobranie sočinenij, hrsg. von G. P. STRUVE und B. A. FILIPPOV, New York 1967-1971. Frühere Fassungen des Textes sind nicht erhalten; eine Reihe apho-rismenhafter Textstücke sind in der Werkausgabe unter dem Titel „»Razgovor o Dante« – iz pervonačal’noj redakcii, iz černovych zapisej i zametok“ (1932), veröffentlicht (MANDEL’ŠTAM, Sobranie sočinenij , III, 179-190).

2 Marina Glazova (1984) zeigt anhand verschiedener Themen und Motive die Bedeutung Dantes für

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setzt – in der Chronologie des Textes springend – teilweise weit auseinanderstehende Mo-tive von Dantes Opus nebeneinander.3 Mit dem Lob Dantes als dem „größten Meister der poetischen Materie“4 begründet er die Wahl der „Göttlichen Komödie“ für seine Untersu-chung über poetische Sprache («поэтическая речь»), ein Thema, das er gleich zu Beginn des Essays einführt (363f.).5 Angedeutet ist mit diesem Begriff zugleich, dass er nicht nur ein bestimmtes literarisches Werk diskutiert, sondern auch über Poesie reflektiert und v. a. seine eigene Poetik darlegt. Eine Lektüre von Mandel’štams „Dante“ sowohl als Manifestation seiner eigenen Poetik als auch als literarisches Kunstwerk, also eine Untersuchung der literarischen Qualität und der Verfahren, die Mandel’štam hier verwendet, erlaubt es, einige für seine Poetik zentrale Begriffe zu erhellen. Dabei sollen vor allem zwei Grundzüge von Mandel’štams Poetik herausgearbeitet werden, der ausgeprägte Wirklichkeitsbezug seiner Texte und einige Be-sonderheiten seiner Bildlichkeit.6 Seine Poetik, so soll gezeigt werden, ist geprägt von ei-nem engen Wechselspiel von Wirklichkeit (oder Natur) bzw. deren Wahrnehmung und kreativer Gestaltung. Der Ursprung der für Mandel’štams Poetik zentralen Dynamik lässt sich mit dieser Fokussierung klarer fassen. Auf einige Anmerkungen zur Textgestalt folgt mit der Diskussion des Begriffes der poeti-schen Materie («поэтическая материя») eine Hinwendung zu einem der zentralen Begrif-fe des Textes (zweiter und dritter Abschnitt der vorliegenden Untersuchung). Die an-schließenden Reflexionen zu Intertextualität und zu Mandel’štams Geschichtsauffassung, verbunden mit einer Einbettung des Essays in Mandel’štams Werk, erhellen die Bedeu-tung des Essays für sein Schaffen (vierter und fünfter Abschnitt). Der Essay ist in elf Kapitel von unterschiedlicher Länge unterteilt. Sein Hauptcharakteris-tikum ist das Nebeneinander unterschiedlichster Themen, die kapitelübergreifend immer wieder aufgenommen werden. Manchmal lässt sich ein allgemeineres Thema für einige Absätze benennen, beispielsweise „Rhythmus“ zu Beginn des zweiten Kapitels. Aussagen

                  Mandel’štams Positionierung in seiner Zeit und für seine Dichtung: „We have seen that Dantean images have become the natural fabric of Mandel’štam’s universe.“ (328)

3 Vgl. das vierte Kapitel, in dem er übergangslos vom „Purgatorio“ ins „Inferno“ wechselt (381); auch im zweiten Kapitel folgen Zitate zunächst aus dem XV. und IV. Gesang (367f.), dann dem X. Gesang des „Inferno“ (369f.) aufeinander. Im sechsten Kapitel (404) schreibt Mandel’štam selbst, er habe sich für eine möglichst genaue Charakterisierung von Dantes Poesie ein „Sammelzitat [ausgedacht], das verschiedene Stellen der »Göttlichen Komödie« vereinigt“.

4 «Дант выбран темой настоящего разговора […] потому, что он самый большой и неоспоримый хозяин обратимой и обращающейся поэтической материи, […] самый сильный химический дирижер существующей толькo в наплывах и волнах, только в подъемах и лавированьях поэти-ческой композиции.» (396). Auf die Motive und ihre Vielfalt in diesem Zitat wird im Folgenden zu-rückgekommen.

5 Der Übergang von der poetischen Sprache zu Dantes „Göttlicher Komödie“ geschieht unauffällig mit-tels eines Zitats (vgl. 364).

6 In der Forschung wird auf den Balanceakt Mandel’štams zwischen einer Nähe zur Wirklichkeit und ei-ner nicht-mimetischen Kunstauffassung hingewiesen; zu einer Diskussion der Position Levins (1978) vgl. unten. Isenberg macht auf Grundlage der autobiographischen Prosa Mandel’štams, die Suche nach etwas, das sowohl Realismus als auch Psychologismus ersetzen könne, als dessen „ästhetisches Haupt-anliegen“ aus: „The evidence of Mandelstam’s [sic] literary prose and criticism suggests that he sought the answer in the creation of a prose in which language itself, informed by ‘Hellenism’, would become the unifying center.” (CH. ISENBERG 1986, 48).

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über Räumlichkeit, Klänge und die italienische Sprache, Mimik und Musik, Chemie, Syn-tax, Handwerk und Seefahrt stehen nebeneinander.7 Geprägt ist der Text davon, dass Mandel’štams ein Motiv in ein oder zwei Absätzen einführt, andere Themen und Motive derart einfließen lässt, dass das ursprüngliche Thema in den Hintergrund tritt, bis er es später wieder aufgreift und mit anderen Motiven verbindet.8 2. Die poetische Sprache: eine Annäherung an das Verhältnis von Dichtung und Wirklich-keit

Das Verhältnis von Dichtung und Realität ist offensichtlich ein zentrales Anliegen dieses Textes, richtet Osip Mandel’štam in seiner Auseinandersetzung mit Dante den Blick doch stets auch auf Dantes Zeit und Erfahrungswelt. Schon diese Gewichtung mag erstaunen angesichts dessen, dass Dantes Höllenfahrt sicher alles andere als der Inbegriff eines der Realität offenkundig verbundenen Textes ist. So beschreibt Mandel’štam beispielsweise im zehnten Kapitel den Autor als „Kopist“ und „Übersetzer“ und lobt Dante dafür, dass er „kein Wort von sich selbst hinzufüge“ (406).9 Freilich darf Dichtung nicht eine bloße Ab-bildung der Realität sein; genauso wenig soll sie aber eine Niederschrift phantastischer Welten darstellen. Mandel’štam fasst diesen Drahtseilakt in der Formulierung, die Dich-tung „zer-spiele“ die Natur («разыгрывая»; 363). Gleich zu Beginn des ersten Kapitels des Essays, wo Mandel’štam den Umgang der Dich-tung mit der Natur beschreibt, findet sich ein lebendiges Bild für das Erfassen von poeti-scher Sprache und Poesie:

Надо перебежать через всю ширину реки, загроможденной подвижными и разноустремленными китайскими джонками, – так создается смысл поэтиче-ской речи. […] Поэтическая речь есть ковровая ткань, имеющая множество текстильных основ, отличающихся друг от друга только в исполнительской окраске, только в партитуре постоянно изменяющегося приказа орудийной сигнализации.

                  7 Im sechsten und im elften Kapitel gibt es jeweils einen abschließenden Absatz, der eine Zusammen-

führung des Vorangegangenen darstellt (394f. und 412f.). 8 Verwandte Verfahren finden sich freilich auch in anderen Texten Mandel’štams. Aage Hansen-Löve

(1998) beispielsweise geht deren auffälligem Strukturreichtum nach, den verschiedenen Aspekten der Stoff-, Tuch- oder Textilmetaphorik. Als Symbol der «текстурo-образной природы феноменального мира» fasst er die Leinwand (266). Auch Isenberg charakterisiert die Bewegung in der Prosa hin zu einer größeren Komplexität der poetischen Bilder in ihrer Wiederkehr, vgl. den Abschnitt „Thematic patterns“ zu „Šum vremeni“ (1986, 73-83), vom „Mosaik-Charakter“ des Textes (92) bis hin zum zugleich fragmentarischeren und dichteren Motivgeflecht in „Ėgipetskaja marka“ (z. B. 139). Anna Bonola (1995, insbesondere Kapitel 9) verweist ebenfalls auf strukturbildenden Verfahren in Man-del’štams Prosa. „Dante“ scheint in dieser Hinsicht insofern der komplexeste der Prosatexte, als er die verschiedenen strukturbildenden Bewegungen (Linienführung im Fall der autobiographischen Prosa, das eher ,punktuelle‘ Motivgeflecht in „Ėgipetskaja marka“) hier zusammenführt.

9 Die Charakterisierung des Schriftstellers Dante nimmt sich so aus: «Секрет его емкости в том, что ни единого словечка он не привносит от себя. […] Дант и фантазия – да ведь это несовместимо! […] Какая у него фантазия? Он пишет под диктовку, он переписчик, он переводчик… Он весь изогнулся в позе пизца, испуганно косящегося на иллюминованный подлинник […].» (406). An-gemerkt sei bereits hier, dass sowohl die Arbeit des mittelalterlichen Schreibers als auch die des Über-setzers kreative Tätigkeiten sind.

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Она – прочнейший ковер, сотканный из влаги, – ковер, в котором струи Ганга, взятые как текстильная тема, не смешиваются с пробами Нила или Евфрата, но пребывают разноцветны – в жгутах, фигурах, орнаментах […]. Орнамент тем и хорош, что сохраняет следы своего происхождения, как разыгранный кусок природы. (364f., Hervorhebung im Original)

Abgesehen von der Nennung konkreter Gegenstände führt Mandel’štam schon hier eine Reihe von Motiven ein, die sein Verständnis von Poesie prägen, wie im Folgenden darge-legt werden soll, z. B. Bewegungen («перебежать», «подвижным», «разноустремлен-ными»), die Unruhe, die in dem Bild der Dschunken eingefangen wird, und v. a. das Or-nament («орнамент»), das in diesem Zitat quasi als Dreh-und Angelpunkt der poetischen Sprache erscheint: Erstens ist es etwas, das in einem größeren Ganzen eigenständig beste-hen bleibt; zweitens bewahrt es die Spuren seiner Herkunft. Diese Spuren sind dabei nicht rein etymologisch zu verstehen, sondern können auch graphisch, lautlich oder bildlich ge-prägt sein. Dem Ornament kommt damit die in dem Bild der chinesischen Dschunken ge-fasste Rolle von in verschiedene Richtungen strebenden, beweglichen Punkten zu, die für die Entstehung von Poesie tragend sind.10 Sehr schnell wechselt Mandel’štams Fokus von der poetischen Sprache zur poetischen Materie, die für den ganzen Essay zentral bleibt, und die nun genauer betrachtet werden soll.

3. Die poetische Materie und ihre Bewegungen

Mandel’štam gibt gegen Ende des Essays eine Negativ-Definition der poetischen Materie:

Поэтичесая материя не имеет голоса. Она не пишет красками и не изъясняется словами. Она не имеет формы точно так же, как лишена содержания, по той простой причине, что она существует лишь в исполнении. Готовая вещь есть не что иное, как каллиграфический продукт, неизбежно остающийся в резуль-тате исполнительского порыва. (412f.)

Wenn die poetische Materie so charakterlos ist, wie ist sie uns dann zugänglich? Die Be-merkung, sie existiere nur «в исполнении», gibt erste Hinweise auf ihre Natur, wobei „Materie“ insofern irreführend sein mag, als es hier keineswegs um ein Material geht. „Materie“ ist vielmehr verbunden mit Aktivität, Prozesshaftigkeit und Bewegung (zum Spannungsfeld von Materie und Material s. u.). So legt auch der Text nahe, der selbst vol-ler Bewegungsbeschreibungen ist: Kreis- und Pendelbewegungen, geradlinige Bewegun-gen und deren Überschneidung; immer wieder ist von Ausbrüchen («порывы») die Rede, vom Fließen und Herausfließen. Anhand des Tanzmotivs soll im Folgenden beispielhaft den beschriebenen Bewegungen nachgegangen und Mandel’štams eigenes Verfahren illu-striert werden. Eingeführt wird der Tanz im fünften Kapitel des „Dante“: «Так вот, в этой интродукции

                  10 Ausgehend von der Etymologie von ‚Ästhetik’, ασθησις, Wahrnehmung, ließe sich annehmen, dass

der Dichter dem „Diktat“ seiner Wahrnehmungen der Wirklichkeit unterworfen ist. Aus einem in den Notizbüchern enthaltenen Briefauszug Mandel’štams 1931/32 wird die Wichtigkeit des Wahrnehmens deutlich (III, 169), ebenso im Kapitel „Francuzy“ seiner „Putešestvie v Armeniju“. Auch die Bemer-kung, wir kennen die Dinge selbst nicht, seien aber für ihre Anordnung empfänglich in „Dante“ (368) deutet daraufhin.

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мы видим легчайший, светящийся гераклитов танец летней мошкары…» (387). Ne-ben Leichtigkeit und Helligkeit treten als Bilder ein Fließen (über die Erwähnung Hera-klits)11

und Pünktchen oder Sprenkel (die sommerlichen Mücken). Dem stellt Man-del’štam im selben Abschnitt den „phosphoreszierenden Tanz der Glühwürmchen“ («фосфорной пляской светлячков»; 388.) zur Seite.12 Das Nebeneinander von Sprenkeln und Fließendem führt Mandel’štam auch im Bild von Gesteinsschichten, die er als elementar für ein Verständnis des Zusammenhangs zwischen Struktur, Form und Inhalt betrachtet, an (374).13 Dieses Bild von Fließendem (Lava-Adern) mit Einsprengseln (Gesteinsstückchen) zieht sich in immer anderen Bildern durch den ganzen Essay: ein impressionistisches ABC, dessen Elemente sich zu sinnreichen For-men wandeln, das Blut wird beschrieben als planetarisch, solar und salzig; in der Be-schreibung einer Miniatur finden sich bunte Sprenkel (380); schließlich das Bild, das aus dem obigen Zitat ersteht: die Dschunken stehen hervor, Punkte im Fluss, die zugleich alle zusammen einen beweglichen Teppich bilden, der außerdem durch die Sprünge von Dschunke zu Dschunke noch einmal in anderer Richtung ,gewebt‘ wird.14 Zum Tanz heißt es weiter: «Плясовое начало сильно выражено в ритмике терцин xxvi песни. Здесь поражает высшая беззаботность ритма. Стопы укладываются в движе-ние вальса…» (389 f.) Zu der fließenden und schwirrenden Bewegung tritt also über den Tanz eine Pendelbewegung; dem folgt – über den Walzer – eine Wellenbewegung («Вальс по преимуществу волновой танец»; 390), schließlich eine Kreisbewegung.15 Die Pendelbewegung findet sich ferner in der „Amplitude des Gesprächs“ (371), es gibt viele ineinander schwingende Foucault’sche Pendel (403), Schwingungen sind explizit genannt unter den Phänomenen, die sich der poetischen Darstellung fügen (404), und Vergils Bitte ist „gewiegt von der Weichheit italienischer Diphtonge“ (405; Hervorhebung A. B.). Der dem Schwingen verwandten Kreisbewegung begegnen wir immer wieder, so in den «семантические циклы» der Danteschen Gesänge (375); auch das Kompassbild

                  11 Mandel’štam führt wenige Absätze zuvor die „Heraklitische Metapher“ als Bezeichnung für das Flie-

ßen und Ineinandergreifen von Metaphern ein. Er verdeutlicht diese Wortgebung anhand eines län-geren Zitats aus dem „Inferno“, in dem es kaum möglich ist festzustellen, was womit verglichen wird, und schließt die Frage an, ob den Lesenden auch schwindlig wurde (386f.). Zugleich betont er die Distinktheit der Einzelelemente (vgl. die Ausführungen zur Bildlichkeit unten).

12 Natürlich gibt die „Göttliche Komödie“ das auch vor („Inferno“ XXVI: 28-29), aber Mandel’štam übernimmt nicht alle Motive aus Dantes Text, muss also als „Komponist“ und „Arrangeur“ (407) des Ausgewählten für die Zusammenstellungen im „Dante“ verantwortlich gemacht werden.

13 Vgl. dazu außerdem die Bemerkung, Dante ahne den Schichtenaufbau der Netzhaut (394). 14 Es seien einige weitere Beispiele genannt: «вкрапленность [кристаллического строения породы

Данта]» (388), «вкрапленность гротеска и жанрoвой картинки» (394), «в песнь вкраплен сло-варик» (400).

15 Vgl. dazu «Позиция экспериментатора […[ напоминает уже упомянутую мной фигуру вальси-рованья, ибо после каждого полуоборота на отставленном носке, пятки танцора хотя и смыка-ются, но смыкаются каждый раз на новой паркетине и качественно различно.» (392). Diese Be-schreibung geht freilich weit über die Kreisbewegung hinaus, veranschaulicht aber gut, wie Mandel’-štam einzelne Elemente seiner Bilder miteinander verknüpft (hier Walzer und Experimentator). Schon hier sei angemerkt, dass für Mandel’štams Geschichtsauffassung die Betonung dessen, dass aufgrund des anderen Ortes die immergleiche Figur der halben Drehung jedesmal qualitativ anders ist, weitrei-chende Folgen hat. Die oft zitierten Pflug- und Fächermetaphern bringen es mit sich, dass ein Element in jeweils andere Kontexte tritt, was also mit dessen Veränderung einhergeht.

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sowie „zurückkehrende Wörter“ lassen einen Kreis assoziieren (369f.). Das Wellenmotiv, eng verbunden mit der Pendelbewegung (390), taucht wiederholt auf, so z. B. in Verbindung mit Licht und Schall (vgl. 390 zur Licht-und Schalltheorie), und diese führen weiter: Licht ist zentral für das „ausführende Verstehen“ («исполняющее понимание»; 364), die einzige Art von Verstehen, die laut Mandel’štam in der Poesie wichtig ist. So spricht er auch wiederholt vom „inneren Ausleuchten“ des Dante’schen Raums, das sich aus der Struktur herleitet (378), und das Sprechen wird im zehnten Ge-sang mit einer Fackel verglichen: nur so finden Vergil und Dante in der „Göttlichen Ko-mödie“ ihren Weg. Das Licht führt also zur Struktur. Ähnlich verhält es sich mit Klängen: Im siebten Abschnitt, der vornehmlich dem 33. Gesang des „Inferno“ gewidmet ist, fließt Mandel’štams Darstellung zufolge die dramatische Struktur aus der „tiefen Klangfarbe“ des Cello («густота виолончельного тембра»; 397, vgl. auch 400) heraus. Deutlich geworden ist damit, wie weit, ausgehend vom Motiv des Tanzes, über die ihm beigelegten Attribute eine Vielzahl anderer Themen eingeführt und eingebunden wird. So entsteht ein dichtes Geflecht. Für Mandel’štam ist genau das Dichtung, prägnant gefasst im bereits angeführten Bild des doppelt gewobenen Teppichs von Dschunken. Dieses deutet auf eine weitere Bewegungsweise der poetischen Materie, die Mandel’štam mit geradlinigen Bewegungen anführt, insbesondere der des Kreuzens. Als Kreuzen beim Segeln bringt er diese Bewegung im fünften Abschnitt ausführlich zur Sprache und ver-bindet Dantes Schreiben hier erneut unmittelbar mit dessen historischer Realität, einer Blütezeit der Seefahrt. Im „Dante“ sind sich kreuzende Bewegungen das Luftverkehrsnetz der Brieftauben (385); die „Strahlenbündel der Wortbedeutungen“ (374) führen einerseits zu einem Bild sich kreuzender Linien, andererseits von Kreisen. Die Beschreibung lädt dazu ein, sich die einander überschneidenden Kreise im Wasser vorzustellen, die entste-hen, wenn man Steinchen ins Wasser wirft. Das Bild der Strahlenbündel führt weiter zu den zahlreichen Fließbewegungen im Essay. Neben den bereits genannten wird das Dirigieren als Anschieben einer ohnehin fließenden Musik beschrieben (395). Lernten wir, Dante zu hören, so heißt es im zweiten Abschnitt, so tauchten wir in einen „Kraftstrom“ («силовой поток») ein (369), vom „Hauptstrom des Dialoges“ (371) ist ebenfalls die Rede; auch weist Mandel’štam auf den Reichtum an Flussvergleichen in Dantes Opus hin.

Wie im Fall von Licht und Klang ist also auch das

Motiv des Fließens eng mit der Struktur des Textes verbunden. Im Folgenden werden all diese für die poetische Materie charakteristischen Überschneidungen in den verschiedenen Bewegungen als Vielfache Verschränkung bezeichnet.

4. Materie und Form

Struktur oder Form – Mandel’štam benutzt beide Wörter fast synonym (376ff.) – und In-halt stellen ein weiteres konstantes Thema des „Dante“ dar:

Таким образом, как это ни странно, форма выжимается из содержания-концеп-ции, которое ее как бы облекает. Такова четкая дантовская мысль. […] Как бы мы жгутом ни закручивали концепцию, мы не выдавим из нее никакой формы, если она сама по себе уже не есть форма. (375)

Die Form ist also gewissermaßen das natürliche Resultat des Inhalts, der selbst immer eine Form in sich birgt. Mandel’štams Position ähnelt hier der der Formalisten, die ebenfalls

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eine strikte Dichotomie von Form und Inhalt ablehnten. Für die Formalisten ist Dichtung allerdings sehr viel weniger eng an die Realität gebunden als für Mandel’štam. So findet sich nach Hansen-Löve (1978) bei den Formalisten die Tendenz, „die Form als aktiv-transformierendes Prinzip [zu] dynamisieren“ und so „den Begriff des ,Inhalts‘ auf das statische, passive Objekt der Bearbeitung durch das Form-Prinzip, d. h. durch jene Anzahl von priemy, deren Summe das Kunstwerk selbst ausmacht, [zu] reduzieren.“ (189). Priemy werden als Prozesse verstanden, bei denen das außerästhetische Material in ästhe-tisches Material transformiert wird. Der Transformationsprozess, so Hansen-Löve, bestehe für die Formalisten einerseits in einer Auswahl, andererseits in einer Umarbeitung des Ma-terials, das sich quasi „in der Welt“ finde (193f.). Mandel’štams Position unterscheidet sich davon in zweierlei Hinsicht: Erstens erweist sich für ihn der Inhalt als das eigentlich aktive Prinzip. Indem immer schon eine Form in ihm enthalten ist, sind beide überhaupt nicht trennbar.16 Es findet für ihn also auch keine „Ästhetisierung“ des Materials im Sinne der Formalisten statt. Zweitens betont Mandel’štam sehr viel mehr die Auswahl und An-ordnung. In einer Übertragung auf das literarische Werk, ist für Mandel’štam dessen Form vom jeweiligen Inhalt geprägt, der wiederum eng mit der poetischen Materie verknüpft ist. Nimmt man Mandel’štam in seiner Textgestaltung ernst und nimmt die Einladung an, den Wiederholungen von Bildern nachzugehen, wie es im vorangegangenen Abschnitt der vor-liegenden Studie getan wurde, und zu verfolgen, wie verschiedenen Gegenständen immer wiederkehrende Attribute beigelegt werden, so veranschaulicht und konkretisiert sich die-se Beziehung zwischen Form, Inhalt und Materie. Denn der Dichter verknüpft dieses Ver-folgen von Attributen mit der poetischen Materie, und zwar beschreibt er mittels Beispie-len aus dem 17. Gesang des „Inferno“ zwei ihrer Grundcharakteristika: ihre „Wandlungs-fähigkeit“ («обращаемость»; 382) und ihre „Umkehrbarkeit“ («обратимость»; ebenda):

Фигуры этой обратимости рисуются примерно так: завитки и щиточки на пестрой татарской коже Гериона – шелковые ковровые ткани с орнаментом, развеянные на средиземноморском прилавке, – морская, торговая, банковско-пиратская перспектива – ростовщичество и возвращение к Флоренции через геральдические мешочки с образчиками небывших в употреблении свежих красок – жажда полета, подсказанная восточным орнаментом, поворачиваю-щим материю песни к арабской сказке с ее техникой летающего ковера – и, наконец, второе возвращение во Флоренцию при помощи незаменимого, именно благодаря своей ненужности, сокола. (383)

Mandel’štam verbindet hier die verschiedenen Epitheta, die den einzelnen Dingen zuge-schrieben werden: die Dinge (Geryon, Teppiche, Händler etc.) ordnen sich gewissermaßen um die Attribute herum (Farben, fliegend usf.). Damit verschiebt sich der Mittelpunkt des Textes weg von den einzelnen Gegenständen. Dies hat zur Folge, dass diejenigen be-schriebenen Dinge und Wesen, welche die genannten Eigenschaften teilen, in unmittelbare Nähe zueinander gebracht werden. Dadurch entsteht ein extrem komplexes Bild, in dem – je nach Zentrum der Perspektive – die übrigen Dinge gegenüber einem anderen in den Hintergrund treten. Je nachdem, welches Moment im Vordergrund steht, werden die Le-                  16 Mandel’štam lässt sich somit eine aristotelische Auffassung von Inhalt und Form zuschreiben: Zur Un-

trennbarkeit von Form und Materie, die sich bei Aristoteles bis auf die Ebene der Elemente erstreckt, vgl. „Physik“ II, 1 und „Physik“ II, 2.

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senden zu anderen Assoziationen eingeladen. Nehmen wir das Beispiel Geryons: seine bunte Haut erinnert zunächst an ein Teppichor-nament; nimmt man dann seine Eigenschaft, fliegen zu können, hinzu, so eröffnet sich über das Motiv des fliegenden Teppichs die arabische Märchenwelt. In dieser Welt ruft ,gelb‘ sodann die Assoziation zu gelben Wüstenebenen auf, die Händler ,verwandeln‘ sich in Elemente der Karawane, denken wir Geryon allgemein als ,Transportmittel‘, so sehen wir in ihm die Kamele der Karawane etc. Jedes Einzelding (z. B. fliegender Teppich) ge-hört zu einem bestimmen Umfeld (arabische Märchenwelt), aus dem dann der Text andere Einzelphänomene assoziieren lässt (Karawane, Wüste). Setzt man die Gruppe der Händler in Dantes Beschreibung in den Vordergrund, verschiebt sich das Bild, und die Farben bei-spielsweise sind dann auf ihren Beutelchen zu finden, die Tiere erscheinen als Wappen.17 Dieses Phänomen wird im Weiteren als Trägervielfalt von Attributen bezeichnet. Noch etwas (eingangs bereits betont) wird an dieser Stelle deutlich: Mandel’štam verortet die Motive der „Göttlichen Komödie“ explizit in Dantes Realität. Den fliegenden Geryon bringt er mit dem zeitgenössischen Wunsch, fliegen zu können, in Verbindung (381). Er verliert jedoch kein Wort darüber, dass Geryon der griechischen Sagenwelt entstammt. Den 17. Gesang versteht Mandel’štam als dem Wucher gewidmet, der Gesang zeige Dan-tes Vertrautheit mit dem Warensortiment und Geldumlauf. Geryons Haut werden als „Vorbilder“ orientalische Teppiche zur Seite gestellt (380). Die poetische Welt der Höl-lenkreise ist für Mandel’štam also aufs engste an die Wirklichkeit Dantes gebunden, durchzogen von Realia, häufig in überraschenden Zusammenhängen. Dadurch, dass Moti-ve aus ihrer Umgebung herausgelöst werden, entsteht ein Wirklichkeitsbezug, der nicht auf eine „Nacherzählung“, die Mandel’štam als das Gegenteil von Poesie beschreibt18, re-duziert ist. Auch die Aussage, der Text verwandle sich ständig, die Mandel’štam an anderer Stelle macht (368f.), ergibt sich aus dieser Sicht von Poesie: Es sind alle Elemente im Text glei-chermaßen gegeben, Geryon, die Händler usf., und keines von ihnen steht per se im Vor-dergrund. Immer sind es die Lesenden, die mal das eine, mal das andere in den Vorder-grund treten lassen. Mit jeder Verschiebung der Perspektive verschiebt sich das Gesamt-bild; somit lässt sich der Text nicht auf eine Lesart festlegen.19 Indem ein Attribut durch den Text hindurch verfolgt und damit von Träger zu Träger ge-führt wird, gilt für „Dante“ dasselbe, was Mandel’štam für den Leser von Dantes „Göttli-cher Komödie“ darlegt: je weiter man in der Lektüre voranschreite, desto weiter entferne

                  17 Man könnte wohl endlose Assoziationsreihen anfügen, wie Mandel’štam selbst bemerkt: «Говоря о

Данте, правильнее иметь в виду порывообразование, а не формообразование – текстильные, парусные, школярские, метеорологические, инженерийные, муниципальные, кустарно-ремес-ленные и прочие порывы, список которых можно продолжить до бесконечности.» (413).

18 «[И]бо там, где обнаружена соизмеримость вещи с пересказом, там простыни не смяты, там поэзия, так сказать, не ночевала.» (364).

19 Mandel’štams Gedichtzyklus „Armenija“ ist ein besonders eindrückliches Beispiel dafür: Bilder der Architektur, Religion, Geschichte und Landschaft des byzantinischen Armeniens greifen hier derart in-einander, dass sich keines der poetischen Bilder auf eine Perspektive und damit auf eine Lesart festle-gen lässt. Zugleich erschließt sich die Bildlichkeit des Zyklus erst unter Einbezug der Kulturdenkmä-ler, beispielsweise für das fünfte Gedicht aus dem Zyklus die Ruine von Swartnoc‘, und der Land-schaft Armeniens.

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man sich vom Ziel (367).20 Das betrifft die Lektüreerfahrung: der Effekt der wiederkeh-

renden Beschreibungen ist ein ständiges Zurückblättern, anfangs nur dasselbe Wort ver-folgend, dann immer abstrakter werdend, und den eigenen Assoziationen nach ähnliche Bilder durch den Text hindurch verfolgend. Für den Text bedeutet das immer mehr Text-schichten, die sich aus den stetig wiederkehrenden Attributen und den daraus entstehenden Überlagerungen der Bilder ergeben. Das Nacheinander, zu dem jeder Text durch die Text-chronologie gezwungen ist, wird zugunsten eines ,Übereinanders‘ aufgehoben, da die ein-zelnen Bilder aus der Diachronie herausgelöst und gleichsam in einer Synchronie überein-ander gelegt werden.21 Die „Wandelbarkeit“ und „Umkehrbarkeit“ die Mandel’štam der poetischen Materie zuschreibt, ließen sich hier im Nachvollziehen seiner eigenen textuel-len Verfahren mit den Begriffen der Trägervielfalt von Attributen und der Vielfachen Ver-schränkung insofern genauer fassen, als diese in ihrem Potential als poetische Verfahren betrachtet wurden. Damit lässt sich auch die Differenz der hier vorgestellten Lektüre zu der Lesart von Levin (1971) besser fassen. In seiner Annäherung an das Verhältnis von Dichtung und Wirklich-keit postuliert Levin jeweils zweierlei Arten von Natur, Wort und Poesie (145). Dabei geht er von zwei Grundhypothesen aus, dass nämlich erstens Mandel’štams eigener, von Berg-sons élan vital inspirierter naturphilosophischer Konzeption zufolge in der Natur nicht so sehr die Gegenstände als vielmehr strukturelle und dynamische Bewegungen von Bedeu-tung seien (143f.). Zweitens sei die Poesie der Natur isomorph im Sinne einer strukturel-len Analogie (144), so dass sie die von Dynamik bewegte Natur nachvollziehe.22 Was mit dieser Lesart verlorenzugehen droht, ist aber die Kreativität, die Mandel’štam dem Dichter doch einräumt: immerhin ist Dante der Arrangeur; die Beschreibung als Kopist lässt im Hinblick auf die explizit erwähnte mittelalterliche Tradition illuminierter Manuskripte ge-nau so eine kreative Komponente anklingen wie die Bezeichnung des Übersetzers. Auch zeigen die Diskussionen anderer Dichter, beispielsweise in „O prirode slova“, ebenso wie

                  20 Dante schaffe in seiner „Göttlichen Komödie“, schreibt Mandel’štam, einen beinahe begehbaren

Raum, was für die Lesenden gutes Schuhwerk zu einem unumgänglichen Teil ihrer Leseausrüstung mache: «Если первое чтение вызывает лишь одышку и здоровую усталость, то запасайся для последующих парой неизносимых швейцарских башмаков с гвоздями. Мне не на шутку приходит в голову вопрос, сколько подметок, сколько волoвьих подошв, сколько сандалий износил Алигьери за время своей поэтической работы, путешествуя по козьим тропам Италии. […] Шаг, сопряженный с дыханьем и насыщенный мыслью, Дант понимает как начало просодии. […] [П]лощадка для разговора создается альпийскими усилиями. Стопа стихов – вдох и выдох – шаг. Шаг – умозаключающий, бодрствующий, силлогизирующий.» (367).

21 Joseph Frank (1968) bezeichnet das als „spatiality“, „Räumlichkeit“ des Textes. Über die von ihm untersuchten Autorinnen und Autoren schreibt er: „All these writers ideally intend the reader to appre-hend their work spatially, in a moment of time, rather than as a sequence.“ (9). Letztendlich steht sein Konzept dem strukturalistischen Äquivalenz-Begriff nahe, in Lotmans Terminologie, der «со-проти-вопостaвление» (JU. LOTMAN 1972, 47).

22 Auf Mandel’štams „Naturphilosophie“ weist auch Hansen-Löve (1998) hin: seine „organische Poetik“ gehorche nicht abstrakten Regeln, sondern folge „bioästhetischen Mustern“ («биоэстетических узорах»; 249). In diesem Sinne sei Poetik eine genaue Wissenschaft wie Biologie oder Chemie (eben-da). Hansen-Löve hebt im Weiteren vorrangig auf die dem Material inhärente Struktur ab, so dass sei-ne Ausführung v. a. ein Bild des Dichters im Umgang mit Worten, deren Potential es in der Dichtung sprachlich auszuschöpfen gelte, betreffen (vgl. 250). Der Wirklichkeitsbezug, charakteristisch allge-mein für die akmeistische Ästhetik, klingt auch in seinen Ausführungen über Mandel’štams Gotik an.

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die eigens begründete Wahl Dantes für seine poetologischen Reflexionen hier, dass dem Dichter auch eine aktive Rolle zukommen muss (vgl. dazu auch das Zitat zu den Zitat-Zikaden weiter unten, deren Lebendigkeit wohl auch in den Händen des Dichters liegt). Im ,,Dante‘‘ tritt das v. a. über die Hinwendung zur poetischen Materie zutage, wie bei-spielsweise die Diskussion der Auffassung Mandel’štams von Dantes Verfahren in der Geryon-Passage gezeigt hat. Diese hat zum Ausgangspunkt eher das Werk als die Realität – genauer: die Realität, wie sie der Dichter im Kunstwerk einzufangen wusste. Wie auch in seinen Gedichten immer wieder deutlich wird, zeichnet sich Mandel’štams Poetik da-durch aus, dass Phänomene der Wirklichkeit vom Dichter sprachlich so gestaltet werden, dass sie zwar einerseits die hinter ihnen stehende Realität durchscheinen lassen und so ih-ren Ursprung in sich tragen, sich jedoch andererseits zu einem eigenständigen Gesamtbild fügen.23 In diesem Sinne „zerspielt“ Dichtung die Natur.

5. Gespräch und Dialog: Mandel’štam und Intertextualität im „Dante“

Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass Mandel’štam die Wichtigkeit des Kontextes für ein Bild betont, erscheint es doch in jedem neuen Kontext etwas anders. Die Umkehr-barkeit und Wandelbarkeit der poetischen Materie erklären sich eben aus dieser Kontext-bedingtheit. Diesen beiden Charakteristika bzw. der Trägervielfalt an Attributen und der Vielfachen Verschränkung ist auch das oben geschilderte ,Blättern im Text‘ geschuldet. Dem Blättern in einem Text, das sich aus dem Verfolgen der Motive ergibt und durch das die poetische Materie ,aufgespürt‘ wird und zu ihrer Entfaltung kommt, steht ein ,Blättern in anderen Texten‘ zur Seite.24 Da die poetische Materie an sich stimmlos ist, nur im Aus-bruch («порыв») existiert, bedarf ein Text eines Rezipienten.25 So schreibt Mandel’štam im zweiten Kapitel, dass, wenn wir lernten, Dante zu hören, wir verstünden, wie sich in seinem Text Sinn und Materie zueinander verhalten (369). Ohne einen aktiven Rezipien-ten ist der Text ein bloßes Stück Kalligraphie; denn Ausbrüche geschehen im Lesen. Im neunten Kapitel des Essays betont Mandel’štam nochmals, dass Poesie nicht im Stillstand bestehen kann. Eine Vielzahl von Beschreibungen unterstreicht dieses Charakteristikum: die poetische Sprache schafft ihre Instrumente im Gehen (404), oder (im sechsten Kapitel) die poetische Materie existiert nur in Fluten und Wellen, Aufschwung und Kreuzen einer

                  23 Es mag hilfreich sein, die kunsttheoretische Auffassung der Gestaltpsychologie für eine Beschreibung

des komplexen Wechselspiels hinzuzuziehen, der zufolge „das Kunstphänomen nicht auf eine be-stimmte Gegenständlichkeit reduziert werden kann, sondern als Prozeß verstanden wird, der die Ver-mögen unserer Weltzuwendung in Anspruch nimmt, um sie in einer von der Alltagswahrnehmung nicht geforderten Bündelung als Konstituenten des Kunstwerks aufzuweisen. Das Kunstphänomen be-stimmt sich als ein Zusammenschluß kognitiver und dynamischer Aspekte des Seelenlebens mit den daraus entspringenden Spannungs- und Erregungszuständen.“ (W. ISER 1982, 44). Zu betonen ist da-bei, dass die „kognitive[n] und dynamische[n] Aspekte des Seelenlebens“ für diese empirisch-orientierte kunsttheoretische Position eine große Nähe zu Wahrnehmungen garantieren. Vergegenwär-tigt man sich Mandel’štams Poetik in diesem Lichte, so wird auch hier die Nähe zu Bergson deutlich (vgl. dazu unten), die einer solch komplexen Wechselwirkung aus Realität, Psychologie und Kreativi-tät den Weg ebnete.

24 Die Zentralität des Zitierens haben bekanntlich Kirill Taranovskij (1976) und Omry Ronen (1983, 2002) in ihren einschlägigen Studien herausgearbeitet.

25 Vgl. dazu auch «И когда уже написано и готов, не этом еще не ставится точка, но необходимо куда-то понести, кому-то показать […].» (406, ferner 412).

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poetischen Komposition (396), wobei das Vergleichsmoment mit ihr der tanzende Diri-gentenstab in der Aufführung eines Musikstücks darstellt (395f.). Die Gesprächsform des „Dante“ weist auf die aktive Haltung der Lesenden hin. So handelt es sich bei den meisten Anreden um Leseransprachen26,

darunter eine, die mit einer mehr-

fachen Überschreitung der Textgrenzen einhergeht (412): Mandel’štam ,sieht‘ zwei der Figuren des Dante’schen Opus, zunächst den alten Marzucco, dann Pietro della Broccia, in einiger Entfernung vorübergehen. Im Fall des letzteren lädt er die Lesenden dazu ein, sich an diese Figur zu wenden, um Klarheit über eine Frage zu erhalten: «Да вот, кстати, он сам – подойдем, спросим…» Vergleichbar den Passagen zu den Terzinen und Schuhen wird der Text hier fast real und lässt eine eigene Wirklichkeit entstehen. Wie das Be-schriebene in Mandel’štams Bildern eine gleichsam greifbare Realität erhält, so wird hier das Vorübergehen der Figuren derart real vorgestellt, dass der Autor und die Lesenden sich gemeinsam an sie wenden können. Neben der Gesprächsform sind es auch die für Mandel’štam so wichtigen Aspekte von In-tertextualität, die bei einer aktiven Lektüre zum Tragen kommen. Die vielfältige Literatur zu Intertextualität kann zu einer Klärung der verschiedenen Relationen von Texten unter-einander sowie von Texten zu Realien, insbesondere zu Kunstwerken, beitragen und führt damit zu einem weiteren Aspekt der poetischen Materie in Mandel’štams „Dante“. Im Folgenden wird ,Text‘ als sprachliches Gebilde verstanden, in der Bedeutung von ,litera-rischem Text‘.27 Ein für Mandel’štams Poetik zentraler Effekt intertextueller Bezüge ist die Synchronie verschiedener Ebenen, denn der neue Text, der hier entsteht, lässt zeitliche, räumliche und sprachliche Grenzen durchlässig werden.28 Sowohl der Subtext29 als auch der Text er-                  26 Die meisten Leseransprachen sind in der Form „Stellen Sie sich vor ... “ (z. B. 364, 374, 403). Verein-

zelt benennt Mandel’štam die Angesprochenen, so beispielsweise die Poesie (390). 27 Für das zunächst von Julia Kristeva geprägte, im Poststrukturalismus weiter entwickelte Verständnis

von Text als universalem Intertext und entsprechend von Prätext als „Gesamt aller Texte“ im weitesten Sinn vgl. beispielsweise J. Kristeva (1968); dazu sowie zur poststrukturalistischen Nachwirkung vgl. Manfred Pfister (1985, 6-11). Darüber hinaus wird der Textbegriff im Poststrukturalismus auf „das Gesamt aller diesen Texten zugrundeliegende[n] Codes und Sinnsysteme“ ausgeweitet (M. PFISTER 1985, 12). Da „Dante“ sich u. a. dem Verhältnis von außertextueller Realität und Poesie widmet, scheint es für ein Verständnis dieses Aspektes von Mandel’štams Poetik notwendig, an einem engeren Textbegriff mit der Differenzierung von sprachlichem und nicht-sprachlichem Material, festzuhalten. Ein Verschmelzen von außersprachlicher Realität und Sprache oder Texten nimmt Mandel’štam vor-rangig in der literarischen Prosa vor, beispielsweise in „Ėgipetskaja marka“ (z. B. 34, allgemein rund um die Motivik des Fiebers, insbesondere in dessen Verbindung mit dem Schreiben und der Hitze); ein anschauliches Beispiel findet sich auch in „Putešestvie v Armeniju“: «А на столе роскошный синтак-сис – путанных, разноазбучных, грамматически непрaвильных полевых цветов, как будто все дошкольные формы растительного бытия сливаются в полногласном хрестоматийном стихотво-рении.» (149). In Mandel’štams Gedichten gibt es zwar auch eine enge Verschränkung von Sprachli-chem und Außer-Sprachlichem. Anstelle einer Verschmelzung wie in diesem Zitat bleiben die Berei-che in der Lyrik aber bestehen, durchdringen sich lediglich wechselseitig, vgl. beispielsweise das Ge-dicht „Koljučaja reč’ araratskoj doliny“, in dem die Landschaftsbeschreibung regelrecht in die Sprache eingeschrieben ist.

28 Mit der Beschreibung „The fact that all these texts are […] read together, detaches them from their re-spective contexts and transforms them into contemporary – or rather timeless – participants in a [liter-ary] community“, fasst Gideon Freudenthal (2003, 11f.) das Resultat des intertextuellen Nebeneinand-ers zusammen. Renate Lachmann (1984, 504) prägt für das mit einer solchen Synchronie verbundene

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scheinen in neuem Kontext, was den Blick auf beide verändert. Man könnte diesen neuen Text als Syntext bezeichnen.30 Mandel’štams Œuvre weist sowohl Intertextualität im engen Sinne als auch Dialogizität31 auf, wobei letztere aufgrund seiner Essays als vom Autor intendiert angenommen werden muss.32 Dabei liegt es für ihn in den Händen des Dichters, den Text so zu gestalten, dass er sich an einen (zukünftigen, in jedem Fall unbekannten) Leser wendet.33

Neben den Zukunftsbezug des Textes ordnet sich das Zitieren extratextueller Realität in Mandel’štams Paradigma von Intertextualität, ein Verfahren, das sich mit Dubravka Oraić-Tolić als „intermediale (oder auch „vertikale“) Zitathaftigkeit“ beschreiben lässt.34 Diese intermediale Form von Intertextualität lässt sich als ,Einschreiben‘ der Realität und damit auch der Kultur ,in den Text‘ bezeichnen. Über eine solche intermediale Intertex-tualität gelingt es Mandel’štam, in seinem Text eine Vielfalt kultureller Momente einzu-fangen und diese letztlich in ihnen zu bewahren, etwas, das er selbst an Dante lobt, wie oben dargestellt. Das Einweben von vertikalen wie horizontalen Zitaten erweitert zudem das Potential der Dialogizität. Für einen Syntext, der auf intermedialen Zitaten basiert, bedeutet dieses oben thematisierte Nebeneinander von Texten also auch ein Nebeneinander anderer Kulturmomente. So führt beispielsweise eine gemeinsame Lektüre von Mandel’štams Gedichten „Ajja Sofija“ und „Notre Dame“ nicht nur dazu, dass wir die beiden Texte gegeneinander lesen (also ihrer medialen Intertextualität nachgehen), sondern auch dazu, dass wir den jeweiligen Text zu seinem architektonischen Vorbild intermedial in Bezug setzen und – über die mediale wie

                  Phänomen die Wendung „Aufwirbelung allen Sinns“.

29 Zum Subtext vgl. beispielsweise Elaine Rusinkos Diskussion von Intertextualität (1979) oder Renate Lachmann (1984, 506); spezifisch für Mandel’štam vgl. Ronen in seiner Aufsatzsammlung (O. RONEN 2002, 186f.), der hier auch Kiril Taranovskijs Bestimmungen von «подтекст» und «контекст» zitiert.

30 In der Diskussion von Intertextualität wird in erster Linie das Kommentieren des Subtextes durch den neuen Text hervorgehoben, der neue Gesamttext dann als „Metatext“ benannt (M. PFISTER 1985, 26). Für Mandel’štam geht es, ganz abgesehen davon, dass der Subtext den Mandel’štam-Text anreichert, aber oftmals nicht um einen Kommentar zu einem Text, sondern um das zeitlose Nebeneinander, wes-halb mir die Bezeichnung Syntext für seine Poetik treffender scheint.

31 Renate Lachmann (1984) adaptiert bekanntlich die von Bachtin auf die Prosa beschränkte und insbe-sondere dem Roman zugesprochene Dialogizität für die akmeistische Lyrik. Als Charakteristikum für Dialogizität führt sie an, dass „Subtexte auftreten [können], die bei der Herstellung des Textes nicht präsent waren; entscheidend für das scheinbar arbiträre Aufdecken der Subtextsemantik eines gegebe-nen Textes ist der Geltungsbereich des kulturellen Enthymemas, von dem die sinnzuweisende Tätig-keit des Rezipienten geprägt ist.“ (507).

32 Als ein Beispiel für Dialogizität mag Celans Gedichtband „Die Niemandsrose“ dienen. Michael Eskin (2000) untersucht das intertextuelle Zusammenspiel von Celans Gedichtband und Mandel’štams Ly-rik,. Leider stellt er seine theoretischen Ausführungen sehr in den Vordergrund, und widmet der dialo-gischen Lektüre der beiden Dichter nur das sehr kurze Schlusskapitel.

33 Dies wird wie in „O sobesednike“ auch im „Dante“ deutlich, wenn Mandel’štam lobend über Dantes „Göttliche Komödie“ schreibt: «Немыслимо читать песни Данта, не оборачивая их к современ-ности. Они для этого созданы. […] Они требуют комментария в futurum.» (389).

34 Dubravka Oraić-Tolić (1989, 492) theoretisiert Zitathaftigkeit als ein grundlegendes Prinzip für die avantgardistische Kunst. Sie argumentiert dafür, dass Mandel’štam über eine Atomisierung des Textes ein verflochtenes Zitatnetz erstelle, wobei die zitathaften Atome einen neuen Sinn generieren (502f.). Damit vollzieht sich also ebenfalls auf Ebene der Intertextualität das oben geschilderte „zer-spielen“ des Vorgefundenen (freilich mit etwas anderen Gegebenheiten).

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auch die intermediale Intertextualität vermittelt – außerdem die beiden Sakralbauten auf-einander beziehen.35 In diesem Sinn lässt sich sagen, dass andere Kunstwerke oder auch andere kulturelle Elemente nebeneinander treten. Mandel’štam geht in „Dante“ wiederholt und in Verbindung mit seinem Konzept der poe-tischen Materie auf die auch vom Text gesteuerte Rezeption ein. Das soll nun im Lichte der Intertextualität wie der Dialogizität näher betrachtet werden.

Когда читаешь Данта с размаху и с полной убежденностью, когда вполне переселяешься на действенное поле поэтической материи; когда сопрягаешься и соизмеряешь свои интонации с перекличками оркестровых и тематических групп, возникающих ежеминутно на изрытой и всколебленной смысловой поверхности; когда начинаешь улавливать сквозь дымчато-кристаллическую породу формозвучания внедренные в нее вкрапленности, то есть призвуки и примыслы, присужденные ей уже не поэтическим, а геологическим разумом, – тогда чисто голосовая, интонационная и ритмическая работа сменяется более мощной координирующей деятельностью – дирижированьем – и над голосове-дущим пространством вступает в силу рвущая его гегемония дирижерской па-лочки, выпячиваясь из голоса, как более сложное математическое измерение из трехмерности. (394f.)

Das Zitat greift eine Vielzahl von Motiven aus dem Essay wieder auf.36 Es fällt auf, dass

hier die Lesenden eine bestimmte Haltung einnehmen und eine Aufgabe erfüllen müssen; ihnen kommt die Rolle des Verbindungsglieds zu: Erst wenn sie in der Lage sind, die Themen aufzugreifen und entsprechend auf sie einzugehen (man mag sagen: sie in ihrer Stellung und Rolle in dem Ganzen zu sehen)37, erst im aktiven Lesen also, ist es ihnen möglich, zu erkennen, wodurch das Ganze bestimmt ist (in Mandel’štams Worten: „Die Hegemonie des Dirigentenstabs tritt [dann] in Kraft“; 395).38 Aufgrund der Wichtigkeit eines aktiven Lesens scheint die Wahl der Form eines Ge-sprächs mit den Lesenden tiefere Gründe als nur die von Mandel’štam postulierte Unzu-länglichkeit der Sprache zu haben39, nämlich die Lesenden auch dazu einzuladen, sich auf

                  35 Das „Nebeneinanderstellen“ der beiden Sakralbauten geht insofern über den poetischen Text hinaus,

als es nicht auf die vom Dichter dargestellten Details und deren Darstellungsweise beschränkt bleibt. 36 So z. B. Chemie (382, v. a. 398f.), Physik (z. B. 391f., 403), natürlich die Kristallographie (z. B. 388,

408); die Anrede an die Poesie: «Поэзия, завидуй кристаллографии, кусай ногти в гневе и бессилии!» (390); ferner wird die Mathematik gelobt, die lt. Mandel’štam insofern Vorbildcharakter habe, als sie mit ihrer eigenen Syntax sich von der scholastischen Tradition gelöst hat (384, auch 390f.); die Mathematik wird auch aufgrund ihrer eigenen Raumkonzeption immer wieder herange-zogen (vgl. außerdem 390, 395). Ähnlich erschließen Meteorologie und Mineralogie einen eigenen Raum (409); zur Anatomie vgl. 401f.; zum Handwerk werden Textilfärber (407), Schneider (405, 413), Kleinhandwerk und Ingenieurskunst genannt.

37 Vgl. dazu die Bemerkung, Bienen bauten die Waben mit Blick aufs Ganze; außerdem entsteht eine Wabe aus der anderen, quasi ,von innen heraus‘ (377); zur inneren Verbindung vgl. auch die Ausfüh-rungen zur Einheit der Sprache und Literatur.

38 Zur Haltung des Lesers vgl. auch im dritten Abschnitt des „Dante“ Mandel’štams Bemerkung, als dankbarer Leser Dantes und mit dem Wunsch, ihn zufrieden zu stellen, möchte er sich gerne der Kris-tallographie widmen (376).

39 Mandel’štam begründet die Einladung an die Lesenden, sich etwas bildlich vorzustellen, mit der Unzu-länglichkeit unseres Begriffssystems, das viel von dem, was er in dem Essay zum Ausdruck bringen

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Ton und Vorstellungswelt des Gesprächs einzulassen.40 Indem sie der Klanglichkeit und Bildlichkeit des Textes ihren Raum geben, sozusagen die Texte hören und sie in Farben tauchen, lassen sie die selbst eigenschaftslose poetische Materie wieder aufleben. Schon in dem weit früheren Essay „O sobesednike“ (1913), wenn Mandel’štam schreibt, dass alle Lyrik dialogisch sei («Нет лирики без диалога»; 239), wird deutlich, wie wichtig es für einen Text ist, sich an zukünftige und damit unbekannte Gesprächspartner zu wenden. Ei-nerseits ist dabei die Hinwendung an einen unbekannten Leser für die Gedichte selbst wichtig, da dies dem Vers erst seine Flügel verleihe.41 Zum anderen lenkt Mandel’štam seine Aufmerksamkeit auf die Lesenden: In seiner Metapher der Flaschenpost legt er dar, dass, so wie der Finder einer Flaschenpost der rechtmäßige Adressat der Botschaft ist, auch diejenigen, die sich von einem Gedicht angesprochen fühlen, dessen rechtmäßige Adressaten sind (234). Hier zeigt sich Mandel’štams Konzeptionen von Dialogizität, die es den Lesenden erlaubt, und – wie im „Dante“ deutlich wird – von ihnen fordert, mit ei-nem Text beliebig in Dialog zu treten, ungeachtet der möglichen Intentionen des Autors. Die Leser sind dazu aufgerufen, die Texte vor dem Hintergrund ihres eigenen ,Textschat-zes‘ zu lesen und mit diesem in Verbindung zu bringen. Dem Autor kommt dabei die Auf-gabe zu, seinen Text so zu komponieren, dass sich Zitate und Wendungen nicht auf eine Bedeutung reduzieren lassen, denn dann würden sie verstummen. Im „Dante“ beschreibt er das so:

Цитата не есть выпуска. Цитата есть цикада. Неумолкаемость ей свойственна. Вцепившись в воздух, она его не отпускает. […] Я хочу сказать, что композиция складывается не в результате накопления частностей, а вследствие того, что одна за другой деталь отрывается от вещи, уходит от нее, выпархивает, отщепляется от системы, уходит в новое функциональное пространство или измерение, но каждый раз в строго узаконенный срок и при условии достаточно зрелой для этого и единственной ситуации. 42 (368)

Wie ein Text komponiert sein muss, um das tun zu können, schien in dem bereits Gesag-ten auf: Durch Überlagerungen ist es unmöglich, die Bilder festzulegen, den Text auf eine Lesart zu reduzieren und damit, den Bildern feste Referenzen zuzuschreiben. In den Ver-fahren der vielfachen Verschränkung und der Trägervielfalt von Attributen gründet diese spannungsreiche Offenheit des Textes, die durch Intertextualität und Dialogizität noch ge-steigert wird. Ein zentrales Element dieser Leser-Ansprache sind Metaphern und Bilder.43 Neben deren

                  möchte, nicht zu fassen vermag (410).

40 In diese Richtung deutet auch der Titel des Essays: es ist ein Gespräch über Dante – und zwar offen-sichtlich mit den Lesenden.

41 «[О]бращение к конкретному собеседнику обескрыливает стих, лишает его воздуха, полета.» (237).

42 Das Wort «вещь» gebraucht Mandel’štam auch an anderen Stellen in ,,Dante‘‘ auch in der Bedeutung von „Text“.

43 Das Thema von Metaphorik und Bildlichkeit zieht sich durch den ganzen Essay. Mandel’štam weist dabei „Fertigbilder“ entschieden zurück, so z. B. 364: «Дант – орудийный мастер поэзии, а не изго-товитель образов. […] Иначе неизбежен долбеж, вколачивание готовых гвоздей. {…] Внешняя, поясняющая образность несовместима с орудийностью.» Auch Ju. Levin (1971, 147) stellt fest,

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innerer Komplexität ist auffällig, welche Zentralität Mandel’štam der Spannung beimisst, einem Motiv, das „Ausbrüche“ und „Explosionen“ aufgreift und zur oben beschriebenen vielfachen Verschränkung beiträgt44, die er offenbar als ein zentrales Kriterium für die Poetizität eines Textes ansieht. Dies wird beispielsweise aus der Wortwahl «орудийных средств» für poetische Mittel (363) ersichtlich. Die Bedeutung „Geschütz“ für «орудий-ных средств» wird hier durch die Isotopie des Kriegerischen aufgerufen, z. B. bezeichnet Mandel’štam Dante als «стратег» (364) oder kritisiert das moderne Kino dafür, dass die Bilder sich hier ohne Kämpfe («без борьбы») bewegten (ebenda). So ist es auch nicht weiter erstaunlich, wenn wir einige Seiten später davon erfahren, dass wir im Lesen von Dantes Gesängen vortrefflich „das Klingen der Kriegssymphonie“ erraten können («как звуковорствует симфония войны»; 368).45 „Dante“ bestätigt damit Levins Beobachtung zu Mandel’štams Dichtung der 1930er Jahre und erweist sich darüber hinaus als poetolo-gischer Text: Wie Levin aufzeigt, wird die Schönheit der Gedichte selbst in den 1920er Jahren, durchdrungen von Motiven der Harmonie, durch eine Ästhetik ersetzt, in der tradi-tionelle ästhetische Grundlagen keinen Platz mehr haben. Sowohl auf inhaltlicher als auch auf formaler Ebene, so zeigt Levin auf, treten beispielsweise an die Stelle von Schönheit und Vollendung die Krümmung, das Hässliche und das Fragmentarische.46 Die Harmonie oder Kohärenz ließe sich somit als spannungsreich beschreiben. Mandel’štams Äußerun-gen zur Bilderwelt wie auch seine eigenen Bilder führen uns also zu den Grund-charakteristika der «поэтическая материя».

6. Synchronie in Mandel’štams Geschichtsverständnis

Bislang weitgehend außer Acht gelassen wurde Mandel’štams bekanntlich von Bergson geprägtes Geschichtsverständnis47, das im „Dante“ immer wieder durchscheint. Drei As-pekte von Bergsons Philosophie sind dabei von besonderem Interesse für Mandel’štams li-terarisches Schaffen: „duration“, „intuition“ und der daraus resultierende Umgang mit Sprache. Wie Rusinko (1982) darstellt, lässt Bergsons „duration“, immerwährender Wan-del, verstanden als eine kreative Kraft, die sich durch alle Dinge zieht, die Welt als ein harmonisches Ganzes erscheinen (auch in der Zeit). Alle Teile und Phänomene, ein-schließlich des Menschen, sind hier einander gleichwertig (507). In Mandel’štams Kunst finde dies seine Umsetzung in der Konzeption der Welt als „lebendiges Gleichgewicht“

                  dass sich die poetische Materie über die Metaphorik eröffne; vgl. ebenda, 150f. für eine Gegenüber-stellung von Mandel’štams Bildkonzeption zur traditionellen Auffassung, der zufolge das poetische Bild eine «словесная картина» darstelle, also eine in sich geschlossene Einheit; für Levins Verständ-nis von Mandel’štams Bildbegriff (vgl. auch 148).

44 Vgl. zu Ausbrüchen («порывы») und Explosionen im „Dante“ z. B. «единоборство с материей» (369), ferner 376f., 389, 391, zu Lautexplosionen vgl. auch 400.

45 Vgl. auch das Ringerbild der „Göttlichen Komödie“, das er besonders hervorhebt (364) und die „Fechthieb-Konjugationstabelle“ (370).

46 JU. LEVIN 1978, v. a. 124-126. 47 Zur Wichtigkeit von Bergsons Philosophie als einer theoretischen Begründung für die Weltsicht seiner

Zeit auch im Rahmen postsymbolistischer Strömungen, vgl. Elaine Rusinko (1982, für die Akmeisten vgl. insbesondere 504). Gregory Freidin (1978) beispielsweise betont zusammen mit einer Einbettung von Mandel’štams Auffassungen in dessen Epoche die Wichtigkeit von Zeit und Geschichte für Man-del’štam.

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(„living equilibrium“; ebenda).48 Bergsons auf die Wahrnehmung bezogener Begriff der „intuition“, welche die Wahrneh-mung ermöglicht49, lässt jedes Einzelne zu einem gleichwertigen Teil der einen harmoni-schen Welt werden. Damit erweist sich jedes Phänomen als beachtenswert. In Man-del’štams Dichtung spiegelt sich das in der Hinwendung zu alltäglichen Dingen wider, zum Material der Gegenstände, zu konkreten Bildern aus dem Alltag, den «мелочки» oder auch seiner Vorliebe für Alltagsgegenstände («утварь»).50 Die neue Wahrnehmungsweise, so führt Rusinko (1982) weiter aus, hat Konsequenzen für den Umgang mit der Sprache: für Bergson lässt sich die im ständigen Wandel begriffene Realität in konkreten Bildern zum Ausdruck bringen (509), eine Konzeption, die Man-del’štam in seinen Essays „O prirode slova“ und in „Dante“ aufgreift. Insgesamt scheinen diese Bergson’schen Positionen in Mandel’štams Essays in ver-schiedenen Kontexten auf. So zeichnet sich Mandel’štams Geschichtsbild durch eine Syn-chronie verschiedenster Epochen aus: «Время для Данта есть содержание истории, понимаемой как единый синхронистический акт.» (389).51 Ein eigentümlicher Zug dieses Geschichtsbildes ist die Synchronie, die nicht nur für Vergangenes, sondern auch für Zukünftiges gilt: «Старость в понимании Данта прежде всего кругозорность, высшая объемность, кругосветность.» (388). Dies ist auch eine Konsequenz aus Man-del’štams Auffassung von Formwerdung, der zufolge eine Form aus der anderen hervor-getrieben wird, und damit die bestehende die zukünftige in sich birgt.52

Entsprechend ist die Einheit von Geschichte als eine innere Einheit zu verstehen. Wichtig im „Dante“, bereits ausführlicher im früheren „O prirode slova“ (1922), ist dabei die Ablehnung jeglicher teleologischer Entwicklung.53

Für Mandel’štam gibt es keine hie-rarchischen Stufen im Ästhetischen und keinen irgendwie gearteten Prozess der Vervoll-kommnung in der kulturellen Entwicklung. Wie er ausführt, liegt in kultureller Entwick-

                  48 Die im Begriff der „duration“ implizierte, ständige Erneuerung und Wandlung des Lebens finde ihr

Pendant im akmeistischen Prinzip der alleinigen Existenz der Gegenwart, wobei diese – aufgrund des Prinzips der ständigen Veränderung – nicht als streng abgetrennt von Zukunft und Vergangenheit ge-dacht werden kann.

49 Der „intuition“ stelle Bergson den Intellekt gegenüber, der die Welt von außen als eine Sammlung un-verbundener, statischer und unbeweglicher Dinge im Raum wahrnehme (E. RUSINKO 1982, 507).

50 Hansen-Löve (1998, 251) fasst das unter dem „Pathos der Konkretheit und der Gegenständlichkeit“ zusammen. Auch Isenberg streicht Mandel’štams Anliegen heraus, seine Texte in ihrem spezifischen sozialen und historischen Kontexts zu verorten (A. HANSEN-LÖVE 1986, z. B. 38).

51 Vgl. auch 391, 397, ferner den fünften Abschnitt des Essays. 52 Mandel’štam führt für die Entstehung von innen heraus zwei Vergleiche an: neben dem bereits er-

wähnten Wabenbau der Bienen (377), einen zu einer Flugmaschine, die im Flug ihr gleiche Flugzeuge hervorbringt (382). Sein Entstehungsgedanke klingt auch an, wenn er die Entwicklung von Instrumen-ten mit der von Verbformen in Dantes Gesängen vergleicht (370).

53 Zu Mandel’štams Wertschätzung von Lamarck vgl. das Kapitel „Vokrug naturalistov“ in „Putešestvie v Armeniju“ (II, 162). Petra Hesse (1989, 255-66). geht Mandel’štams Ablehnung eines utilitaristisch ausgerichteten Evolutionsbegriffs zudem anhand des Gedichtes „Lamark“ von 1932 nach. In der Ar-menienprosa klingt seine kritische Haltung Darwin gegenüber an, die nicht zuletzt seinem Misstrauen gegen jegliche teleologische Konzeption von Evolution entspringt, wie es in seinem „Slovo o kul’ture“ (1922) deutlich wird (II, 242). Zum Zeitpunkt der Endfassung von „Dante“ war diese kritische Haltung gegenüber Darwin einer aufrichtigen Wertschätzung gewichen, vgl. dazu auch sein „Literaturnyj stil’ Darvina“ aus den Notizbüchern 1931-1932 (III, 169-78), zur expliziten Neubewertung hier 169.

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lung die Gefahr begründet, alte Formen zu verlieren, geht doch jede neue Form mit dem Verlust der alten einher (243). Der Ausweg aus dem dauernden Verlust liege im ,Ansammeln‘ von Formen. Es obliege dem Kunstwerk, so Mandel’štams Konsequenz, die alten Formen wachzurufen. Teil dieser Kunstauffassung ist die einende Rolle, die er in „O prirode slova“ der Sprache für die Einheit einer Nationalliteratur zuschreibt und die damit den Status eines inneren Prinzips erhält:54

Будем говорить только о внутренней связи явлений и, прежде всего, попро-буем отыскать критерий возможного единства, стержень, позволяющий раз-вернуть во времени разнообразные и разбросанные явления литературы. Таким критерием единства литературы данного народа, единства условного, может быть признан только язык народа, ибо все остальные критерии сами условны, преходящи и производны. Язык же, хотя и ни на одну минуту не застывает в покое, от точки до точки, […] и в пределах всех своих изменений остается постоянной величиной, «константной», остается внутренне единым. (244)

Auch im „Dante“ zeigt sich die Wichtigkeit der Sprache: Mandel’štam schreibt immer wieder von der Lautlichkeit, der Phonetik und dem Klang der italienischen Sprache. Nicht zuletzt ist unser Verständnis der poetischen Materie an die Bedingung geknüpft, Dante hö-ren zu lernen, uns also die Sprachklänge ,vor Ohren zu führen‘.55 An dieser Stelle tritt noch einmal wie schon zu Beginn des „Dante“ die Bedeutung des Ornaments («орнамент») für Mandel’štam zutage (vgl. oben). Das obige Dschunkenzitat weist bereits auf eine Eigenart des Ornaments hin: sich nicht mit anderen vermischend bleibt es eigenständig. Mandel’štam führt weiterhin einige Beispiele dafür an, dass in Dantes „Göttlicher Komödie“ die Herkunft eines Gegenstandes nachvollziehbar bleibt: Die Feder hat Anteil am Vogelflug, Tinte zeigt ihre Zugehörigkeit zum klösterlichen Le-ben (406). Darüber, dass das Ornament Spuren seiner Herkunft bewahrt, sei es im Sinn ei-nes Entstehungsursprungs wie im Fall der Feder, sei es im Sinn der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensweise wie im Fall der Tinte, gelten viele der für Mandel’štams Ge-schichtsverständnis charakteristischen Züge auch für das Ornament. Ein ornamentreicher Text sammelt einzelne Elemente, die – denkt man an die oben beschriebene Synchronie – nebeneinander stehen. Sie erlauben es somit, die Textchronologie zu Gunsten einer Viel-zahl von Textschichten aufzuheben. Das wiederum war oben als einer der zentralen Punk-te bezüglich der poetischen Materie beschrieben worden: indem wir den Attributen (man könnte auch sagen: Ornamenten) nachgehen, erhalten wir diese Schichtgestalt des Textes. Die vorliegende Untersuchung hat mittels einer Analyse der poetischen Verfahren Man-

                  54 Michail Gasparov (1995, 328) geht so weit, Kultur und Einheit als für Mandel’štam synonym zu ver-

stehen. Zu einer Diskussion von Mandel’štams Wortauffassung und deren Verortung in der russischen sprachphilosophischen Tradition vgl. A. BONOLA 1995, hier 31-38 bzw. 38-45. Zu Levins Diskussion von Mandel’štams Auffassung des Wortes im „Dante“ vgl. insbesondere Ju. Levin (1971, 145f.), all-gemeiner geht er auf die poetische Sprache im fünften Abschnitt seines Aufsatzes ein.

55 Vgl. dazu beispielsweise die Bemerkungen, die Einheit von Licht, Schall und Materie sei die innere Natur von Dantes Poesie (367), oder der Text entstehe in seiner Ganzheit als Ergebnis eines einzigen differenzierten Ausbruchs, von dem er überall durchdrungen ist (368f.).

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del’štams in „Dante“ den Versuch unternommen, seine Poetik in der späteren Werkphase genauer zu fassen. Die oben beschriebene Trägervielfalt von Attributen wie auch die viel-fache Verschränkung gewähren insofern die Ornamenthaltigkeit des Textes, als sie es nicht zulassen, dass ein Bild auf ein anderes reduziert wird. Mittels dieser Phänomene er-geben sich aus dem Text verschiedenste ,Vorstellungswelten‘, innerhalb derer die vorhan-denen Elemente verschiedene Funktionen erfüllen, je nach Perspektive, unter der eine ,Welt‘ evoziert wird. Die Ornamenthaltigkeit hat Konsequenzen für die Interpretation des Textes: Natürlich kann eine Textinterpretation einzelne Perspektiven herausgreifen und ausbuchstabieren, also einzelne Bilder jeweils unter einer Perspektive entwerfen; es ist aber unmöglich, bestimmte Bezeichnungen festzulegen.56

Angesichts der Vehemenz, mit der Mandel’štam das Festlegen bestimmter Bilder zurückweist, ist dasselbe für seine eige-ne Metaphern- und Bilderwelt anzunehmen, eine Annahme, die seine Gedichte bestätigen: Sie entfalten sich mit der in sie eingeschriebenen Realität in der vielfachen Verschränkt-heit und in der Trägervielfalt der Attribute und schaffen so eine komplexe Welt, die zugleich Spuren der Zeit ihrer Entstehung in sich trägt.

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                  56 Man mag einwenden, dass Mandel’štam in erster Linie kulturell festgelegte Bilder zurückweist. Es

kann aber jede Metapher zu einem kulturell festgelegten Bild werden, und Festschreibungen bestimm-ter Bedeutungen unterstützen eine solche „Versteinerung“ der Metapher, vgl. dazu in „Dante“ auch Dantes „Verachtung der Sklerose“: «Всеми извилинами своего мозга дантовский Одиссей прези-рает склероз […]» (388).

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