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ARISTOTELES POETIK

Aristoteles Poetik

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Werke in deutscher Übersetzung mit ausführlichen Anmerkungen Bd. 5

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  • aristoteles

    PoetiK

  • aristotelesWerKe

    in deutscher bersetzung

    begrndet von

    ernst grumach

    herausgegeben von

    hellmut Flashar

    band 5

    PoetiK

    aKademie verlag

  • aristoteles

    PoetiK

    bersetzt und erlutert von

    arbogast schmitt

    aKademie verlag

  • isbn 978-3-05-004430-9

    akademie verlag gmbh, berlin 2008

    gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier.das eingesetzte Papier ist alterungsbestndig nach din/iso 9706.

    alle rechte, insbesondere die der bersetzung in andere sprachen, vorbehalten.Kein teil dieses buches darf ohne schriftliche genehmigung des verlages in irgend-einer Form durch Fotokopie, mikroverlmung oder irgendein anderes verfahren reproduziert oder in eine von maschinen, insbesondere von datenverarbeitungs-

    maschinen, verwendbare sprache bertragen oder bersetzt werden.

    satz: veit Friemert, berlindruck und bindung: druckhaus thomas mntzer, bad langensalza

    Printed in the Federal republic of germany

    bibliograsche information der deutschen nationalbibliothek

    die deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschennationalbibliograe; detaillierte bibliograsche daten sind im internet ber

    http://dnb.d-nb.de abrufbar.

  • VInhalt

    INHALT

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX

    Vorbemerkung zur bersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . XV

    BERSETZUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

    ERLUTERUNGEN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

    EINLEITUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

    I. Schwierigkeiten im Zugang zur Poetik . . . . . . . . . . . . 45

    II. Die geistesgeschichtlichen Bedingungender Wiederentdeckung der Poetik . . . . . . . . . . . . . . 53

    III. Die Abwendung von Aristoteles in den hellenistischen Schulenund ihre Folgen fr das Literaturverstndnis . . . . . . . . . 55

    IV. Der systematische Ort der Dichtung unter denpsychischen Aktivitten des Menschen bei Aristoteles . . . . 71

    V. Theoria, Praxis, Poiesis und die Zuordnung der Dichtungzur Theoria bei Aristoteles und in den arabischenPoetik-Kommentaren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

    VI. Mimesis einer Handlung: konkrete Verwirklichungdes allgemeinen Knnens eines Charakters . . . . . . . . . . 117

    VII. Mythos:Mimesis einer vollstndig ausgefhrten Handlungals Inbegriff des Dichterischen . . . . . . . . . . . . . . . . 119

    VIII. Kurze Zusammenfassung: Die Ableitung der Dichtungaus einer anthropologischen Reflexion auf die Vermgendes Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126

  • VI Inhalt

    Argumentationsgang und Inhalt der Poetik . . . . . . . . . . . . . 128

    Bemerkungen zum Aufbau und zur Benutzung des Kommentars . . 135

    Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139

    KOMMENTAR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

    Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

    Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

    Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

    Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

    Kapitel 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302

    Kapitel 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324

    Kapitel 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361

    Kapitel 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

    Kapitel 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

    Kapitel 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 426

    Kapitel 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429

    Kapitel 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433

    Kapitel 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435

    Kapitel 14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 511

    Kapitel 15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 527

    Kapitel 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 540

    Kapitel 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546

    Kapitel 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 554

    Kapitel 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 581

    Kapitel 20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600

    Kapitel 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 620

    Kapitel 22 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 640

  • VIIInhalt

    Kapitel 23 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 672

    Kapitel 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 687

    Kapitel 25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 700

    Kapitel 26 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723

    ANHANG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 743

    Sachindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 745

    Stellenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751

    Personenindex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 766

    Ausfhrliches Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 769

  • VIII Inhalt

  • IXVorwort

    Vorwort

    Die Aristotelische Poetik wurde in einer geschichtlichen Phase wiederent-deckt, die ein ambivalentes, ja gegenstzliches Verhltnis zu Aristoteles undzumAristotelismus hatte. Das eigentmliche Spannungsfeld, in dem sich diefrhe Neuzeit gegenber Aristoteles bewegte, hat eine mchtige Wirkungs-geschichte, die zumTeil bis heute die Koordinaten auch der Poetik-Interpre-tation vorgibt.

    Das allgemeine Bewusstsein der Renaissance, in einer Zeit der Wiederge-burt der Knste und Wissenschaften zu leben, fhrte einerseits zu einemneuen Interesse an den empirischen Seiten der aristotelischen Philosophieund so auch zu einer neuen, begeisterten Auseinandersetzung mit der philo-sophischen Begrndung des Rangs und desWesens von Literatur undKunst,die man bei Aristoteles zu finden glaubte.

    Andererseits ist diese Hinwendung zu einem neuen, neu verstandenenAristoteles Ergebnis einer Abwendung von Aristoteles, die viele sogar miteiner heftigen antiaristotelischen Polemik verbanden. Diese Abwendungwargegen den scholastischen Aristotelismus gerichtet. Verbunden mit diesemscholastischen Aristoteles war vor allem die Vorstellung leerer Begriffs-distinktionen und eines abstrakten und zugleich dogmatischen Systemden-kens. So wie das Denken die Welt in eine hierarchische Ordnung von Gat-tungen undArten einteilte, so sollte dieWelt auch selbst verfasst sein.Obwohldieses Klischeebild auf die Zeit bis zum hohen Mittelalter berhaupt nichtund auf das spte Mittelalter nur in einigen Zgen zutraf, hat es bedeutendeAuswirkungen bis in die Gegenwart.

    Fr die Rezeption der Poetikwar eine der ersten Folgen die beinahe vl-lige Vernachlssigung, jaMissachtung der mittelalterlichen arabischen Kom-mentare.1 Diese Kommentare nehmen zum Ausgangspunkt ihrer Interpre-

    1 Ein besonders markantes Zeichen fr diesen Wandel des Interesses ist, dass die lateinischeGesamtausgabe des Averroes, die beinahe zeitgleich mit der beginnenden Poetik-Kommen-tierung um die Mitte des 16. Jahrhunderts abgeschlossen war (Venedig 1562), zugleich dasEnde der allgemeinen Beschftigung mit Averroes bedeutete. Dem beginnenden histori-schen Denken der Renaissance entsprechend waren fr Averroes nun die Orientalisten zu-stndig, aus der aktuellen philosophischen Diskussion verschwand er weitgehend.

  • X Vorwort

    tation die systematische Einteilung der aristotelischen Philosophie, wie siein den antiken, v. a. sptantiken Aristoteleskommentaren erlutert ist, undordnen diePoetik den logischen (d.h. hier: theoretischen)Disziplinenzu, unterdenen sie den untersten, der Anschauung nchstliegenden Rang einnehme.

    Diese Einordnung war fr die Interpreten der Renaissance ein Beispielfr eine weltfremde, rationalistische Systematik, die sich zur Beglaubigungnur auf Autoritten (Aristoteles und Kirche) statt auf Erfahrung sttzte. DieOrdnung (und Schnheit) derWeltmusste in ihr selbst gesuchtwerden.GenaudieseAufgabenstellung aber schien der wahre, nicht scholastischeAristotelesselbst verfolgt zu haben. Die Poetik war ein wichtiges Dokument fr dieEntdeckung dieses neuenAristoteles.Denn die Leistung derDichtung schienAristoteles in der Poetik darin gesehen zu haben, dass sie sich anders als dieGeschichtsschreibung nicht auf Einzelaspekte derWirklichkeit mit ihren vie-len Kontingenzen bezog, sondern sich dem Allgemeinen, WahrscheinlichenundNotwendigen zuwendete, also derOrdnung, den Regelmigkeiten, derProportion undHarmonie und dadurch der Schnheit der erfahrbarenWelt.Wenn die Dichtung zur Erfllung dieser Aufgabe fhig war, dann gehrte sienicht zu einer untergeordneten Klasse von Wissenschaften und Knsten,sondern musste als die hchste, umfassendste Form der Welterfahrung be-wertet werden. Der Dichter, der die erfahrbaren Einzeldinge der Welt aufihre innere Begrndetheit in der allgemeinen Ordnung der Dinge durch-schauen und der aus ihr heraus eine eigene Welt rekonstruieren und darstel-len konnte, war ein zweiter Schpfergott.

    Der Aufstieg und Fall der aristotelischen Regelpoesie in der Neuzeithngt von den unterschiedlichen Antworten auf die Frage ab, ob und wiederDichtung dieseNeuschpfung einer fiktiven, aber aus den innerenGrn-den der Natur oder Wirklichkeit geschaffenen Welt und das heit Nach-ahmung der Natur berhaupt gelingen kann.

    Die Storichtung der frh einsetzenden Kritik an dieser Nachahmungs-poetik hatte eine subjektive und eine objektive Seite. Aus der Perspektivedes erfahrenden Subjekts musste es fraglich erscheinen diese Fraglichkeitwurde in der geschichtlichen Entwicklung zunehmend betont ob eine Er-fahrung der Welt aus ihren inneren, alles umfassenden Grnden mit denMitteln einer nachrechnenden Rationalitt berhaupt mglich war oder obdiese Leistung nicht allein vom Genie, und das heit: von Intuition, Leiden-schaft, Urteilskraft, Gefhl, Anschauung, vollbracht werden konnte. Dieobjektive Mglichkeit einer Nachahmung der Natur schien gebunden andie berzeugung, dass die Welt nach Zahl, Ma und Gewicht durchgngiggeordnet war.

    Um die Mitte des 18. Jahrhunderts war der Zeitpunkt erreicht, an demdie subjektive wie die objektive Voraussetzung dieser aristotelischenNach-ahmungspoesie destruiert und als eineberschtzungderRatio und eineMeta-

  • XIVorwort

    physizierung derWelt diagnostiziert war: Mit demAufkommen derGenie-bewegung hatte der dichtungstheoretische Aristotelismus fr immer ausge-dient.2 Auf jeden Fall gehren zur aristotelischen Nachahmungspoesieseither zwei negative Zge, die fr ein nachromantisch-modernes Denkenmit einem grundstzlichen lack of sympathy verbunden sind:3 die rationalis-tische, technisch-methodische Erklrung nicht nur der Interpretation, son-dern auch der Schpfung von Kunst und Dichtung und ein dogmatischerRealismus mit seinem Glauben an eine universale Ordnung von Welt undGeschichte.

    Bereits diese wenigen Andeutungen ber die Geschichte der Poetik inder Neuzeit zeigen, wie stark die Interpretation der Poetik von den Proble-men und Bedingungen, unter denen sie rezipiert wurde, beeinflusst, ja ber-formt ist. Der Grundgedanke, von dem das Verstndnis der Dichtung alsNachahmung der Natur abhngt, der Gedanke, dass die ganze Welt vonRegel, Ordnung, Proportion durchdrungen sei, ist kein mgliches Aristote-lisches Konzept, sondern hat seine geschichtliche Herkunft in der antikenStoa. Fr diese ist der dogmatische Glaube an eine universale Ordnung vonWelt und Geschichte ebenso wie der Glaube, man knne diese Ordnung ra-tional erfassen, charakteristisch, nicht fr Aristoteles.4

    Eine Interpretation der Poetik, die ihre historischen Bedingungen mitzu-bedenken sucht, steht daher vor einer komplexen Aufgabe. Sie kann sichnicht auf die Geschichte der Poetik-Deutungen beschrnken, sondern musszuvor den Wandel der Aristoteles-Deutung in der frhen Neuzeit, den da-mit verbundenen Bruch mit der mittelalterlichen Scholastik, die Identifizie-rung der neuentdeckten Antike mit der Antike des Hellenismus und dieAuswirkungen dieser Wandlungsprozesse untersuchen.

    Diese Wandlungsprozesse bilden den Boden fr die Entstehung einesModernittsbewusstseins, das die Antike und das antike Denken als sei-nen unmittelbaren Gegensatz empfindet. Da die Wiederentdeckung der

    2 S. Fuhrmann 1973, S. 302.3 S. Halliwell 1987, S. 69.4 Auchwenn die hellenisierende Tendenz der neuzeitlichenAristoteles-InterpretationAristo-

    teles selbst als Vertreter einer durchgngigen (eidetischen) Ordnung der empirischen Weltausgibt daran, dass die empirische Welt fr ihn von Zufall und Unbestimmtheit durch-mischt ist, gibt es keinen philologisch begrndbaren Zweifel. Die Bedeutung der Verbin-dung des ideellenMoments mit unbestimmterMaterie betont Aristoteles nicht einmal, son-dern vieleMale; in derPoetik leitet er aus der unbestimmtenPluralitt derWelt nachdrcklichab, dass sie nicht zumMa genommen werden kann fr eine durchorganisierte Einheit, wiesie Dichtung anstrebe (s. Kommentar zu Kapitel 8 und 23). Der Stoiker Kleanthes spricht ineinem berhmten Hymnus Zeus so an: erhabenster Gott, der du dem Gesetz gemalles lenkst, dir folgt dieser ganze Kosmos, so leitest du den allen gemeinsamen Logos,der alle Dinge durchgngig bestimmt (v.Arnim, SVF, Bd. 1, Nr.537, V. 113). Eine solcheVorstellung von der Erhabenheit der durchgngigen, gttlichen Ordnung der Welt gibt esbei Aristoteles an keiner Stelle.

  • XII Vorwort

    Poetikmitten in dieseUmbruchsphase fllt, sind auch ihre allgemeinen geistes-geschichtlichen Bedingungen fr ihre Deutung und Deutungsgeschichteunmittelbar relevant.

    Erstaunlicherweise zeigte die Beschftigung mit der Interpretationsge-schichte der Poetik, dass wichtige Vorgnge und Sachdiskussionen, die frdiesen Aufbruch in die Moderne verantwortlich waren, kaum beachtetwerden. So ist z.B. gut belegt, dass das Literaturverstndnis der frhenNeu-zeit lngst intensiv von Horaz, Cicero, Seneca, Quintilian beeinflusst war,bevor erst um die Mitte des 16. Jahrhunderts ein neues Interesse auch ander Aristotelischen Poetik dazukam. Dass es sich hier aber nicht um einebesondere Rezeptionssituation im Bereich von Dichtung und Rhetorik han-delt, sondern um den Teil einer allgemeinen Neurezeption der hellenistisch-rmischen Antike als der Antike, wird weit weniger grndlich verfolgt.Damit bleibt auch ausgeblendet, dass es zwar dem allgemeinen Zeitbewusst-sein der Renaissance entsprach, den Bruch mit demMittelalter als eine Wie-derbelebung der Antike zu verstehen, dass dieser Bruch aber de facto ineinem Wandel des Rezeptionsinteresses bestand. Die Antike des Platonis-mus und Aristotelismus im Mittelalter, die ber 1000 Jahre lang eine bedeu-tende Kulturbrcke zwischen Orient und Okzident ermglicht hatte, warfr dieses Bewusstsein nicht existent.

    Die durch diesen Sachverhalt fast provozierte Frage, wie denn ein neuesInteresse an einer zuvor weniger beachteten Phase der Antike Anlass fr einso radikales Bruchbewusstsein hat werden knnen, muss unter vielen As-pekten als immer noch unbeantwortet gelten. Einen wichtigen Hinweis dar-auf, dass dafr nicht nur einmalige historische Bedingungen Ursache waren,gibt die Tatsache, dass es um 300 vor Christus schon einmal einen Bruch mitden platonisch-aristotelischen Schulen gegeben hat und dass die damals neuentstehenden Schulen der Skepsis, der Stoa und des Epikureismus fr fast500 Jahre die allgemeinen kulturellen Diskurse der Antike in Griechenlandund Rom dominierten, bis im dritten Jahrhundert nach Christus sich erneuteine Wende zurck zu (Neu-)Platonismus und Aristotelismus vollzog, de-ren Schulen dann ihrerseits fr gut 1000 Jahre fast alle Kulturbereiche (undzudem in verschiedenen Regionen, Zeiten, Kulturen) durchdrangen. Natr-lich gibt es in allen Phasen auch ein Weiterleben, ein (eingeschrnktes) Wis-sen vom Alten und eine Vermischung mit ihm, beherrschend aber sind diejeweils neuen Formen.

    Da sich dasNeuheitsbewusstsein der Renaissancewesentlich auf dieWie-derbelebung der (hellenistischen) Antike sttzt, mssen fr ein korrektesUrteil ber diese Vorgnge auch die sachlichen Unterschiede zwischen denbeiden antiken Grundpositionen mitanalysiert werden. Dazu gehrt auch,dass die Formen der Vermischung und des wechselseitigen Gebrauchsvoneinander verfolgt werden. Auch in der Antike haben sich z.B. die Stoi-

  • XIIIVorwort

    ker nicht ungern auf ihre (partielle) bereinstimmungmit Platon undAristo-teles berufen, und die moderne Forschung folgt ihnen in diesem Urteil nichtselten, obwohl diese hellenistischen Philosophen eine streng empiristisch-materialistische undnominalistischeLehre vertretenundalle davon abweichen-den Positionen des Platonismus und Aristotelismus ausdrcklich als idealis-tisch abgelehnt haben.

    Eine konsequente und konkret bestimmteGrenzziehung ist bis heute nichtzureichend geleistet, weder fr die Antike noch fr dieNeuzeit. Die Frhneu-zeitforschung konzentriert sich vor allem auf nach vorne, in dieModernewei-sende Aspekte: auf die Entdeckung der Subjektivitt (an Stelle der Geist-seele), der Individualitt (an Stelle der Gemeinschaft), der Geschichtlichkeit,der Hermeneutik, der Neutralitt des Staats (der kein allgemeines Gutes mehrzumZiel hat), auf die Formalisierung derWissenschaften, dieMechanisierungdesWeltbilds, oder auch auf die Emanzipation der Philosophie von der Theo-logie, der Vorstellungskraft von der Ratio, der Pluralitt von der Autorittusw. Sie macht sich auf diese Weise das Auf- und Umbruchsbewusstsein derdamaligen Zeitgenossen zu eigen und verstrkt damit sogar noch den Ein-druck, alle dieseNeuerungen seien etwas zuvor berhaupt nichtDagewesenes.

    Fr die Interpretation und auch fr die allgemeine Rezeption der Poetikergibt sich der Befund, dass die antischolastische Ausgangssituation mit ih-rem (hellenistischen) Preis der (durchgngigen, allgemeinen) Ordnung undSchnheit derWelt als ein grundstzlich noch aristotelischer Ausgangspunktangenommen wird. Die weitere Entwicklung wird auch hier vor allem mitBlick auf die Bewegung auf die Moderne hin, d. h. mit Blick auf die zuneh-mende Subjektivierung und sthetisierung der Literatur untersucht. Einbesonders markantes Zeichen fr diese Perspektivenverengung ist z.B. dieTatsache, dass es bis heute nicht einmal eine Diskussion ber den vllig an-deren Ausgangspunkt der arabischen Kommentare gibt, obwohl dieser Aus-gangspunkt eine bestimmte Einordnung der Dichtung und Dichtungs-theorie in das Netz der verschiedenen Disziplinen bei Aristoteles keineBesonderheit dieser mittelalterlichen Kommentare ist, sondern sich bei al-len groen Aristoteles-Kommentatoren der Antike findet.

    Der Versuch, die Poetik nicht nur imHorizont ihrer neuzeitlichenRezep-tionsbedingungen, sondern auch von der antiken und mittelalterlichen Er-klrungstraditionher zuverstehen, steht daher vor vielen Schwierigkeiten.DieseSchwierigkeiten sindderGrund,weshalb ich dieArbeit an derKommentierungder Poetik unterbrochen habe. Bevor nicht das in der frhen Neuzeit entstan-dene antithetische Bewusstsein von antik und modern und die Bedeutungdieses Bewusstseins fr das Selbstverstndnis dieser Moderne grndlichergeklrt war, konnte auch das Verhltnis der Aristotelischen Poetik zu ihrerneuzeitlich-modernen Deutung nicht angemessen beurteilt werden.

  • XIV Vorwort

    In einem gemeinsam mit Schlern und Kollegen durchgefhrten ProjektDeutung der Antike und neuzeitliches Selbstverstndnis haben wir dieseAufgabe wenigstens in einigen Grundzgen zu bewltigen versucht.5 Erstauf der Basis dieser Forschungen, ber die ich in der Einleitung das fr diePoetik Wichtigste mitzuteilen versuche, konnte die Arbeit am Kommentarfortgefhrt und vorlufig abgeschlossen werden.

    Das Ergebnis erwies sich als beraus aufschlussreich im positiven undnegativen Sinn. Denn das ganzeArsenal anKritik, die gegenAristoteles klei-nes Buch ber die Dichtkunst vorgebracht wurde, stammt fast vollstndigaus der unhinterfragten Hinnahme der neuzeitlichen Ausgangssituation derPoetik-Rezeption. Aristoteles eigenes Anliegen, die Bedingungen der Kre-ation von Dichtung in der mglichen Ausbildung bestimmter Fhigkeiten,die der Mensch als Mensch (und nicht als Lebewesen berhaupt) hat, zusuchen, macht die Poetik als einen Text von hoher Konsistenz lesbar, dessenEinsichten zu einem guten Teil eine groe Aktualitt (und Subjektivitt) ha-ben, die viele der modernen Oppositionen der Literatur- und Kunsttheorie(zwischen Verstand undGenie, Vergngen und Belehrung, Subjektivitt undObjektivitt, Realitt und Fiktion) auf eine interessante und differenzierteWeise unterlaufen.

    Bei einer so groen Arbeit, wie es das Verfassen eines Kommentars zurPoetik ist, ist man auf vielerlei Hilfe angewiesen, die man nicht im einzelnenbenennen kann. Danken mchte ich besonders herzlich Gyburg Radke, diefast alle Kapitel grndlich gegengelesen hat. Ihre substantielle und anregen-de Kritik hat zur Vermeidung mancher Fehler beigetragen und viele bessereFassungen mglich gemacht. Fr eine kritische Lektre danke ich auchBrigitte Kappl, Rainer Thiel, Friedrich Uehlein und Wolfgang Bernard. Beiden komplizierten und langwierigen Problemen der endgltigenHerstellungeines publikationsfhigen Textes und bei der Erstellung der Indices habenmir uneigenntzig und selbstlos Martin Fellmann, Michael Krewet undMathias Michel sehr geholfen. Thomas Busch hat mit einer grndlichenDurchsicht der bersetzung noch einmal viele treffende Vorschlge beige-bracht. Ihnen allen kann ich gar nicht genug danken.

    5 In einer Monographie Die Moderne und Platon habe ich ber die wichtigsten Ergebnisseder Projektarbeit zu berichten versucht. Im Literaturverzeichnis findet man auch die bri-genArbeiten der Projektteilnehmer angefhrt. Besonders hinweisenmchte ich aufGyburgRadke, Die Theorie der Zahl im Platonismus, mit dem dort gefhrten Nachweis, dass Er-kenntnistheorie auch im Platonismus und Aristotelismus eine Reflexion des Denkens aufsich selbst bedeutete und nicht eine dogmatische Einteilung der Welt in Gattungen undArten.

  • XV

    Vorbemerkung zur bersetzung

    Die Poetik ist ein in nchterner Wissenschaftsprosa geschriebener Text, dersich an einenAdressatenkreis richtet, dermit der aristotelischenBegrifflichkeitundDenkweise vertraut war. Aristoteles drckt sich deshalb manchmal ellip-tisch aus, er lsst selbstverstndlich zu ergnzendeTeile derGedankenfhrungweg. Der leichteren Verstndlichkeit wegen habe ich diese Ellipsen vervoll-stndigt, wo es hilfreich schien. Auerdem ist Aristoteles zwar streng in derAusarbeitung des gemeinten Sinns, hlt eine zu pedantischeWortgenauigkeitaber fr verfehlt. Er gebraucht deshalb, wo der Sinn klar ist, hufiger gleicheAusdrcke in unterschiedlicher Bedeutung. Wo es fr das Verstndnis wich-tig war, habe ich die griechischen Termini in eckigen Klammern dazu gesetzt.Fr manche Wrter gibt es in modernen Sprachen kein quivalent, manchesind von Aristoteles in einem von ihm selbst systematisch entwickelten Sinngebraucht (z.B. spoudaos). In diesen Fllen habe ich den von Aristotelesintendierten Sinn ausfhrlicher, d.h. nicht nur in einemWort wiederzugebenversucht. In allen anderen Fllen versucht die bersetzung mglichst auchdem Wortlaut zu folgen. Die bersetzung und Bedeutung der wichtigstenBegriffe der Poetik habe ich in einer kurzenberschau zusammengestellt.

    Bei der bersetzung habe ich natrlich mehrere Editionen eingesehen,der Referenztext ist aber die Ausgabe von Kassel. Abweichungen von Kasselsind in einer Zusammenstellung benannt.

    Im Text der bersetzung sind die runden Klammern ( ) aus dem griechi-schen Text der Ausgabe von Kassel bernommen, sie bezeichnen also Ab-schnitte, von denen Kassel annimmt, dass sie von Aristoteles selbst in Paren-these gesagt sind.

    SpitzeKlammern V W bezeichnen die Einfgungen,mit denen ich verkrzteAusdrcke bei Aristoteles vervollstndigt habe.

    Eckige Klammern [ ] geben knappe Wort- oder Sacherklrungen, z.B.den an dieser Stelle anders als sonst gebrauchten griechischen Begriff oderden besonderen deutschenAusdruck fr einen eigentmlich gebrauchten grie-chischen Begriff.

    Verdoppelte spitze Klammern VV WW kennzeichnen eine Konjektur, d.h. eineEinfgung, die etwas ergnzt, was im Text nicht steht, aber stehen msste.

    Doppelte eckige Klammern [[ ]] entsprechen einfachen eckigen Klam-mern bei Kassel und kennzeichnen erklrende Einfgungen in den Hand-schriften.

    Doppelte Sternchen ** entsprechen dem Gebrauch bei Kassel zur Kenn-zeichnung einer Lcke im berlieferten Text.

  • XVI

    Zentrale Begriffe

    anagnsrisis: Wiedererkennung apangela: Bericht, narrative Darstellung dinoia: Denkweise, Erkenntnishaltung (als Ausdruck eines bestimmten

    Charakters), Argumentationsweise; allgemein: rationales Vermgen desMenschen; Definition: 1450a6f., auch 50b4f.; 50b11f.

    dnamis: Vermgen, Potenz, Potential, Knnen leos: Mitleid epeisdion: Szene, Epeisodion, Episode rgon: Werk, Aufgabe, die etwas erfllt, Leistung, Funktion rthos: Charakter (wie er sich vor allem durch wiederholtes Handeln bil-

    det, nicht primr kognitiv) hamarta, hamrtema: tragische Verfehlung harmona: musikalischeGestaltung,Harmonie, geordnete Tonverhltnisse hedonr: Lust, Gefhl ktharsis: Reinigung lxis: gesprochene Sprache, Ausdrucksweise, sprachliche Gestaltung, Stil,

    Abfassung der Sprechverse; Definition (1450b13f.): Vermittlung von In-halten durch sprachlichen Ausdruck

    lgos: Begriff, Aussage (etwas ber etwas), Sprache, Denken melopoia: Lieddichtung mmesis: Nachahmung fiktiver oder realer Gegenstnde in einemMedium

    (Farbe, Ton, Sprache, ) auf eine bestimmteWeise: Verschiedenes in Ver-schiedenem auf verschiedene Weise (1447a17f.); in engerem Sinn: drama-tische Darstellung (im Gegensatz zum narrativen Begriff)

    mthos: Definition (1450a4f.): snthesis (auch sstasis) ton pragmton;Hand-lungskomposition, Komposition einer einheitlichen Handlung, durchorga-nisierte Handlungseinheit, einheitliche Handlung; Handlungsverlauf; auch:in der Sage berlieferteGeschichte (selten)

    psis: das Visuelle, uere Ordnung der Auffhrung, Auffhrung, Insze-nierung

    pthos: Gefhl, Leid peripteia: Handlungsumschwung phalos: schlecht, gering; in der Ethik: jemand, der seine Anlagen vernach-

    lssigt hat, in der Politik: jemand, der nicht zu selbstndigerWahl befhigtist

    phbos: Furcht prxis:Handlung (das,wasman zumErreichen einer Lust oder eines subjek-

    tivGuten tut, kein objektivesMachen, keine bloe Ereignisfolge, kein plot) spoudaos: jemand, der seine Anlagen (oder einzelne Fhigkeiten) vervoll-

    kommnet hat; jemand, der Wichtiges ernsthaft verfolgt

  • XVII

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

    von Thomas Busch

    Antike

    Die Poetikwar zunchst nur fr den innerschulischenGebrauch bestimmt (s.u. S.47f.,s. dort auch zu Abfassungszeit und -ort): sie zhlt zu den ,esoterischen Schriften,den ausgearbeiteten lecture-notes des Aristoteles.1 Verffentlicht wird sie im 1. Jh.v.Chr. innerhalb der Gesamtausgabe aristotelischer Lehrschriften durchAndronikosvon Rhodos (der auch dieWerke Theophrasts herausgibt) in Rom und gehrt seitherzum Corpus aristotelicum.

    In der Rhetorik bezieht sich Aristoteles zweimal (1372a1f.; 1419b5f.) auf seineBehandlung des Lcherlichen, auch innerhalb der Poetik verweist er auf den Teil berdieKomdie (1449b21f.). Diogenes Laertios (V, 24) verzeichnet von der Poetik BuchI,II; die beiden einzigen bekannten wrtlichen Zitate aus der Antike sind BuchII ent-nommen: in einem anonymen Lexikon, dem ,Antiatticista, aus dem 2. Jh. und, wohlabhngig von Porphyrios (3. Jh.; s. Janko 1984, S. 63 und S. 172), in Simplikios Kate-gorien-Kommentar (verfasst nach 538; CAGVIII, S.36,1315); anders als Simplikios(ebd., S. 36,26) spricht Ammonios, sein Lehrer in Alexandria, von den VBchernW derPoetik (In De Int. [CAGIV,5], S.12,3013,2; mit Bezug auf 1456b20f.).

    Zusammenmit derRhetorik bildet die Poetik bei Ammonios den asyllogistischenTeil der Aristotelischen logikr pragmatea bzw. des rganon (In Anal. pr. [CAGIV,6],S. 11,1838), bei seinen Schlern Olympiodor (In Cat. [CAGXII,1], S. 8,819) undJohannes Philoponos (In Cat. [CAGXIII,1], S. 5,1114) zusammen mit den Sophis-tischen Widerlegungen, der Topik und der Rhetorik die dritte und letzte Abteilungder logischen Schriften bzw. der autoprsopa organik, bei Philoponos nur mit demVorbehalt, wie einige meinen; Simplikios fhrt die Poetik in seiner Einteilung derAristotelischen Schriften gar nicht auf (In Cat. [CAGVIII], S. 4,31f.).

    So gibt es auch nur einen vagen Hinweis auf einen sptantiken Kommentar. ImFihrist, der groen Bibliographie al-Nadims (um 980), heit es zur Poetik: Es hatsie bersetzt Abu Bishr Matta aus dem Syrischen ins Arabische, und es hat sie (fer-ner) bersetzt Yahya ibn Adi. Auch wird gesagt, da ber sie eine Untersuchung vonThemistius[2] existiere; doch wird gesagt [von anderen], da sie ihm unterschobensei (Fihrist 250; zitiert nach Tkatsch 1928, S. 122a). Den syrisch-arabischen ber-setzern lag das zweite Buch bereits nicht mehr vor.

    1 Ausdrcklich den herausgegebenen Schriften gegenbergestellt wird die Poetik 1454b18;gemeint ist hier wohl der nur in Fragmenten erhaltene Dialog ,ber die Dichter.

    2 Al-Farabi (s. u.) zhlt in den ,Canons of Poetry Themistios explizit zu seinen Quellen:These are the varieties ... of Greek poetry, so far as we have read in the discoursesattributed to the philosopher Aristotle on the Art of Poetry, to Themistius, and other ancientwriters (S. 276).

  • XVIII

    Mittelalter

    um 900: eng am griechischen Wortlaut orientierte syrische bersetzung3 [Syr] derPoetik durch Ishaq ibn Hunain4 (gest. 910/11) an der von seinem Vater, demnestorianischenArztHunain ibn Ishaq, geleitetenbersetzer-Akademie amHausder Weisheit in Bagdad (gegr. 830 von al-Mamun) dem Zentrum der Vermitt-lung griechischer Wissenschaftskultur an Syrer und Araber. Erhalten als Zitatim Buch der Dialoge des jakobitischen Bischofs undAbts Jacob bar Shakko (gest.1241) ist nur die Passage 1449b2450a9 des 6.Kapitels mit der Definition derTragdie. Die verlorene griechische Vorlage ist die lteste erschliebare Kopie[S] der Poetik sieht man einmal von dem Archetypen [L] ab, der oft als ge-meinsamer Ausgangspunkt des griechisch-syrisch-arabischen und des griechisch-lateinischen Zweiges der berlieferung angesetzt wird.

    um 932: arabische bersetzung [Ar] der syrischen Version durch Abu Bishr Matta(gest. 940), bis auf die ausgefallenen Passagen 1460a1761a7 und 1462b519 (durchVerlust des letzten Blatts) vollstndig erhalten im codex Parisinus arab. 2346(ehemals 882 A) [P] aus dem 11. Jh.DerNestorianerAbuBishr studierte in Bagdadbei Philosophen und Medizinern; ab 932 stand er dort als ,der Logiker in ho-hem Ansehen: nach dem Fihrist (249; 263) hatte er u. a. auch die syrische ber-setzung der Zweiten Analytiken durch Ishaq ibn Hunain ins Arabische bertra-gen (s. Tkatsch 1928, S. 126f.). Seine Poetik-Version war Vorlage fr die

    vor 951: ,Canons of Poetry des al-Farabi, des ,Zweiten Lehrers [nach Aristoteles].5

    10. Jh.: lteste erhaltene Handschrift der Poetik im cod. Parisinus gr. 1741 (folia 184199) [A] (bei Bekker: Ac); der codex enthlt auch die Rhetorik (ff. 120184),Demetrios Per hermqneas sowie rhetorische Schriften des Dionysios vonHalikarnass und acht weiterer Autoren. Harlfinger/Reinsch6 unterscheiden vierSchreiber; hnlicheHnde anderer Hss. sind datiert zwischen 924 und 988. Thisfine specimen of Byzantine calligraphy (Bywater 1909, S. xxvii) trgt im Exlib-ris auf f.301v denNamen des Theodoros Skutariotes, dessen Bibliothek sichMittedes 13. Jhdts. in Konstantinopel befand (s. Tkatsch 1932, S. 33f.). Dort lag dercodex noch 1427 (und bis zum Fall Konstantinopels?), gelangte sptestens 1468nach Italien und gehrte Mitte des 16. Jhdts. zur Hss.-Sammlung des Florenti-ner Kardinals Ridolfi, with others of which it passed by a well-known path toFrance7 (noch im 16. Jh.).

    3 in eine Sprache , die auf fast bestrzende Art an das fremde Idiom angepasst ist [durchflexible Wortfolge, Einfhrung eines Medium-Passivs, eine groe Zahl an Grzismen, Ent-lehnungen undTranskriptionen]; s.H.J. Drossaart Lulofs:Aristoteles Arabus, in:Aristotelesin der neueren Forschung, hg. v. P.Moraux,Darmstadt 1968 (Wege der Forschung 61), S.400420; hier: S.405.

    4 Der Fihrist nennt in dem Artikel ber Alexander von Aphrodisias (253) Ishaq als (syri-schen) bersetzer der Poetik; s. Tkatsch 1928, S. 122b.

    5 Zu den arabischen Kommentaren s.u. ber den Index, S.766; s. auch S. 144.6 D. Harlfinger u. D. Reinsch:Die Aristotelica des Parisinus Gr. 1741, Philologus 114 (1970),

    S.2850; Reproduktionen der Hand ,A, aus der auch der Poetik-Text stammt, auf Tafel I.7 E. Lobel: The Greek Manuscripts of Aristotles Poetics, Oxford 1933 (Supplement to the

    Bibliographical Societys Transactions. No.9), S.7.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XIX

    um 960: (verlorene) arabische Neubersetzung der syrischen Version durch Yahyaibn Adi (gest. 974), einen Freund al-Farabis und kritischen Schler Abu BishrMattas, der dessen Erstbertragung evtl. nur revidierte8 (s. Tkatsch 1928, S.128a).Beide durch den Fihrist (s. o.) bezeugten Versionen waren Vorlage (s. u. S.XXII)fr die

    1024~27: Kommentierung der Poetik durch den arabischen Arzt Ibn Sina oderAvicenna, den ,Dritten Lehrer; erhalten in mehreren Hss.

    vor 1160: ,Kurzer Kommentar des Ibn Rushd oder Averroes aus Cordoba, des ,Kom-mentators [des Aristoteles], und

    um 1175: Averroes ,Mittlerer Kommentar zur Poetik auf Grundlage der berset-zung Abu Bishr Mattas; auch al-Farabis ,Canons of Poetry und der KommentarAvicennas lagen ihm vor. Erhalten in zwei Hss.

    1256: lateinischebersetzung vonAverroesMittleremKommentar (,Poetria) durchHermannus Alemannus in Toledo; im Mittelalter der lateinische Referenztextzur Poetik berliefert in 24 Hss.

    1278: wortgenaue lateinische bersetzung der Poetik durchWilhelm vonMoerbeke[Lat], berliefert in zwei Hss.: cod. Toletanus Bibliothecae Capituli 47. 10 [T](ca. 1280) und cod. Etonensis Bibliothecae Collegii 129 [O] (ca. 1300). In dieserHs. heit es am Ende: Primus Aristotilis de arte poetica liber explicit. Alleluia.Wilhelms verlorene griechische Vorlage [F] ist unabhngig von, aber eng ver-wandt mit A.

    vor 1287: der jakobitische Bischof Gregor Bar-Hebraeus behandelt in seiner vonAvicenna beeinflussten Enzyklopdie des Aristotelismus (,Butyrum sapientiae,engl. ,Book of the Cream of Wisdom) auch die Poetik mit wrtlichen Zitatenaus Syr: neben Ar und den arabischen Kommentaren eine weitere, unabhngigeQuelle zur Erschlieung von Syr und damit von S, s. Schrier 1997, S. 273f.

    14. Jh.: zweitlteste erhaltene Handschrift der Poetik im cod. Riccardianus gr. 46 (ff.91112v) [B] (bei Tkatsch: R); a very carelessly written MS9, intorno al 1300,forse a Costantinopoli10. Es fehlen der Anfang bis 1448a28 (nach dem Verlustdes ersten Blatts so blieb dieser Text lange unentdeckt) und die Passage 1461b362a18; am Schluss hat B die zum 2.Buch berleitendenWorte: ber die Iamben-dichtung und die Komdie aber vielleicht eine sog.Reclamans aus der Zeit,when separate rolls of papyrus needed to be kept together in a book-box (capsa),before the codex was introduced (Janko 2001, S. 68, Anm.4 zu S. 52).

    8 Diese Abhngigkeit wurde in Fig.1 nicht dargestellt, s. u. S.XXIII.9 G.F. Else in seiner Rezension der Ausgabe Kassels (Gnomon 38 (1966), S. 761766), S. 765.10 Gallavotti 1974 in seinerNota sulla costituzione del testo, S. 241; vgl. Lobel 1933, S. 7: B, of

    whose history absolutely nothing is known before its rediscovery in 1878 by Susemihl [ au-er, dass auf irgendeinemWeg Lesarten von B in mindestens zwei jngere Hss. eingeflossensind, s. u.]

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XX

    Renaissance

    15./16. Jh.: mehrere Renaissance-Hss.; Lobel 1933 (S.1f.) fhrt 29 codices recentioresauf, Harlfinger/Reinsch 1970 (S. 3742) finden drei weitere darunter eine vondrei direkten Abschriften der Hs. A, den cod. Vaticanus gr. 1904. Dieser undseine beiden AbkmmlingeVaticanus 1388 und Estensis 100 (jetzt a.T.8.3) stam-men von derselben Hand. Nach dem Estensis 100 postuliert Lobel (S. 2831)zwei Zwischenstufen [e], [z] vor dem cod. Parisinus gr. 2038 und nimmt fr diesedrei ,Kontamination durch B an; die so in e eingearbeiteten Lesarten kann auchdessen Abschrift cod. Laurentianus gr. 31.14 noch aufweisen.11Dieser und insbes.der Parisinus 2038 (beide wurden in der 2. Hlfte des 15. Jhdts. geschrieben undenthalten auch die Rhetorik) sind also sofern sie von der ursprnglichen Ge-stalt (s. Lobel, S.24f.) des Estensis 100 abweichen zur Rekonstruktion der in Bausgefallenen Passagen heranzuziehen.

    1481: editio princeps der ,Poetria des Hermannus Alemannus durch L. de Zerlis inVenedig: die erste Druckausgabe zur Poetik berhaupt.

    1498: ebenfalls in Venedig erscheint die lateinische bersetzung von Giorgio Vallaauf Grundlage des Estensis 100, den er selbst besessen und mit Marginalien ver-sehen und korrigiert hat; galt bis 1930 als die erste lateinische Version.

    1508: editio princeps der Poetik bei Aldus Manutius in Venedig nicht innerhalb derAristoteles-Gesamtausgabe 149598, sondern in Bd. I der Rhetores graeci (excodice Parisino ed. D. Ducas, S. 269287) zusammen mit der Rhetorik und derunechten Rhetorik an Alexander. Vorlage bei der Drucklegung war nach Lobel1933 (S.3133) eine (durch denAmbros. B 78 kontaminierte) Kopie [h] des (durchB kontaminierten) Parisinus 2038; die Druckvorlage fr die beiden Rhetorikenbildete ebenfalls eine wesentlich vom Parisinus 2038 abhngige Hs.12

    16. Jh.: intensive Editionsttigkeit (s. u. S. 143f.; dazu S. 764f.), auch unter weitererHeranziehung vonHss. (deren Produktion nach der ,gran academia [aristotlica]im Rahmen des Konzils von Trient 154563 praktisch endet): 1536 Gu.Pazzi beiAldus mit der lateinischen Neubersetzung seines Vaters Alessandro, die zu-sammen mit der Aldina den ersten Renaissance-Kommentaren von Maggi/Lombardi 1550 in Venedig und Robortello 1548 in Florenz zugrunde liegt; Morel1555 in Paris versucht von der Aldina abzugehen; Vettori 1560 vergleicht meh-rere FlorentinerHss., darunter einen vetustissimum librummanu scriptum,13 undunterzieht den Text der Aldina einer eingehenderen Kritik; letzte italienischeRenaissance-Ausgabe durch Castelvetro 1570 mit italienischer Erstbersetzungund ausfhrlicher Kommentierung.

    11 M.Fuhrmann:Untersuchungen zurTextgeschichte der pseudo-aristotelischenAlexander-Rhe-torik, Mainz 1965 (Akad.Mainz 1964,7), S.714719, fhrt dagegen dieMehrzahl der Varian-ten, die der Paris. 2038 bzw. dieser mit dem Laur. 31. 14 gegen den Est. 100 aufweisen, auftextkritische Bemhungen (vermutlich des bedeutenden Hss.-Forschers Janos Laskaris)zurck.

    12 R.Kassel: Der Text der aristotelischen Rhetorik. Prolegomena zu einer kritischen Ausgabe,Berlin/New York 1971 (Peripatoi 3), S. 61f. mit Anm.23.

    13 Dieser ist nach Lobel 1933 (S. 2) nicht mit der Hs.A zu identifizieren.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XXI

    Textkritik des 19. und 20. Jhdts. seit Bekker

    1831: nachdem frTyrwhittsOxford-Ausgabe1794, die siebte undbis dahin beste briti-scheEdition des griechischenTextes, neben anderenHss. auch dieParisini 1741und2038 kollationiert wurden, bercksichtigt Bekker fr die Berliner Akademie-Aus-gabe ebenfalls die Hs. A (u.a.m.), bleibt aber bzgl. der Poetik derAldina verhaftet.

    1867/74/85: Vahlen etabliert gegen die Autoritt der editio princeps (nach Ritter 1839,S.xxivxxvi) dieHs.Anach erneuterKollation als codex unicus (nach Spengel1866),als Archetypen aller anderen erhaltenen Hss., die so zu ,apographa werden, zudirekt odermittelbar vonA abhngigenAbschriften, derenVarianten nur als Kon-jekturen zu werten sind.

    1872: editio princeps desKurzen und desMittleren Kommentars von Averroes durchF. Lasinio in Pisa.

    1876: Susemihl findet die Poetik in der Hs.B; ob auch sie, wie wahrscheinlich, aus Acstammt, vermag [er] nicht zu sagen (Jahrbcher Class. Philol. 24 (1878), S.629).

    1887: editio princeps des syrischen Fragments, der arabischen bersetzung Abu BishrMattas, des Kommentars Avicennas und des einschlgigen Abschnitts des ,Buty-rum sapientiae durchMargoliouth,mit lateinischerbersetzungdes syrischenFrag-ments, der arabischen Version und des Kommentars Avicennas nur in Auszgen.

    1891: Faksimile-Ausgabe14 des Poetik-Textes der Hs.A; wird dann oft anstelle descodex kollationiert, etwa von Lobel 1933 (S. 2) und Kassel 1965 (S. vi), der aberauch A selbst einsieht.

    1894/97/1902/07/11: Butcher relativiert die Bedeutung derHs.A: Vahlens adherenceto the Parisian MS. (Ac) borders on superstition (S.vi). Ab der 2.Aufl. bercksich-tigt er anders als nach ihmBywater verstrkt die arabischeVersion. Im corr. repr.von 1911 sind vermehrt Lesarten der Hs.B und des Parisinus 2038 aufgenommen.

    1909: Bywater zhlt in seiner groenOxford-Ausgabe dieHs.Bnoch zuden apographa.

    1911: erste vollstndige lateinische bersetzung der arabischen Version durch Mar-goliouth; er erkennt die Unabhngigkeit der Hs.B gegenber A: B bietet in ber-einstimmung mit Ar das in A (durch einen saut du mme au mme) ausgefalleneetwa zweizeilige Textstck 1455a14142.

    1928/32: postmortem erscheint die groeNeuausgabe der arabischenVersionmit latei-nischerbersetzung undkritischemKommentar durch J.Tkatsch; gilt als Referenz.

    1930: G. Lacombe findet eine lateinische Version der Poetik in den Hss.O und T; siewirdWilhelm vonMoerbeke zugeschrieben vonGudeman 1934 (S.29), abgesichertdurch L. Minio-Paluello15, der nach Vorarbeiten von Lobel16 die mustergltige

    14 La Potique dAristote: Manuscrit 1741 Fonds grec de la Bibliothque Nationale, prface deH.Omont, photolithographie de M.M. Lumire, Paris 1891 (Collection de reproductionsde manuscrits, Auteurs grecs, I). Zu Mngeln der Reproduktion s. Tkatsch 1928, S.11a.

    15 L.Minio-Paluello:GuglielmodiMoerbeke traduttore dellaPoetica diAristotele (1278), Rivistadi Filosofia Neo-Scolastica 39 (1947), S. 119.

    16 E.Lobel: The Medieval Latin Poetics, Proc. Brit. Acad. XVII (1931), S. 309334.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XXII

    1953: editio princeps der bersetzung Wilhelm von Moerbekes nach E. Valgimiglizusammen mit Ae.Franceschini herausbringt.

    1953: Neuausgabe der arabischenbersetzung, der ,Canons of Poetry des al-Farabi,des Kommentars Avicennas und desMittleren Kommentars von Averroes durchA.Badawi in Kairo.

    1965: R.Kassels kleine Oxford-Ausgabe gilt bis heute als Referenztext. In scharferPolemik insbes. gegenGudeman 1934, aber auch gegenHardy 1932 undRostagni1945 beansprucht er, als erster die Hs. B nach neuer Kollation angemessen zudokumentieren und zu bercksichtigen.

    1966: Neuausgabe des Kommentars Avicennas durch Badawi (nach acht Hss.).

    1967: Neuausgabe der arabischen bersetzung durch Sh.M. Ayyad in Kairo.

    1974: erste englische bersetzung von Avicennas Kommentar direkt aus dem Ara-bischen (nach dem Text von Badawi 1966) durch I.M. Dahiyat.

    1986: Neuausgabe (mit A.A. Haridi) und erste englische bersetzung (2000) vonAverroes Mittlerem Kommentar direkt aus dem Arabischen durch Ch. E.Butterworth.

    1987: R. Janko glaubt, Kassel has not given enough weight[17] to two sources, MSBand the Arabic (S.xxii); er lst mehrere crucesKassels auf und fllt einige lacunae.Den Tractatus Coislinianus (s.u.S.305ff.; ed. princepsCramer 1839) hlt er (nachSpengel und Baumgart) fr eine Zusammenfassung des verlorenen zweiten Buchsder Poetik aus dem 6. Jh. und versucht eine Rekonstruktion.

    Zur nebenstehendenGraphik vgl. das Stemma bei Franceschini/Minio-Paluello 1953,S.XV (hnlich in der 2.Aufl., S.XXI) und die demgegenber reduzierte Version inKassels Ausgabe, S. xii. Die Siglen F, P, X und L werden bereits von Franceschini/Minio-Paluello eingefhrt; X bezeichnet den Hyparchetypen des griechisch-lateini-schen Zweiges der berlieferung, zu allen anderen Siglen s. o.

    Der syrisch-arabische Zweig wurde dargestellt in Anlehnung an Dahiyat 1974,S. 39: Avicenna vergleicht in seinemKommentar zu 1449a21 (ebd., S. 81) zwei ber-setzungen der Poetik; da (oder falls) er selbst weder griechisch noch syrisch las, lagihm offenbar neben Ar eine weitere arabische Version vor, die er als the accuratetranslation (ebd.) vorzieht. Auerdem hat er fr das griechische tragoda die Tran-skription Tarbhudiyb nach dem syrischen Trbgodiyb des erhaltenen Fragments, wh-rend Abu Bishr (the art of) eulogistic poetry bersetzt hatte (s. Schrier 1997, S. 270;bei Tkatsch 1928: ars encomii bzw. encomium). Der Fihrist nennt Yahya ibn Adi alszweitenbersetzer derPoetik (s.o.). Fr die schwierige Erschlieung der altenQuelleS gewinnt so der Kommentar Avicennas erheblich an Bedeutung.

    Der griechisch-lateinische Zweig enthlt denWeg zurAldinamit allen Zwischen-stationen nach Lobel 1933 (S.46; ergnzt nachHarlfinger/Reinsch 1970, s. o. S.XX).

    17 In der Tat scheint Kassel insbes. die syrisch-arabische Seite nicht so zu gewichten, wie esseinem eigenen Stemma entsprche; s. auch Else 1966, S. 62f. und S.64f.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XXIII

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    Syr33

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    Par .2038""

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    B

    B

    Par .2038Par .2038

    Aldina

    saec. ix

    saec. x

    saec. xi

    saec. xii

    saec. xiii

    saec. xiv

    saec. xv

    trad. latina 11

    graeca 11

    syra 11

    arabica ## latina

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

    Fig. 1: berlieferung der Poetik

  • XXIV

    Kassel nimmt innerhalb der in B ausgefallenen Anfangspassage einige Lesarten desParisinus 2038 in den Text auf, die er nach Lobel auf direkte oder indirekte Konta-mination durch B zurckfhrt (s. Kassels App., S. 3); im Widerspruch zu exclusisigitur his codicibus, quorum lectiones propriae coniecturarum loco habebuntur (S. xi)gibt es wenigstens einen codex recentior non deterior wenn auch nur passagen-weise.

    Zur griechischenberlieferung schreibt Lobel 1933 in seinenConclusions (S. 48):One of the MSS., B, is certainly independent of A. Each of the others, having beenfixed in a relation of descent more or less direct from A, is negligible as a witness tothe text taken as a whole. But a text is not necessarily transmitted as a whole, and ifany one chooses to maintain that certain readings in them not inherited fromA (or B)are neither errors nor conjectures, but variants from some source independent of A(and B) now unknown, this view can neither be absolutely disproved nor even shownto be particularly improbable. For imagine B lost and we should at once be unable todistinguish the variants it has bequeathed to Par. 2038 from the apparent errors andconjectures side by side with which they occur.

    Dieser durch die Mglichkeit der Kontamination bedingten Unsicherheit am Fudes Stemmas steht eine ebensolche an der Spitze gegenber: Da Vergleiche einerHs. mit allen erreichbaren Fassungen in antiker Zeit blich waren, gelten die Regelnder Stemmatologie nur fr den mittelalterlichen Teil der berlieferung. Der t. t.Archetypus ist also streng genommen nur auf den ltesten Minuskelcod. einer Tradi-tion anwendbar.18

    Relativ leicht lsst sich die Existenz der mittelalterlichen Hyparchetypen P undX anhandMaasscherKriterien belegen: zuP s. Franceschini/Minio-Paluello, S.XIIIf.,zusammenfassend (und mit Trennfehlern von A bzw. F) Kassel, S. x. So ,verbindetA undF z.B. die Auslassung der Negation 1450a30: poirsei bzw. poetizabit gegen oupoirsei in B, besttigt durch Ar; die schwerste Korruptel dieser Art hat P 1455a14142 (s. o. zu ,1911). Auf einer Stufe hher haben analog B und P beide etwa dieVerschreibung per ton haplon (bei v. Moerbeke: circa simplicem) statt per ton ap-ploun oder anploun (1454b2), bei Abu Bishr: de inversione navium (nach Tkatsch1928, S. 253 mit Anm.97). (Die beiden guten Lesarten knnen, folgt man dem Stem-ma, nur durch Konjektur in die Hss. Ricc.16 bzw. Paris. 2038 eingegangen sein.) Einetwas lngeres Textstck, das die zweite von vier Alternativen beinhaltet, ist 1453b29in X ausgefallen, bei Abu Bishr und Avicenna aber bewahrt, s. u. S.XXVII zur Stelle.

    Derart gravierende Fehler, die der gesamten (mageblichen) berlieferung zueigen wren, lassen sich abgesehen von dem Verlust des zweiten Buchs nichtleicht angeben, nur eher kleinere Verschreibungenwie etwa 1461a25 ZWIA stattZWRA(Vettori nach Athenaios X, 424a) oder 1460a13 anlogon statt logon (Vettori). Ent-sprechend vorsichtig uern sich Franceschini/Minio-Paluello (S.XV): Cognatio interS et B (et fortasse S et A) in stemmatis figura indicata quamquam pro certa non esthabenda tamen, omnibus perspectis, verisimilis et probabilis nobis videtur; mit derUnterschrift ,[Liber I] zu Lweisen sie auf den einen groen Bindefehler der gesam-ten Tradition hin, der sie veranlasst, diese in ein geschlossenes Stemma einzubinden.

    18 H. Erbse: Art. ,Textkritik, in: Lexikon der Alten Welt, Bd. 2, Sp. 302123; hier: Sp. 3022.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XXV

    Kassel verwendet die Siglen X und L als bloe Abkrzungen (L nur selten)19, auchwenn ihre Position im Stemma eine prgnantere Bedeutung suggeriert.

    Die Verschreibung ZWIA ist ein typischer Fehler beim Kopieren von Unzial-schrift, s. Gallavotti 1974, S.242f. Es gibt aber auch Fehler dieser Art, die S nicht mitX teilt, etwa 1456a28 DIDOMENA statt AIDOMENA (bei Abu Bishr: quae canuntur)oder 1462b3 IDIAS statt ILIAS, umgekehrt hat S 1459b23 ILION statt IDION. Diesspricht dafr, dass der fragliche Archetyp L in Unzialschrift geschrieben war undzweimal unabhngig voneinander kopiert wurde.

    Vielleicht schliet man aber in dieserWeise zu schnell auf S zurck: Tkatsch 1932hat im einzelnen gezeigt, wie ein Groteil der Fehler in der arabischen Hs.P auf Ver-lesungen oder Missverstndnisse des syrischen oder des arabischen bersetzers oderauch auf erst in P erfolgte Verschreibungen zurckgefhrt werden kann; so erklrt er(S. 53b) auch einige Auslasssungen als beim Ablesen von S unterlaufene saults dumme aumme (1451b25f., 1455b25, 1455b34f.; vgl. auch 1452b10f.). Bei ihm (S.61a73a) bleibt nur etwa eine Handvoll Korruptelen, die als Trennfehler von S gegen X inFrage kommen, v. a.: 1461a9war ein ausgefallen (so auch 1451a27f.), 1460a14 hie espeita t statt pe t und 1448a8 t statt t eine erstaunlich kleine Basis.

    Die zusammenfassende Formulierung bei Minio-Paluello (S. XIX): translatioarabica, e syra Isaaci Hunaini filii versione saeculi noni exeuntis, a Matthaeo filioIoannis (Abu Bishr Matta ibn Yunus) facta, exemplar graecum saeculo decimoantiquius exstitisse arguit, in quo errores A et B communes sane inveniebantur, sedetiam lectiones aliquae palam incorruptae quas nec A nec B praebent legt sogareher nahe, S selbst als den Archetypen anzusetzen20; andererseits heit es weiterunten (ohne Beispiele) auch von S: suos proprios errores haud paucos praebet.

    Die berlieferung knnte in Einklang mit den wenigen Hinweisen, die wir nochermitteln knnen, vomAusgang der Antike bis ins 10.Jh. folgenden Verlauf genom-men haben:

    Themistios leitete zwischen etwa 345 und 355 seine eigene Philosophenschule inKonstantinopolis und bereitete im Zusammenhang mit der Lehre Paraphrasen ( mitgelegentlich detaillierteren Ausfhrungen) aristotelischer Schriften vor. Mehrere Pa-raphrasen sind verloren21 so auch seine im Fihrist erwhnte ,Untersuchung zur Poe-tik (s. o.). Seine Vorlage22war eine von ihm selbst veranlasste Abschrift23L einer antiken

    19 S. auch Else 1966, S.765.20 Zur Datierung s. Else 1966 (S. 763): Now obviously L, if not S, can have been older, even

    considerably older, than the fifth centuryA.D.DagegenmeinenFranceschini/Minio-Paluello1953 (S.XII), non est cur ultra saeculum nonum ascendamus. Fr die Aristotelische Physikwurde ein (fraglicher) Unzialkodex um das 7. Jh. angesetzt; s. D.Harlfinger: Einige Grund-zge der Aristoteles-berlieferung, in: Griechische Kodikologie und Textberlieferung, hg.v. dems., Darmstadt 1980, S. 447483; hier: S. 448 mit Anm.9.

    21 R. Todd: Art. ,Themistios in:Der Neue Pauly, Bd. 12/1, Sp.303305.22 Die bereits von Susemihl athetierte Glosse ,Epcharmos kai Phrmis (1449b6) knnte von

    Themistios stammen (s.Or. 27, 337b) wenn er sie nicht schon vorgefunden hat.23 vielleicht fr die kaiserliche Bibliothek (gegr. 330 oder bald danach). 350 trat Themistios

    durch seine erste Rede an Constantius in nhere Beziehung zum Kaiserhof, 355 wurdeer zum Senator vonKonstantinopel ernannt; s. B.Colpi:Die paidea des Themistios, Bernu. a. 1987, S.14.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XXVI

    ,heidnischen Rolle: Besonders im christlichenUmfeld setzte sich im 4.Jh. endgltig dieneue Buchform des leichter zu handhabenden und haltbareren codex durch.24

    Danach war die griechische Philosophie und mit ihr der Aristotelismus in Kon-stantinopel ziemlich vernachlssigt worden. Aber im 7. Jh. forschte und lehrte dortwieder der aus Alexandria stammende Stephanos, der sich vorwiegend mit aristote-lischer Philosophie beschftigte.25 Der alte codex wird aufgefunden, nach seinerVorlage wird ein neuer Unzialkodex S angefertigt.

    Seitdem blieb das Interesse fr Aristoteles, wenn auch mit einigen dunklen Ab-schnitten im 8. Jh. , in dieser Stadt lebendig. Hier lie der Kalif al-Mamun vonBagdad im Jahre 814 nach griechischen Aristoteles-Manuskripten fr die eben ein-setzende arabische Philosophie suchen, und hier studierte im Jahre 824 der groesyrisch-arabische bersetzer des Aristoteles, Hunain ibn Ishaq, und sammelte auchdie Originalmaterialen fr seine bertragungen.[26] So scheint denn auch fr alle aufuns gekommenenAristoteles-Traktate die Umschrift [vonUnzial- inMinuskelschrift]in Konstantinopel stattgefunden zu haben.

    Die neue Schrift war im Studiu-Kloster in Konstantinopel entwickelt worden27in [den] Jahrzehnte[n] um das Jahr 80028, daher ist hier mit einer relativ frhenUmschrift vor 824 durchaus zu rechnen. A[n] assumption generally made is thatone minuscule copy was made from one uncial copy. The uncial book was thendiscarded so konnte es der junge Hunain erwerben , and the minuscule book[X] became the source of all further copies.29

    Es bleibt offen, ob in Konstantinopel zu dieser Zeit noch beide Unzialhss. vorhan-den waren30, und wenn ja, welche von beiden Hunain erwarb und ob die bernah-me in das neue Medium der Minuskel bereits vollzogen war, und in diesem Fallauch, ob beide alten Hss. vielleicht am wahrscheinlichsten bei der Transkriptionverglichen worden waren.

    24 Schon Kaiser Konstantin befahl seinem Bischof Eusebios 50 Kodizes fr den liturgischenGebrauch in den neuen Kirchen der neugegrndeten Kaiserstadt am Bosporus anfertigen zulassen, s. H.Hunger: Antikes und mittelalterliches Buch- und Schriftwesen, in: Die Text-berlieferung der antiken Literatur und der Bibel, Mnchen 1975, S. 25147; hier: S. 49.

    25 S. (auch im folgenden) Harlfinger 1980, S.451f.26 S. auchW.Baum (Art. ,Hunain ibn Ishaq, in:Biographisch-BibliographischesKirchenlexikon,

    Bd. 22 [2003], Sp.589593): [Vor 826] reiste Hunain [(808873)] fr zwei Jahre nach gyp-ten, Syrien und nach Konstantinopel ins Byzantinische Reich, wo er umfassende Griechisch-kenntnisse und eine reiche Sammlung vonHandschriften erwarb; sowieG.Strohmaier (VonAlexandrien nach Bagdad eine fiktive Schultradition, in:Aristoteles. Werk undWirkung,hg. v. J.Wiesner, 2.Bd., Berlin/NewYork 1987, S.380389): Hunain hatte zu der traditions-reichen Schule in Antiochien keine erkennbare Beziehung. Er verschaffte sich seine hhe-reAusbildung sehrwahrscheinlich inKonstantinopel.NachAlexandrien kam er nur einmalin reiferen Jahren, um nach Galens philosophischem Hauptwerk De demonstratione zufahnden (S.388).

    27 E.E. Granstrem: Zur byzantinischen Minuskel, in: Harlfinger 1980, S.76119; hier: S. 88.28 H. Hunger, a. a.O., S. 94.29 Reynolds/Wilson 1968, S.52.30 dies erwgen ausdrcklich fr die Poetik Reynolds/Wilson 1968 (S. 52): that at least two

    old books would seem to have survived the dark ages.

    Chronologische bersicht zur Textgeschichte

  • XXVII

    Abweichungen vom Text der Ausgabe Rudolf Kassels

    Kassel Schmitt

    1447a29 VkaW PS1447b9 nnumoi nnumoj add. Bernays :

    sine appellatione Ar1447b9 tugcnousi tugcnei osa coni. Suckow1448a23f. 6toj mimoumnouj6 toj mimoumnouj1449b29 [ka mloj] ka mloj1450a12 6ok lgoi atn6 ok lgoi atn1450a13 6yij cei pn6 yij cei pn1450a1720 [ka tonanton] ka tonanton1451b32 [ka dunat gensqai] ka dunat gensqai1451b33 tn dE pln plj dE tn coni. Castelvetro1452a35 6stn sper erhtai stn sper erhtai

    sumbanei6 sumbanein1453a24 t at om. Ar1453b29f. tn Mdeian: stin tn Mdeian: Vstin dE gigns-

    dE prxai kontaj mellsai ka m prxai:Wstin dE prxai suppl. Janko :quod non faciat voluntate, ubicognoscunt Ar : to know andnot to do Avicenna ch. 6,10.

    1453b34 trton ttarton coni. Janko1454b14f. 6pardeigma sklhrthtoj oon tn Bcilla gaqn ka

    oon tn Bcilla gaqn pardeigma sklhrthtojka 4Omhroj6 4Omhroj transp. Lobel

    1455b7f. [di tina kaqlou] di tina kaqlou1456a17 sper Eripdhj, VW sper Eripdhj Nibhn

    Nibhn1456b36 6sullab ka6 sullab ka1457a331 ka smou om. Ar1457b33 * * pepoihmnon d2 stn pepoihmnon d2 stn1458a16 ej dE t U pnte * * . ej dE t U pnte.1458a28 tn VllwnW nomtwn tn nomtwn1458b10 6n germenoj6 n g2rmenoj rec1459b57 [[plon ] [ TrWdej]] plon TrWdej1459b16 pnta pntaj B1460a34f. 6n dE q ka topon6 n dE teq ka topon :

    teq codex Robortelli1460b17 mimsasqai * * dunaman mimsasqai dunaman

  • XXVIII

    1460b28 [martsqai] martsqai1461b9 6ekj stin6 ekj stin1461b12 pqanon ka dunatn: * * pqanon VdunatnW: ka Vgr

    toiotouj eGnai oon swj Wdnaton toiotoujeGnai oouj : etenim fortasse nonpossibile est esse talia, quae Ar :defectum indicavit Vahlen :oouj Paris. 2038 (deest B)

    1461b18 6atn6 nanton coni. Kassel1462a16 [ka tj yeij], di2 j ka tj yeij, di2 j :

    j coni. Vahlen

    Abweichungen vom Text der Ausgabe Rudolf Kassels

  • BERSETZUNG

  • 3POETIK

    Kapitel 1

    | Was Dichtung als Kunst ist und was ihre Arten sind, welche bestimmtePotenz eine jede hat und wie man einheitliche Handlungen [Mythen] kom-ponieren muss, | wenn eine Dichtung kunstgem verfasst sein soll, auer-dem, wie viele und welche Elemente etwas zu Dichtung machen darberwollen wir sprechen und ebenso auch ber die anderen Gesichtspunkte, diebei einer methodischen Untersuchung von Dichtung beachtet werden ms-sen. Wir beginnen, dem natrlichen Gang der Methode folgend, zuerst mitden ersten VallgemeinstenW Bestimmungen.

    Epische und tragische Dichtung also, auerdem die Komdie, die Dithy-rambendichtung und | der grte Teil der Kunst des Aulos- und des Kithara-spiels sind grundstzlich alle Nachahmungen. Sie unterscheiden sich abervoneinander in dreifacherHinsicht: dadurch, dass sie in verschiedenenMediennachahmen, dadurch, dass sie Verschiedenes, oder dadurch, dass sie auf ver-schiedene Weise, d.h. nicht im selben VDarstellungs-WModus nachahmen.

    Denn wie manche mit Farbe und Form vieles darstellen und auf dieseWeise nachahmen (die einen | mit Methode [tchne], die anderen durch blo-e bung) und wie andere dafr als Medium den Laut benutzen, so erzeu-gen alle hier genannten Knste eine Nachahmung in den Medien geordneterzeitlicher Verhltnisse [Rhythmus], sprachlicher Gestaltung und geordneterTonverhltnisse [Harmonie], sie verwenden diese aber entweder je fr sichoder in Verbindung miteinander.

    Nur von Harmonie und Rhythmus machen z.B. die Kunst des Aulos-und die des Kitharaspiels Gebrauch und einige | andere Knste mit hnli-chemCharakter, z.B. das Syrinxspiel. Nur mit Rhythmus ohneMusik arbei-tet die Tanzkunst (denn auch die Tnzer ahmen dadurch, dass sie Rhythmenin Krperbewegungen umsetzen, Charaktere, Gefhle und Handlungennach).

    Die Kunstform, die Vals MediumW nur Prosa oder Verse ohne musikali-sche Begleitung verwendet ob sie nun die Metren | miteinander kombiniertoder nur eine Art Versma gebraucht , hat bis heute keine eigene Bezeich-

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  • 4 Poetik

    nung. Denn es ist wohl kaum | mglich, fr die Mimen des Sophron und desXenarchos und fr die Sokratischen Dialoge einen gemeinsamen Begriff an-zugeben, auch dann nicht, wenn jemand VmeintW, er mache etwas aufgrunddes Gebrauchs von Trimetern oder elegischen Distichen oder bestimmtenanderen Versmaen zu Veiner Form nachahmenderW Dichtung.

    So verfahren lediglich die Leute: Sie verbinden VeinfachWmit dem Vjewei-ligenW Versma das Wort Dichter und sprechen so von Elegien-Dichtern[Distichen-Dichtern] oder von Ependichtern [Hexameter-Dichtern]. Siebenennen dieDichter nicht | nach ihrerNachahmungsttigkeit, sondern rich-ten sich rein formal nach dem gemeinsamen Versma. Denn auch, wenn einmedizinisches oder naturwissenschaftliches Werk in Versen abgefasst ist,bezeichnen sie es gewhnlich alsDichtung. Es haben aberHomer undEmpe-dokles nichts gemeinsam auer dem Versma. Deshalb ist die angemesseneBezeichnung fr den einen Dichter, fr den anderen eher Naturphilosophals Dichter. | In gleichemSinnmussman jemanden, selbstwenn er alleMetrenmischt, aber etwas schafft, was eine Nachahmung ist wie z.B. Chairemonseinen Kentaur als eine aus allen Metren gemischte Rhapsodie angelegt hat ,auch als Dichter bezeichnen. Zu diesen Fragen soll uns diese Differenzie-rung gengen.

    Es gibt aber einige Knste, die alle genannten Ausdrucksmittel einsetzen,| ich meine Rhythmus, Musik und Vers, wie z.B. die Dithyramben- und dieNomendichtung einerseits und die Tragdie und die Komdie andererseits.Sie unterscheiden sich darin, dass die einen sie alle gleichzeitig Vber das gan-ze Werk hinW verwenden, die anderen auf verschiedene Partien verteilt.

    Das ist nun die Differenzierung unter den Knsten, die auf die Medien,in denen die Nachahmung realisiert wird, zurckgeht.

    Kapitel 2

    | Gegenstand dichterischerNachahmung sind handelndeMenschen.Notwen-digerweise aber haben diese entweder ausgebildete Anlagen oder vernach-lssigte. (Denn was fr einen Charakter jemand hat, hngt fast immer nurdavon ab. Nach der schlechten oder besten Verfassung ihres Charakters un-terscheiden sich nmlich alle Menschen.) Gegenstand der Nachahmung sindalso Menschen, die demDurchschnitt entweder berlegen, unterlegen | odergleich sind. So ist es auch in der Malerei: Polygnot hat edlere, Pauson niedri-gere Charaktere gemalt, Dionysios Menschen, die sind wie wir.

    Und es ist klar, dass auch jede der genannten nachahmenden Knste dieseUnterschiede aufweisen und Vvonden anderenWdadurch verschieden seinwird,dass die Gegenstnde, die sie nachahmt, auf diese Weise verschieden sind.

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  • 5Denn auch beim Tanz, beimAulos- und | beimKitharaspiel kann es dieseVerschiedenheiten geben, und auch bei den Knsten, die als Medium eineungebundene Sprache oder eine metrisch gebundene ohneMusikbegleitungnehmen. So stellt Homer Vden meisten von unsW berlegene Charaktere dar,Kleophon VunsW hnliche, der Thasier Hegemon aber, der als erster Paro-dien dichtete, und Nikochares, der Autor derDeilias, VunsW unterlegene. Ingleicher Weise kann man auch bei der Nachahmung in der Dithyramben-und in der | Nomendichtung verfahren, wie Timotheos und Philoxenos dieKyklopen VunterschiedlichW gezeichnet haben.

    Genau hier liegt auch der Unterschied zwischen Tragdie und Komdie:Die eine nmlichwill Charaktere nachahmen, die dem heutigenDurchschnittunterlegen, die andere aber solche, die ihm berlegen sind.

    Kapitel 3

    Es bleibt noch das dritteUnterscheidungskriterium bei diesen VsprachlichenWKnsten: derModus der Darstellung, den man bei der Nachahmung der ein-zelnen VCharaktereW | whlt.

    Denn auch in denselben Medien und bei denselben Gegenstnden kanndie Nachahmung einmal imModus des Berichts eines Erzhlers geschehen entweder mit einem Wechsel der Erzhlperspektive, wie Homer es macht,oder in ein und derselben, nicht wechselnden Perspektive , oder die nach-ahmenden VKnstlerW lassen alle VCharaktereW als Handelnde und Akteureauftreten.

    Bei der Nachahmung gibt es ja diese drei Unterschiede, | wie wir zu Be-ginn festgestellt haben: die Medien, die Gegenstnde und den Modus derNachahmung. Daher ist Sophokles im Sinn der einen Unterscheidung in dergleichenWeise nachahmenderDichter wieHomer, beide nmlich ahmen guteCharaktere nach, im Sinn der anderenUnterscheidung aberwieAristophanes,denn beide verwenden einen Modus der Nachahmung, in dem die Personenihre Handlungen selbst ausfhren. Daher kommt auch, wie einige meinen,der Name Drama [(Bhnen-)Aktion] fr ihre Dichtungen, weil sie ihreCharaktere selbst agieren lassen.

    Deshalb auch | nehmen die Dorer die VErfindung derW Tragdie wie derKomdie fr sich in Anspruch (denn fr die Komdie erheben die Megarerdiesen Anspruch die hiesigen mit der Begrndung, sie sei entstanden in derZeit, in der es bei ihnen eine Demokratie gab, die Megarer aus Sizilien dage-gen deswegen, weil der Dichter Epicharm von ihnen stamme und viel frhergelebt habe als Chionides undMagnes; fr die Tragdie erheben einige Std-te | auf der Peloponnes diesen Anspruch) und sttzen sich dafr auf die Na-men als Beweis.

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    Kapitel 13

  • 6 Poetik

    Sie selbst nmlich, so behaupten sie, nennen die umliegenden Siedlun-gen ksmai [Drfer], die Athener dagegen drmoi [Gemeinden], und sie sindder Ansicht, dass der Name Komdianten nicht von komzein [einen aus-gelassenen Umzug veranstalten] abgeleitet sei, sondern von der Tatsache,dass sie zwischen den Drfern [ksmai] hin und her ziehen mussten, da mansie in Unehre aus der Stadt verwiesen habe. | Auerdem heie bei ihnentun dran, bei den Athenern aber prttein.

    ber die Unterschiede in der Nachahmung, ihre Zahl und ihre Arten, seiso viel gesagt.

    Kapitel 4

    Es scheinen aber fr die Entstehung von Dichtung als Kunst berhaupt |zweiUrsachen verantwortlich zu sein, die beide in derNatur VdesMenschenWbegrndet sind. Denn das Nachahmen ist ein Teil des dem Menschen vonseiner Natur her eigentmlichen Verhaltens, und zwar von Kindheit an jagerade dadurch unterscheidet sich der Mensch von den anderen Lebewesen,dass er die grte Fhigkeit zurNachahmung hat; auch die ersten Lernschrittemacht er durchNachahmen , und auch, dass alle Freude anNachahmungenempfindenV, gehrt zur Natur des MenschenW.

    Einen Hinweis darauf gibt unser Umgang | mit Kunstwerken: Von denDingen nmlich, die wir selbst nur mit Widerwillen anschauen, betrachtenwir Abbildungen, und zwar gerade, wenn sie mit besonderer Exaktheit ge-fertigt sind, mit Vergngen, wie zum Beispiel die Gestalten abscheulichsterKreaturen und toter Krper.

    Ursache auch dafr ist, dass VetwasW zu erkennen nicht nur fr Philoso-phen hchste Lust ist, sondern genauso auch fr alle anderen freilich ist ihrAnteil daran beschrnkt. | Sie empfinden nmlich deshalb Freude beim An-schauen von Bildern, weil sie beim Betrachten zugleich erkennen und er-schlieen, was das jeweils Dargestellte ist, etwa dass es sich bei dem Darge-stellten um diesen oder jenen handelt. Wenn man nmlich etwas nicht schonfrher einmal gesehen hat, wird seine Darstellung nicht als solche Lust be-reiten, sondern nur wegen der Ausarbeitung oder der Farbe oder aus einemanderen derartigen Grund.

    | Da es also zu unserer Natur gehrt, Veine Fhigkeit zumW Nachahmen,zu musikalischer Harmonie und Rhythmus zu haben (denn dass VersmaeArten von Rhythmen sind, ist klar), haben die, die dazu die grte Begabunghatten, die Dichtung nach improvisatorischen Anfngen in kleinen Schrittenzur Kunstform ausgebildet. Auseinanderentwickelt aber hat sich die Dich-tung nach den Charakteren der Dichter. | Die Ernsthafteren ahmten schneHandlungen und die ebensolcher Charaktere nach, die Leichtfertigeren das

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  • 7Handeln gewhnlicher Charaktere. Zuerst verfassten diese deshalb Invekti-ven, wie die anderen Loblieder auf Gtter [Hymnen] undMenschen [Enko-mien].

    Von keinem Dichter vor Homer knnen wir eine solche Dichtung be-nennen, es ist aber wahrscheinlich, dass es viele gegeben hat, beginnend mitHomer aber | knnen wir es, z.B. seinenMargites und hnliche. Bei diesenInvektiven entwickelte sich als passende Form das jambische Metrum. Da-her stammt auch unsere heutige Bezeichnung Jambus [Versma der In-vektive], denn in diesemMetrum verspottete man einander. Und so wurdenvon den Alten die einen Dichter heroischer Verse, die anderen von Jamben.

    Wie aber von bedeutenden Handlungen Dichter im besten Sinn Homer |war (er allein hat nicht nur gut gedichtet, sondern seine Nachahmungen auchals dramatische Handlungen gestaltet), so war er auch der erste, der denGattungscharakter der Komdie aufgewiesen hat, und zwar dadurch, dass erVsichW nicht VaufWPolemiken VbeschrnktW, sondern das Lcherliche in drama-tischer Handlung dargestellt hat. Denn derMargites ist nicht ohne Entspre-chung geblieben: wie sich die Ilias | und die Odyssee zu den Tragdien ver-halten, so verhlt er sich zu den Komdien. Als aber Tragdie und Komdieaufkamen, da verfassten von denen, die je nach ihrer Wesensart zu der einenoder der anderen Dichtungsart tendierten, die einen keine Invektiven mehr,sondern gestalteten komischeHandlungen, | die anderen verfassten keine epi-schen Gesnge mehr, sondern gestalteten tragische Handlungen, weil dieseFormen in sich bedeutender waren und in hheremAnsehen standen als jene.

    Zu prfen freilich, ob die Tragdie die in ihr liegenden Mglichkeitenbereits voll entfaltet hat und das muss sowohl in Bezug auf das, was dieTragdie von ihr selbst her ist, beurteilt werden wie auch in ihrem Verhltniszur Auffhrung und Rezeption im Theater , ist Sache einer anderen Unter-suchung.

    Entstanden aber ist die Tragdie ursprnglich aus Improvisationen | sieselbst wie auch die Komdie, die eine aus VdenenW der Chorfhrer desDithy-rambos, die andere aus VdenenW derChorfhrer der Phallos-Lieder, einBrauch,der sich bis heute in vielen Stdten erhalten hat , und sie entfaltete sich nachund nach dadurch, dass man immer das weiter vorantrieb, was von ihr schonzutage getreten war. Und nachdem die Tragdie viele Vernderungen durch-laufen hatte, | gab es keine weitere Entwicklung mehr, weil sie ihre eigentli-che Natur gefunden hatte.

    So erhhte die Zahl der Schauspieler von einem auf zwei als erster Aischy-los, er verringerte auch den Anteil des Chors und lie die Haupthandlung inden Sprechpartien geschehen.Drei Schauspieler und die Bhnenmalerei fhrteSophokles ein.

    Auerdem Vvernderte sich im Lauf der EntwicklungW die Gre: Zuerstwaren es kurze Handlungen, und die Sprache | war unernst denn sie hatte

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    Kapitel 34

  • 8 Poetik

    sich ja aus Formen des Satyrtanzes entwickelt ; erst spt erreichte sie dieVeiner tragischen Handlung gemeW Ernsthaftigkeit und Wrde, und dasMetrum entwickelte sich vom VtrochischenW Tetrameter zum Jambus.Zunchst nmlich verwendete man den Tetrameter, weil die Dichtung nochsatyrhaft war und der Tanz eine grere Rolle spielte; seit man sich aber andie gesprochene Sprache hielt, fand sich ganz natrlich das zu ihr passendeVersma. Denn am besten zum Sprechen geeignet ist | von den Metren derJambus. Beweis dafr ist: Am meisten verwenden wir im Gesprch mitein-ander Jamben, Hexameter hingegen selten, und dabei verlassen wir den na-trlichen Sprachfluss.

    Schlielich Vvernderte sich auchW die Anzahl der Szenen.Alles andere, wie | es im einzelnen seine kunstgeme Form gefunden ha-

    ben soll, wollen wir als besprochen ansehen. Denn es wre wohl eine umfang-reiche Aufgabe, dies im Einzelnen durchzugehen.

    Kapitel 5

    DieKomdie aber ist, wie gesagt, Nachahmung von zwar schlechterenMen-schen aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern VnurW zumUnschnen gehrt das Lcherliche. Denn das Lcherliche ist | eine bestimm-teArt derVerfehlung VdesHandlungszielesWund eineAbweichung vomSch-nen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstrerisch ist. So ist ja bereitsdie Komdienmaske irgendwie hsslich und verzerrt, aber ohne Ausdruckvon Schmerz.

    Die Entwicklungsprozesse der Tragdie nun und die Namen der dafrVerantwortlichen sind ganz gut bekannt, die Komdie dagegen fhrte we-gen | ihrer unbedeutenden Inhalte von Beginn an ein Schattendasein. Dennauch der Komdienchor wurde ziemlich spt erst VoffiziellW durch den Ar-chon bestellt; zunchst beteiligte sich,werwollte. Erst als sie bereits bestimmtefeste Formen erhalten hatte, begann man damit, die Namen ihrer bekannte-ren Dichter zu berliefern. Wer aber die Masken einfhrte und die Prologeoder | die Anzahl der Schauspieler festlegte oder anderes von dieser Art, istnicht bekannt.

    Die literarische Darstellung VkomischerW Handlungen kam ursprnglichaus Sizilien [[von Epicharm und Phormis]], von den Komdiendichtern inAthen lste sich Krates als erster von der Form bloer Verspottungsszenenund begann damit, berhaupt Geschichten als durchorganisierte Handlun-gen [Mythen] zu konzipieren.

    Die epische Dichtung stimmt nun mit der Tragdie darin berein, dass |sie in metrisch gebundener Sprache Nachahmung von guten Charakterenist. Darin aber, dass sie nur ein einziges Versma hat undHandlungen narra-

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  • 9tiv darstellt, unterscheiden sie sich. Auerdem imUmfang: Die Tragdie ver-sucht mglichst innerhalb eines Sonnenumlaufs zu bleiben oder nur wenigdarber hinauszugehen, die epische Dichtung hat keine zeitliche Begren-zung. Das unterscheidet sie von der Tragdie, auch wenn | man zu Beginn inden Tragdien die Zeit genauso behandelt hat wie im Epos. Die Vgattungs-konstitutivenW Teile sind zum Teil dieselben, zum Teil gehren sie allein zurTragdie. Wer daher ber die gute oder geringe Qualitt der Tragdie urtei-len kann, kann das auch beim Epos. Was nmlich die epische Dichtung hat,das gibt es auch in der Tragdie, nicht alles aber, was es in der Tragdie gibt,gibt es auch im | Epos.

    Kapitel 6

    Die Nachahmung in Hexametern und die Komdie werden wir spter be-handeln, zur Behandlung der Tragdie nehmenwir dieWesensdefinition auf,wie sie sich aus dem Gesagten ergibt:

    Die Tragdie ist also Nachahmung einer bedeutenden Handlung, | dievollstndig ist und eine gewisse Gre hat. In kunstgem geformter Spra-che setzt sie die einzelnen Medien in ihren Teilen je fr sich ein, lsst dieHandelnden selbst auftreten und stellt nicht in Form des Berichts geschehe-ne Handlungen dar. Durch Mitleid und Furcht bewirkt sie eine Reinigungeben dieser Gefhle.

    Ich meine mit kunstgem geformter Sprache eine Sprache, die Rhyth-mus undmusikalischeGestaltung undMelodie hat, mit der gesonderten Ver-wendung der |Medien aber, dass einiges nur in Sprechversen ausgefhrt wird,anderes wieder in Liedform.

    Da die Darstellung unmittelbar durch handelnde Charaktere geschieht,ist zunchst einmal notwendigerweise ein Teil der Tragdie die uere Ord-nung der Auffhrung; dann Lieddichtung und sprachliche Gestaltung, dennin diesen Medien verwirklicht man die Nachahmung. Ich verstehe unter dersprachlichenGestaltung die | Abfassung der Sprechverse, unter Lieddichtungaber das, dessen wirkende Kraft ganz im ueren prsent ist.

    Die Tragdie ist Nachahmung einer Handlung. Gehandelt aber wirdimmer von b e s t immt en einzelnen Handelnden. Diese haben ihre be-stimmte Beschaffenheit notwendigerweise von ihrem Charakter und ihrerDenkweise her. (Diese nmlich sind derGrund, warumwir auch den |Hand-lungen eine bestimmte Beschaffenheit zusprechen [[die bestimmendenGrn-de des Handelns sind naturgem die Denkweise und der Charakter]], undes geschieht immer als Konsequenz aus deren Vbestimmter BeschaffenheitW,dass jemand sein Handlungsziel erreicht oder verfehlt.) Nachahmung einerHandlung aber ist der Mythos, denn Mythos nenne ich die | Komposition

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    Kapitel 46

  • 10 Poetik

    einer einheitlichen Handlung. Unter Charakter Vverstehe ichW das, was aus-macht, dass wir sagen knnen, ein Handelnder sei so oder so beschaffen,unter Denkweise das, was jemanden bei seinem Sprechen leitet, wenn er ei-nen Beweis vorfhrt oder seine Meinung begrndet.

    Es ist also notwendig, dass fr die Tragdie als ganze sechs Teile konstitu-tiv sind, aus denen sich ihre Gattungsmerkmale als Tragdie ergeben. Diesesind der Mythos, die Charaktere, die sprachliche Gestaltung, | die Denkwei-se, die Auffhrung und die Lieddichtung. Denn das, womit dieNachahmungerfolgt, sind zwei Teile, die Art undWeise, wie nachgeahmt wird, ist ein Teil,die Gegenstnde, die nachgeahmt werden, sind drei Teile, und darber hin-aus gibt es keine weiteren Vwesentlichen TeileW.

    Diese Teile nun behandeln zwar nicht wenige von ihnen [von denen, dienachahmen] so, als sei gewissermaen ein jeder von ihnen gleich wesentlichfr die Tragdie. Denn sogar die Auffhrung enthlt alles: Charakter, My-thos, Sprachgestaltung, Lieddichtung und Denkweise gleichermaen. | Daswichtigste von diesen aber ist die Komposition einer einheitlichen Hand-lung. Denn die Tragdie ist nicht Nachahmung von Menschen, sondern vonHandlungen und von einer Lebensweise. Sowohl Glck als auch Unglckliegen im Handeln, und das Ziel Vdes LebensW ist ein bestimmtes Handelnund keine VbloeW Eigenschaft; die Menschen haben aufgrund ihres Charak-ters eine bestimmte Beschaffenheit, aufgrund ihres | Handelns aber sind sieglcklich oder das Gegenteil. Nicht also um Charaktere nachzuahmen,lsst man Vdie Schauspieler auf der BhneW handeln, sondern man umfasstdie Charaktere durch dieHandlungenmit. Daher sind die VeinzelnenWHand-lungen und der Mythos Vals Einheit dieser HandlungenW das Ziel der Trag-die, das Ziel aber ist das Wichtigste von allem.

    Auerdem kann ohne Handlung eine Tragdie berhaupt nicht zustandekommen, ohne Charaktere aber | sehr wohl.

    Die Tragdien der meisten jngeren VDichterW nmlich haben keine Cha-rakterzeichnung, und berhaupt sind viele Dichter von dieser Art, wie auchunter den Malern Zeuxis im Vergleich mit Polygnot abschneidet. DennPolygnot ist ein guter Charaktermaler, die Bilder des Zeuxis dagegen sindohne jede Charakterzeichnung.

    Ein weiterer Gesichtspunkt ist: Wenn jemand VlediglichW charakterisie-rende Reden hintereinander setzt, dann wird er auch dann, wenn sie sprach-lich | und der Argumentationsweise nach gut gemacht sind, nicht das hervor-bringen, was das Werk der Tragdie ist. Das erreicht viel eher eine Tragdie,die in der Anwendung dieser Mittel schwcher ist, dafr aber einen Mythos,d.h. eine Handlungseinheit hat.

    Dazu kommt, dass die wichtigsten Mittel, mit denen die Tragdie dieZuschauer beeinflusst, Teile des Mythos sind: die Wendepunkte der Hand-lung [Peripetien] und die Wiedererkennungen. |

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    Ein weiteres Indiz ist, dass Anfnger imDichten eher in der sprachlichenGestaltung und in der Charakterzeichnung Genaues zu leisten vermgen,als sie Handlungen zu einer Einheit fgen knnen. Das Gleiche gilt auch frbeinahe alle Dichter, die die ersten Vin einer TraditionW sind.

    Prinzip und gleichsam die Seele der Tragdie ist also die durchorganisier-te Handlungsdarstellung [Mythos]; an zweiter Stelle steht die Charakter-zeichnung (hnlich ist es ja auch | in derMalerei: denn wenn jemand auch dieallerschnsten Farben auf die Leinwand auftrgt, ohne diese Farben in einebestimmte Gestalt zu bringen, wird er nicht einmal soviel Vergngen berei-tenwie ein anderermit einer Schwarzweizeichnung); sie ist jaNachahmungeiner Handlung und vor allem durch diese Veine NachahmungW der Han-delnden.

    An dritter Stelle aber steht die Denkweise; das | ist die Fhigkeit, auszu-sagen, was in einer Sache enthalten ist und was ihr gem ist genau das,was bei ffentlichen Reden die Aufgabe der Politik und Rhetorik ist. Denndie lteren VDichterW lieen politische Reden fhren, die jetzigen rhetori-sche.

    Charakter aber zeigt sich an den Aspekten Veiner dramatischen Hand-lungW, aus denen erkennbar wird, welche Entscheidungen jemand zu treffenpflegt. Deshalb zeigen die Reden keinen Charakter, in | denen berhauptnichts vorkommt, was der, der spricht, vorzieht oder meidet. Die Denk-weise dagegen zeigt sich in solchen Partien, in denen Beweise gefhrt wer-den, dass etwas der Fall oder nicht der Fall ist, oder in denen etwas Allgemei-nes gezeigt wird.

    Der vierte 6der genannten Aspekte6 betrifft die Sprachgestaltung. Damitmeine ich,wie ich oben schon gesagt habe, die Vermittlung von Inhalten durchsprachlichen Ausdruck. Die Funktion dieser VVermittlungsleistungW ist beimetrisch gebundener wie | bei ungebundener Rede ein und dieselbe.

    Von den restlichen Teilen der Tragdie hat die Lieddichtung den grtenknstlerischen Reiz, die Auffhrung hat zwar eine sehr groe Wirkung aufdie Gefhle, sie ist aber berhaupt keine literarische Technik, d.h., sie gehrtamwenigsten zu dem, was fr die Dichtung als Kunst eigentmlich ist. Denndie Tragdie erzielt ihre Wirkung auch ohne Wettbewerb und Schauspieler.Auerdem ist fr die Inszenierung | die Kunst des Masken- und Bhnen-bildners wichtiger als die Kunst der Dichter.

    Kapitel 7

    Nach diesen Definitionen wollen wir sagen, von welcher Art die Zusam-menfgung der VeinzelnenW Handlungen sein muss; denn das ist das Ersteund Wichtigste an der Tragdie.

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    Kapitel 67

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    Wir haben Vals ErgebnisW bereits festgehalten, dass die Tragdie dieNach-ahmung einer vollstndigen und ganzen Handlung ist, | die einen gewissenUmfang hat. Es kann etwas nmlich ja auch ein Ganzes sein, ohne einennennenswerten Umfang zu haben.

    Ein Ganzes aber ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Anfang ist, wasselbst nicht aus innerer Notwendigkeit auf etwas Anderes folgt, nach demaber naturgem etwasAnderes ist oder entsteht. Ende dagegen ist, was selbstnach etwas Anderem ist, und zwar entweder | notwendig odermeistens, nachdem aber nichts anderes Vfolgen mussW. Mitte ist das, was selbst nach etwasAnderem ist, und nach dem etwas Anderes ist.

    Wer also eineHandlung gut zusammenstellen will, darf nicht von irgend-woher, wie es sich gerade trifft, anfangen, noch, wie es sich gerade ergibt,irgendwo enden, sondern muss sich an die genannten Kriterien halten.

    Weil auerdem das Schne, ein Lebewesen und VberhauptW jede | Sache,die aus bestimmten Teilen zusammengesetzt ist, nicht nur eine Ordnungunter den Teilen haben muss, sondern auch eine bestimmte, keineswegsbeliebige Gre denn das Schne grndet in Gre und Ordnung , des-halb kann etwas ganz Kleines nicht ein schnes Lebewesen werden (denndie Anschauung wird konfus, wenn sie auf einen kaum mehr wahrnehmba-ren Augenblick beschrnkt ist) noch etwas ganz Groes (denn man kann esnicht | auf einmal VganzW anschauen, sondern denen, die es betrachten, ent-schwindet die Einheit und Ganzheit des Gegenstands aus der Anschauung),wie es bei einem Lebewesen der Fall wre, das die Gre von zehntausendStadien htte. Deshalb ist ebenso, wie bei den Krpern und bei den Tiereneine gewisse Gre erforderlich ist, diese VGreW aber gut berschaubar seinmuss, | auch bei den Mythen zwar eine gewisse Lnge erforderlich, diese abermuss gut im Gedchtnis behalten werden knnen.

    Die zeitliche Begrenzung der Lnge an der Wettkampfsituation und derAufnahmefhigkeit auszurichten, hat aber mit Kunst nichts zu tun. Dennwenn hundert Tragdien aufgefhrt werden mssten, wrde man die Wett-kampfzeit nach der Uhr bemessen 6 wie Vman esW angeblich bisweilenanderswo auch VmachtW6. Wenn es aber um die Begrenzung geht, die derEigenart | des VjeweiligenW Gegenstandes selbst angemessen ist, so ist immerdie umfangreichere VHandlungW, solange sie klar und deutlich bleibt, imHin-blick auf ihre Gre schner. Um eine einfache Definition zu geben: Beiwelcher Gre es sich ergibt, dass die mit Wahrscheinlichkeit oder Notwen-digkeit aufeinander folgenden Handlungsschritte zu einem Umschlag vomGlck ins Unglck oder vom Unglck ins Glck fhren, dies ist die hinrei-chende | Begrenzung der Gre.

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    Kapitel 8

    Ein Mythos ist nicht VschonW dann eine Einheit, wie manche meinen, wenner von einem Veinzelnen MenschenW handelt. Denn einem Einzelnen begeg-net unendlich Vieles, aus dem eine beliebige Auswahl VnochW keine Einheitist. Genauso gibt es aber auch viele Handlungen eines einzelnen Menschen,aus denen nicht die Einheit einer Handlung entsteht. Deshalb haben alleDichter ihre Aufgabe offenbar | verfehlt, die eine Geschichte des Heraklesoder eine Geschichte des Theseus oder hnliche Werke verfasst haben. Sieglauben nmlich, weil Herakles e iner war, msse es entsprechend auch e i -nen Mythos Vder Taten des HeraklesW geben.

    Homer, berlegen wie er auch in allem brigen ist, scheint auch hier dasRichtige gesehen zu haben aus technischer Beherrschung Vdes dichteri-schen HandwerksW oder aus Begabung. Die Odysseus-Handlung | verfassteer nmlich nicht so, dass er VeinfachW alles VsoW darstellte, Vwie esW diesemzustie, etwa dass er auf dem Parnass verwundet worden war und dass ersich in der Heeresversammlung wahnsinnig gestellt hatte bei keinem vonbeiden Ereignissen war es ja notwendig oder wahrscheinlich, dass, wenn daseine geschehen war, das andere geschehen musste , er verfuhr bei der poeti-schenGestaltung derOdyssee-Handlung vielmehr so, dass er alle VEreignisseWin einen VgeordnetenW Bezug zu einer einzigen Handlung, wie wir sie verste-hen, brachte, und ebenso machte er es bei der Ilias. |

    Wie also auch in den anderen nachahmenden Knsten die Einheit derNachahmung auf der Einheitlichkeit ihresGegenstandes beruht, somuss auchder Mythos, da er ja Nachahmung einer Handlung ist, Nachahmung einersolchen Handlung sein, die Einheit und Ganzheit hat, und die Anordnungder Handlungsteile muss so sein, dass das Ganze sich ndert und in Bewe-gung gert, wenn auch nur ein Teil umgestellt oder entfernt wird. Das nm-lich, was da sein | oder nicht da sein kann ohne erkennbaren Unterschied, istkein VkonstitutiverW Teil des Ganzen.

    Kapitel 9

    Aufgrund desGesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtlicheWirk-lichkeit VeinfachW wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondernetwas so VdarzustellenW, wie es gem VinnererW Wahrscheinlichkeit oderNotwendigkeit geschehenwrde, d.h., was Vals eineHandlung eines bestimm-ten CharaktersW mglich ist.

    Denn ein | Historiker und ein Dichter unterscheiden sich nicht darin,dass sie mit oder ohne Versma schreiben (man knnte die Bcher HerodotsinVerse bringen, und sie blieben umnichtsweniger eine FormderGeschichts-

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    Kapitel 79

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    schreibung, in Versen wie ohne Verse), der Unterschied liegt vielmehr darin,dass der eine darstellt, was geschehen ist, | der andere dagegen, was gesche-hen msste. Deshalb ist die Dichtung auch philosophischer und bedeuten-der als die Geschichtsschreibung. Die Dichtung nmlich stellt eher etwasAllgemeines, die Geschichtsschreibung Einzelnes dar.

    Etwas Allgemeines aber meint, dass es einem bestimmtenCharakter mitWahrscheinlichkeit oderNotwendigkeit zukommt, Bestimmtes zu sagen oderzu tun. Dieses VAllgemeine eines CharaktersW versucht | die Dichtung darzu-stellen, die VeinzelnenW Namen werden dazugesetzt; Einzelnes meint: das,was Alkibiades getan und was er erlitten hat.

    Bei der Komdie ist dies bereits deutlich geworden. Denn ihre Dichterkonstruieren eine wahrscheinliche Handlung und geben den Personen dannpassende Namen und beziehen ihre Dichtung nicht wie die Jambendichterauf konkrete einzelne Personen. | Bei der Tragdie dagegen hlt man sich andie historischen Namen. Dies aber VnurW aus dem Grund, weil das Mglicheglaubwrdig ist, und wir bei dem, was nicht wirklich geschehen ist, nochnicht glauben, dass es mglich ist, whrend es bei dem, was geschehen ist,offensichtlich ist, dass es mgli