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Mann ohne Gedächtnis

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Nr. 359

Mann ohne Gedächtnis

Ein Totgeglaubter sinnt auf Rache

von Horst Hoffmann

Pthor, der Kontinent des Schreckens, der dank Atlans und Razamons Eingreifen der Erde nichts anhaben konnte, liegt nach jäh unterbrochenem Hyperflug auf Loors, dem Planeten der Brangeln, in der Galaxis Wolcion fest.

Pthors Bruchlandung, die natürlich nicht unbemerkt geblieben war, veranlaßte Sperco, den Tyrannen von Wolcion, seine Diener, die Spercoiden, auszuschicken, damit diese den Eindringling vernichten.

Daß es ganz anders kam, als Sperco es sich vorstellte, ist allein Atlans Eingreifen zu verdanken. Denn der Arkonide übernahm beim Auftauchen von Spercos Dienern sofort die Initiative und ging systematisch daran, die Macht des Tyrannen zu unter­graben.

Inzwischen haben dank Atlans Hilfe die von Sperco Unterdrückten ihre Freiheit wiedererlangt. Der Tyrann von Wolcion ist tot. Er starb in dem Augenblick, als sein Raumschiff bei der Landung auf Loors zerschellte.

Während Atlan, der als einziger die Schiffskatastrophe überlebte, sich zusammen mit »Feigling«, seinem mysteriösen neuen Gefährten, auf den mühevollen Rückweg zur FESTUNG macht, wenden wir uns einem anderen Mann zu, der ebenfalls in eine abenteuerliche Odyssee verstrickt ist. Wir meinen Grizzard, den ehemaligen Schlä­fer, der sich im Körper Axton-Kennons befindet.

Grizzard ist der MANN OHNE GEDÄCHTNIS …

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Die Hautpersonen des Romans:Grizzard und S. M. Kennon alias Lebo Axton - Zwei Männer mit vertauschten Körpern.Caidon-Rov - Neuer Herr der Feste Grool.Ravaal - Ein Rebell unter den Dalazaaren.Porquetor - Ein Totgeglaubter sinnt auf Rache.

1.

Caidon-Rov starrte ungläubig auf die Stelle des Regals, an der sich noch vor einer Stunde der gläserne Behälter mit dem Spin­nenwesen befunden hatte. Er selbst hatte ihn dort plaziert, nachdem er dieses wertvolle Exemplar eines der tödlichsten Tiere des Blutdschungels für eine Handvoll billiger Edelsteine von den Dalazaaren erhalten hat­te.

Alle anderen Behälter der Sammlung be­fanden sich an ihrem Platz. Nur der Gift­stachler fehlte. Im ersten Moment fühlte der Hagere ohnmächtige Wut. Es gab vielerlei Arten, auf die er versuchte, seine Einsamkeit zu bekämpfen. Eine davon war, daß er sich mit allerlei Getier umgab. Manchmal sprach er sogar zu seinen Schätzen.

Nach Porquetors und Yunthaals Tod war die Einsamkeit fast unerträglich geworden.

Bis der Fremde auftauchte … Grizzard! Caidon-Rov fuhr herum. Die böse Ah­

nung, die ihn plötzlich beschlichen hatte, schien sich zu bewahrheiten, als er zu seinen Monitoren eilte und einen Bildschirm akti­vierte, der das Innere von Grizzards Wohn­komplex zeigte.

Der mißgestaltete Zwergenkörper lag wie in Trance auf seiner breiten Liege. Einen Moment lang glaubte Caidon-Rov, daß der Fremde tot sei, bis er die zuckenden Bewe­gungen seiner Hände sah. Die vorgewölbte Brust des Zwerges hob und senkte sich unter heftigen Atemzügen. Caidon-Rov atmete auf. Sein Verdacht schien falsch gewesen zu sein. Dann sah er das schwarze Etwas, das langsam an der Liege emporkroch. Caidon-Rov regulierte die Optik der Überwachungs­kameras, bis er den Giftstachler klar erken­

nen konnte. Neben der Liege befand sich der offene Glasbehälter.

Caidon-Rov zögerte keinen Augenblick. Er wußte, daß sein Handeln Grizzard verra­ten würde, daß er ihn überwachte und daß damit das Vertrauen, um das er so lange ge­kämpft hatte, zerstört werden mußte. Aber wenn Grizzard jetzt starb …

Caidon-Rov dachte den Gedanken nicht zu Ende. Für ihn galt jetzt nur eines. Der so unverhofft aufgetauchte Fremde mußte ge­rettet werden.

Caidon-Rovs Finger huschten über die Knöpfe eines Kontrollpults in der Wand des laborähnlichen Raumes. Über den Monitor konnte er beobachten, wie aus winzigen Öff­nungen in den Wänden grüner Rauch in Grizzards Wohnunterkunft strömte. Er wür­de ihn nicht umbringen, sondern nur betäu­ben – ebenso wie den Giftstachler.

Grizzard zuckte auf seiner Liege zusam­men, als er das Gas einatmete. Sein mißge­stalteter Körper bäumte sich auf. Der Zwerg schlug für einen Augenblick die Augen auf und blickte verständnislos um sich. Dann fuhr ein weiterer Ruck durch seinen Körper.

Grizzard sackte bewußtlos in sich zusam­men.

Aber der Giftstachler zeigte keinerlei Wirkung! Das handgroße Tier kroch weiter. Es war bereits auf der Liege, näherte sich langsam der Hand des Gnomen.

Caidon-Rov stieß eine Verwünschung aus. Er zog eine Atemmaske aus einer Ver­tiefung der Kontrollwand. Dann rannte er aus dem Raum auf einen der Gänge hinaus, bis er eine der Treppen erreichte, die ins obere Stockwerk der Feste Grool führten, wo sich die Unterkunft befand, die er für seinen Gast eingerichtet hatte. Der Hagere sprang die Stufen hinauf, hastete durch einen Korridor, bis er vor der Tür zu Griz­

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zards Schlafraum stand. Seine Hand schlug gegen eine Kontakt­

platte. Die Tür fuhr auf. Er rannte in den Raum. Zwei Meter vor Grizzards Liege blieb er wie angewurzelt stehen.

Lähmendes Entsetzen legte sich über sei­ne Glieder.

Der Giftstachler bewegte sich nun langsa­mer. Durch die Sehschlitze der Atemmaske konnte Caidon-Rov beobachten, wie das Tier sich dennoch unaufhörlich Grizzards Handgelenk näherte. Noch zehn Zentimeter …

Caidon-Rov sah sich schnell um. Es war zu spät, um zu versuchen, den Giftstachler abzulenken. Er fand eines der abgelegten Kleidungsstücke des Zwerges.

Ohne das Spinnenwesen aus den Augen zu lassen, griff der Hagere danach und hob es auf. Langsam ging er auf die Liege zu. Die Beine des Stachlers tasteten über den weißen Stoff. Caidon-Rov hatte das Gefühl, daß die beiden Fühler des Tieres sich auf ihn richteten. Er war alles andere als sicher. Giftstachler gehörten nicht umsonst zu den gefährlichsten Tieren des Blutdschungels. Sie waren unberechenbar. Wenn sie einen Faden auf ein Opfer abschossen, konnten sie binnen Sekundenbruchteilen heran sein und den Tod bringen.

Caidon-Rov wartete, bis er einen halben Meter vor der Liege stand. Er nahm all sei­nen Mut zusammen und warf den Stoffetzen auf das Spinnentier, als dieses nur noch drei Zentimeter von Grizzards Hand entfernt war. Im nächsten Augenblick warf er sich über die Liege und schlug solange mit einem Schuh auf das Tier ein, bis er sicher sein konnte, daß es nicht mehr lebte.

Und Grizzard? Langsam und vorsichtig zog Caidon-Rov

den Stoffetzen weg. Insgeheim befürchtete er, die gerötete Stelle an Grizzards Gelenk zu sehen, wo der Stachel eingeschlagen wor­den war.

Aber Grizzard war unversehrt. Der Gift­stachler war regelrecht zerquetscht worden.

»Das war das letzte Mal«, brachte Cai-

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don-Rov hervor. »Das letzte Mal, du Zwerg! Von nun an werde ich dich keinen Augen­blick mehr aus den Augen lassen. Du ge­hörst mir, verstehst du? Und du wirst mich nicht verlassen, wie es all die anderen getan haben.«

Voller Ekel packte Caidon-Rov das, was von dem Stachler übriggeblieben war, und wickelte es in den Stoffetzen ein. Er wischte das grüne Blut von der Liege ab, so gut es ging. Dann kehrte er in den Kontrollraum zurück, um das Gas absaugen zu lassen.

Grizzard würde noch einige Stunden be­wußtlos sein. Wieder einmal hatte er ver­sucht, sich das Leben zu nehmen, und wie­der einmal hatte Caidon-Rov dies in letzter Sekunde verhindern können.

Ein weiteres Mal sollte es nicht geben. Früher hatte Caidon-Rov oft versucht, sich in die Gedankenwelt des Zwerges zu verset­zen. Er hatte sich gefragt, was ihn dazu trieb, sich selbst vernichten zu wollen. Dann hatte er es aufgegeben.

Grizzard war nicht normal. Und damit mußte er, Caidon-Rov, leben. Er war über­zeugt davon, daß Grizzard seine Hilfe brauchte, und irgendwann, so hoffte er, wür­de es ihm gelingen, den neuen Freund zu heilen. Noch konnte er nicht sagen, was dem Gnomen fehlte.

Caidon-Rov verstand den Fremden nicht. Hatte er nicht alles, was ein Mensch sich nur wünschen konnte? Ein Leben an der Seite des neuen Herrschers der gewaltigen Feste Grool, der nur darauf wartete, Grizzard ver­wöhnen zu können.

Caidon-Rov trat zu den Regalen mit sei­nen Tieren. Ein in einem großen Aquarium schwimmender Fisch aus dem Dämmersee starrte ihn aus unbewegten Kugelaugen an.

»Er wird noch viel lernen müssen«, sagte der Hagere. »Er braucht Zeit. Ich muß Ge­duld haben.«

Doch das Unbehagen blieb. Manchmal war Grizzard Caidon-Rov fast unheimlich.

Unsinn! dachte der Hagere. Ich kontrollie­re die Feste. Nichts und niemand kann mir das nehmen, was ich mir nach den vielen

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Jahren im Dienst Porquetors erobert habe. Drei Stunden später war Caidon-Rovs

Selbstsicherheit nicht mehr so groß. Besorgt betrachtete er den Monitor, der Grizzards Schlafkammer zeigte.

»Er hätte längst zu sich gekommen sein müssen«, murmelte Caidon-Rov. »Wenn das wieder eine seiner Teufeleien ist …«

Kurz darauf wußte er, daß sein Verdacht berechtigt gewesen war. Eine Sonde, die er in Grizzards Kammer geschickt hatte, regi­strierte das rapide Absinken aller Lebens­funktionen des Schläfers.

Einen Augenblick stand Caidon-Rov fas­sungslos vor dem Bildschirm. Dann rannte er unter Flüchen auf den Gang hinaus.

Grizzard starb!

*

Grizzard! Der Name hämmerte in seinem Bewußt­

sein, immer und immer wieder. Und es war immer nur dieser eine Begriff, um den sich ganze Welten zu ranken schienen. Fremdar­tige Bilder tauchten auf. Doch sobald er ver­suchte, sich auf sie zu konzentrieren, ver­blaßten sie sofort.

Es gab keine Antwort auf die quälenden Fragen. Er kannte nur seinen Namen – und er wußte, daß er nicht immer der mißgestalte Zwerg gewesen war, der nun auf der Liege auf die Erlösung wartete.

Grizzard! Wie schon einige Male vorher erschien

vor seinem geistigen Auge für einen viel zu kurzen Augenblick das Bild eines jungen, hochgewachsenen Mannes, der ihn aus lee­ren Augenhöhlen heraus anzustarren schien.

Grizzard wußte, daß er sich selbst sah – so, wie er früher einmal ausgesehen hatte. Das Bild verschwamm, aber der Eindruck war so stark, daß Grizzard sich auf der Liege aufbäumte.

Er hatte sich in einen tranceartigen Zu­stand versetzt, nachdem er den Glasbehälter mit dem Giftstachler geöffnet hatte. Griz­zard wartete auf den Tod.

Wieso hatte das Tier noch nicht zugesto­chen?

Plötzlich spürte er, daß sich etwas verän­derte. Sein Bewußtsein vernebelte sich. Grizzard versuchte, die dunklen Schleier zu durchdringen, die ihn umgaben. Es gelang ihm nicht. Grizzard konnte nicht einmal die Augen aufschlagen, als er die Schritte und Flüche Caidon-Rovs hörte.

Ohnmächtige Enttäuschung machte sich in Grizzard breit. Wieso ließ sein Peiniger ihn nicht in Ruhe sterben?

Grizzard verlor das Gefühl für die Zeit. Sein Gehirn arbeitete schwerfällig. Er konn­te die Gedankenbilder, die nun wieder vor seinem geistigen Auge auftauchten, nicht kontrollieren. Noch einmal erlebte er, wie er sich in diesem Gefängnis wiedergefunden hatte, wie der Fremde aufgetaucht war und sich schließlich seiner angenommen hatte.

Der schreckliche Augenblick, als er sich zum erstenmal in einem Spiegel sah: ein Monstrum, eine Ausgeburt einer kranken Phantasie – ein Zwerg!

Der Abscheu wurde so groß, daß in Griz­zards Unterbewußtsein Kräfte zu wirken be­gannen, auf die er keinerlei Einfluß mehr hatte.

Grizzards Bewußtsein begann den Zwer­genkörper abzustoßen.

Grizzard fühlte ihn bereits nicht mehr. Es war, als ob sein Geist langsam in einen un­wirklich erscheinenden Überraum zu schwe­ben begann, weg von dieser Welt, in der er sich wiedergefunden hatte.

Dann befiel ihn die erlösende Ohnmacht.

*

Caidon-Rov riß Grizzard an den Schultern und schrie auf den in einer todesähnlichen Starre befindlichen Gnomen ein, bis er die Sinnlosigkeit seiner Bemühungen erkannte.

Caidon-Rov war verzweifelt. Grizzard starb vor seinen Augen, ohne daß er etwas dagegen tun konnte. Immer wieder fuhr sei­ne Hand zum Puls des Bewußtlosen. Er konnte ihn fast nicht mehr spüren.

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Es war zu spät, Grizzard zu einem Le­benserhaltungssystem zu schleppen. Er hatte nur noch Sekunden zu leben, wenn nicht ein Wunder geschah.

In seiner Verzweiflung rannte Caidon-Rov in die Hygienekabine der Schlafkam­mer und fand nach kurzem Suchen eine große Schale. Er ließ sie mit eiskaltem Was­ser vollaufen. Halb gelähmt vor Schreck sah er, wie eine rote Leuchtanzeige an der Sonde aufflackerte, die einen Meter über Grizzard schwebte.

Ohne noch länger zu zögern, lief er mit der Schüssel zur Liege und schüttete Griz­zard den Inhalt übers Gesicht. Caidon-Rov wußte, wie unsinnig sein Handeln war. Er hatte keine Erklärung dafür, daß der Zwerg nicht längst aufgewacht war. Die Wirkung des Gases mußte längst abgeklungen sein.

Vielleicht war Grizzards Metabolismus fremdartiger, als er angenommen hatte. Vielleicht hatte er, Caidon-Rov, den Gno­men selbst getötet, bevor der Giftstachler dies tun konnte.

Doch dann sah der Hagere, daß die rote Leuchtanzeige auf der Sonde verschwunden war. Das bedeutete, daß sich eine Besserung in Grizzards Zustand abzuzeichnen begann. Schnell lief Caidon-Rov wieder in die Hy­gienekabine, um die Schale nachzufüllen. Nach der dritten kalten Dusche leuchtete ei­ne blaue Anzeige auf. Gleichzeitig hob und senkte sich Grizzards Brust unter unruhigen Atemzügen.

»Na warte«, knurrte Caidon-Rov. Wieder verschwand er in der Kabine. Als er diesmal zurückkam, war heißes Wasser in der Schüs­sel. Er wollte Grizzard eine Lektion erteilen, die sich im wahrsten Sinne des Wortes »gewaschen« hatte.

Das Wasser klatschte auf das Gesicht des Mißgestalteten. Grizzard riß die Augen auf und schnappte nach Luft. Caidon-Rov lach­te. Die Erleichterung darüber, daß Grizzard es nicht geschafft hatte, sich auf unerklärli­che Weise ins Jenseits zu befördern, versetz­te ihn in eine Art Rauschzustand.

Caidon-Rov kicherte auch noch, als Griz-

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zard den Kopf drehte und ihn anstarrte. Doch als er dann den Blick des Mißgestalten sah, erstarrte seine Miene.

Caidon-Rov schluckte. »Warum hast du das getan?« fragte Griz­

zard tonlos. Der Hagere versuchte, dem Blick der vor­

quellenden Augen auszuweichen, aber er schaffte es nicht. Auf einmal hatte er das Gefühl, daß jemand anders als der Gnom ihn ansah, aus unendlich weiter Ferne …

Unsinn! dachte Caidon-Rov. Er versuchte sich einzureden, daß seine Nerven ihm einen Streich spielten. Die Aufregung der letzten Stunden war zuviel für ihn gewesen.

Er kam sich unglaublich klein vor – klein und nichtig. Unwillkürlich begann er, nach Gründen zu suchen, die sein Handeln recht­fertigten.

»Es … es tut mir leid, Grizzard. Ich konn­te nicht wissen, daß du …«

»Gar nichts weißt du«, sagte der Mißge­stalte mit einer Stimme, die Caidon-Rov einen Schauer über den Rücken jagte. »Gar nichts.«

Und Caidon-Rov drehte sich um und ver­ließ mit gesenktem Kopf die Schlafkammer. Erst als er wieder bei seinen Tieren war, konnte er den Bann verdrängen, der sich auf ihn gelegt hatte. Plötzlich verstand er nicht mehr, wie er sich so hatte abkanzeln lassen können:

Aber er ahnte, daß er einen nicht wieder­gutzumachenden Fehler begangen hatte. Um so fester war sein Entschluß, um Grizzard zu kämpfen. Der Zwerg hatte nicht das Recht, sich ihm zu verweigern!

Noch konnte Caidon-Rov nicht ahnen, wie bald schon er den Kampf aufnehmen mußte, allerdings auf eine völlig andere Art und Weise, als er sich das jetzt vorstellte.

2.

Tevmeer blieb stehen und lauschte. Den langen Speer fest umklammernd, sah er sich nach allen Seiten hin um. Weiter als zehn Meter reichte der Blick nicht. Die Gewächse

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in diesem Teil des Blutdschungels waren wie lebende Wände zu beiden Seiten des Pfades ineinander verschlungen.

Aber auch hier, wo Ravaals Leute eine Bresche in das Dickicht geschlagen hatten, wucherte bereits wieder das ewige Grün. In wenigen Tagen würde der Pfad unbegehbar sein, wenn der Dschungel ihn verschluckt hatte. Nichts würde mehr auf die Anwesen­heit der Dalazaaren hinweisen.

Tevmeer sah nach oben. Nur an wenigen Stellen brach das Licht der Sonne durch das Laubdach.

Nicht stehen bleiben! mahnte sich der jun­ge Eingeborene. Du mußt bei Ravaal sein, bevor es dunkel wird!

Zögernd ging Tevmeer weiter. Er spürte deutlich die Gefahr, die irgendwo zwischen den riesigen Blättern der Pflanzen lauerte. Er wußte nicht, ob es ein Tier war, das auf den günstigen Augenblick zum Angriff war­tete, oder die Schlingen einer Mordpflanze.

Noch nie war Tevmeer in diesem Teil des Blutdschungels gewesen. Er kannte den Weg nur aus den Beschreibungen, die ihm Kladmaar, sein Gefährte, gegeben hatte, ehe er in den Blättern der Blauen Göttin gestor­ben war. Nun lastete die ganze Verantwor­tung auf Tevmeers Schultern. Es war an ihm, Ravaal darüber zu berichten, was in der Feste Grool vorging.

Der junge Dalazaare bahnte sich seinen Weg durch das Dickicht, durchschlug die Ranken wuchernder Pflanzen mit der Spitze des Speeres und vertrieb neugierige Klein­tiere mit Steinen, die er vorsorglich mitge­nommen hatte, als er in den Dschungel ein­drang.

Nach Kladmaars Angaben mußte er das Lager bei zwei Schattenlängen erreichen.

Das Gefühl der Gefahr wurde stärker. Tevmeer beschleunigte seine Schritte. Er sprang über Ranken, die ihm den Weg ver­sperrten, hinweg. Ein älterer und erfahrene­rer Dalazaare hätte angesichts dieses Leicht­sinns die Hände vor die Augen geschlagen.

Aber Tevmeer hatte Angst, das Lager nicht zu erreichen. Er wußte, was von seiner

Nachricht abhing. Er blieb wieder stehen. Plötzlich fiel ihm

auf, daß die Geräusche des Dschungels sich verändert hatten. Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, was ihn störte.

Die Laute der im Dickicht herumstreu­nenden kleinen Tiere waren verstummt. Nur das Rauschen der Blätter im schwachen Wind war zu hören.

Tevmeer fuhr herum, aber der Pfad hinter ihm war leer. Deutlicher als zuvor spürte der Dalazaare die Bedrohung. Sie kam näher, unaufhaltsam und unsichtbar. Ein schneller Blick in die Höhe zeigte Tevmeer, daß die Sonne sich dem Horizont näherte. Er hatte nicht mehr viel Zeit bis zur Dunkelheit.

Das grauenhafte Bild der Blauen Göttin tauchte vor seinem inneren Auge auf, die feinen Fäden, die Kladmaar in Sekunden­schnelle eingefangen und in den tödlichen Schlund zwischen den fleischigen blauen Blättern gezogen hatten.

Nur mit Mühe verdrängte er die aufkom­mende Panik. Das, was ihn seit seinem Ein­dringen in den Dschungel verfolgte, bewegte sich. Es mußte eines jener großen Tiere sein, von denen die älteren Dalazaaren ihm als Kind erzählt hatten. Allein der Gedanke dar­an trieb Tevmeer das Blut in den Kopf.

Mit zitternden Fingern umklammerte er den Speer. Tevmeer war bereit, sich dem Angreifer zu stellen. Er wußte, daß dies die einzige Möglichkeit war, in einem Kampf zu bestehen. Wenn er unverhofft angefallen wurde, hatte er keine Chance.

Der Eingeborene ging langsam weiter. Er versuchte, zwischen den vielfältigen Ge­wächsen, die das Unterholz zwischen den Riesenbäumen bildeten, etwas auszuma­chen. Dabei vergaß er, auf seine Schritte zu achten.

Die klebrigen Ranken schossen heran und legten sich um seine Fußgelenke. Bevor er begriff, was geschah, lag er auf dem Rücken und wurde ins Dickicht geschleift. Tevmeer schrie. Die Finger der freien linken Hand gruben sich in den Boden, aber sie fanden keinen Halt. Tevmeer warf sich herum und

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erstarrte. Der riesige rote Blütenkelch öffnete sich

vor ihm. Er blickte in eine Reihe armlanger, spitzer Stachel, die sich langsam nach außen schoben, ihm genau entgegen. Die Ranken zogen ihn immer schneller in den Kelch. Noch drei Körperlängen …

In Panik versuchte der junge Dalazaare, mit dem Speer nach ihnen zu stoßen, aber sie wichen geschickt aus. Bestürzt erkannte Tevmeer, daß sie schon reagierten, als er ausholte.

Zwei Körperlängen … Tevmeer sah einen Baumstamm eine hal­

be Körperlänge neben sich. Mit letzter Kraft warf er sich auf die Seite und griff danach. Der Speer fiel ihm aus der Hand, als seine Finger sich in die Rinde krampften. Ein Ruck fuhr durch seinen Körper. Einen Au­genblick lang hatte Tevmeer das Gefühl, auseinandergerissen zu werden.

Es gelang ihm, einen Arm hinter den Stamm zu schieben. Das Ziehen an seinen Beinen wurde unerträglich. Und nun begann es auf seiner Haut zu brennen. Lähmendes Entsetzen legte sich auf den Eingeborenen, als er erkannte, daß die Ranken sich in sein Fleisch zu schneiden begannen.

Aus! dachte Tevmeer. Alles ist umsonst gewesen!

Schwarze Ringe erschienen vor seinen Augen. Noch konnte er sich an den Baum­stamm klammern. Tevmeer rang nach Luft. Jetzt erst wurde ihm bewußt, wie jämmer­lich er versagt hatte.

Ravaals Gruppe würde blind in ihr Ver­derben rennen, wenn sie versuchte, die Feste anzugreifen.

Mittlerweile spürte Tevmeer den Schmerz an den Fußgelenken schon gar nicht mehr. Er hatte sich mit seinem Schicksal abgefun­den. Die Pflanze würde ihn Stück für Stück zerschneiden. Er war wehrlos. Der Speer lag in unerreichbarer Entfernung. Wenn er den Stamm losließ, war sein Schicksal besiegelt.

Ein markerschütterndes Heulen ließ ihn zusammenfahren.

Es dauerte eine Weile, bis der Eingebore-

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ne begriff, daß seine Füße frei waren. Un­gläubig starrte er auf den sich schließenden Kelch der roten Pflanze.

Und er sah noch etwas anderes. Die Ran­ken waren durchtrennt worden. Zuerst sah Tevmeer nur die gewaltige Pranke mit den messerscharfen Krallen. Sein Blick wander­te langsam weiter.

Als er in die kalten Augen der Bestie blickte, wußte Tevmeer, was ihn die ganze Zeit über verfolgt hatte. Tevmeer wünschte sich, von der Pflanze verschlungen worden zu sein.

*

Das Schulungslager der Dalazaaren war eine kleine Festung mitten im Blutdschun­gel. Rings um die provisorisch aufgebauten Hütten war ein breiter Graben gezogen, der regelmäßig mit ätzender Flüssigkeit gefüllt und außerdem von bewaffneten Eingebore­nen bewacht wurde.

Ravaal, der Führer der Gruppe, stand breitbeinig in der Mitte des freien Platzes und starrte düster vor sich hin. Es würde bald Nacht werden. Dann hatten Kladmaar und Tevmeer keine Chance mehr gegen den Dschungel.

Bulder, Ravaals engster Vertrauter, trat an die Seite des Dalazaaren. Wie Ravaal hatte auch er sich das schwarze Gesicht mit hellen Farben bemalt, dem Zeichen der Rebellen.

»Ich weiß, was du denkst, Ravaal«, sagte Bulder. »Aber ich beschwöre dich: laß uns noch warten. Solange wir nicht wissen, was sich in der Feste verbirgt, sind wir im Nach­teil. Vielleicht sind Kladmaar und Tevmeer aufgehalten worden.«

»Wer im Dschungel aufgehalten wird, ist tot«, knurrte Ravaal. Der Dalazaare warf den Kopf mit einem Ruck in den Nacken. Die langen, fast bis zu den Hüften hinabreichen­den Haare flatterten leicht im Wind.

»Wir warten bis zur Morgendämmerung«, verkündete Ravaal. »Dann brechen wir auf und greifen an. Caidon-Rov ist ohne den Stählernen jetzt hilflos.«

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»Und wenn Porquetor gar nicht tot ist?« meinte Bulder. »Vielleicht hat man uns die ganze Zeit über getäuscht. Caidon-Rov ist schlau. Wer weiß, was er im Sinn hat. Wir brauchen Nachrichten, ehe wir zuschlagen.«

»Ich weiß, daß er tot ist«, stieß Ravaal hervor. »Niemand hält dich, Bulder. Du kannst jederzeit zu den Feiglingen zurück­kehren, die bei den Windmühlen geblieben sind.«

»Ich denke nicht daran«, sagte Bulder. Eine Weile schwiegen die beiden Dala­

zaaren. Aus der Ferne war Lärm zu hören. Die kleinen Gruppen, die in den Dschungel vorgedrungen waren, um dort unter schwer­sten Bedingungen den perfekten Umgang mit ihren Waffen und das Überleben in der Wildnis zu üben, kehrten zurück.

Ravaals Anhänger waren zu allem ent­schlossene Kämpfer, Dalazaaren, die sich vom Hauptstamm abgespalten hatten, um auf eigene Faust die Feste Grool zu erobern. Sie wollten nicht mehr länger dienen, son­dern selbst die Macht übernehmen. Ravaal war gleichzeitig der Wortführer der Radika­len. Er verstand es, seine Männer für seine Ideen zu begeistern. Eine neue Epoche war für Pthor und seine Bewohner angebrochen, so argumentierte er. Mit dem Sturz der Her­ren der FESTUNG war vieles, das bisher wichtig erschien, sinnlos geworden.

Auch Caidon-Rovs Herrschaft über die Feste.

Ravaal verstand es, seinen Anhängern die Angst davor zu nehmen, daß Porquetor doch noch irgendwo in der Feste lebte. Er sprach mit einer derartigen Überzeugungskraft, daß sich niemand seinen Worten entziehen konnte.

Und niemandem fiel auf, daß Ravaals Ar­gumentation oft ohne jede Logik war. Oft sprach er über Dinge, die er eigentlich gar nicht wissen konnte.

Aber man glaubte ihm, auch als er be­hauptete, Caidon-Rov verstecke einen Schatz in der Feste Grool.

Der einzige Dalazaare, der gelegentlich von Zweifeln gepackt wurde, war Bulder.

Aber auch er erlag schließlich immer wieder der seltsamen Faszination, die von Ravaals Worten ausging.

Der angebliche Schatz, den Caidon-Rov besaß, stachelte den Ehrgeiz seiner Männer zusätzlich an. Doch gerade dieser Schatz war es, der Ravaal bis jetzt hatte zögern las­sen, die Feste anzugreifen. Er wußte nicht, worum es sich handelte. Kladmaar und Tev­meer hatten versuchen sollen, dies herauszu­finden.

»Es war ein Fehler, zwei Unerfahrene zu schicken«, murmelte Ravaal. Immer mehr Kampfgruppen kamen über Baumstämme, die man über den Graben schob, ins Lager zurück. Einige Dalazaaren waren verwundet, aber es hatte keine Toten gegeben wie bei den ersten Vorstößen in den Dschungel.

Als die letzten im Lager waren, wurden die Baumstämme wieder zurückgezogen. Es wurde dunkel. Selbst Ravaals Kämpfer wa­ren nicht so verwegen, nachts draußen im Dschungel zu bleiben.

Kleine Feuer wurden entfacht. Ravaal rief die Dalazaaren zusammen und verkündete, daß der Angriff am nächsten Morgen statt­finden sollte. An eine Rückkehr der beiden Kundschafter glaubte niemand mehr.

Ravaal zog sich in die Hütte zurück, die er mit Bulder und zwei weiteren Männern teilte. Wortlos ließ er sich auf ein paar Mat­ten fallen.

Morgen war der große Tag! Aber Ravaal wartete diese Nacht vergeb­

lich auf die Stimme.

*

Tevmeer war kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er war frei. Er konnte versuchen, sich aufzurichten und wegzukrie­chen. Aber er lag nur keuchend da und starr­te auf das Monstrum, das sich auf ihn zu­schob.

Er hatte als Kind davon gehört, daß es solche Wesen geben sollte. Kein Dalazaare hatte jemals eines zu Gesicht bekommen – kein Dalazaare, der von den Beutezügen aus

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dem Dschungel zurückgekommen war. Das Tier – wenn es ein Tier war – hatte

die Größe eines Panzertiers. Der flache Schädel mit den vier funkelnden Augen saß zwischen zwei mächtigen Schultern. Tev­meer sah die beiden todbringenden Pranken, die Greifscheren unter dem Kopf, den Pan­zer, der grünschimmernd den Hauptkörper umschloß. Unter ihm wirbelten armdicke Tentakel über den Boden, die viel eher an Teile von Schlingpflanzen als an Glieder ei­nes Tieres denken ließen.

Tevmeer war nicht in der Lage, den Blick von dem Monstrum zu lösen. Mit fast religi­öser Andacht registrierte er jede Bewegung der Tentakel. Wenn die Überlieferungen stimmten, so hatte er eines jener sagenum­wobenen Wesen vor sich, die vor langer Zeit aus einer Vereinigung vieler verschiedener Tiere und Pflanzen des Blutdschungels ent­standen waren, eine Supersymbiose – ein Heiligtum.

Aber es hat alles in sich, was es in diesem Dschungel an Grausamkeiten und Bösartig­keit gibt! hallte plötzlich eine Stimme lautlos in Tevmeers Bewußtsein. Steh auf, Narr! Kämpfe! Du mußt zu Ravaal!

Der Dalazaare zuckte heftig zusammen. Wie von einem elektrischen Schlag getrof­fen, fuhr er in die Höhe.

Das war das Zeichen für die Bestie. Die Greifscheren schnellten vor. Wie von einem fremden Willen gelenkt, warf Tevmeer sich zur Seite. Er wollte sich mit den Füßen ab­stoßen und springen, aber er spürte die Bei-ne nicht mehr. Sein Schrei hallte durch die Nacht.

Das Monstrum fuhr herum. Wieder war Tevmeer wie gelähmt, aber irgend etwas trieb ihn an. Er rollte sich zur Seite. Plötz­lich sah er den Speer.

Die Waffe lag zwei Körperlängen entfernt im Moos. Der Dalazaare begann darauf zu­zukriechen. Er mußte sich mit den Armen über den Boden ziehen. So kam er viel zu langsam vorwärts.

Er spürte die Tentakeln über seinem Rücken. Eine der beiden Pranken verfehlte

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seinen Kopf nur um Haaresbreite. Tevmeer schrie wieder. Immer mehr der glitschigen Auswüchse legten sich über seinen Körper, bis der junge Dalazaare sich nicht mehr be­wegen konnte. Die Tentakel drehten ihn auf den Rücken, als ob das Ungeheuer wollte, daß er es ansah, wenn es ihn tötete.

Langsam näherten sich die beiden Greif­scheren seinem Hals. Tevmeer atmete nicht. Er schloß die Augen. Nie gekannter Ekel er­füllte ihn. Noch einmal versuchte er, sich aus der Umklammerung zu befreien. Er warf den Kopf herum und stemmte die Arme aus­einander, ohne den geringsten Erfolg zu er­zielen.

Die Greifscheren glitten heran. Noch ein­mal sah Tevmeer in die eiskalten, blitzenden Augen. Es war genau der Moment, als sich der Speer genau in die Mitte des von ihnen gebildeten Vierecks bohrte.

Schrill kreischend ruckte der mächtige Körper des Monstrums in die Höhe.

Der Dalazaare reagierte diesmal blitz­schnell. Er rollte sich zur Seite. Der mon­ströse Leib klatschte genau an der Stelle wieder auf den Boden, wo er eben noch ge­legen hatte.

Doch Tevmeer registrierte das nur noch nebenbei. Aus aufgerissenen Augen starrte er auf die Gestalt, die wenige Körperlängen vor ihm stand und die Bestie aus golden strahlenden Augen ansah.

Wütend wollte diese sich auf den neuen Gegner stürzen. Es war offensichtlich, daß der Speer sie nur geringfügig verletzt hatte. Aber dann geschah etwas Unfaßbares.

Der Fremde, ein in wallende Gewänder gekleideter Hüne, hob den rechten Arm. Sein ausgestreckter Finger zeigte auf den Kopf des Monstrums.

Das Wesen kam mit einem Ruck zum Ste­hen. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Dann brach er leblos zusammen.

Tevmeers Verstand weigerte sich, das zu akzeptieren, was er sah. Aber der Fremde drehte sich zu ihm um und kam auf ihn zu.

»Wer … wer bist du?« stieß Tevmeer hei­ser hervor.

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»Stelle keine Fragen«, erwiderte der Hü­ne. Wallende, pechschwarze Haare umrahm­ten das harte Gesicht. Tevmeer glaubte einen Augenblick lang, daß er das gleiche Schicksal erleiden sollte wie das Monstrum.

»Ich habe dich gerettet, damit deine Nachricht von Ravaal gelangt«, sagte der Fremde dann. »Du hast es nicht verdient, denn du hast versagt. Du wirst bestraft wer­den, aber vorher wirst du Ravaal und den anderen von dem berichten, was du bei der Feste gesehen hast. Du hast den Mann er­kannt?«

»Ja, Herr«, sagte Tevmeer. »Er muß sterben, ebenso wie Caidon-Rov.

Sage das Ravaal.« Tevmeer wollte noch eine Frage stellen,

aber da löste der Hüne sich vor seinen Au­gen auf.

Also doch ein Spuck? Ein Blick auf das tote Ungeheuer belehrte

den Dalazaaren eines Besseren. Er versuchte nicht mehr, irgend etwas von

dem, was ihm widerfahren war, zu verste­hen. Es zählte nur eines. Er mußte ins Lager.

Mittlerweile war es dunkel geworden. Tevmeer überlegte, ob er nicht bis zum Mor­gen hier warten sollte, aber immer wieder hallten die Worte des Fremden in seinem Bewußtsein.

Der Dalazaare setzte sich mit dem Rücken an einen Baumstamm und untersuchte die Wunden an den Fußgelenken. Nach kurzem Suchen fand er eine Pflanze, deren Blätter für ihre heilende Wirkung bekannt waren. Er massierte die Gelenke, und nach kurzer Zeit kehrte das Gefühl zurück.

Vorsichtig richtete Tevmeer sich auf. Die Schmerzen beim Auftreten waren unerträg­lich, aber der junge Dalazaare mußte weiter.

Als Tevmeer kurz vor der Morgendäm­merung das Lager erreichte, war er über­zeugt davon, daß er es nur seinem unbe­kannten Beschützer zu verdanken hatte, daß er noch lebte.

*

Sämtliche Männer der Gruppe standen um Ravaal und Tevmeer herum. Einige wollten dem jungen Dalazaaren helfen, aber Ravaal winkte sie zurück.

Tevmeer berichtete. Er schilderte wie er und Kladmaar die Feste Grool erreicht und sich zwei Tage lang in ihrer unmittelbaren Nähe versteckt hatten.

»Das ist jetzt unwichtig«, sagte Ravaal. »Du kannst alles später erzählen, auch, wie du es geschafft hast, in der Nacht hierher zu gelangen. Ich will nur eines wissen. Habt ihr erfahren, was Caidon-Rov in der Feste ver­birgt? Weißt du, worum es sich bei seinem Schatz handelt?«

»Ich weiß es«, sagte Tevmeer müde. Plötzlich schien es so, als ob sämtliche Le­benskraft aus seinem geschundenen Körper weichen würde.

Ravaal packte ihn am Brustteil der Leder­bekleidung und rüttelte ihn.

»Was ist es, Tevmeer? Was versteckt Cai­don-Rov?«

Der junge Dalazaare sah den Anführer der Gruppe aus leeren Augen an. Dann sagte er leise:

»Es ist einer der Herren aus der FE­STUNG.«

Tevmeer brach tot zusammen, kaum, daß er ausgesprochen hatte.

3.

Im Grunde genommen war Caidon-Rov selbst an den Gerüchten schuld, die unter den Dalazaaren kursierten. Er öffnete die Tore der Feste nur noch selten, um Händler oder Bittsteller zu empfangen. Er verließ die Feste nicht, schon gar nicht in Begleitung Grizzards.

Caidon-Rov hatte große Angst davor, daß der Zwerg von Besuchern entdeckt wurde. Entsprechend abweisend gab er sich den Dalazaaren gegenüber. Es war kein Wunder, daß sein Verhalten diesen bald merkwürdig vorkam.

Kein Zweifel – der ehemalige Diener Por­quetors hatte etwas zu verbergen. Von den

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Technos, die von ihm aus der Feste verbannt worden waren, hatten die Dalazaaren erfah­ren, daß Caidon-Rov nun allein in seiner Burg hauste, wenn sich viele auch weiger­ten, Porquetors und Yunthaals Tod zu ak­zeptieren. Zu sehr war die Furcht vor dem Stählernen in ihnen verwurzelt.

Was also hatte Caidon-Rov zu verbergen? Wieso verließ er die Feste nicht? Wohl kaum nur aus Angst vor den Dalazaaren. Auch ohne den Stählernen war er nicht schutzlos. Die technischen Mittel der Feste standen ihm zur Verfügung.

So entstand das Gerücht, daß Caidon-Rov in der Feste einen wertvollen Schatz beher­bergte. Caidon-Rov ahnte nichts davon, denn die Dalazaaren hüteten sich, ihn darauf anzusprechen. Sie wollten Handel mit ihm treiben, dazu mußte er freundlich gestimmt sein.

Auch von Ravaals Gruppe hatte er keine Ahnung. Caidon-Rov hatte den Dalazaaren in ferngesteuerten Wagen Geschenke brin­gen lassen, um sie für das, was Porquetor ih­nen an Leid zugefügt hatte, zu entschädigen und alle Rachegelüste im Keim zu ersticken.

Sein Problem hieß Grizzard. Caidon-Rov atmete innerlich auf, als der Mißgestalte zur gewohnten Zeit zum Abendmahl erschien. Grizzard nahm am langen Ende der Tafel ihm gegenüber Platz. Er machte einen aus­geglichenen Eindruck und schien den Vor­fall in seiner Schlafkammer vergessen zu ha­ben.

Caidon-Rov beobachtete den Zwerg un­auffällig. Grizzard war etwa anderthalb Me­ter groß. Sein Körper wirkte schwach wie der eines Kindes. Die weit vorgewölbte Brust, der Riesenschädel mit dem stets et­was verlegen wirkenden Kindergesicht, den vorquellenden, wasserblauen Augen, dem spitzen Kinn, strohgelbem Haar und viel zu großen Ohren – all das wirkte auf den ersten Blick abstoßend. Dazu kamen die riesigen Füße.

Caidon-Rov hatte sich im Lauf der Zeit an den Anblick gewöhnt. Allerdings hatte er sich oft gefragt, wie ihm zumute sein würde,

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wenn er selbst in solch einem Körper stecken würde. Vielleicht würde auch er ver­suchen, sich das Leben zu nehmen.

Unsinn! dachte der Hagere, als er sich wieder bei einem solchen Gedankengang er­tappte. Er hat sein ganzes Leben lang Zeit gehabt, sich an sein Aussehen zu gewöhnen. Es muß etwas anderes sein, das ihn verzwei­feln läßt.

Caidon-Rov nahm sich vor, zu gegebener Zeit vorsichtig weiter danach zu forschen. Zunächst einmal mußte er Grizzard weiter unterrichten, bis er perfekt Pthora sprechen konnte. Und er mußte das Vertrauen zurück­gewinnen, das er heute verspielt hatte.

Beide Männer sprachen während des Es­sens kein Wort. Caidon-Rov führte Grizzard in den Raum, in dem er ihn allabendlich zu unterrichten pflegte. Eine der vier Wände leuchtete auf. Dann zeigte sie Bilder von verschiedenen Gegenständen und Tieren, deren Namen Grizzard lernen mußte. Befrie­digt registrierte Caidon-Rov, daß er an die­sem Abend mehr Interesse zeigte als sonst.

Hatte seine »Behandlung« am Ende doch noch den gewünschten Erfolg gehabt?

Grizzard sprach geduldig die Worte nach, die Caidon-Rov ihm vorsprach. Der Zwerg hatte unerwartete Fortschritte gemacht. Erst jetzt fiel Caidon-Rov ein, das er ihn nach seinem Erwachen in zusammenhängenden, sprachlich korrekten Worten angesprochen hatte.

Der Hagere zuckte bei dem Gedanken daran zusammen. Es waren Worte gewesen, die er nie wieder vergessen würde.

Gar nichts weißt du – gar nichts! Grizzard sagte plötzlich: »Ich habe Bilder sehen, Bilder auf Korri­

dor. Andere Welten.« »Auf dem Korridor«, berichtigte der Ha­

gere. »Und es heißt nicht sehen, sondern ge­sehen.«

»Ist gut«, sagte Grizzard. »Du hast mehr Bilder? Viele Welten?«

»Es heißt nicht …« Der Zwerg brachte seinen Lehrer mit ei­

ner Geste zum Schweigen. Wieder einmal

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13 Mann ohne Gedächtnis

fiel Caidon-Rov auf, daß Grizzards Art zu reden in krassem Gegensatz zu den Froschaugen stand, die den Eindruck er­weckten, als glotzten sie stupide in die Welt.

Aber er freute sich über das offensichtli­che Interesse seines neuen Freundes. Er schien seine Depression tatsächlich über­wunden zu haben.

Zumindest vorerst … »Hast du mehr Bilder von anderer Welt?« »Viele Bilder, Grizzard. Bilder von allen

Welten, die Pthor jemals besucht hat.« Grizzards linkes Augenlid begann nervös

zu zucken. Es war das erstemal, daß Caidon-Rov dies bemerkte.

»Ich möchte sehen.« »Ich möchte sie sehen«, korrigierte der

Hagere. »Wenn es dir Spaß macht …« Seine Finger huschten über die Tastatur

eines Pults neben seinem drehbaren Sessel. Im nächsten Augenblick zeigte die Projekti­onswand eine zerklüftete Gebirgslandschaft unter grünem Himmel, dann reißende Flüs­se, fremdartige Bauten und eiförmige Fahr­zeuge, die über scheinbar frei in der Luft schwebende Straßenbänder schossen.

»Bilder von Wohnern«, sagte Grizzard. »Hast du?«

»Nicht ›Wohner‹ – Bewohner«, berichtig­te Caidon-Rov. Er gab sich keine Mühe, sei­ne Begeisterung über Grizzards Interesse zu verbergen. Noch nie war er so sehr aus sich herausgegangen.

Mit einer Ausnahme, dachte Caidon-Rov. Damals, als er ihm von der Reise Pthors durch die Dimensionen erzählt hatte, konnte er eine gewisse Erregung bemerken. Aber zu diesem Zeitpunkt sprach Grizzard nur weni­ge Brocken Pthora.

»Zeige Bewohner!« Nur zu gern! durchfuhr es den Hageren.

Er tippte auf eine weitere Taste. Im nächsten Augenblick war die Projektion eines entfernt humanoiden Wesens zu sehen. Eine Reihe von Daten wurde eingeblendet.

Grizzard wirkte enttäuscht. »Bewohner der Welt?«

Caidon-Rov verzichtete auf eine Beleh­

rung. Er nickte. »Zeige andere Welten und Bewohner«,

forderte Grizzard. Die Finger des Hageren huschten über die Tastatur. Die Projektionen wechselten sich in Minutenfolge ab. Exoti­sche Planetenoberflächen, Wesen, die an aufrecht gehende Insekten erinnerten, Ech­senabkömmlinge, Humanoide und Lebens­formen, die in keine bekannte Kategorie ein­zuordnen waren. Sie alle waren die beherr­schenden Lebensformen ihrer Welt.

Grizzard betrachtete die Bilder schwei­gend, bis die Wand einen Planeten zeigte, zuerst aus dem Weltraum, wo er sich blau­schimmernd um eine gelbe Sonne drehte, dann Teile seiner Oberfläche, grüne Parks, supermoderne Städte und Raumhäfen.

Dann erschien die Projektion seiner Be­wohner.

Grizzards linkes Augenlid zuckte heftig. Caidon-Rov bemerkte es nicht. Er stieß eine Verwünschung aus und tippte zwei Tasten des Pults an. Sofort verschwand die Projek­tion.

»Wie kommt die Erde ins Archiv?« fragte er. Einen Augenblick lang vergaß er, daß er nicht allein war. »Dazu an dieser Stelle? Die Aufnahmen müßten …«

»Das Bild!« flüsterte Grizzard erregt. »Hole zurück!«

Caidon-Rov starrte sein Gegenüber ver­wundert an. Der Gnom hatte sich im Sessel aufgerichtet. Seine Hände zitterten.

Der Hagere stellte die Projektion wieder her. Grizzard stand auf und ging auf die Wand zu. Einen Meter vor ihr blieb er ste­hen.

Caidon-Rov schaltete auf Standprojekti­on. Er beobachtete den Gnomen genau, wäh­rend er überlegte, wie Bilder der Erde hier­her gelangen konnten. Wehmütig dachte er daran, daß auch Porquetor, der in Wirklich­keit längst von Yunthaal abgelöst worden war, wahrscheinlich noch am Leben wäre, wenn Pthor nicht ausgerechnet auf dieser Welt materialisiert wäre.

Er erinnerte sich daran, daß Yunthaal ver­sucht hatte, diese Welt mit Hilfe des hellhaa­

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rigen Eindringlings für sich zu gewinnen. Nur das konnte eine Erklärung sein.

Grizzard blieb lange vor der Projektion ei­nes weiblichen und eines männlichen Men­schen stehen. Plötzlich drehte er sich um und sagte.

»Grizzard jetzt müde. Caidon-Rov ist bö­se, wenn ich jetzt zurückziehe?«

»Wenn du dich zurückziehst«, korrigierte der Hagere lächelnd. »Nein, ich bin nicht böse, vorausgesetzt, daß du keine Dummhei­ten mehr machst.«

Sofort bereute er seine Worte. Aber Griz­zard nickte nur. »Keine Dummheiten mehr – jetzt nicht mehr«, sagte er in seltsamem Tonfall. »Morgen mehr Bilder?«

»Bestimmt, Grizzard«, versicherte der Hagere schnell.

Grizzard nickte wieder. Dann verließ er den Raum, um sich in seine Schlafkammer zu begeben.

Caidon-Rov blieb allein zurück. Grizzards Verhalten gab ihm zu denken. Was konnte ihn an der Erde, einem von vielen Planeten, den Pthor heimgesucht hatte, so faszinieren?

Wieder schweiften seine Gedanken ab. Er dachte an den Hellhaarigen und seinen Be­gleiter, den Berserker, und daran, wie sie Yunthaal besiegt hatten.

Der Gedanke erfüllte ihn mit Trauer. So­lange Caidon-Rov zurückdenken konnte, hatte er Porquetor gedient. Die Erkenntnis, daß der Meister schon lange tot war und von Yunthaal abgelöst worden war, war die schlimmste seines Lebens gewesen.

Er sah den pulsierenden Zellklumpen vor sich, der alles gewesen war, was vom echten Porquetor übriggeblieben war. Kurz vor sei­nem Tod hatte Yunthaal ausgesagt, daß der Meister an der schrecklichen Krankheit zu­grunde gegangen war, die zur Verbannung aus der FESTUNG geführt hatte.

Noch konnte Caidon-Rov nicht ahnen, wie sehr Yunthaal sich geirrt hatte.

Caidon-Rov, der neue Herrscher der Feste Grool, hatte die obere Kugel seit den schrecklichen Ereignissen, die zu Yunthaals Ende führten, nicht mehr betreten.

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Er wußte nichts von dem schrecklichen Leben, das sich in der Feste zu entwickeln begonnen hatte.

*

Wie lange er willenlos vor sich hin ge­dämmert hatte, wußte er nicht. Jahrhunderte oder Jahrtausende – es war vorbei.

Ebensowenig hätte er zu sagen gewußt, welchem Umstand er sein Erwachen zu ver­danken hatte. Er lebte und konnte wieder be­wußt denken. Nur das zählte für ihn.

Nach außen hin glich er einer bis zur Un­kenntlichkeit zerfressenen Masse, in der sich etwas pulsierend bewegte. Nur bei längerem Hinsehen war die feine Aura aus flimmern-der Luft zu erkennen, die ihn umgab.

Während der langen, von unsäglichen Qualen erfüllten Zeit seines Schattendaseins hatte er alles mitverfolgen können, was um ihn herum vorgegangen war. Oft war Yunt­haal zu ihm, den er für tot hielt, getreten und hatte gehässig von seinen lächerlichen Er­folgen berichtet. Er hatte sich nicht mitteilen können. Jetzt war er froh darüber. Yunthaal hätte ihm den endgültigen Garaus gemacht.

Er wußte auch so, was geschehen war, nachdem die Krankheit ihn zu dem gemacht hatte, was er jetzt war. Im Lauf der Zeit hat­te er sich ein Weltbild aufgebaut, das sein künftiges Handeln bestimmen sollte.

Sein Ziel: die Eroberung der FESTUNG, von wo er einst schmählich vertrieben wor­den war.

Seine Motivation: Haß auf die Herrscher, auch wenn es nicht mehr jene waren, die ihn verbannt hatten. Haß auf alle, die ihn verra­ten hatten. Die Dalazaaren würden ihm zum Triumph verhelfen. Caidon-Rov hatte ver­sagt – mehr noch: Sein ehemaliger Diener war ebenfalls zum Verräter geworden.

Seine Mittel: gezielte Einsetzung der pa­ranormalen Kräfte, die teilweise ein Neben­produkt jenes Effekts waren, der ihn zu neu­em, schrecklichem Leben erweckt hatte.

Er war lange bevor sein Bewußtsein aus dem Dunkel ans Licht gespült wurde, wahn­

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sinnig geworden. Wahnsinnig vor Haß, Ver­bitterung und Machthunger. Und der Haß trieb ihn voran, war die Triebfeder zur Ent­faltung immer neuer Kräfte.

Sein Name: PORQUETOR.

*

Grizzard lag mit offenen Augen auf der Liege. Er vermutete, daß Caidon-Rov ihn durch versteckte Kameras beobachtete, aber das störte ihn nicht.

Er hatte nach dem gescheiterten Selbst­mordversuch Zeit zum Nachdenken gehabt. Die Visionen, die an ihm vorübergezogen waren, waren eine Art Schlüsselerlebnis ge­wesen. Was bis zum Abend nur ein vages Gefühl gewesen war, bestimmte jetzt sein ganzes Denken.

Grizzard hatte Wesen gesehen, die so aus­sahen wie er, wie sein wirklicher Körper. Bei dem Gedanken daran kam neue Erre­gung in ihm auf.

Grizzard wußte nun, daß Selbstzerstörung kein Ausweg für ihn war. Er hatte ein Ziel vor Augen, das einen Sinn in sein Leben brachte.

Caidon-Rov hatte ihm davon berichtet, daß diese fremde Welt, die Pthor genannt wurde, in der Vergangenheit unzählige Pla­neten heimgesucht und Tod und Zerstörung über deren Bewohner gebracht hatte. Sein Hiersein war nur so zu erklären, daß Pthor irgendwann auch seine Heimatwelt aufge­sucht hatte. Grizzard versuchte wieder und wieder, sich an diese Welt zu erinnern, und wie immer waren seine Bemühungen ver­geblich.

Aber wenn er bei der Invasion des Di­mensionsfahrstuhls eingefangen worden war, dann mußte sich auch sein wirklicher Körper irgendwo auf Pthor befinden!

Bei dem Gedanken daran hielt es Grizzard nicht mehr auf der Liege. Er stand auf und begann, unruhig auf und ab zu wandern.

Er mußte ihn finden. Je mehr er darüber nachdachte, desto entschlossener wurde er. Er mußte eine Möglichkeit finden, die Feste

zu verlassen, um sich auf die Suche zu ma­chen. Natürlich konnte er nicht mit Caidon-Rov über seine Absicht reden. Er würde ihn niemals ziehen lassen, sondern würde alles tun, um ihn daran zu hindern.

Dann mußte er fliehen. Aber in diesem Körper? Grizzard blickte

an sich herab. Nach allem, was er über die Welt außerhalb der Feste wußte, würde er keine Chance haben, dort zu überleben.

Er brauchte mehr Informationen. Vor al­lem wollte er weitere Bilder der Welten se­hen, auf denen Pthor materialisiert war. Zwar war es mehr als unwahrscheinlich, daß er seine Heimatwelt erkennen würde, selbst, wenn er seine Artgenossen gezeigt bekam. Aber eine winzige Chance bestand.

Einen Augenblick lang überlegte Griz­zard, ob er nicht von der Erde stammen könnte. Dann schüttelte er den Kopf. Er hat­te Städte wie die auf der Projektion noch nie gesehen.

Grizzard beschloß, Caidon-Rov auch wei­terhin nichts davon zu sagen, daß der Zwer­genkörper nicht sein eigener war. Er würde versuchen, dem Einsamen wertvolle Infor­mationen zu entlocken, und sich in der Feste umsehen. Vielleicht fand er irgendwo etwas, das ihm bei seiner Suche von Nutzen sein konnte. Er dachte dabei vor allem an die bei­den Kugeln, die der Feste angeschlossen wa­ren. Caidon-Rov hatte ihm verboten, sie zu betreten.

Warum? Gab es etwas, wovor Caidon-Rov Angst

hatte? Einmal hatte er den Namen Porquetor er­

wähnt, auf Grizzards Fragen aber beharrlich geschwiegen.

Grizzard legte sich wieder hin. Neuer Le­bensmut erfüllte ihn. Morgen wollte er mit der Suche beginnen.

4.

»Einer der Herren der FESTUNG«, sagte Bulder. »Das glaubst du doch nicht, Ra­vaal?«

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»Warum nicht?« entgegnete der Dalazaa­renführer. »Ein Sterbender lügt nicht.«

»Aber wie sollte …?« Ravaal brachte den Vertrauten zum

Schweigen. »Welch größeren Schatz könnte es auf

Pthor jetzt geben als einen der ehemaligen Herren, der dem Untergang entging? Und wieso sollte er nicht in die Feste geflohen sein? Denke daran, was über Porquetor ge­sagt wird. Auch er soll einmal zu den Herren gehört haben.«

»Gerade dann haben wir keine Chance«, beschwor Bulder den Freund. »Die Herren sind zu mächtig.«

»Sie waren mächtig«, widersprach Ra­vaal. »Sie sind besiegt worden. Die Odins­söhne herrschen jetzt über Pthor. Sie werden uns für alle Zeiten verpflichtet sein und je-den geforderten Preis bezahlen, wenn wir ih­nen den Flüchtling übergeben.«

»Preis?« »Die Feste Grool«, sagte Ravaal ent­

schlossen. »Sie bekommen den Tyrannen und wir die Feste – ein einfacher Tausch. Und dann werden wir Dalazaaren uns über alle anderen Stämme des Dschungels erhe­ben. Wir werden herrschen, von der Küste der Stille bis hin zum Dämmersee, von der Wüste bis tief in den Dschungel hinein. Die Feiglinge, die bei den Windmühlen blieben, werden sich uns anschließen, sobald sie se­hen, daß wir die Feste erobert haben.«

Ravaals Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Bulder sah seine Zweifel beiseite ge­wischt – außer einem.

»Wie sollen wir die Feste erobern? Mit unseren Waffen werden wir nicht einmal hineingelangen! Caidon-Rov ist auf der Hut.«

»Ich weiß«, sagte Ravaal. Plötzlich trat ein überlegenes Grinsen in sein Gesicht. »Aber wir sind nicht so dumm, wie er glaubt. Hör zu.«

Dann erklärte Ravaal dem Vertrauten sei­nen Plan.

Minuten später rief Bulder die Dalazaaren im Lager zusammen. Die Männer fieberten

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dem Kampf entgegen. Es war früher Vormittag, als sie das Lager

verließen, bewaffnet mit nichts anderem als Speeren und Messern. Aber das reichte aus, wenn Ravaals Vorhaben gelang.

Caidon-Rov war ahnungslos. Er würde in die Falle gehen.

Bulder ging hinter Ravaal, als die aus knapp 50 Dalazaaren bestehende kleine Streitmacht sich ihren Weg durch den Dschungel bahnte. Ravaal hatte ihm seine Zweifel genommen. Auch die Frage, die ihn nach Tevmeers Tod lange beschäftigt hatte, war für ihn bedeutungslos geworden.

Woher wollte Tevmeer überhaupt wissen, daß sich ein Herr der FESTUNG in Grool aufhielt? Tevmeer hatte ausgesagt, er und Kladmaar hätten ihn neben Caidon-Rov auf der oberen Brüstung stehen sehen.

Niemand auf Pthor – von jenen, die den Sturz des Tyrannen herbeigeführt hatten, einmal abgesehen – hatte jemals einen der ehemaligen Herren zu Gesicht bekommen. Niemand wußte, wie sie aussahen.

Ravaal glaubte Tevmeer. Das mußte Bul­der genügen.

*

Die Dalazaaren erreichten den Rand des Blutdschungels, ohne daß auch nur ein ein­ziger von ihnen den Kreaturen der grünen Hölle zum Opfer gefallen war. Das lange und harte Training im Lager hatte sich be­währt.

Die Feste Grool ragte majestätisch in den Himmel. Die Dalazaaren befanden sich am nordöstlichen Ausläufer des Dschungels, fast auf einer Linie zwischen der Feste und dem Dämmersee. Weit hinten im Westen waren einige der Windmühlen zu sehen, die die Feste mit Strom versorgten.

Einen Moment überlegte Ravaal, ob die Feiglinge, die dort zurückgeblieben waren, weil sie glaubten, einen längst sinnlos ge­wordenen Auftrag ausführen zu müssen, Caidon-Rov gewarnt hatten.

Wieviel einfacher hätte er es gehabt,

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17 Mann ohne Gedächtnis

wenn sich alle Dalazaaren ihm angeschlos­sen hätten. Man hätte nur die Wartungsar­beiten bei den Mühlen einzustellen brau­chen, um Caidon-Rov aus der Reserve zu locken. Wenn er keine Energie mehr bekam, mußte er zwangsläufig die Feste verlassen, um nach dem Rechten zu sehen. Nur die Angst vor Porquetor lähmte die Feiglinge.

Ravaal teilte seine Leute ein. Er und Bul­der würden am Rand des Dschungels ent­lang bis zum Weg gehen, der von der Ebene der Mühlen zum Tor der Feste führte, wäh­rend die anderen sich von Osten her anschli­chen, um im günstigen Moment zuzuschla­gen.

Nachdem er die letzten Befehle gegeben hatte, nickte Ravaal Bulder zu. Wortlos machten die beiden Eingeborenen sich auf den Weg. Es war früher Nachmittag, als sie den zwei Meter breiten Pfad erreicht hatten, der zur Feste führte. Es war nichts Unge­wöhnliches, daß sich Dalazaaren zu Caidon-Rov begaben, um Handel zu treiben.

Eine Stunde später standen die beiden Eingeborenen vor dem großen Flügeltor der Feste. Ravaal blickte sich noch einmal um. Der Hügel, auf dem die Burg stand, überrag­te den Dschungel um etwa 500 Meter. Der letzte Teil des Weges bestand aus einer Art Brücke. Links und rechts von den Dalazaa­ren gähnte ein mehrere Dutzend Meter tiefer Abgrund, aus dem sich die Stützen erhoben, die die Feste umgaben. Ravaal suchte ver­geblich nach seinen Anhängern, aber er war sicher, daß sie am Osthang des Hügels im Schutz der Bäume und Sträucher lauerten.

»Du weißt Bescheid«, zischte Ravaal Bul­der zu. Dann rief er nach Caidon-Rov. Es gab keinen sichtbaren Mechanismus, der die Tore der Feste von außen öffnete oder Cai­don-Rov ein Signal gab.

Man rief nach ihm, und bisher hatte er je­desmal reagiert.

Tatsächlich erschien der Hagere nach kur­zer Zeit auf der unteren Brüstung.

»Was wollt ihr?« schrie Caidon-Rov. »Ich will nicht gestört werden! Verschwindet!«

Ravaal ließ sich nicht beeindrucken.

»Wir wollen handeln!« rief er zurück. »Wir bringen dir wertvolle Tiere für deine Sammlung!«

Natürlich hatte es sich längst herumge­sprochen, daß Caidon-Rov damit begonnen hatte, allerlei Getier um sich zu sammeln. Oft bezahlte er mit glitzernden Steinen da­für.

»Tiere?« fragte der neue Herr der Feste mißtrauisch. »Zeigt sie mir!«

Ravaal griff in einen Beutel, der an sei­nem breiten Ledergürtel befestigt war und brachte zwei handgroße, quallenförmige Klumpen hervor.

Der Dalazaare hatte einen Handschuh an­gezogen, um sich an ihnen nicht die Hand zu verbrennen.

»Was ist das?« wollte Caidon-Rov wis­sen. Er wirkte nicht gerade sehr interessiert.

»Zwei Symbionten einer Blauen Göttin«, rief Ravaal.

»Du lügst!« schrie Caidon-Rov von der Brüstung. »Niemand gelangt so nahe an eine Blaue Göttin heran, daß er ihre Symbionten stehlen kann. Er wäre tot, bevor er …« Der Hagere verstummte. Dann fragte er: »Wer hat sie gestohlen?«

»Ich«, entgegnete Ravaal völlig ruhig. »Und ich habe noch mehr für dich.«

»Was?« fragte Caidon-Rov. Jetzt war eine gewisse Erregung in seiner Stimme nicht zu überhören. Und Ravaal wußte, daß er ge­wonnen hatte.

»Die Knolle einer Blauen Göttin!« Der Hagere auf der Brüstung zuckte zu­

sammen. »Wartet, ich komme herunter. Aber ich

warne dich, Dalazaare. Die Energiegeschüt­ze der Feste sind auf euch gerichtet. Wenn du gelogen hast, seid ihr tot – schon jetzt!«

»Wieso sollte ich lügen?« fragte Ravaal belustigt. »Ich will ein Geschäft machen, sonst nichts.«

Caidon-Rov verschwand von der Brü­stung. Kurz darauf waren Schritte hinter dem Tor zu hören. Dann öffneten sich die beiden Flügel knarrend und quietschend.

Caidon-Rov hielt eine fremdartig ausse­

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hende Waffe in der Hand. »Zeig mir die Knolle!«

Ravaal griff wieder in den Beutel und hol­te ein kopfgroßes Gebilde hervor, das einer Zuckerrübe glich, aber in tiefem Blau schimmerte.

Gebannt starrte der Hagere darauf. Aus den Augenwinkeln bemerkte Ravaal eine Bewegung hinter ihm.

»Sieh sie dir genau an«, forderte er Cai­don-Rov auf. Es war dem ehemaligen Die­ner des mächtigen Porquetor anzusehen, wie aufgeregt er war.

Eine Blaue Göttin! Die gefährlichste und erhabenste pflanzliche Lebensform des Blutdschungels!

Es hieß, daß derjenige, der im Besitz einer solchen Pflanze war, unbesiegbar wäre und zu großem Ruhm gelangen würde.

Caidon-Rov näherte sich Ravaal vorsich­tig, den Blick nicht von der Knolle neh­mend.

»Es ist unmöglich, an eine Knolle der …« Der Schlag traf Caidon-Rov im Genick.

Der Hagere sackte in sich zusammen. Hor­den von Dalazaaren stürmten aus ihren Ver­stecken hervor und rannten durch das offen­stehende Tor ins Innere der Feste. Caidon-Rov ließen sie einfach liegen.

Er war wertlos für sie. Bald würde die Dunkelheit hereinbrechen. Die Kreaturen des Blutdschungels, die sich nachts bis zu den Toren der Feste heranwagten, würden ihm den Rest geben.

Neben ihm lag die Knolle der Blauen Göttin. Feine Fäden bildeten sich überall auf ihrer Oberfläche, senkten sich in den Boden und fanden Halt.

*

Grizzard merkte von alldem nichts. Als er sah, daß Caidon-Rov auf die Brüstung trat, um mit den vermeintlichen Händlern zu re­den, wußte er, daß sich ihm die vielleicht so schnell nicht wiederkehrende Gelegenheit bot, sich in der Feste umzusehen. Und da er den größten Teil der eigentlichen Anlage

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mittlerweile kannte, wollte er versuchen, in eine der beiden Kugeln zu gelangen.

Seltsamerweise empfand er eine gewisse Furcht davor, sich zuerst in der oberen Ku­gel umzusehen. Caidon-Rov sprach so gut wie nie über sie, aber wenn er es tat, befiel ihn eine starke Erregung – Angst.

Grizzard betrat Caidon-Rovs Laborraum, wo dieser seine Tiere und verschiedene Ex­perimentieranlagen untergebracht hatte. Er redete nicht über das, was er hier tat. Griz­zard wußte nur, daß er sich manchmal stun­denlang hier einschloß und daß von hier aus fast alle Komplexe der Feste zu kontrollie­ren waren. Er hatte Caidon-Rov mehrere Male beobachtet, wie dieser mit den Kon­trollinstrumenten umging, so daß er in der Lage war, einige der Anlagen zu bedienen.

Nach zwei Fehlversuchen brachte er ein Bild auf einen der vielen Schirme, die eine ganze Wand ausfüllten. Er sah, wie Caidon-Rov mit den Eingeborenen vor dem Tor der Feste stand und sich mit ihnen unterhielt. Zufrieden schaltete er den Monitor ab – einen Augenblick zu früh.

So machte sich Grizzard ahnungslos auf den Weg in die untere Kugel.

Sie war von dem unteren Stockwerk, in dem sich Grizzard jetzt befand, über einen Gang relativ leicht zu erreichen. Der Gang stieg leicht an. Der Verwachsene atmete schwer. Wenn er nur einen kräftigeren Kör­per gehabt hätte. Mehrere Schotte fuhren vor Grizzard zur Seite und gaben den Weg frei.

Dann stand Grizzard vor einem rotmar­kierten Schott. Er spürte plötzlich, wie etwas in sein Bewußtsein einzudringen versuchte. Grizzard hatte das Gefühl, als ob er durch­leuchtet würde. Irgend etwas tastete ihn ab, drang in sein Innerstes, drohte ihn für einige furchtbare Augenblicke auseinanderzuspren­gen.

Der Schlag traf ihn mit voller Wucht. Er landete unsanft auf dem harten Boden des Ganges. Grizzards Kopf schlug hart gegen eine Wand. Sekundenlang drohte ihn der höllische Schmerz zu übermannen.

Von irgendwoher drang Lärm an seine

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Ohren. Grizzard kam ächzend auf die Beine. Die Schmerzen ließen allmählich nach.

Instinktiv ging Grizzard einige Schritte zu­rück. Er schüttelte sich.

Der Gang war leer. Niemand war zu se­hen, der für den Angriff verantwortlich sein könnte. Grizzard betrachtete das Schott. Je länger er nachdachte, desto mehr gelangte er zu der Überzeugung, daß es einen versteck­ten Mechanismus geben mußte, der Ein­dringlinge psionisch abtastete und sie zu­rückschlug, wenn sie als unberechtigt einge­stuft wurden.

Aber Grizzard gab nicht auf. Er wollte einen zweiten Versuch wagen. Diesmal war er gewarnt.

Langsam setzte er einen Fuß vor den an­deren.

Grizzard stieß einen heiseren Schrei aus, als die Luft vor ihm zu flimmern begann. Ungläubig starrte er auf die hünenhafte Ge­stalt, die wie aus dem Nichts vor ihm auf­tauchte. Ein Mann mit wallenden Gewän­dern und langem schwarzen Haar, in der Rechten ein breites Schwert.

Die Lippen der Erscheinung bewegten sich, als ob der Fremde etwas sagen wollte, aber Grizzard hörte nur ein unverständliches Krächzen. Am ganzen Leib zitternd, ging er langsam zurück.

Der Hüne hob das Schwert und holte zum tödlichen Schlag aus. Grizzard schlug ver­zweifelt die Hände vors Gesicht. Er konnte aber noch sehen, wie sich das Gesicht mit den golden strahlenden Augen zu einer Gri­masse verzerrte und die Umrisse des Man­nes zu verschwimmen begannen. Das Schwert sauste herab. Grizzard schrie auf und stolperte davon, den Gang entlang, bis er auf den Korridor gelangte, der zu Caidon-Rovs Gemächern führte.

Keuchend blieb er stehen. Die Erschei­nung war verschwunden.

Grizzard blieb keine Zeit zum Überlegen. Wieder hörte er den Lärm, diesmal näher. Plötzlich tauchten überall kräftige Gestalten auf, dunkelhäutige Männer, wie er sie vor dem Tor der Feste gesehen hatte, als sie mit

Caidon-Rov verhandelten. Doch jetzt waren es zu viele. Und an ihren Absichten bestand kein Zweifel.

»Dort ist er!« schrie einer von ihnen. »Packt ihn!«

Grizzard sah sich schnell um. Der Korri­dor teilte sich sternförmig vor ihm. Hinter ihm lag der Gang zur Kugel. Rechts stürm­ten die wilden Gestalten heran.

Grizzard schleppte sich in die andere Richtung. Doch auch von dort kamen ihm Eingeborene entgegen. Es schien keinen Ausweg zu geben. Die Wilden waren dop­pelt so schnell wie er mit dem Zwergenkör­per.

Grizzard erinnerte sich daran, daß es in den Wänden viele versteckte Türen gab. Wenn er Glück hatte …

Grizzard warf sich gegen eine Wand. Sei­ne Hände preßten sich gegen das kalte Mate­rial. Er wußte, wie irrational seine Hoffnung war, in allerletzter Sekunde einen Ausweg zu finden.

Doch das Wunder geschah. Grizzard spür­te ein Prickeln in der linken Hand. Im näch­sten Augenblick schwang eine schmale Tür hinter ihm auf. Die Eingeborenen heulten wütend auf. Ein Messer prallte wenige Zen­timeter neben seinem Kopf von der Wand ab. Einer der Wilden bellte Befehle. Griz­zard verstand nur Teile davon, aber das ge­nügte, um ihn verstehen zu lassen, daß sie ihn nicht mehr lebend fangen wollten.

Grizzard ließ sich rückwärts in die Öff­nung fallen. Dabei mußte er einen Kontakt ausgelöst haben, denn sofort fuhr die Öff­nung wieder zu. Aber es war schon zu spät. Zwei Speere steckten im Spalt. Schwarze Finger schoben sich hindurch und begannen, die Tür zur Seite zu schieben.

Grizzard überlegte nicht lange. Er kam auf die Füße und sah sich um. Es war dun­kel, so daß er nicht viel erkennen konnte. Seine tastenden Hände berührten etwas, das sich wie ein Geländer anfühlte. Grizzards Füße fanden eine Stufe. Nur langsam ge­wöhnten sich die Augen an die Dunkelheit. Er sah die Wendeltreppe im gleichen Au­

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genblick, als die Geheimtür zur Seite fuhr und die ersten Dalazaaren sich durch die Öffnung zwängten.

Grizzard begann zu klettern. Das Herz des überforderten Zwergenkörpers hämmerte wild in seiner riesigen Brust. Speere flogen heran, doch zu Grizzards Glück zielten die Eingeborenen nicht genau. Er stieg weiter die Stufen hinauf, bis er das obere Stock­werk erreichte. Hinter ihm hallten dumpf die Schritte der Wilden.

Grizzard atmete so heftig, daß er glaubte, es müßte ihm die Brust zerreißen.

Er hörte die Schreie der Dalazaaren. Er mußte weiter.

Grizzard befand sich in einem Raum mit kreisrunder Grundfläche. Irgendwo mußte sich eine Tür befinden, die nach außen führ­te. Alles hing davon ab, daß er sie fand, be­vor die Verfolger heran waren.

Grizzard preßte sich mit dem Rücken ge­gen die Wand. Wieder huschten seine Finger über das Metall. In dem fahlen Lichtschein, der von unten heraufdrang, sah er den Kopf eines Dalazaaren auftauchen.

Und noch einmal stand ihm das Glück zur Seite.

Grizzard rollte sich über den Rücken auf den Korridor, als er die Öffnung hinter sich sah. Ein Messer streifte ihn am Kopf. Be­nommen torkelte der Gnom vorwärts.

Es war paradox. Ausgerechnet der Zwer­genkörper rettete ihn in diesem Augenblick, denn der Dalazaare hatte Schwierigkeiten, sich durch die schmale Tür zu zwängen. Das verhalf Grizzard zu einem wertvollen Vor­sprung, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis die Verfolger ihn wieder eingeholt hat­ten.

Wohin? Grizzard befand sich in einem heller­

leuchteten Raum, der mit fremdartigen tech­nischen Geräten ausgefüllt war. Auf der ge­genüberliegenden Seite mündete er in einen schräg nach oben führenden Gang.

Der Gnom zögerte keine Sekunde. Schon hallten die Schritte der Eingeborenen hinter ihm, als er sich in den Gang stürzte und mit

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letzter Kraft weiterlief. Die Luft wurde knapp. Grizzard sah schwarze Nebel vor sei­nen Augen, aber er gab nicht auf.

Er wußte nicht, wie lange er gelaufen war, als er die kleine Halle erreichte. Ein Schott fuhr knarrend hinter ihm zu, wie von Gei­sterhand gelenkt. Schwer atmend ließ er sich zu Boden sinken. Die Fäuste der Verfolger hämmerten gegen das Metall, aber es gab nicht nach.

Grizzard verlor das Bewußtsein.

*

Als er zu sich kam, war draußen alles ru­hig. Grizzard hatte Schmerzen. Seine Hand fuhr über die Stirn. Sie fühlte etwas Hartes, Verkrustetes.

Blut! Sofort erinnerte er sich an alles. Panik er­

faßte ihn. Er sprang auf und sah das Schott. Grizzard atmete auf. Es war ihm gelun­

gen, den Verfolgern zu entkommen. Vorerst war er in Sicherheit – aber wo?

Erst jetzt kam ihm zu Bewußtsein, daß er vom oberen Stockwerk der Feste aus weiter nach oben geflohen war. Das aber bedeutete nach allem, was er über sein stählernes Ge­fängnis wußte, daß er sich in der oberen Ku­gel befand!

Grizzard war unheimlich zumute. Er wuß­te nicht, wo die Dalazaaren geblieben waren. Gab es einen zweiten Zugang, durch den sie eindringen konnten?

Grizzard sah komplizierte technische Ein­richtungen, mit denen er nichts anfangen konnte. Und auf dem Boden vor ihm lag ei­ne halb geöffnete, stählerne Rüstung. Griz­zard erkannte Unmengen von Verdrahtun­gen und Schaltelementen.

Caidon-Rov hatte nie über Porquetor, den Stählernen, gesprochen. Grizzard kannte nur den Namen – das war alles. So konnte er nicht wissen, was er da vor sich hatte.

Der Anblick der Rüstung ließ Grizzard die Dalazaaren, Caidon-Rov und seine Ver­letzung vergessen. Da er nicht wissen konn­te, daß er in Wirklichkeit einen Halbroboter

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vor sich hatte, mußte er annehmen, daß frü­her einmal jemand diesen Panzer getragen hatte, vielleicht sogar Caidon-Rov.

Die blau glänzende Rüstung war über zwei Meter groß, schätzte Grizzard. Wer sie anlegte, mußte nahezu unangreifbar sein.

Und plötzlich kam Grizzard ein verwege­ner Gedanke, der ihm das Blut in den Kopf trieb.

Er blickte an seinem Zwergenkörper her­ab, dann wieder auf den Panzer.

Wenn es ihm gelang, in diese Rüstung zu steigen, wäre er vor den Gefahren, die vor den Toren der Feste lauerten, sicher. Er könnte sie verlassen und sich auf die Suche nach seinem wirklichen Körper machen.

Aber das war Wunschdenken – nichts weiter. Mit seinen schwächlichen Gliedma­ßen würde es ihm nicht einmal gelingen, einen Arm des stählernen Ungetüms zu be­wegen.

Doch der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Vielleicht wußte Caidon-Rov Rat.

Caidon-Rov! Grizzard fand mit einem Schlag in die

Wirklichkeit zurück. Es schien so, als sei er hier im Augenblick vor den Eingeborenen sicher, aber ihr Auftauchen in der Feste konnte nur bedeuten, daß sie Caidon-Rov überwältigt, wenn nicht sogar getötet hatten.

Grizzard sah sich wieder um. Er befand sich ohne Zweifel in einer Kontrollzentrale. Von hier aus mußte es möglich sein, andere Teile der Feste zu beobachten. Zwei gepol­sterte Sessel und Bilder an den Wänden, die eine seltsame Wirkung auf Grizzard ausüb­ten, deuteten darauf hin, daß sich früher ein­mal irgend jemand hier aufgehalten haben mußte.

Ein Großteil der Einrichtungsgegenstände und Konsolenbänke war zerstört worden. Grizzard wußte, daß jetzt nicht die Zeit war, sich Fragen zu stellen. Er erblickte eine Rei­he von Monitoren, über denen Leisten mit Kontrollinstrumenten angebracht waren. Auch hier bot sich ein Bild der Verwüstung, aber einige der Bildschirme schienen unbe­schädigt zu sein.

Grizzard machte einen Bogen um die Rü­stung und begann aufs Geratewohl, auf Ta­sten zu drücken und an Knöpfen zu drehen. Wenige Meter neben ihm leuchtete eine Skala auf. Im nächsten Moment explodierte ein Gerät mit lautem Knall. Eine Stichflam­me fuhr aus der Wand.

Grizzard erschrak fast zu Tode, ließ sich aber nicht entmutigen. Er mußte jedes Risi­ko eingehen. Ohne Caidon-Rov war er hilf­los. Er mußte wissen, was mit ihm passiert war.

Nach Minuten leuchtete ein Bildschirm auf. Grizzard brauchte weitere Minuten, um die Einstellung so zu regulieren, daß er et­was erkennen konnte. Der Monitor zeigte einen Teil des Ganges, den er sofort als den wiedererkannte, durch den er in die Kugel gelangt war. Ein halbes Dutzend Eingebore­ne stand schweigend und geduckt in der Mitte. Es bestand kein Zweifel, worauf sie warteten.

Grizzard murmelte eine Verwünschung. Er probierte weitere Einstellungen, bis der Schirm endlich den Weg vor dem Haupttor der Feste zeigte.

Zuerst sah er nur ein Gebilde, das ihn an einen riesigen blauen Fächer denken ließ. Dann erkannte er, daß es Blätter waren, die sich zuckend nach allen Seiten hin ausbreite­ten. Sie wuchsen so schnell, daß Grizzard es mit bloßem Auge verfolgen konnte.

Und nur wenige Schritte neben der Pflan­ze lag Caidon-Rov – bewußtlos oder tot.

Unbändiger Zorn erfaßte Grizzard. Er re­gulierte die Einstellung des Monitors so, daß dieser wieder die lauernden Dalazaaren auf dem Gang zeigte.

»Verschwindet!« schrie er, als ob sie ihn hören könnten. »Verschwindet! Laßt mich in Ruhe! Ich werde euch alle strafen, wenn Caidon-Rov …«

Grizzard fuhr zusammen, als er sah, was er mit seinen Worten bewirkte.

Die Eingeborenen begannen zu zittern und redeten wild durcheinander, ohne daß er ein Wort hören konnte. Dann flohen sie in hellem Entsetzen den Gang hinunter. Einige

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behinderten sich dabei und kamen zu Fall. Ein Dalazaare erstach einen anderen, um schneller an ihm vorbei in Sicherheit zu ge­langen.

In Sicherheit wovor? Grizzard verstand immer weniger von dem, was um ihn vor­ging. Wohin war er geraten? Unwillkürlich trat er von der Kontrollwand zurück.

Er konnte nicht ahnen, daß er bei seinen Versuchen, die Bildschirme zu aktivieren, eine andere Schaltung ausgelöst hatte, die bewirkte, daß die Eingeborenen ihn überall in der Feste hören konnten. Aber sie hörten nicht seine, Grizzards, Stimme.

Grizzard hatte plötzlich nur noch einen Wunsch. Er mußte hier heraus, fort von die­sem unheimlichen Ort. Der Gang war frei. Wenn es ihm jetzt gelang, das Schott zu öff­nen …

Noch während er überlegte, schälte sich die Gestalt des schwarzhaarigen Hünen aus dem Nichts. Das Schwert blitzte in seiner Hand.

5.

Ravaal hörte die mächtige Stimme wie al­le anderen. Auch er verlor einen Augenblick lang die Fassung. Er sah, wie seine Männer in wilder Flucht die Korridore entlangstürz­ten. Erst nach wertvollen Sekunden fand er die Fassung wieder.

Porquetor war tot! Er wußte es. Die Stim­me hatte es ihm immer wieder versichert. Ir­gend jemand versuchte, die Dalazaaren zu täuschen, wahrscheinlich sogar der ehemali­ge Herr der FESTUNG.

»Bleibt hier, ihr Feiglinge!« schrie Ravaal den Fliehenden zu. »Es gibt keinen Porque­tor mehr! Bleibt stehen!«

Sie hörten nicht auf ihn. Das Entsetzen war zu groß. Die Dalazaaren rannten, als sei der Leibhaftige ihnen auf den Fersen, und im Grunde war Porquetor für sie nichts an­deres als die Verkörperung aller bösen Mächte.

Ravaal griff sich einen der Männer, die an ihm vorbeiliefen. Es war einer der Dalazaa-

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ren, die den Gnomen den Gang hinauf ver­folgt hatten und dort belagern sollten. Der Mann versuchte sich loszureißen. Ravaal re­dete auf ihn ein, aber in den Augen des an­deren stand blanke Angst.

Ravaal erschrak. Wieder drohte auch ihn die Panik zu überkommen. Plötzlich hörte er die Stimme. Der Dalazaare, den er gepackt hatte, starrte Ravaal entsetzt an, als er den kalten Ausdruck in seinen Augen bemerkte. Dann nickte Ravaal.

Er stieß den Flüchtling beiseite und haste­te den Korridor entlang. Er befand sich im unteren Stockwerk der Feste. Die Stimme führte ihn, bis er auf der Brüstung stand.

Seine Leute flohen den Hügel hinab, zur Ebene der Windmühlen. Sie würden zu den Feiglingen, die dort zurückgeblieben waren, reumütig zurückkehren. Aber er brauchte sie nicht mehr.

Ravaal wußte, was er zu tun hatte. Befrie­digt beobachtete er, wie sich die Blätter der Blauen Göttin um Caidon-Rov zu schließen begannen.

Ravaal verließ die Brüstung. Er kehrte ins Innere der Feste zurück.

*

Caidon-Rov kam zu sich, als irgend etwas Feuchtes über seinen Nacken glitt. Er ver­spürte einen Druck im Hinterkopf. Benom­men versuchte er den Kopf zu schütteln. Er erinnerte sich sofort an den hinterhältigen Angriff der Dalazaaren. Der Druck rührte von dem heimtückischen Schlag her, den er erhalten hatte.

Caidon-Rov öffnete die Augen und er­starrte.

Ein blaues, fleischiges Etwas glitt an ihm vorbei, wie der sich windende Körper einer Riesenschnecke. Nur am Rande nahm er die aus der Feste fliehenden Dalazaaren wahr. Er hörte, wie einige den Namen Porquetor schrien. Sie mußten den Verstand verloren haben.

Unendlich langsam drehte er den Kopf in die Richtung, aus der sich das blaue Gebilde

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23 Mann ohne Gedächtnis

immer weiter vorschob. Er hatte Angst vor dem, was er sehen würde, obwohl er es längst wußte.

Die Knolle der Blauen Göttin! Caidon-Rov hatte davon gehört, daß diese Pflanzen sich innerhalb weniger Stunden zu voller Größe entfalten konnten.

Zwei der fleischigen, tiefblau leuchtenden Blätter schoben sich lautlos an Caidon-Rov vorbei. Schon jetzt hatten sie ihn quasi um­schlossen. Ein Blick nach hinten zeigte dem Hageren, daß die Enden der ovalen Blätter an seinen Füßen vorbei, weiter über den Bo­den fuhren.

Nachdem die erste Panik sich gelegt hatte, stellte Caidon-Rov verblüfft fest, daß die Pflanze ihn gar nicht beachtete. Feine, kleb­rige Fäden legten sich um seinen Körper, lösten sich aber sofort wieder und wurden eingerollt. Sekundenlang sah der Hagere mitten in den pulsierenden, blutroten Sch­lund der Pflanze.

Er schätzte, daß sie jetzt schon einen Durchmesser von mehr als fünf Metern hat­te. Und sie wuchs weiter.

Wieso lebte er noch? Vorsichtig versuchte er, sich auf die Ell­

bogen aufzurichten. Sein Blick war starr auf die Stelle gerichtet, wo sich der tödliche Schlund zwischen den Blättern verbarg. Aber nichts geschah.

Caidon-Rov atmete schwer. Er versuchte nicht, irgend etwas verstehen zu wollen. Je­des lebende Wesen, das sich auch nur in die Nähe einer Blauen Göttin wagte, war verlo­ren.

Trieb die Pflanze ein makabres Spiel mit ihm? Wollte sie ihn entkommen lassen, um dann ihre Fäden auf ihn abzuschießen, wie ein gnadenloser Jäger, der nur Spaß am Tö­ten hatte?

Diese und ähnliche Gedanken fuhren ihm durch den Kopf, während er unbewußt be­gann, sich langsam rückwärts vom Schlund der Pflanze weg zu schieben. Plötzlich fiel ihm Grizzard ein.

Er war allein in der Feste gewesen, als die Dalazaaren angriffen. Er hatte keine Chance

gegen die Wilden. Unwillkürlich sprang Caidon-Rov auf.

Links und rechts von ihm lagen die blauen Blätter wie fleischige Fladen und wuchsen weiter. Er hatte nur wenige Zentimeter Platz zu beiden Seiten.

Caidon-Rov holte tief Luft. Er mußte springen, wenn er nicht auf sie treten wollte.

Noch einmal drehte er sich um. Er sah mitten in den roten Schlund. Der

Hagere erstarrte. Aber es war nicht die To­desangst, die ihm das Blut in den Kopf trieb.

Caidon-Rov glaubte, in ein riesiges Auge zu sehen, das ihn aus dem Schlund heraus anstarrte. Der Spuk dauerte nur einige Se­kunden.

Das Auge war verschwunden, der Sch­lund geschlossen und wieder von den Blät­tern verdeckt.

Eine Täuschung! durchfuhr es Caidon-Rov. Doch dann geschah das Wunder.

Die Blätter wichen zur Seite und bildeten eine breite Gasse. Der Hagere rannte los, bis er zwanzig Meter zwischen sich und die Blaue Göttin gebracht hatte. Die blauen Fla­den rückten sofort wieder zusammen.

Erst jetzt sah Caidon-Rov, was für ein Monstrum er vor sich hatte.

Dort, wo sich der Schlund befand, war die Pflanze fast zwei Meter hoch. Rings um die Mitte herum breiteten sich die Blätter in alle Richtungen etwa vier Meter breit aus, nicht höher als einen halben Meter.

Kaum fähig, einen klaren Gedanken zu fassen, taumelte Caidon-Rov auf das offene Flügeltor der Feste zu. Die Göttin reichte mittlerweile bis kurz an die Brücke heran.

Es war ein Wunder! Sie hatte ihn freige­geben! Sie hatte ihn verschont!

War es vorstellbar, daß die Pflanze Intelli­genz besaß?

»Unsinn!« murmelte Caidon-Rov, aber insgeheim spekulierte er weiter, während er über die Brücke ging. Als er das Tor erreich­te, sah er einen Schatten auf sich zukom­men. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich an einem der beiden Flügel festklammern und ausweichen.

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Zwei Dalazaaren liefen schreiend an ihm vorbei aus der Feste. Wieder hörte er den Namen des toten Meisters. Die beiden waren verrückt vor Angst.

Er wollte ihnen eine Warnung zurufen, aber es war zu spät.

Sie sahen die heranschießenden Fäden und die sich aufrichtenden Blätter erst, als sie schon das Ende der Brücke erreicht hat­ten und viel zu nahe an der Pflanze waren, um noch ausweichen zu können.

Die Fäden fingen sie ein und rissen sie in den Schlund, der sich in Sekundenschnelle aufgetan hatte. Blätter wölbten sich über ih­re zuckenden Leiber. Dann war alles vorbei.

Einige Augenblicke lang war Caidon-Rov unfähig, sich zu rühren. Er konnte nicht be­greifen, was er gesehen hatte.

Die Blaue Göttin kam zur Ruhe. Wieder lag sie flach und wie leblos vor der Brücke. Nichts erinnerte mehr an das mordgierige Monstrum, das von einem Augenblick zum anderen zugeschlagen hatte.

Ein Wächter! durchfuhr es den Hageren. Sie liegt da wie ein stummer Wächter!

Welches Geheimnis verbarg sich hinter der Pflanze? Immer wieder fiel dem Hage­ren jetzt das Auge ein. Hatte er es sich wirk­lich nur eingebildet? Worauf wartete sie?

Caidon-Rov murmelte eine Verwün­schung und riß sich von dem Anblick los, der ihn mehr und mehr zu faszinieren be­gann.

Grizzard! Caidon-Rov stürmte in die Feste und

schloß das Tor von innen. Wo war der Freund? Lebte er überhaupt noch, oder hat­ten die Dalazaaren ihn niedergemetzelt?

Es war möglich, daß sich noch einige von ihnen in der Feste aufhielten.

Wenige Minuten später war Caidon-Rov in seinem Kontrollraum. Unterwegs hatte er drei tote Dalazaaren gefunden, die offen­sichtlich von ihren eigenen Gefährten umge­bracht worden waren.

Der Hagere sah sofort die Alarmleuchte, die ihm verriet, daß jemand die obere Kugel betreten hatte.

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Er fluchte hemmungslos. Dann bewaffne­te er sich mit einem Energiestrahler und machte sich auf den Weg in den oberen Teil der Feste.

*

Grizzard wich zurück. Er wollte zur Seite springen, aber er hatte keine Kraft mehr in den Beinen. Die Strapazen der letzten Minu­ten machten sich jetzt auf fatale Weise be­merkbar.

Grizzard stürzte – wenige Meter vor dem drohend erhobenen Schwert des Hünen. Er schleppte sich bis zu einer Wand, dann blieb er kraftlos liegen.

Der Gnomenkörper gehorchte ihm nicht mehr. Grizzard begriff, daß er all seine Kraft verbraucht hatte. Wem immer dieser Körper früher einmal gehört haben mochte – er hat­te mit Sicherheit gelernt, seine Kräfte besser einzuteilen.

Grizzard schloß die Augen und wartete auf den Tod. Er war Realist genug, um seine Niederlage einzusehen. Trauer und Ver­zweiflung überkamen ihn, als er daran dach­te, daß vielleicht irgendwo draußen, jenseits der stählernen Mauern der Feste, sein wirkli­cher Körper auf ihn wartete.

Der Schlag blieb aus. Ungläubig schlug Grizzard die Augen auf. Der Hüne stand breitbeinig vor ihm und

zeigte mit der freien Hand auf eine Tür in der gegenüberliegenden Wand des Raumes.

»Steh auf!« hallte eine mächtige Stimme. »Ich … kann nicht«, keuchte Grizzard. »Steh auf!« Das Schwert näherte sich der vorgewölb­

ten Brust. Grizzard preßte die Zähne zusammen und

kam mit Mühe auf die Knie. Er griff nach ei­ner aus der Wand ragenden Verstrebung und schaffte es, sich unter unsäglichen Schmer­zen aufzurichten.

»Dorthin!« befahl der Hüne. Grizzard sah die Tür. Bunte Ringe tanzten

vor seinen Augen, als er sich darauf zu schleppte. Der Riese folgte ihm. Als Griz­

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zard noch einen Meter vor ihr stand, öffnete sie sich, ohne daß ein sichtbarer Mechanis­mus betätigt worden wäre.

Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen. »Weiter!« dröhnte die Stimme des Hünen.

»Geh hinein!« Grizzard zögerte. Alles in ihm sträubte

sich dagegen, die Schwelle zu überschreiten. Plötzlich erhielt er einen heftigen Stoß in

den Rücken. Der Gnomenkörper wurde drei Meter weit nach vorne geschleudert und lan­dete genau vor der niedrigen, kreisrunden Plattform, auf der sich eine pulsierende, zer­fressene Masse befand, die von einem fei­nen, kaum wahrnehmbaren Flimmern umge­ben war.

Das Gebilde stank bestialisch. Grizzard war nahe daran, sich zu übergeben.

»Was … was ist das?« stieß er angewidert hervor.

»Es ist der Meister«, antwortete der Hüne. »Ich bin es!«

Grizzards Kopf fuhr herum. Der Mißge­stalte sah gerade noch, wie die Umrisse des Unbekannten verschwammen. Dann war die Stelle, an der er gestanden hatte, leer.

Grizzard hatte den Schock noch nicht überwunden, als er spürte, daß etwas in sein Bewußtsein einzudringen begann. Er wollte sich dagegen aufbäumen, aber das andere war stärker als er.

*

Caidon-Rov stürmte in die Halle. Vor der Porquetor-Rüstung blieb er stehen. Er mußte sich zum Weitergehen zwingen. Die Bilder des Kampfes zwischen dem hellhaarigen Fremden, Yunthaal und dem Halbroboter zogen in Sekundenschnelle noch einmal vor seinem inneren Auge vorbei.

Caidon-Rov überwand die Angst und blickte sich um. Der Raum sah noch genau­so aus wie nach den tragischen Ereignissen, die in Yunthaals Tod und der Zerstörung des Stählernen geendet hatten.

Mit einer Ausnahme. Caidon-Rov sah die offene Tür. Er wußte,

was sich hinter ihr befand. Porquetor! Der tote Porquetor – das, was vom ehe­

maligen Meister übriggeblieben war. Der Gedanke daran ließ den Hageren eini­

ge Schritte zurück machen. Er hatte das, was vom Meister noch vorhanden war, niemals selbst gesehen. Atlan, wie der Hellhaarige sich nannte, hatte ihm vor dem Verlassen der Feste von dem berichtet, was er gesehen hatte.

»Grizzard?« rief Caidon-Rov. »Bist du hier?«

Keine Antwort. »Grizzard!« Wieso war er eigentlich so sicher, daß der

Freund in die Kugel eingedrungen war? Konnten nicht auch Dalazaaren durch Zufall den Öffnungsmechanismus gefunden haben?

Ich werde niemals dort hineingehen! dachte Caidon-Rov. Niemals! Porquetors Ruhestätte ist heilig!

Caidon-Rov machte sich selbst etwas vor. Unbewußt war auch er von der gleichen Angst erfüllt wie die Dalazaaren – von der Angst, der Meister könne vielleicht doch noch am Leben sein, auf irgendeine geheim­nisvolle Art und Weise.

Plötzlich glaubte er, einen klagenden Laut zu hören.

»Grizzard? Antworte, wenn du … wenn du da drin bist!«

Caidon-Rov spürte die Waffe in seiner Hand, aber sie flößte ihm kein Selbstvertrau­en ein. Die kreatürliche Angst saß tiefer. Wieder der Laut! Und diesmal war der Ha­gere sicher, daß er Grizzards Stimme gehört hatte.

»Komm sofort her, Grizzard!« Ein unterdrücktes Stöhnen war die Ant­

wort. Und wenn er verletzt ist? dachte Caidon-

Rov verzweifelt. Wenn er sich nicht selbst helfen kann?

Plötzlich hatte er das Gefühl, daß um ihn herum in diesem Augenblick etwas Grauen­volles vorging. Grizzard war in Gefahr. Aber um ihm zu helfen, mußte er durch die Tür gehen. Caidon-Rov rang mit sich. Er

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hatte die Wahl. Entweder riskierte er es, den Raum, in dem sich die Überreste des Mei­sters befanden, zu betreten, oder er würde wieder einsam sein, allein in der schweigen-den Feste.

Niemals! Caidon-Rov schwitzte. Langsam setzte er

einen Fuß vor den anderen, umging die Rü­stung, näherte sich zitternd der Tür.

Der Hagere erstarrte. Er sah Grizzard auf den Knien vor der

formlosen Masse, beide Hände ausgestreckt, nur noch Zentimeter vor dem pulsierenden Etwas entfernt.

»Laß das!« schrie Caidon-Rov. Ohne län­ger zu überlegen, rannte er los. Er kam gera­de noch rechtzeitig, um Grizzard zurückzu­reißen, bevor die Hände des Mißgestalten in die Masse greifen konnten.

Grizzard wehrte sich nicht. Er reagierte überhaupt nicht. Caidon-Rov schleifte den schweren Körper wie einen Sack aus dem Raum, durch die Kontrollhalle, in der der Stählerne lag, bis er den abwärts führenden Gang erreicht hatte.

Das Schott fuhr kreischend zu. Caidon-Rov legte Grizzard ab. Er lehnte

sich schwer atmend gegen eine Wand. Erst jetzt wurde ihm bewußt, was er gesehen und getan hatte.

War Grizzard verrückt geworden? Wie konnte er sich am Meister vergehen wollen, auch wenn dieser tot war? Woher wußte er überhaupt von ihm? Was hatte er in der Ku­gel zu suchen?

Zorn erfaßte den Hageren. Er beugte sich wieder über Grizzard und packte ihn an den großen Füßen. Dann schleifte er den Zwer­genkörper den Gang hinab.

Nur weg von hier! Caidon-Rov war dieser Teil der Feste noch nie geheuer gewesen, doch jetzt hatte er panische Angst davor, noch eine Minute länger in der Nähe des Meisters zu bleiben.

Caidon-Rov spürte es: Porquetor lebte. Er war niemals wirklich gestorben.

*

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Stunden später war der Zorn auf den Ver­krüppelten verflogen.

Caidon-Rov war überzeugt davon, daß sich kein Dalazaare mehr in der Feste be­fand. Grizzard schlief noch. Caidon-Rov hatte ihm einige Drogen verabreicht, die ihm helfen würden, seine Schwäche schnell zu überwinden. Er wachte am Bett des Freun­des. Nur selten verließ er das Schlafgemach und begab sich auf die Brüstung, um einen Blick auf die Blaue Göttin zu werfen.

Mittlerweile war es Nacht. Die Blätter der Pflanze leuchteten fluoreszierend in der Dunkelheit. Die Blaue Göttin hatte ihr Wachstum eingestellt. Sie mochte jetzt etwa fünfzehn Meter Durchmesser haben.

Weiter hinten, einige hundert Meter vor den Toren der Feste, glommen kleine Feuer. Schon vor Einbruch der Dämmerung hatte Caidon-Rov bemerkt, daß die Dalazaaren zurückkehrten und begannen, die Feste zu belagern.

Ein lächerliches Unterfangen! Die Vorräte reichten für Jahre.

Grizzard und Caidon-Rov würde es an nichts mangeln. Caidon-Rov fragte sich, was in den Köpfen der Wilden vorging. Sie muß­ten wissen, daß sie keine Chance hatten, die Feste gewaltsam zu erobern. Außerdem paß­te ihre Rückkehr nicht zur überstürzten Flucht vor dem Spukgespenst Porquetor.

Um die Dalazaaren brauchte der neue Herr der Feste sich nicht zu kümmern. Wichtiger war, daß Grizzard wieder gesund wurde. Caidon-Rov mußte ihn bestrafen, selbst auf die Gefahr hin, daß der Zwerg sich dann wieder vor ihm verschloß. Er durf­te nicht noch einmal auf den Gedanken kommen, in die obere Kugel einzudringen.

Caidon-Rov sah Grizzards Interesse an al­len Dingen, die mit der Feste zusammenhin­gen, jetzt in einem anderen Licht. Zwar hatte der Verkrüppelte seine Selbstmordabsichten aufgegeben, aber seine plötzliche Neugier war nicht weniger gefährlich.

Endlich wachte Grizzard auf. Die Froschaugen blickten fast eine Minu­

te ins Leere. Erst dann drehte der Mißgestal­

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te den riesigen Kopf und sah Caidon-Rov neben der Liege sitzen.

Grizzard schrak zusammen. »Wo ist er?« fragte er leise. »Wer?« »Der Mann«, flüsterte Grizzard. Er richte­

te sich auf und sah sich ängstlich um. Dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, er kann gar nicht hier sein. Verschwand, bevor der Meister rief.«

Caidon-Rov sprang auf, als er das Wort »Meister« hörte. Wieder sah er die zerfres­sene Masse vor sich. Es konnte kein Zweifel darüber bestehen, wen Grizzard meinte.

»Er ist tot!« schrie der Hagere unbe­herrscht. »Und er wird niemals wieder le­ben! Er kann dich nicht gerufen haben!«

Grizzard wartete, bis Caidon-Rov sich be­ruhigt hatte. Dann berichtete er stockend, wie die Dalazaaren ihn überfallen und im­mer tiefer in die Feste getrieben hatten, bis er schließlich in der oberen Kugel war. Griz­zard verschwieg allerdings, daß er sich bei dem Überfall in der Nähe der unteren Kugel befunden hatte.

Caidon-Rov hörte fasziniert zu, bis der Mißgestalte auf den schwarzhaarigen Hünen zu sprechen kam, der ihn zwang, durch die Tür zu gehen, hinter der die Plattform mit der formlosen Masse lag.

»Das ist Unsinn!« beharrte Caidon-Rov. »Da täuschst du dich ganz bestimmt. Die Aufregungen waren zuviel für dich. Du brauchst noch Ruhe.«

Caidon-Rov stand auf und ging zur Tür des Schlafgemachs.

»Ich habe dir Unrecht getan«, sagte er. »Aber du mußt mir versprechen, niemals wieder eine der beiden Kugeln aufzusu­chen.«

Grizzard gab keine Antwort. Sein Gesicht war verzerrt. Es war ihm anzusehen, daß er unter großen Schmerzen litt.

»Wirst du zum Essen kommen können?« fragte Caidon-Rov besorgt.

»Ich glaube«, sagte Grizzard. »Schmerzen nicht mehr so schlimm wie vorhin.«

»Die Schmerzen, mein Freund«, korri­

gierte der Hagere. Zum erstenmal seit Stun­den lächelte er wieder. »Ich warte auf dich.«

Auf dem Weg in den unteren Teil der Fe­ste überlegte Caidon-Rov, wie er dem armen Kerl nur helfen konnte. Er hatte Mitleid mit ihm. Dazu kam das schlechte Gewissen, weil er ihn, wie er glaubte, zu Unrecht ver­dächtigt hatte, gegen sein Verbot gehandelt zu haben.

Und plötzlich kam ihm eine Idee.

*

Eine gute Stunde später erschien Grizzard im Speiseraum. Er ging langsam, als ob er keine rechte Gewalt über seine Beine hätte. Caidon-Rov mußte die Tapferkeit des Krüp­pels unwillkürlich bewundern.

Er wartete, bis Grizzard mit dem Essen fertig war. Es fiel ihm schwer, die Überra­schung zurückzuhalten, die er sich für Griz­zard ausgedacht hatte.

»Gehen wir lernen?« fragte dieser, bevor Caidon-Rov etwas sagen konnte. Einen Mo­ment lang war der Hagere verwirrt. Grizzard schien das, was in der Kugel vorgefallen war, einfach beiseite geschoben zu haben. Er benahm sich so, als ob nichts geschehen wä­re.

»Noch nicht«, sagte Caidon-Rov lächelnd. »Ich habe eine Neuigkeit für dich.«

»Neuigkeit?« »Ich weiß, wie sehr du unter diesem Kör­

per zu leiden hast. Ich weiß, daß du auch jetzt noch Schmerzen hast und dich kaum bewegen kannst.«

»Du kannst mir nicht helfen«, murmelte Grizzard. »Niemand kann helfen.«

»Warte ab, mein Freund! Du hast die Rü­stung gesehen – oben in der Kugel.«

Grizzard zuckte heftig zusammen. Er starrte sein Gegenüber aus weit aufgerisse­nen Augen an.

Grizzard machte den Eindruck eines Man­nes, den man bei etwas Verbotenem ertappt hatte.

Caidon-Rov lachte leise auf. »Du brauchst dir keine Vorwürfe zu ma­

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chen. Ich weiß ja jetzt, daß du nicht aus frei­em Willen in die Kugel eingedrungen bist.« Er holte tief Luft und lehnte sich über die Tischplatte. »Ich werde sie dir schenken, Grizzard. Du sollst die Rüstung erhalten und dich mit ihr bewegen können, als ob sie dein eigener Körper wäre.«

Caidon-Rov hatte alles mögliche erwartet. Unbändige Freude, Ablehnung, Angst oder Unverständnis. Doch Grizzards Reaktion übertraf alles, was er sich ausgemalt hatte, bei weitem.

Der Zwerg sprang auf und kam auf ihn zu. Mund und Augen waren weit aufgeris­sen. Grizzard versuchte, etwas zu sagen, aber die Erregung ließ ihn kein Wort heraus­bringen.

»Nun setz dich erst einmal«, sagte der Ha­gere und drückte Grizzard auf einen Stuhl. »Beruhige dich. Ich mache keine Scherze. Du sollst einen neuen Körper bekommen – wenn du willst.«

Endlich fand der Krüppel die Sprache wieder.

»Ob Grizzard will? Du machst Spaß! Du sollst nicht bösen Spaß mit mir machen.«

»Kein Spaß, Grizzard. Es liegt an dir, ob du auf meinen Vorschlag eingehst.«

Plötzlich wurde Grizzard ruhig. Er sah sein Gegenüber noch einmal zweifelnd an. Dann trat ein verhaltenes Lächeln in sein Gesicht.

»Ich danke Caidon-Rov. Versuchen wir. Caidon-Rov ist wirklich ein Freund.«

»Nicht der Rede wert. Lerne, richtig zu sprechen, und du machst mir eine ebensol­che Freude. Morgen gehe ich und hole die Rüstung. Und jetzt lernen wir wieder.«

»Ja«, sagte Grizzard, und seine Stimme klang auf einmal traurig. »Wir lernen. Und du hast mehr Bilder von anderen Welten für mich?«

»Natürlich. Wenn du fleißig bist, zeige ich sie dir alle.«

Die beiden ungleichen Wesen erhoben sich und gingen zusammen in den Unter­richtsraum. Grizzard war erregt, versuchte aber, seine Gefühle unter Kontrolle zu hal-

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ten. Und Caidon-Rov war viel zu glücklich darüber, daß er nun wohl endgültig Griz­zards Vertrauen und Freundschaft gewonnen hatte, um gewisse Kleinigkeiten in Grizzards Verhalten zu bemerken, die ihn normaler­weise mißtrauisch gemacht hätten.

*

Grizzard saß in seinem Sessel und sprach geduldig die Worte nach, die Caidon-Rov ihm beizubringen versuchte. Der Hagere korrigierte seine Fehler immer wieder, und im Gegensatz zu früher achtete Grizzard peinlich genau darauf, jede Kleinigkeit zu behalten.

Vielleicht würde er schon bald ohne die Hilfe seines Lehrers auskommen müssen.

Grizzard kämpfte mit seinem Gewissen. Er war entschlossen gewesen, einen Weg aus der Feste zu suchen. An die Rüstung hatte er schon nicht mehr gedacht. Wie soll­te er sie mit seinen schwachen Gliedmaßen bewegen?

Doch aus Caidon-Rovs Worten ging her­vor, daß es eine solche Möglichkeit geben mußte. Und ausgerechnet er hatte ihm den Vorschlag gemacht, die Rüstung als zweiten Körper anzulegen.

Grizzard fühlte sich zwischen Dankbar­keit, Zuneigung zu seinem Lehrer und dem drängenden Wunsch, den eigenen Körper wiederzufinden, hin und her gerissen. Konn­te, durfte er Caidon-Rov jetzt noch enttäu­schen?

Grizzard kam sich wie ein gemeiner Ver­räter vor, wenn seine Gedanken nach drau­ßen, ins Land jenseits der Feste schweiften, während er die Worte nachsprach, die Cai­don-Rov ihm vorsagte.

»Sehr gut«, sagte Caidon-Rov. »Ich bin stolz auf dich. Zur Belohnung für deinen Ei­fer sehen wir uns jetzt weitere Bilder an.«

Die Projektionswand wurde in mattes Licht getaucht. Landschaften und Lebewe­sen erschienen auf ihr. Grizzard betrachtete sie, aber längst nicht mehr mit der gleichen Faszination wie beim erstenmal.

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29 Mann ohne Gedächtnis

Er mußte an den schwarzen Riesen den­ken, der ihm zweimal erschienen war – das erstemal, um ihn zu töten, dann, um ihn zu dem zu führen, was er als »Meister« be­zeichnet hatte.

Der unerklärliche Bann, der ihn gezwun­gen hatte, sich dem übelriechenden Etwas zu nähern und in es hineinzugreifen. Grizzard fragte sich, was geschehen wäre, wenn Cai­don-Rov ihn nicht im allerletzten Augen­blick gerettet hätte.

Er hatte den Eindruck, daß Caidon-Rov selbst nicht wußte, was in diesem Teil der Feste vorging.

Mehr noch: Caidon-Rov war in Gefahr. Grizzard spürte es. Er fragte sich, ob er in den Minuten, als er vor dem Klumpen ge­kniet hatte, irgend etwas erfahren hatte, das in den Tiefen seines Unterbewußtseins ver­schwunden war und eines Tages wieder hochgespült werden würde – dann, wenn es vielleicht zu spät war.

Grizzard zwang sich, diese Gedanken zu verscheuchen. Er betrachtete die wechseln-den Bilder. Immer wieder glaubte er, Land­schaften zu erkennen, die er schon einmal gesehen hatte, aber das war sicher nichts an­deres als Einbildung.

Nach einer Stunde schaltete Caidon-Rov die Projektionswand aus.

»Das sollte für heute genügen. Laß uns schlafen gehen. Du mußt dich weiter erho­len. Morgen versuchen wir, die Rüstung zu reparieren und sie dir anzupassen.«

Reparieren? Grizzard sah seinen Gegen­über fragend an, doch Caidon-Rov lächelte nur. Grizzard hatte viele Fragen, aber er schwieg, um nicht unnötig Verdacht zu erre­gen.

Er verabschiedete sich von Caidon-Rov und begab sich in sein Schlafgemach.

Viele Fragen und keine Antwort. Obwohl er wußte, daß es sinnlos war, ver­

suchte er immer wieder, sich an das zu erin­nern, was er einmal gewesen war. Sein Na­me war Grizzard. Der Zwergenkörper war nicht sein eigener. Sein wirklicher Körper war groß und kräftig. Er mußte sich irgend-

wo im wilden Land jenseits der Mauern der Feste befinden.

Grizzard fragte sich, wie er so sicher sein konnte.

Wenn diese Welt, die Caidon-Rov Pthor nannte, zwischen den Dimensionen reiste, wie es der Lehrmeister dann und wann an­klingen ließ, war es vorstellbar, daß sein Körper irgendwo in einem anderen Raum verschwunden war und er ihn niemals wie­derfinden würde.

Er würde ihn suchen! Vielleicht erinnerte er sich an seine Ver­

gangenheit, wenn er ihn erst einmal gefun­den hatte. Die jetzige Existenz war sinnlos für ihn. Grizzard mußte wissen, wer und was er war und wie er hierher gekommen war.

Wieder spürte er die Schmerzen in den Beinen. Grizzard legte sich flach auf den Rücken. Nach wenigen Minuten schlief er ein.

* Am anderen Morgen:

Caidon-Rov sah mit Genugtuung, daß Grizzard sich weiter erholt hatte. Er humpel­te nicht mehr, sondern machte einen gestärk­ten Eindruck.

Nach dem gemeinsamen Frühstück wies Caidon-Rov den Freund an, im Unterrichts­raum zu warten. Er selbst wollte die Rüstung aus der oberen Kugel holen.

Grizzard nickte nur und zog sich zurück. Caidon-Rov machte sich auf den Weg. Bei dem Gedanken, noch einmal in die Nähe des toten Meisters gehen zu müssen, war ihm al­les andere als wohl. Aber er hatte es Griz­zard versprochen.

Er aktivierte einen Tragerobot, der ihm helfen sollte, die schwere Rüstung zu trans­portieren. Als er an der Tür vorbeikam, die zur oberen Brüstung führte, befahl er dem Roboter, auf ihn zu warten, und trat ins Freie.

Die Blaue Göttin befand sich immer noch vor der Brücke. Wieder wurde der Herr der Feste an einen stummen Wächter erinnert,

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der dafür sorgte, daß niemand in die Feste gelangen konnte.

Oder daß niemand herauskonnte … »Weiß der Himmel über Pthor, was sie

vorhat«, knurrte der Hagere und ging zurück auf den Korridor. Der Robot folgte ihm, bis er das Schott erreicht hatte, das die Kugel von der übrigen Feste trennte.

Zögernd betätigte er den versteckten Öff­nungsmechanismus.

Das Schott fuhr zur Seite. Ungläubig starrte Caidon-Rov auf die

Stelle, wo die Rüstung gelegen hatte. Sie war fort! Kaltes Grauen erfaßte ihn. Caidon-Rov

ging langsam in die Kontrollhalle. Wieder hatte er den Strahler in der Hand. Er sah sich nach allen Seiten um.

Keine Spur von der Porquetor-Rüstung. Was geschah ohne sein Wissen in der Fe­

ste? Caidon-Rov hätte schon jetzt gewisse Zu­

sammenhänge erkennen müssen, wenn er sich nicht mit aller Kraft gegen die Vorstel­lung, daß der Meister nicht wirklich tot war, gesträubt hätte.

So aber tappte er im dunkeln. Er suchte den Boden ab, fand aber keiner­

lei Schleifspuren. Es war, als ob die Rüstung sich in Luft aufgelöst hätte.

Und sie konnte nicht leben! Porquetor war tot! Tot!

Plötzlich begann die Luft vor ihm zu flim­mern. Eine hünenhafte Gestalt mit wallen­den Gewändern und pechschwarzem Haar schälte sich aus dem Nichts.

Caidon-Rov warf sich herum und begann zu rennen. Hinter sich hörte er eine dumpfe Stimme. Dann gab es ein krachendes Ge­räusch. Er blickte sich im Laufen um und sah, wie das Schwert des Hünen auf den Ro­bot niederfuhr und ihn zertrümmerte.

Caidon-Rov rannte weiter, bis er endlich seinen Kontrollraum erreicht hatte. Über ei­nige Monitoren sah er gerade noch, wie die Gestalt sich auflöste. Der Robot war total zerstört.

Caidon-Rov drückte auf einen Knopf. Das

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Schott zur oberen Kugel fuhr zu. Schweißgebadet ließ sich der Hagere in

einen Sessel fallen. Er verstand gar nichts mehr, aber die Angst drohte sein Gehirn zu sprengen.

Immer wieder sah er das Bild des wüten­den Porquetor vor sich. Und was noch schlimmer war: Caidon-Rov begann nun selbst zu glauben, daß der Stählerne jeden Augenblick wieder auftauchen konnte.

Dann waren er und Grizzard verloren. Porquetor würde fürchterliche Rache neh­men.

Caidon-Rov hörte Schritte auf einem der Korridore. Einen Augenblick glaubte er, daß es das Stampfen des mächtigen Halbroboters sei. Zitternd saß er im Sessel und wartete auf das Ende.

Dann erschien Grizzard im Eingang. »Du hast sie nicht gefunden?« fragte der

Verkrüppelte. Es dauerte einige Augenblicke, bis Cai­

don-Rov sich soweit beruhigt hatte, daß er den Sinn der Worte begriff.

Traurig schüttelte er den Kopf. »Ich wußte es«, sagte Grizzard. »Frage

nicht, wieso, aber ich wußte es.« »Er wird uns töten«, murmelte Caidon-

Rov. »Er wird uns strafen, uns beide …« Grizzard schien nicht zu verstehen, was

Caidon-Rov meinte. Der Mißgestalte drehte sich wortlos um

und ging zurück zum Ausgang. »Wo willst du hin?« fragte Caidon-Rov. »Ich werde die Rüstung suchen«, verkün­

dete der Gnom.

6.

Zur gleichen Zeit am Rand der Senke der verlorenen Seelen:

Lebo Axton saß in Gedanken versunken im hohen Gras und ließ sich vom Glitzern der im Licht der Sonne liegenden Paläste verzaubern. In der Ferne, zwischen den Bau­werken, glaubte er Bewegung wahrzuneh­men. Es sah so aus, als ob Fahrzeuge durch die Senke fuhren, aber sie waren viel zu weit

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31 Mann ohne Gedächtnis

entfernt, um Genaueres erkennen zu lassen. Axton war erschöpft. Bevor er in die Sen­

ke gehen wollte, brauchte er Ruhe. Er lehnte sich zurück und schloß die Au­

gen. In seiner Nähe war es ruhig. Auf dem Weg hierher war Axton immer wieder allen möglichen fremdartigen Lebewesen begeg­net, die alle den Eindruck auf ihn gemacht hatten, kein wirkliches Ziel zu haben. Sie streiften in der Gegend umher, als Einzel­gänger oder in Gruppen.

Zunächst war er ihnen ausgewichen. Dann hatte er erkannt, daß die meisten der Wesen friedfertig waren. Zweimal war es ihm ge­lungen, Kontakt zu Herumstreunenden auf­zunehmen, doch zu einer wirklichen Ver­ständigung konnte es aufgrund ihrer Fremd­artigkeit nicht kommen.

Sie wirkten auf Axton wie Geschöpfe, die aus einem riesigen Zoo ausgebrochen waren. Das einzige, was er erfahren hatte, war, daß sie alle aus der gleichen Richtung kamen. Er war in diese Richtung gegangen, in der Hoffnung, hier, wo er einen gigantischen Schmelztiegel aller möglichen Spezies er­wartete, weitere Hinweise darauf, auf wel­cher Welt er sich befand, und vielleicht end­lich eine Spur von Atlan zu finden.

Der düstere Fremde, der in Kelschostra einen Fluch in Interkosmo ausgestoßen hat­te, wollte ihm nicht aus dem Sinn gehen. Egal, wo Axton sich befand – der Fremde mußte von einer der besiedelten Welten der Milchstraße kommen, vielleicht war er ein ehemaliger Raumfahrer, vielleicht stammte er sogar von Terra …

Irgendwo mußte der Schlüssel zu Atlans Schicksal liegen – und damit zu Axtons künftigem Schicksal.

Der Gedanke an den Düsteren rief die Bil­der der Flucht in Axtons Erinnerung zurück. Das Entkommen aus der Berserkerstadt, der Weg entlang des großen Flusses nach We­sten, das Auftauchen der ersten Fremden …

Es war Axtons Fehler, daß er sich allzu­sehr darauf verließ, daß diese Geschöpfe alle friedfertig waren. Er konnte ja nicht ahnen, daß er selbst noch vor relativ kurzer Zeit zu

ihnen gehört hatte. Ebenso wenig wußte er über die Herkunft der Versprengten. Manch­mal hatte er das Gefühl, einige Teile der Landschaft in der Nähe wiederzuerkennen, als ob er schon einmal hier gewesen wäre.

Viel zu spät bemerkte der Erschöpfte die Bewegung.

Die beiden Katzenartigen waren über ihm, bevor er überhaupt begriff, was geschah. Sie hatten sich im Gras angeschlichen und grif­fen ohne jede Warnung an.

Axton sah im ersten Augenblick nur die glühenden Augen und die Pranken, die auf ihn herabsausten. Instinktiv warf er sich zur Seite. Er rechnete damit, daß seine Beine ihm den Dienst versagten, daß er nicht die Kraft hatte, sich aus dem unmittelbaren Ge­fahrenbereich zu bringen, doch er flog fast einige Meter durch die Luft zur Seite.

Axton sprang auf und erwartete den näch­sten Angriff. Er war nur für Sekundenbruch­teile verwirrt. Immer noch hatte er sich nicht daran gewöhnen können, nun einen besse­ren, stärkeren und geschmeidigeren Körper zu haben. Er war kein Krüppel mehr. In Au­genblicken wie diesem, wo ihm nicht viel Zeit zum Überleben blieb, konnte sich das verhängnisvoll auswirken. Mit der gleichen Kraft, die seinen Zwergenkörper lediglich aufrichtete, konnte er jetzt Sprünge vollfüh­ren.

Doch vorerst hatte ihm diese Fehlein­schätzung das Leben gerettet.

Die Katzenartigen begannen ihn einzu­kreisen. Axton sah, daß sie etwa anderthalb Meter hoch waren, wenn sie sich auf die Hinterläufe aufrichteten. Die Augen funkel­ten orangerot und schienen ihn, durchdrin­gen zu wollen. Die Pranken waren vorge­streckt, die geschmeidigen Körper sprungbe­reit.

Axton wich zurück, aber einer der beiden Angreifer machte einen Satz an ihm vorbei und schnitt ihm den Weg ab. Unwillkürlich sah Lebo Axton sich nach Hilfe um.

Niemand war in der Nähe. Er hatte keine Waffen. Selbst mit dem

neuen Körper erschien es unmöglich, die

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Wesen zu besiegen. »Verschwindet!« schrie der Terraner.

»Macht, daß ihr wegkommt! Ich werde euch bestimmt nicht schmecken!«

Ein wütendes Fauchen war die Antwort. Immer wieder blickte Axton von einem der beiden Angreifer zum anderen.

»Also nicht«, knurrte er, während er krampfhaft nach einem Ausweg aus seiner Lage suchte. »Mit euch zu verhandeln, hat keinen Sinn, eh?« Er machte vorsichtig ein paar Schritte zur Seite, auf eine Stelle zu, wo der Rand der Senke steil abfiel. Wenn es ihm gelang, bis dorthin zukommen, bevor die beiden angriffen …

»Ich mache euch einen Vorschlag. Ihr verzieht euch und sucht euch eine andere Beute, und ich bin bereit, den Vorfall zu ver­gessen. Ist das ein Wort?«

Noch wenige Meter. Die Katzenartigen ließen ihn nicht aus den Augen, vollzogen jede Bewegung mit und näherten sich wei­ter.

Axtons Blick war auf ihre Hinterläufe ge­richtet. Als er sah, wie sich die Muskeln des vor ihm befindlichen Wesens spannten, warf er sich zu Boden und rollte sich auf den An­greifer zu.

Das Wesen war im gleichen Augenblick gesprungen. Axton streckte geistesgegen­wärtig beide Arme aus und bekam einen der Hinterläufe zu fassen. Aus den Augenwin­keln heraus sah er, wie die zweite Bestie sich auf ihn zu schnellte. Er legte all seine Kraft in seine Arme, holte Schwung und schleuderte dem Anspringenden seinen Art­genossen vor den Kopf. Sofort ließ er los, hastete auf den Abhang zu und ließ sich hin­unterrollen.

Er wurde hart durchgeschüttelt und sah für Sekunden nur bunte Punkte vor den Au­gen. Dann blieb er in einer kleinen Mulde liegen. Etwa zwanzig Meter über sich sah er die beiden Bestien. Sie sprangen gleichzei­tig.

Axtons Hand fühlte etwas Hartes. Er nahm den Stein und schleuderte ihn einer der beiden entgegen. Er sah nicht mehr, ob

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er getroffen hatte, denn in diesem Augen­blick war die andere über ihm. Axton bekam ihren Hals zu packen und streckte ihn mit beiden Händen so weit wie möglich von sich. Die Pranken sausten durch die Luft und rissen ihm eine lange Wunde in den rechten Arm. Axton schrie vor Schmerz laut auf, aber er ließ nicht los. Dennoch konnte er die tobende Bestie nicht mehr lange halten. Er spürte einen brennenden Schmerz im linken Bein, als die Krallen der Hinterläufe seine Haut streiften. Sie drangen in seine Lederbe­kleidung.

Axton bohrte die Finger der linken Hand in das Fell des Wesens. Er riskierte es, mit der Rechten loszulassen. Die Hand glitt über den Boden, suchte nach etwas, das er als Waffe gebrauchen konnte.

Die Katze begann, sich wild von einer Seite zur anderen zu werfen, um loszukom­men.

»Du bist ein zäher Brocken«, stieß der Terraner keuchend hervor. »Warte nur ab, ich …«

Seine tastenden Finger fanden einen wei­teren Stein.

Und dann machte er einen Fehler. Axton ließ den Hals der Bestie los und

holte mit der Rechten aus. Dieser kurze Au­genblick genügte der Katze, sich herumzu­werfen. Sie sprang Axton einige Meter in die Höhe und drehte sich im Sprung.

Der Terraner schrie laut auf, als er die messerscharfen Krallen auf sich zukommen sah. Er riß die Hände vor die Augen.

*

In der Senke der verlorenen Seelen war Ruhe eingekehrt. Innerhalb kurzer Zeit war es den von den Odinssöhnen hierher beor­derten Dellos gelungen, die meisten der in Panik herumstreunenden Schläfer einzufan­gen und in die in aller Eile aufgebauten Auf­fanglager und Notunterkünfte zu bringen. Nur am Rand der Senke und in den benach­barten Gebieten trieben sich weiterhin alle möglichen Wesen herum, die nach ihrem

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plötzlichen Erwachen in einer für sie voll­kommen fremden Umgebung verängstigt die Senke verlassen hatten. Viele von ihnen mußten sterben, weil sie sich in der Hölle, die Pthor für sie darstellte, nicht zurechtfin­den konnten. Sie waren an ihre eigenen Wel­ten gewöhnt. Das Leben in der Wildnis war für sie fremd. Viele der ehemaligen Schlä­fer, die Pthor auf seiner Reise durch die Di-mensionen entführt hatte, stammten von Welten mit fortgeschrittenen Zivilisationen.

Der Fortschritt, den diese Wesen auf ihren Heimatplaneten erreicht hatten, forderte nun seinen Preis. Wer in einer perfekten Versor­gungsgesellschaft großgeworden war, konn­te sich nicht mehr ohne die Errungenschaf­ten seiner Zivilisation am Leben erhalten.

Andere überlebten. Einige von ihnen ver­suchten, in den Weiten Pthors eine neue Heimat zu finden, sie wollten nichts anderes, als sich am Leben erhalten und eine Erklä­rung für das zu finden, was mit ihnen ge­schehen war. Die meisten waren friedlich, aber es gab auch solche, die raubend und mordend durch das Land zogen und Tod und Schrecken verbreiteten.

Die Umgebung der Senke glich einem Tollhaus. Zwar suchten die Dellos die Ge­gend ab, um weiteres Unheil zu verhindern, aber es gelang ihnen nur selten, erwachte Schläfer auszuspüren, die das Land unsicher machten.

In den Auffanglagern befanden sich viele hundert Wesen unterschiedlichster Herkunft. Es war für die Dellos alles andere als ein­fach, die grundverschiedenen Arten zu ver­sorgen und am Leben zu erhalten. Zwar wa­ren sie ausnahmslos Sauerstoffatmer und nahmen die Nahrung auf, die man ihnen reichte, aber viele litten unter schweren De­pressionen.

Sie fanden sich in eine Welt versetzt, die ihnen keinerlei Bezugspunkte zu bieten hat­te. All das, was einmal Sinn ihres Lebens gewesen war, hatten sie verloren.

Die Dellos leisteten Schwerstarbeit, doch trotzdem kam es immer wieder zu tragischen Zwischenfällen. Einige der ehemaligen

Schläfer brachten sich um, andere verwei­gerten die Nahrungsaufnahme oder riskier­ten waghalsige Fluchtversuche.

Niemand von ihnen wußte, weshalb er hier war – das wußten selbst die Dellos nicht. Niemand ahnte die grauenvolle Wahr­heit.

Nur die Herren der FESTUNG hatten ge­wußt, welch schreckliches Schicksal den Schläfern in der Schwarzen Galaxis zuge­dacht war.

Doch die Herren waren tot.

*

Axton glaubte, daß er verloren war. Es gab keine Gegenwehr mehr. Jeden Augen­blick mußten sich die Krallen des Katzenar­tigen in sein Fleisch graben.

Plötzlich hörte er ein feines Zischen in der Luft. Ein wildes Fauchen zerriß ihm fast die Trommelfelle.

Dann fiel ein schwerer Körper auf ihn herab. Axton wurde die Luft aus den Lungen gepreßt. Er rang nach Atem. Raubtiergeruch drang an seine Nase.

Einen Augenblick wagte er nicht, sich zu rühren. Der tödliche Hieb der Pranken war ausgeblieben.

Stille. Axton schlug die Augen auf. Der Katzen­

artige lag quer über seinem Körper. Er war tot oder betäubt.

Hinter sich hörte der Terraner eine Stim­me. Er glaubte, einige Sprachfetzen wieder­zuerkennen. Der düstere Fremde und sein Begleiter hatten so geredet.

Axton begriff, daß er gerettet war – zu­mindest vor den beiden Bestien. Er schob den schlaffen Körper von sich weg und kam mit Mühe auf die Beine.

Der Terraner drehte sich langsam um. Vor ihm standen zwei hochgewachsene,

kräftige Humanoiden. Sie waren keine Menschen. Der jähe

Hoffnungsfunke erlosch schlagartig. Axton nahm sich vor, zunächst abzuwar­

ten und den beiden die Initiative zu überlas­

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sen. Sie hatten ihn gerettet. In der Hand des­jenigen, der ihm am nächsten stand, sah Ax­ton eine seltsame Waffe. Doch die Männer wirkten nicht gerade vertrauenerweckend. Sie blickten ihn aus großen Glotzaugen an und schienen darauf zu warten, daß er eine Reaktion zeigte.

»Also gut«, sagte er. »Ich soll mich wohl bei euch bedanken. Das könnt ihr haben. Ich bin euch zutiefst für meine Rettung verbun­den.« Er blickte an sich herab und sah die tiefe Fleischwunde am Arm. Er zeigte dar­auf. »Wenn ihr auch das in Ordnung bringen könnt, seid ihr große Klasse, Jungs!«

Keine Antwort. Es war offensichtlich, daß sie ihn nicht verstanden. Einer der beiden zeigte schweigend auf ein schalenförmiges Fahrzeug in einigen Metern Entfernung.

Axton zuckte leicht zusammen. Er erin­nerte sich vage daran, in solch einem Ge­fährt aufgewacht zu sein. Der hagere Frem­de und das grüne Monstrum hatten es ge­steuert.

»Ich soll einsteigen?« meinte er und zuck­te die Schultern. »Meinetwegen. Besser als ein weiterer Fußmarsch.«

Axton setzte sich in Bewegung. Beim er­sten Schritt fuhr er zusammen. Erst jetzt spürte er den höllischen Schmerz. Sein Bein und der Arm schienen zu brennen.

Die beiden Fremden packten ihn unter den Armen und trugen ihn zum Fahrzeug. Sie legten ihn auf der freien Fläche hinter den Fahrersitzen ab und stiegen ein.

Minuten später waren sie auf dem Weg in die Senke.

Lebo Axton preßte die Hände gegen den Oberschenkel und biß die Zähne zusammen. Er hoffte, daß die Fremden ihn medizinisch versorgen konnten. Immerhin kannte er sei­nen neuen Körper nicht. Es war nicht ausge­schlossen, daß die Wunde sich entzünden und er eine Vergiftung bekommen würde. Die Wunde am Arm war nicht so tief, wie er zunächst angenommen hatte. Dafür schmerzte sie um so mehr.

Der neue Körper! Grizzard – so hatten der Finstere und das

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grüne Monstrum ihn genannt. Axton hatte immer noch keine blasse Ahnung, wer die­ser Grizzard war. Er war es nicht, und er hatte nie zuvor von einem Menschen gehört, der diesen Namen trug.

Wer sagte ihm denn überhaupt, daß Griz­zard ein Mensch war?

Vielleicht befand sich das Bewußtsein dieses Geheimnisvollen irgendwo auf dieser unbekannten Welt, nachdem er es aus sei­nem Körper verdrängt hatte.

Axton wurde sich dessen bewußt, daß er in seinem Krüppelkörper keinen Tag auf diesem Planeten überlebt hätte. Und er er­tappte sich bei dem Gedanken, zu versu­chen, diesen neuen, kräftigen Körper zu be­halten, so lange es möglich war.

Er hatte auf einmal alles, nach dem er sich sein Leben lang gesehnt hatte.

Niemand würde ihn mehr auslachen. Nie­mand würde mehr »Krüppel« zu ihm sagen, und niemand würde sich verächtlich von ihm abwenden.

All die Enttäuschungen, all das Leid, das er in der Vergangenheit ertragen mußte – war das mit einem Schlag vorbei?

Oder würde eines Tages das Bewußtsein Grizzards auftauchen und seinen Körper zu­rückfordern?

Diese Gedanken beschäftigten Axton, während links und rechts von der Straße die ersten der gläsernen Bauwerke auftauchten. Sie waren alle gleich groß – sechzig Meter lang, zwanzig Meter breit und ebenso hoch.

Axton hatte es, wenn auch mit Hilfe der beiden Hochgewachsenen, geschafft, die Katzenartigen zu besiegen. Die Männer hat­ten ihn weder ausgelacht noch ihm abschät­zende Blicke zugeworfen.

Er blutete aus einer Wunde. Sein Körper war nicht aus Kunststoff und Stahl, keine Prothese.

Ein völlig neues Gefühl. Axton erinnerte sich vage daran, wie glücklich er gewesen war, nach der langen Reise durch die Di­mensionskorridore in seinem Zwergenkör­per zu materialisieren. Doch das war nichts gegen die Euphorie, die ihn jetzt überkam.

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35 Mann ohne Gedächtnis

»Ja!« sagte Axton. »Ich werde diesen Körper behalten und in ihm nach Atlan su­chen.«

Der Fahrer des schalenförmigen Wagens drehte sich um und warf ihm einen fragen­den Blick zu.

»Es ist gut«, rief der Terraner. »Fahrt wei­ter. Ihr versteht mich sowieso nicht.«

Dagegen gelang es ihm einige Male, eini­ge Fetzen der Unterhaltung der beiden Un­bekannten aufzuschnappen. Allmählich kri­stallisierten sich ein paar immer wiederkeh­rende Begriffe aus den unbekannten Lauten heraus. In Verbindung mit ganz bestimmten Gesten ergaben sie einen Sinn. Da Axton da­mit rechnen mußte, für längere Zeit auf die­ser Welt zu bleiben, versuchte er, sie sich zu merken und weiter zu lernen. Vielleicht wurde es schon bald wichtig für ihn, sich mit den Einheimischen zu verständigen.

Einheimische? Die Wesen, denen er bis jetzt begegnet

war, erweckten eher den Eindruck in ihm, daß sie nichts miteinander zu tun hatten.

Und wo war Atlan? Axton dachte an die Zellaktivatorimpulse,

von denen er sich hierher hatte leiten lassen. Sie waren verstummt, bevor er sein Ziel er­reichte.

Der Terraner hatte es dennoch vorgezo­gen, auf dieser Welt zu materialisieren, statt noch einmal eine Reise durch die Dimensi­onskorridore zu wagen, um eine neue Spur von Atlan zu finden. Eine Reise als bloßes Bewußtsein mit ungewissem Schicksal.

Er materialisierte – doch diesmal nicht in seinem, Axtons, Körper, sondern in dem ei­nes jungen Mannes.

Lebo Axton hatte gehofft, eine Spur des gesuchten Kristallprinzen und späteren Lor­dadmirals zu finden, und er wußte jetzt, daß es diese Spur gab.

Vielleicht konnte er von den Wesen in der Senke etwas erfahren. Er war sich darüber im klaren, daß er mit aller Vorsicht vorzuge­hen hatte. Atlans Verschwinden konnte be­deuten, daß ihm die Herrschenden auf die­sem Planeten nicht freundlich gesinnt waren.

Möglicherweise war der Arkonide geflohen. Eine zweite Möglichkeit war es, den Fin­

steren zu suchen. Vielleicht war dieser Razamon ebenfalls

bereits unterwegs, um ihn wiederzufinden. Axton dachte an die Nachricht in Interkos­mo, die er ihm hinterlassen hatte.

Axton wurde aus seinen Gedanken geris­sen. Das Fahrzeug hielt an. Die beiden Fremden stiegen aus und trugen ihn in ein riesiges Zelt, in dem es von exotischen Le­bensformen wimmelte. Sie alle wirkten auf den ersten Blick verstört, doch Axton hatte keine Gelegenheit, sie länger zu beobachten.

Die Hochgewachsenen trugen ihn in einen abgeschlossenen Teil des Zeltes, in dem ei­nige Liegen aufgestellt waren. Weitere Fremde befanden sich dort und nahmen ihn in Empfang.

Sie wirkten alle wie aus einem Ei ge­schlüpft. Die gleichen stupide dreinschauen­den Gesichter, die gleiche Gestalt, die glei­che Kleidung.

Mittlerweile lag Lebo Axton auf einer der freien Liegen. Die Hochgewachsenen rück­ten einige Tischchen mit medizinischen In­strumenten an ihn heran. Er spürte einen Stich im Bein, sah aber nicht, was die Medi­ziner taten, denn er blickte nur in ihre Ge­sichter.

Plötzlich begann er laut zu lachen. Die Fremden blickten ihn verständnislos

an. Ihre Gesichter wirkten nun noch stupi­der.

Einer von ihnen beugte sich über Axton und fragte etwas in der unbekannten Spra­che.

»Ach, nichts«, sagte dieser und lachte wieder. »Vergeßt es, Leute. Ihr hatte nur einen ganz verrückten Gedanken. Ihr seid Roboter, habe ich recht? Roboter oder An­droiden.«

Der Fremde verstand ihn natürlich nicht. Selbst, wenn er es gekonnt hätte, wären ihm die Worte des Terraners unbegreifbar gewe­sen.

»Macht euch nichts daraus«, lachte Ax­ton. »Ich fühle mit euch. Auch ich war mal

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einer wie ihr, nur ein besseres Modell. Viel­leicht erzähle ich euch die Geschichte später einmal, wenn ich …«

Plötzlich versank die Welt hinter einem grauen Schleier. Lebo Axton alias Sinclair Marout Kennon fühlte sich einen Augen­blick lang leicht wie eine Feder. Dann sch­lief er ein.

*

Er erwachte im riesigen Innenraum des Zeltes. Er lag mitten zwischen den Exoten. Einige blickten ihn neugierig an, andere starrten vor sich hin oder unterhielten sich, soweit man die Laute, die sie von sich ga­ben, als Unterhaltung bezeichnen konnte.

Lebo Axton fühlte sich unbeschwert. Er richtete sich auf und suchte nach seinen Wunden.

Sie waren vollkommen verheilt. Befriedigt stellte der Terraner fest, daß

man ihm wenigstens die Pelz-Le­der-Bekleidung gelassen hatte. Er sah sich um.

Direkt neben ihm hockte ein Wesen, das ihn entfernt an einen Riesenvogel erinnerte, der angeblich bei Gefahr den Kopf im Sand vergraben sollte. Der Exote hatte zwei ver­stümmelte Flügel und drei kräftige Beine. Er sah ihn aus schlauen Augen an. Dann be­gann er zu schnattern. Lebo Axton hielt sich die Ohren zu, bis der Schnabel des Wesens sich nicht mehr bewegte.

Anscheinend wartete der Vogel auf eine Antwort.

»Aber sicher«, meinte Axton. »Mir geht's gut, und dir? Die Burschen haben mich gut zusammengeflickt. Wahrscheinlich soll ich jetzt schnattern, aber das kann ich nicht, tut mir leid.«

Das Vogelwesen zuckte zusammen. Wie­der begann es laut loszuschnattern. Einige andere Exoten – Echsen, Humanoiden, Ge­schöpfe, die an Kaktusgewächse erinnerten, beschwerten sich lautstark. Aber der Rede­schwall war nicht zu stoppen.

»Kommt mir fast so vor, als hätte ich

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einen neuen Freund gefunden«, murmelte Axton wenig begeistert. »Nun beruhige dich, mein Bester.« Er zeigte auf seine Brust. »Axton.«

Das Vogelwesen hielt inne. Der Terraner hatte das Gefühl, daß es ihn eindringlich musterte und versuchte, einen Sinn in der Geste zu sehen.

»Axton«, wiederholte er. »Ich heiße Ax­ton, und du?«

Der Exote begriff. Eine der zierlichen, krallenbewehrten Hände schlug auf die ge­fiederte Brust. Dann gab das Wesen einen kurzen Schnatterlaut von sich.

»Aha«, sagte Lebo. Er versuchte, den Laut nachzuahmen.

Die Wirkung war überwältigend. Der Vo­gelartige sprang auf und warf sich auf den Terraner. Nur mit Mühe gelang es diesem, die Sympathiebezeigung abzuwehren. Als Axton es endlich geschafft hatte, den neuen Freund wieder in seine ursprüngliche Positi­on zu drängen, seufzte er tief auf.

»Eigentlich hatte ich mir die erste eroti­sche Beziehung in einem wirklichen Körper anders vorgestellt«, meinte er. »Aber wer weiß, wozu unsere Freundschaft gut sein kann. Ich werde dich ganz einfach ›Flatter‹ nennen. Verstehst du?« Er zeigte auf die Brust seines Gegenübers. »Flatter – das bist du. Flatter.«

Wieder begriff das Wesen. Es versuchte, die Worte nachzuahmen, natürlich ohne Er­folg. Es brachte nur ein klägliches Geschnat­ter zustande.

Axton seufzte. »Flatter, du wirst einen Augenblick ohne

mich auskommen müssen. Ich will mich nach unseren Wohltätern umsehen. Viel­leicht erfahre ich von ihnen etwas, das mich weiterbringt. Das verstehst du nicht, hmm? Ist auch nicht weiter schlimm.«

Lebo Axton stand auf. Er spürte keinen Schmerz mehr. Im Gegenteil fühlte er sich frisch wie nie.

Nachdem er Flatters stürmische Versuche, ihn zurückzuhalten, abgewehrt hatte, machte er sich auf den Weg zum Ausgang des Zel­

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tes. Er mußte über Liegen und Decken stei­gen, auf denen alle möglichen Geschöpfe la­gen oder saßen. Sie beachteten ihn kaum. Axton schätzte, daß sich weit mehr als hun­dert Exoten im Zelt befanden.

Er fragte sich, welchen Zweck diese An­sammlung grundverschiedener Wesen auf engstem Raum zu bedeuten hatte. Wieder fühlte er sich an einen riesigen Zoo erinnert.

Und er war eine der vielen Kuriositäten. Kurz vor dem Ausgang wurde er von drei

der Hochgewachsenen, die hier das Wach­personal bildeten, in Empfang genommen. Sie nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn in einen Nebenraum, wo weitere von ihnen warteten.

Plötzlich erwachte der kriminalistische In­stinkt in ihm.

Er war in eine Welt voller Rätsel geraten. Es reizte ihn, herauszufinden, was sich da­hinter verbarg. Er sah darin keinen Wider­spruch zu seinem vordringlichen Ziel, der Suche nach Atlan – im Gegenteil.

Hinter einem großen Tisch, auf dem ein großer Haufen von Folien angehäuft war, saß ein Mann, der sich durch seine Kleidung und den nicht ganz so dümmlichen Blick von den anderen unterschied.

Er sprach Axton an. Und diesmal verstand der Terraner den Sinn seiner Worte:

»Wer bist du?«

*

Nach wenigen Minuten »Unterhaltung« war Axton klar, daß man ihn nicht freiwillig ziehen lassen würde.

Das wenige, was er verstanden hatte, reichte aus, um ihn erkennen zu lassen, daß er sich als eine Art Gefangener zu betrach­ten hatte – einer unter vielen Hunderten.

Er hatte den Eindruck, daß auch die Wächter nicht recht wußten, was sie mit den Exoten anfangen sollten – außer, daß sie sie pflegten und ihnen zu essen gaben. Sie schienen auf etwas zu warten.

Lebo Axton ging zurück zu seinem Platz. Das Vogelwesen erwartete ihn bereits unge­

duldig und begann sogleich wieder loszu­schnattern, bis ein Exote, der an einen gut­genährten Riesengorilla erinnerte, aufstand und Flatter mit der Faust auf den Kopf hieb.

Axton mußte grinsen. Flatter verstummte augenblicklich. Zufrieden entfernte sich der Affenartige.

»Was guckst du mich so an?« fragte der Terraner. »Ich soll dem Kerl die Meinung sagen? Später, bestimmt. Im Moment muß ich nachdenken. Sei also still.«

Und das Vogelwesen begriff. Axton dachte daran, zu fliehen und sich

weiter im Freien umzusehen. Dann verwarf er den Gedanken.

Hier war er vorerst in Sicherheit. Was im­mer die Motive der Hochgewachsenen wa­ren – sie machten nicht den Eindruck, daß sie den Exoten Böses wollten.

Die Begegnung mit den Katzenartigen hatte ihm gereicht.

»Nein«, murmelte er. »Draußen werde ich nichts finden, das mir weiterhilft. Hier ist ei­ne zentrale Stelle. Ich werde also Augen und Ohren offenhalten und versuchen, das Ver­trauen dieser Kerle zu gewinnen. Wenn ich erst einmal ihre Sprache beherrsche, sollte es mir bei meinem Talent, Verwirrung zu stiften, nicht schwerfallen, mindestens einen von ihnen auf meine Seite zu bringen. Es gibt da Mittel und Wege.«

Wieder grinste er. Man konnte das, was er so umständlich

umschrieb, viel einfacher ausdrücken. Axton würde bald auf seine Kosten kommen, was seinen Hang zum Intrigieren betraf – voraus­gesetzt, es trat in den nächsten Tagen nichts Unerwartetes ein.

Axton dachte an seinen Aufstieg am Hof des Diktators Orbanaschol III. Mit etwas Glück und Geschick sollte etwas Ähnliches auch hier möglich sein, bis er denjenigen ge­genüberstand, die auf dieser Welt die Fäden zogen. Von ihnen mußte er Auskunft über Atlans Schicksal erhalten können.

»Es sieht so aus, als ob ich dir eine Weile erhalten bliebe, Flatter«, meinte der Terra­ner. Sein Gegenüber sah ihn aus kleinen,

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runden Augen an. Es schien nicht zu verste­hen.

Hätte Axton gewußt, wie sich die Freund­schaft zwischen ihm und dem Vogelwesen noch entwickeln sollte, dann hätte er ver­mutlich schon jetzt die Flucht ergriffen.

Er bekam einen kleinen Vorgeschmack, als das Geschnatter von neuem begann und Flatter sich auf ihn stürzte, um ihn zu lieb­kosen. Im Hintergrund stand der Riesenaffe auf und näherte sich drohend.

Der Schlag auf Flatters Kopf rettete den Terraner vor den Liebesbezeigungen.

»Das kann ja heiter werden«, murmelte Axton. Flatter stieß einen schrillen Laut aus und stürzte sich auf den Affenartigen, der wohl ahnte, was ihm bevorstand, und grun­zend floh.

Axton nutzte die Gelegenheit und legte sich auf die ihm angewiesene Liege.

Er war in Sicherheit. Vorerst. Er blickte an sich herab. Voller Unbehagen dachte er daran, daß

vielleicht der wirkliche Besitzer dieses wun­dervollen Körpers in diesem Augenblick un­terwegs war, um ihn sich zurückzuholen.

Als bloßes Bewußtsein? fragte Axton sich. Er kicherte in sich hinein, als er einen

ganz und gar verrückten Gedanken hatte. Er stellte sich vor, daß der wahre Griz­

zard, beziehungsweise dessen Bewußtsein, in seinem Zwergenkörper materialisiert war.

»Armer Kerl«, murmelte er, obwohl er nicht im Traum an eine solche Möglichkeit glaubte.

Er versuchte, zu schlafen, in der Hoff­nung, daß sein neuer Freund ihn dann in Ru­he ließ. Morgen wollte er einen zweiten Ver­such machen, sich mit den Wachen zu ver­ständigen.

Lebo Axton alias Sinclair Marout Kennon hatte einen seltsamen Traum.

Vor ihm stand eine atemberaubend schö­ne Frau. Sie befanden sich allein auf einer breiten Brücke, deren beide Enden sich in der Unendlichkeit verschwanden. Unter ihr floß ein riesiger Strom. Es war Nacht, und der Himmel war sternenklar.

Horst Hoffmann

Die Frau lachte nicht und verzog nicht an­geekelt das Gesicht, weil er ein häßlicher Krüppel war.

Sie erschrak nicht, weil er ein Gehirn mit einer perfekten robotischen Vollprothese war.

Sie kam auf ihn zu. Er nahm sie in seine Arme und küßte sie. Axton fühlte den wär­men, weichen Körper und strich mit einer Hand durch das im leisen Wind flatternde Haar.

Nein, nicht Lebo Axton. Er war Grizzard. Und er war entschlossen,

dieser zu bleiben. Zumindest äußerlich.

7.

Ravaal stand vor der riesigen Rüstung und betrachtete sie scheu. Selbst die mächtige Stimme konnte ihm nicht ganz die Angst nehmen, die er beim Anblick des Porquetor-Körpers empfand. Sicher, er wußte nun, daß der Stählerne, der die Dalazaaren in Angst und Schrecken versetzt hatte, so lange Ra­vaal zurückdenken konnte, nichts weiter als eine hohle Rüstung gewesen war. Er wußte auch, daß jener, der sie gelenkt hatte, tot war.

Doch immer wieder erschienen die Bilder der verwüsteten Dörfer vor Ravaals geisti­gem Auge. Tote, zertrümmerte Panzertiere und Dalazaaren …

Beherrsche dich! hallte es in seinem Kopf. Du wirst der neue Porquetor sein und deine Aufgabe zu Ende führen. Caidon-Rov und der Herr der FESTUNG müssen ster­ben. Du wirst der Vollstrecker des Urteils sein. Steige in die Rüstung!

»Sterben?« fragte der Dalazaare verwirrt. »Der Herr der FESTUNG? Ich dachte, er ge­hörte mir, so daß ich …«

So daß du ihn an die neuen Herrscher verkaufen kannst. Das ist egal. Du kannst ihn haben und mit ihm machen, was du willst, aber du mußt ihn besiegen und dafür sorgen, daß er unschädlich gemacht wird.

»Ein Herr der FESTUNG«, murmelte Ra­vaal. Er hatte gesehen, wie der Verkrüppelte

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vor den Dalazaaren geflohen war. Wie paßte das zu dem Bild, das er sich bisher von den gestürzten Herrschern gemacht hatte? Noch immer verkörperte die FESTUNG alle Macht auf Pthor – auch für Ravaal.

Zweifelst du an den Worten deines Herrn?

Ravaal fuhr zusammen. Ein stechender Schmerz durchzog seinen Körper. Ravaal glaubte, von innen heraus zu verbrennen.

Die Stimme des Meisters hallte in seinem Gehirn, wurde lauter, drohte sein Bewußt­sein zu sprengen …

Als Ravaal wieder klar denken konnte, waren all seine Bedenken verflogen.

Es gab nur noch seine Aufgabe. Ravaal trat zur Porquetor-Rüstung und

stieß die beiden Antigrav-Transportroboter zur Seite, mit denen er die Rüstung aus der Kugel geraubt und hierher, in den abseits ge­legenen kleinen Raum, gebracht hatte.

Alles, was er zu wissen brauchte, um die Roboter zu aktivieren und Porquetor zu steu­ern, hatte die Stimme ihm mitgeteilt.

Der Dalazaare machte sich an die Arbeit. Beeile dich! forderte die Stimme ihn auf.

Caidon-Rov hat Verdacht geschöpft.

*

Wahnsinn und Haß griffen gierig nach dem, was einmal ein Wesen mit Namen PORQUETOR gewesen war.

Der Plan, mit Hilfe der über Ravaal von ihm gesteuerten Dalazaaren die Feste zu er­obern und Caidon-Rov den Garaus zu ma­chen, war fehlgeschlagen.

Doch nun hatte PORQUETOR eine wirk­samere Waffe.

Ravaal würde Caidon-Rov und den Fremden töten. Es war gut, daß der Dala­zaare immer noch daran glaubte, gegen einen Herrn der FESTUNG kämpfen zu müssen. Es fiel PORQUETOR nicht schwer, jeden aufkommenden Zweifel des Eingebore­nen zu zerstreuen.

Er beließ den Eingeborenen in seinem Glauben, der er selbst gesät hatte. Mehr

noch: PORQUETOR begann immer mehr, selbst daran zu glauben, daß der verwachse­ne Fremde einer der ehemaligen Herren war – einer jener Nichtswürdigen, die ihn mit Schimpf und Schande aus der FESTUNG vertrieben hatten.

PORQUETORs Haß wurde übermächtig. Immer öfter kam es dazu, daß er die Kon­trolle über seine psionischen Fähigkeiten verlor. Er hatte Mühe, die Gewalt über die von seinem mutierten Bewußtsein erzeugten Realvisionen zu behalten.

Je mehr sich seine Sinne verwirrten, de­sto mehr begann er, sie als wirkliche Ge­schöpfe zu akzeptieren.

Doch sie mußten ihm gehorchen. PORQUETOR war die Macht! POR­

QUETOR stand erst am Anfang! PORQUE­TOR würde herrschen – auf Pthor und auf allen Welten, die Pthor in Zukunft heimsu­chen würde!

Er wußte, daß der Dimensionsfahrstuhl die Welt der Terraner längst verlassen hatte und sich vorübergehend in der Hand der Odinssöhne befand.

Das alles würde sich ändern. PORQUETOR begann zu träumen und

vernachlässigte die Kontrolle über seine Realvisionen.

Er träumte davon, eines fernen Tages mit Pthor die Schwarze Galaxis zu erreichen und dort an der Seite der Mächtigen zu tri­umphieren.

Er würde den Gipfel der Macht erklim­men und über die Dimensionen herrschen. Er würde …

PORQUETOR steigerte sich in einen Rausch hinein. Er verlor endgültig die Kon­trolle über das, was sein psionischer Be­wußtseinssektor produzierte.

Das Chaos begann.

*

Caidon-Rov war wie erstarrt. Er begriff Grizzards Worte erst, als dieser schon auf den Korridor hinausgelaufen war.

»Komm zurück!« schrie er ihm nach. »Du

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kannst nichts gegen ihn ausrichten. Er ist zu mächtig. Komm zurück, Freund!«

Caidon-Rov kam zu Bewußtsein, was er da sagte.

Er ist zu mächtig! Caidon-Rov wußte jetzt, daß er sich die

ganze Zeit über selbst betrogen hatte. Caidon-Rov wußte, daß er keine Gnade

mehr zu erwarten hatte. Er war dem Meister untreu geworden.

Das gab den Ausschlag. Er hatte nichts mehr zu verlieren – nichts

außer Grizzard. Caidon-Rov nahm all seinen Mut zusam­

men und rannte hinter dem Verwachsenen her. Der Korridor war leer. Die Schreie des Hageren hallten von den Wänden wider, doch er bekam keine Antwort.

»In die obere Kugel«, murmelte er. »Er wird die Rüstung zuerst dort suchen.«

Auch jetzt verhinderten die Aufregung und die Angst vor dem Roboter, daß Cai­don-Rov sich über Grizzards überstürztes Handeln Gedanken machte und entsprechen­de Schlüsse daraus zog.

Caidon-Rov schwitzte, als er die obere Kugel erreichte. Das Schott war offen.

Er hatte es geschlossen, nachdem er dem schwarzen Hünen entkommen war. Grizzard kannte den Öffnungsmechanismus nicht, wenn seine Schilderung stimmte und er auf der Flucht vor den Dalazaaren direkt in den Raum mit der defekten Rüstung hatte laufen können.

Aber wer hatte es dann geöffnet? Jetzt und gestern, als der Verwachsene auf der Flucht vor den Wilden war?

Der Gedanke jagte Caidon-Rov einen Schauer über den Rücken. Immer deutlicher spürte er, daß jemand ein teuflisches Spiel mit ihm und Grizzard trieb.

Aber gegen Porquetor hatten beide keine Chance.

Caidon-Rov fand Grizzard in einer Ecke des halb zerstörten Raumes – direkt neben der offenen Tür, hinter der das lag, was von dem Meister übriggeblieben war.

Der Verwachsene sah ihn und sprang auf.

Horst Hoffmann

Bevor Caidon-Rov ihn packen konnte, stand er in der Tür.

»Komm nicht näher«, warnte Grizzard den Hageren. »Wenn du noch einen Schritt auf mich zu machst, stürze ich mich in die Masse.« Grizzard zeigte in das Halbdunkel des hinter der Tür liegenden Raumes.

Caidon-Rov blieb stehen. »So nimm doch Vernunft an, Freund! Wir

sind beide in Porquetors Gewalt. Er wird kommen, um uns zu holen. Komm zurück. Ich verspreche dir …«

»Du kannst mir nur eines versprechen«, sagte Grizzard keuchend. »Hilf mir, die Rü­stung zu finden, sonst mache ich das, was ich dir eben sagte.«

»Du bist verrückt geworden«, schrie der Hagere verzweifelt. »Porquetor ist erwacht. Er hat die Gewalt über die Rüstung wieder­erlangt und wird …«

»Er hat keine Gewalt über die Rüstung«, widersprach Grizzard. »Ich weiß es. Es hängt mit dem zusammen, was ich erlebte, als ich in den Bann geriet, der von der Mas­se dort drinnen ausging.« Wieder zeigte er auf die Tür. »Jemand anders hat sie geraubt. Hilf mir, sie zu suchen.«

Caidon-Rov hatte keinen Zweifel daran, daß Grizzard seine Drohung wahrmachen würde. Er wurde aus den Worten des Gno­men nicht schlau, aber er mußte nachgeben, wenn er ihn nicht verlieren wollte.

Resigniert zuckte er die Schultern. »Also gut. Ich verspreche es. Nun komm.«

Grizzards hervorquellende Augen muster­ten ihn mißtrauisch.

»Ich verspreche es«, beteuerte der Hage­re. »Wir suchen die Rüstung, doch geh weg von der Tür!«

Langsam kam Grizzard auf ihn zu. Er hat­te ihn gerade erreicht, als die Luft genau dort, wo er eben noch gestanden hatte, zu flimmern begann. Zwei Gestalten schälten sich aus dem Nichts.

Caidon-Rov schrie laut auf und stieß Grizzard auf den nach unten führenden Gang hinaus.

Zwei hünenhafte Gestalten, beide in pur­

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purrote Gewänder gehüllt und mit einem Schwert bewaffnet, standen sich gegenüber. Sie nahmen überhaupt keine Notiz von Cai­don-Rov und schlugen wild aufeinander ein. Der Hagere hörte das Klirren, wenn die Waffen gegeneinander prallten. Unfähig, auch nur ein Glied zu rühren, starrte er auf die Szene.

Die Hünen lieferten sich einen erbitterten Kampf, bis es einem von ihnen gelang, sein Schwert in die Brust des anderen zu bohren.

Ein furchtbarer Schrei erfüllte die Instru­mentenhalle.

Der Sieger des Zweikampfs erblickte den Hageren und stürmte auf ihn zu. Caidon-Rov wollte fliehen, aber seine Beine versag­ten ihm den Dienst.

*

Grizzard humpelte den Gang hinab. Wie­der machte die Schwäche sich bemerkbar. Er hatte den Zwergenkörper zum zweiten­mal einer zu großen Belastung ausgesetzt.

Aber er mußte die Rüstung finden! Nur das bestimmte sein Denken. Er kam sich schäbig vor, weil er Caidon-Rov einem un­gewissen Schicksal überließ, aber die Rü­stung war wichtiger als alles andere. Außer­dem war er sicher, daß Caidon-Rov nur zum Schein auf seine Forderung eingegangen war, mit ihm zusammen auf die Suche zu gehen.

Grizzard erreichte den großen, mit Instru­menten gespickten Raum am unteren Ende des Ganges. Er blieb einen Augenblick lang an eine Wand gelehnt stehen, um Atem zu holen. Er versuchte, logisch zu überlegen.

Wer immer die Rüstung gestohlen hatte – er konnte sie kaum allein transportieren. Mittlerweile wußte Grizzard einigermaßen Bescheid, was das technische Potential der Feste anging.

Der Unbekannte mußte sich Hilfe be­schafft haben, vermutlich Roboter. Dann aber konnte er keine engen Gänge benutzt haben. Alles sprach dafür, daß er den Korri­dor herabgekommen war und von hier aus

irgendwo in einen abgelegenen Teil der Fe­ste, wo er sich vor einer Entdeckung sicher fühlen mochte, geflüchtet war.

Der Weg über die Wendeltreppe nach un­ten schied aus.

Plötzlich erblickte Grizzard eine etwa zwei Meter breite, aber nur halb so hohe Wandöffnung zwischen hohen Instrumen­tenpulten. Er konnte sich nicht erinnern, sie bei seinem ersten Aufenthalt in diesem Raum gesehen zu haben.

Wenn der Unbekannte die Rüstung lie­gend transportiert hatte, mußte das Loch in der Wand für ihn ausgereicht haben.

Ohne Zögern setzte der Verwachsene sich in Bewegung. Seine Beine schmerzten, aber er hatte wieder Luft.

Grizzard kam auf einem schwach be­leuchteten, breiten Gang heraus, der spiral­förmig gewunden abwärts führte. Er mußte seit langer Zeit nicht mehr benutzt worden sein, denn der Staub lag zentimeterdick auf dem Boden.

Grizzards Herz schlug heftig, als er die in den Staub getretenen Fußabdrücke vor sich sah. Daß keine Schleifspuren zu sehen wa­ren, bewies dem Mißgestalten, daß seine Vermutung, der Unbekannte hätte sich Anti­grav-Roboter beschafft, richtig war. Einen kurzen Augenblick lang hatte er Angst. Ein einziger Blick an sich herab genügte, um sie zu vertreiben.

Der Weg zu seinem wirklichen Körper und damit vielleicht zu seiner Vergangenheit führte nur über die Rüstung.

Grizzard zögerte nicht länger. Vorsichtig folgte er den Spuren. Jetzt achtete er darauf, daß er den Körper nicht wieder zu sehr bela­stete, um nicht im entscheidenden Moment zusammenzubrechen.

Nach etwa fünf Minuten fand er eine brei­te Öffnung in der Wand des Spiralkorridors. Die Fußabdrücke wiesen ihm den Weg.

Grizzard durchschritt zwei weitere Räu­me.

Dann sah er den dunkelhäutigen Wilden, der gerade ein Bein durch die offene Rückenpartie der Rüstung in den Stahlkör­

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per schob. Grizzard schrie auf. Der Eingeborene fuhr herum.

*

Ravaal erblickte den Gnomen. Sein erster Impuls war, sich auf das mißgestalte Ge­schöpf zu stürzen. Er zog das Bein aus der offenen Rüstung und riß sein Messer aus dem Gürtel. Er glaubte, den verhaßten Herrn der FESTUNG vor sich zu haben, der nun erschienen war, um ihn an der Erfüllung sei­nes Auftrags zu hindern. Jetzt hatte er keine Wahl mehr. Er mußte ihn töten. Er hatte die Macht dazu, denn die Stimme machte ihn stark, gab ihm Kräfte, die selbst die Macht des ehemaligen Herrschers brechen müßten.

Die Stimme! Plötzlich begann Ravaal zu zittern. Er

hörte sie nicht mehr. Er hatte das Gefühl, daß das Raunen, das ihn seit dem Betreten der Feste ausgefüllt und geleitet hatte, schwächer wurde und dann ganz erstarb.

Ravaal wurde immer unsicherer. Ohne sich dessen bewußt zu werden, ließ er das Messer fallen.

In diesem Augenblick begriff Ravaal, in welcher Situation er sich befand. Das Ge­fühl, durch die Stimme unbesiegbar gewor­den zu sein, verschwand von einem Augen­blick zum andern. Er stand einem leibhafti­gen Herrn der FESTUNG gegenüber. Alle Ängste, die die Bewohner Pthors von Geburt an mit dem Begriff FESTUNG verbanden, wurden mit einem Schlag wieder in ihm le­bendig.

Er machte ein paar Schritte zurück und stieß gegen die Rüstung.

»Meister!« schrie der Dalazaare voller Pa­nik. »Komm zurück! Verlaß mich jetzt nicht. Ich …«

Der Verwachsene kam langsam auf ihn zu. Er trug keine Waffe, aber jedes Wesen auf Pthor wußte, daß die ehemaligen Herren mit den Mächten des Bösen im Bunde ge­standen hatten. Daran änderte auch der Um­stand nichts, daß es den Odinssöhnen gelun-

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gen war, sie zu stürzen. Der hellhaarige Fremde und seine Freunde, um die sich die wildesten Gerüchte rankten, verfügten eben über eine noch größere Magie.

Ravaal schrie auf und stürzte an dem Gnomen vorbei aus dem Raum. Nur weg von hier! Weg von dem Unheimlichen, hin­aus aus der Feste! Dort war er vielleicht si­cher.

Doch draußen, vor den Toren der Feste, wartete die Blaue Göttin.

*

Caidon-Rov wagte es nicht, die Augen zu öffnen, als er wieder das Geräusch aufeinan­derschlagender Klingen hörte. Drei weitere Riesen kämpften mit dem Hünen. Ihr An­blick brachte Caidon-Rov fast um den Ver­stand. Sie glichen den beiden ersten aus dem Nichts aufgetauchten Kämpfern zwar noch, aber ihre Körper waren seltsam verwachsen. Sie wirkten wie Figuren aus einem Alp­traum.

Caidon-Rov wußte nicht, wie nahe er mit diesem Vergleich der Wahrheit kam. Er hat­te keine Zeit, sich Gedanken zu machen. Er sah seine Chance und schlich vorsichtig aus dem Raum, bis er den Korridor erreicht hat­te.

Im Kontrollraum am anderen Ende des Ganges betätigte er den Verschlußmechanis­mus des Schottes. Während er noch nach Atem rang und sich allmählich beruhigte, sah er, wie einer der Hünen mit dem Rücken zuerst durch das geschlossene Schott glitt, das normalerweise einem konzentrierten Energiebeschuß widerstanden hätte.

Der Riese fiel auf den Korridor. In seiner Brust steckte die breite Klinge eines Schwertes.

Caidon-Rov mußte sich zwingen, den Blick vom Bildschirm zu nehmen.

Wo war Grizzard? Caidon-Rov hatte einen Zustand erreicht,

wo er keine Angst mehr empfinden konnte. All das, was er in den letzten Stunden in und vor der Feste erlebt hatte, erschien ihm irre­

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al. Ohne Zögern ging er auf die breite Wand­

öffnung zwischen den Instrumentenbänken zu und kroch hindurch. Er sah die in den Staub getretenen Spuren und folgte ihnen. Einmal blieb er stehen und stellte erstaunt fest, daß die Spuren in zwei Richtungen führten. Er erkannte Grizzards riesige Fuß­abdrücke. Die anderen schienen von einem Dalazaaren zu stammen.

Er ging weiter. Bisher hatte er keine Ah­nung von diesem gewundenen Gang gehabt. Wohin führte er?

Nach wenigen Minuten fand er Grizzard. Caidon-Rov schrak zusammen, als er ihn ne­ben der Porquetor-Rüstung stehen sah. Er wollte ihm eine Warnung zurufen, als er er­kannte, daß der Halbroboter immer hoch hohl war.

Seine Erleichterung war unbeschreiblich. Also hatte er sich doch getäuscht! Es gab

keinen Porquetor mehr. Grizzard drehte sich zu ihm um. Seine Augen glänzten.

»Ich habe sie gefunden«, erklärte der Ver­wachsene überflüssigerweise. »Wirst du mir nun helfen, sie anzulegen?«

Caidon-Rov lächelte. Seine Freude, den schon verloren geglaubten Freund heil wie­dergefunden zu haben, versetzte ihn in einen Zustand der Euphorie.

»So einfach ist das nicht, Grizzard«, hörte er sich sagen. »Du mußt noch etwas Geduld haben. Wir müssen eine Körpermaske für dich anfertigen, damit du überhaupt Halt darin findest. Außerdem mußt du lernen, Porquetor zu steuern. Wir müssen ein neues Steuersystem einbauen.«

»Ich werde lernen«, versprach Grizzard.

*

Die Blaue Göttin wartete auf ihr Opfer. Sie nahm die mentale Ausstrahlung desje­

nigen wahr, der sie aus der Symbiosege­meinschaft des Lebenskreises gerissen hatte, als dieser sich dem Flügeltor der Feste nä­herte und verzweifelt versuchte, es von in­nen zu öffnen.

Nach kurzer Zeit fand er den Öffnungs­mechanismus. Die beiden Flügel schwangen auf, und der Dalazaare stürmte auf die Brücke. Er blickte hinter sich, als ob ihm tausend Verfolger auf den Fersen wären.

Als er die Pflanze sah, war es zu spät für ihn.

Die klebrigen Fangfäden schossen heran und rissen ihn von den Beinen – mitten in den weit geöffneten Schlund der Königs­pflanze hinein.

Die blauen Blätter rollten sich zusammen. Die Rache war vollzogen. Die Blaue Göttin starb.

Übrigbleiben würde nur eine neue Knolle. Vielleicht würde sie jemand finden und an

sich nehmen. Und möglicherweise würde er die Knolle eines Tages zu einem Platz brin­gen, wo eine neue Symbiosegemeinschaft um die Königspflanze herum entstehen konnte.

8.

Caidon-Rov bedeutete Grizzard, auf ihn zu warten, als er den markerschütternden Schrei hörte. Er desaktivierte die Antigrav­felder der Trageroboter und eilte auf die un­tere Brüstung hinaus.

Er sah gerade noch, wie Ravaals Körper im Schlund der Blauen Göttin verschwand. Im nächsten Augenblick ging eine unerwar­tete Veränderung mit der Pflanze vor sich. Die Blätter rollten sich zusammen, wurden schlaff und grau.

Caidon-Rov fühlte instinktiv, was mit ihr vorging. Erst, als nur noch ein braungraues Etwas zu erkennen war, kehrte er zum war­tenden Grizzard zurück.

Er sagte kein Wort über das, was er gese­hen hatte. Aber immer wieder hämmerte die gleiche Frage in seinem Bewußtsein: Wieso nicht ich? Wieso hat sie gerade mich freige­geben?

Er wußte, daß er keine Antwort erhalten würde.

Die mittlerweile wieder aktivierten Trans­portroboter schafften die schwere Porquetor­

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Rüstung in Caidon-Rovs Kontrollraum. Schweigend nahm er mit Grizzard zusam­men das Mittagsmahl ein. Danach fütterte Caidon-Rov seine Tiere.

»Jetzt können wir sehen, was sich machen läßt«, sagte er schließlich zu seinem Gast. Grizzard nickte eifrig. Caidon-Rov hatte die Feste mit den überall versteckt angebrachten Optiken abgesucht. Er fand nichts, das dar­auf hindeutete, daß jetzt noch eine Gefahr aus dem Innern der Feste drohte. Der Hagere redete sich ein, daß der Dalazaare für das ganze Chaos verantwortlich gewesen sei.

»In der Rüstung hat ein ausgewachsener Mann Platz«, murmelte Caidon-Rov. »Wenn wir Glück haben, kann ich einen kleinen Sitz einbauen, damit du bequemen Halt hast. Au­ßerdem müssen wir eine Isolierung schaffen, damit es dir nicht zu heiß wird.« Er betrach­tete die viel zu kleinen und schwachen Ärm­chen des Verwachsenen, danach die eben­falls zurückgebliebenen Beine. »Damit kannst du Porquetor kaum steuern. Ich fürchte, auch die Kontrollen müssen auf dich abgestimmt werden.«

»Ich bin sehr dankbar«, sagte Grizzard. Der Hagere winkte ab. »Zum Danken ist immer noch Zeit, wenn

ich's tatsächlich schaffen sollte, dir deinen neuen Körper anzupassen. Als erstes muß ich dich genau messen, um die Körpermaske mit der Isolation anzufertigen.«

Caidon-Rov machte sich an die Arbeit. Grizzard ließ alle notwendigen Prozeduren über sich ergehen. Dann setzte er sich ein­fach neben der aufrecht an eine Wand ge­lehnten Rüstung auf den Boden und sah Cai­don-Rov bei der Arbeit zu.

Sein Entschluß, bei der erstbesten Gele­genheit in der Rüstung zu fliehen, stand nach wie vor fest. Doch je länger Grizzard Caidon-Rov zuschaute, desto mehr plagte ihn sein Gewissen.

Er hatte begonnen, Caidon-Rov gernzuha­ben. Und er wußte, wie sehr er ihn verletzen würde. Aber er mußte es tun.

Die beiden Einsamen waren so in ihre Ar­beit vertieft, daß sie alles um sich herum

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vergaßen. Selbst Grizzard dachte nicht mehr an die

pulsierende, zerfressene Masse in der oberen Kugel der Feste Grool.

Dort aber versuchte Porquetor mit einer letzten verzweifelten Anstrengung, seine Realvisionen, die begonnen hatten, ein fata­les Eigenleben zu entwickeln, noch einmal unter Kontrolle zu bringen. Er holte zum letzten Schlag aus.

Überall in der Feste, von Caidon-Rov und Grizzard unbemerkt, materialisierten mon­ströse Gestalten – eine Gespensterarmee, doch diese Gespenster waren real. Sie waren stofflich, solange Porquetor seine psioni­schen Energien ausströmen ließ, und konn­ten töten.

Daß Caidon-Rov und Grizzard noch eine letzte Frist erhielten, lag lediglich daran, daß der Mutierte diesmal nicht wieder überstürzt handeln wollte. Der letzte Funke Logik in seinen verwirrten Gedanken ließ ihn warten. Er wollte das Gefühl des sicheren Triumphs so lange wie möglich auskosten.

* Zwei Tage später:

»Ich hätte selbst nicht geglaubt, daß wir das so schnell hinkriegen würden«, sagte Caidon-Rov und betrachtete stolz sein Werk. »Versuchen wir's, Freund. Ich habe Porque­tor so umgebaut, daß du ihn von innen her­aus steuern kannst. Muß ich dir helfen?«

Grizzard schüttelte den Kopf. Die Erre­gung des Verwachsenen war unbeschreib­lich.

»Halte nur die Rüstung fest«, sagte er in einwandfreiem Pthora. »Ich kommen schon allein hinein.«

Grizzard zog sich einen Stuhl heran und kletterte hinauf. Er holte tief Luft. Dann stieg er mit dem rechten Fuß zuerst in die große Öffnung im Rücken des Halbroboters. Er war sich dessen bewußt, daß dies ein ent­scheidender Augenblick in seinem Leben war. Die Szene hatte für ihn etwas Feierli­ches an sich.

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Grizzards Fuß fand einen Halt. Er griff mit den Händen nach einer Halterung im In­nern des stählernen Gigantkörpers und zog das andere Bein nach. Schließlich saß er in einer Art Sattel.

»Großartig!« hörte er Caidon-Rov sagen. »Nun die Systeme. Vor dir ist die Optik. Versuche, sie an deine Augen zu ziehen. Dann probiere, die Arme zu bewegen. Sei vorsichtig, damit du nicht mit der Rüstung umkippst.«

Grizzard tat, was Caidon-Rov ihm sagte. Er griff mit der Rechten nach der Optik und zog sie an seine Augen. Die Schalen, in de­nen sich die Linsen befanden, paßten wie angegossen. Mit einem Riemen befestigte der Verwachsene sie am Kopf.

Er sah die Wand, gegen die die Rüstung gelehnt war, plastisch vor sich. »Nun die Ar­me!«

Grizzard legte seine Hände in die dafür vorgesehenen Vertiefungen der Körpermas­ke. Seine Finger spürten die feinen Wider­stände, die aus einer Unzahl von Sensor­punkten bestanden und jeden noch so gerin­gen Steuerimpuls auf die stählernen Glied­maßen des Halbroboters übertrugen.

»Sie bewegen sich!« jubelte Caidon-Rov. »Die Beine, Grizzard! Ich halte die Rüstung fest. Keine Angst, du stürzt nicht. Versuche, die Beine zu bewegen und dich mit Porque­tor aufzurichten!«

Der Verwachsene hörte die Worte kaum noch. Die Begeisterung übermannte ihn. Seine Füße lagen in ähnlichen Vertiefungen wie die Hände. Die Körpermaske umgab ihn schützend. Es gab keine Kabelstränge oder gefährliche Kontakte, die ihn behinderten. Grizzard fühlte sich wie in einem enganlie­genden Anzug.

Er bewegte noch einmal die Arme. Ohne sich dessen bewußt zu werden, legte er den Kopf so auf eine Seite, daß ein weiterer Me­chanismus ausgelöst wurde. Er sah zunächst die Wand, die scheinbar an »seinen« Augen, Porquetors empfindlichen Linsen, vorbeizog und sich zur Seite neigte. Die ersten Instru­mente kamen ins Sichtfeld.

Caidon-Rov schrie etwas, aber Grizzard war viel zu aufgeregt, um hinzuhören.

Er sah, wie sich die Arme der Rüstung be­wegten! Ein einziger leichter Druck auf ge­wisse Sensorpunkte genügte, um den mäch­tigen, stählernen Arm jede gewünschte Be­wegung ausführen zu lassen.

Grizzard geriet in einen Rausch. Jetzt die Beine!

Vorsichtig drückte er mit den Zehen und der Ferse gegen die feinen Widerstände in den Vertiefungen der Maske. Ein Ruck ging durch die Rüstung. Wieder schrie Caidon-Rov. Im nächsten Augenblick erschien der Hagere in Grizzards Sichtfeld und gab ihm Zeichen, sofort mit den Experimenten aufzu­hören.

Grizzard wurde klar, daß er stand – ohne daß der Halbroboter von Caidon-Rov ge­stützt wurde. Er hielt sich aus eigener Kraft auf den Beinen!

Doch der Triumph war verfrüht. Die Rüstung begann zu kippen. Gleichzei­

tig drehte sie sich. Bestürzt erkannte Griz­zard, daß er es war, der die Beine des Gigan­ten betätigte, um den drohenden Sturz auf­zufangen. Er reagierte instinktiv und verlor die Kontrolle über Porquetor.

Wieder geriet Caidon-Rov in sein Blick­feld. Grizzard wollte ihm lediglich durch ei­ne Geste zu verstehen geben, daß er zurück­treten sollte, aber das Ergebnis war verhee­rend. Die stählerne rechte Faust der Rüstung fuhr nur wenige Zentimeter vor Caidon-Rovs Gesicht durch die Luft und landete auf der Tastatur einer Schaltbank.

Der Halbroboter verlor endgültig das Gleichgewicht. Grizzard ließ ihn noch ein paar Schritte vorwärts machen, um den Sturz aufzufangen.

Er schloß unwillkürlich die Augen. Der Halbroboter krachte auf den harten Boden. Nur der perfekten Körpermaske war es zu verdanken, daß Grizzard den Sturz überleb­te. Er versuchte, sich aufzurichten, doch die Steuerung funktionierte nicht mehr.

»Hast du jetzt genug, Narr?« rief Caidon-Rov, während er sich bemühte, den Ver­

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wachsenen aus der Rüstung zu befreien.

*

Am nächsten Morgen fand der zweite Versuch statt. Grizzard wirkte verschlossen, als er in die Rüstung stieg. Caidon-Rov führ­te es auf die Ernüchterung von gestern zu­rück, und Grizzard hütete sich, ihm zu sa­gen, daß er wieder zwei Hünen gesehen hat­te, die sich am Ende eines Korridors einen erbitterten Kampf lieferten. Sie waren noch monströser gewesen als alle vorher erschie­nenen Gestalten. Wenn Caidon-Rov davon erfuhr, würde er möglicherweise das Experi­ment abbrechen.

Grizzard war entschlossen, diesmal vor­sichtiger vorzugehen und die Rüstung nicht mehr zu verlassen, falls der Versuch nun po­sitiver als der erste verlief.

Caidon-Rov hatte einige Reparaturen vor­genommen und die Steuerung der Porque­tor-Gliedmaßen etwas »entschärft«. Die von den Sensoren aufgenommenen Impulse wur­den gedrosselt weitergegeben. Außerdem hatte er mit Grizzard die ganze Nacht über geübt, die eigenen Körperkräfte genau do­siert einzusetzen. Zusätzlich eingebaute Warnleuchten, die etwa einen Verlust des Gleichgewichts sofort anzeigten, sollten dem Verwachsenen rechtzeitig eine Korrek­tur ermöglichen.

Nach einigen Funktionstests wagte Griz­zard, den Robotkörper zu bewegen. Er machte ein paar Schritte nach vorne. Cai­don-Rov gab ihm Zeichen, sobald die Rü­stung zu schwanken begann. Grizzard konn­te es korrigieren.

»Und jetzt bleib stehen!« hörte er Caidon-Rovs Stimme durch die Verstärker in der Körpermaske. »Werde nicht leichtsinnig. Komm langsam weiter auf mich zu, dann drehe dich und bewege vorsichtig die Ar­me.«

Grizzard gehorchte. Wieder breitete sich Euphorie in ihm aus. Jetzt wußte er, daß er gewonnen hatte. Der neue Körper gehorchte seinen Steuerimpulsen. Er reagierte perfekt,

Horst Hoffmann

und mit jedem Schritt lernte Grizzard, die Rüstung besser zu beherrschen.

Caidon-Rovs Freude war groß. Sein Werk war gelungen. Doch Grizzard wußte auch, daß nur die Arbeit ihn bisher davon abgehal­ten hatte, sich Gedanken zu machen. Jetzt würde er über manches an Grizzards Verhal­ten nachdenken, das er bisher verdrängt hat­te.

Grizzard mußte bei der ersten sich bieten­den Gelegenheit aus der Feste fliehen. Er durfte nicht abwarten, bis Caidon-Rov Ver­dacht schöpfte.

Die beiden Männer übten weiter. Kurz vor Mittag gab der Hagere Grizzard ein Zei­chen. Der Verwachsene hatte längst nicht mehr das Gefühl, durch fremde Augen, durch Linsensysteme zu blicken. Es waren fast schon seine Augen, durch die er Caidon-Rov sah.

»Genug für diesmal«, sagte dieser. »Es klappt besser, als ich dachte. Ich helfe dir, aus der Rüstung zu steigen.«

Porquetor schüttelte den mächtigen Kopf. »Bitte nicht«, drang die Stimme dumpf

aus den Außenlautsprechern des Halbrobo­ters. »Ich möchte in der Rüstung bleiben.«

Caidon-Rov starrte ihn ungläubig an. »Aber es ist noch viel zu früh dazu. Und

überhaupt mußt du erst lernen, Nahrung auf­zunehmen.«

»Ich versuche es«, beharrte Grizzard-Porquetor.

Caidon-Rov gab keine Antwort. Er drehte Grizzard den Rücken zu und machte sich schweigend auf den Weg zum Speiseraum. Der Halbroboter stampfte hinter ihm her.

Grizzard wußte jetzt, daß Caidon-Rov be­gonnen hatte, sich Fragen zu stellen.

Er hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Caidon-Rov tat ihm leid. Wieder kamen

Schuldgefühle in Grizzard auf. Er versuchte dennoch, sich etwas zu über­

legen, wie er Caidon-Rov ablenken konnte, um zu fliehen.

Noch konnte er nicht ahnen, daß alles an­ders kommen sollte.

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47 Mann ohne Gedächtnis

*

Caidon-Rov hatte den ganzen Nachmittag lang beobachtet, wie Grizzard Bewegungs­übungen machte. Dabei bewegte sich dieser schon fast so perfekt wie der ehemals von Yunthaal gelenkte Porquetor. Der Verwach­sene zeigte einen Eifer, der an Besessenheit grenzte.

Das konnte nicht nur an der Begeisterung über den neuen Körper liegen. Je länger Cai­don-Rov nachdachte, desto mehr kam er zu dem Schluß, daß Grizzard sich auf ein Le­ben außerhalb der Feste Grool vorbereitete. Ein weiterer Beweis war die Schnelligkeit, mit der er in den letzten Tagen Pthora zu sprechen gelernt hatte.

Am frühen Abend beschloß Caidon-Rov, noch eine Änderung an der Rüstung vorzu­nehmen. Er mußte sie von außen kontrollie­ren können, wie einst Yunthaal. Durch den Einbau sämtlicher Steuerungsinstrumente und die autarke Energieversorgung des Halbroboters war das jetzt unmöglich. Griz­zard konnte machen, was er wollte, ohne daß Caidon-Rov ihn stoppen könnte, falls dies notwendig war.

Doch der Hagere kam nicht mehr dazu, sein Vorhaben zu verwirklichen. Denn gera­de, als er Grizzard unter einem Vorwand da­zu bewegen wollte, aus dem Halbroboter zu steigen, griff das, was einmal Porquetor ge­wesen war, mit all ihm zur Verfügung ste­henden Macht an.

Die hünenhaften, monströs verwachsenen Gestalten kamen aus ihren Verstecken. Eine grauenvolle Gespensterarmee überflutete die Feste Grool.

Weitere Monstren materialisierten. Sie glichen in ihrem Äußeren kaum noch men­schenähnlichen Wesen.

Grizzard stellte sich schützend vor Cai­don-Rov, als die Horden in den Kontroll­raum eindrangen. Sie kamen von allen Sei­ten. Bisher verborgene Türen öffneten sich. Waffen klirrten. Die riesigen Gestalten schlugen wild auf alles ein, was sich in ihrer

Nähe befand. Zwei von ihnen, die noch stark an die ersten aufgetauchten Hünen erinner­ten, kamen mit erhobenen Schwertern auf die Rüstung zu. Grizzard konnte erkennen, daß die Waffen mit den Wesen verwachsen waren. Sie bildeten eine Einheit.

Grizzard ließ die Angreifer herankom­men, bis sie in Reichweite seiner Fäuste wa­ren. Die Schwerter hieben auf den Robot­körper ein, doch Grizzard hatte keine Mühe, das Gleichgewicht zu halten.

Seine Rechte fuhr in die Höhe und traf ei­ne der beiden Gestalten am Kopf. Der Hüne wurde meterweit zurückgeschleudert – mit­ten in ein Knäuel weiterer Monstren hinein.

Caidon-Rov stieß plötzlich einen wilden Schrei aus. Er stürzte wie von Sinnen an Grizzard vorbei auf den zweiten Angreifer zu. Ehe Grizzard es verhindern konnte, wur­de er von einem Schlag gestreift und sank ohnmächtig zu Boden.

Das war das Zeichen zum Angriff. Griz­zard wußte, daß er gleichzeitig eine letzte Bewährungsprobe vor sich hatte. Er lenkte den Halbroboter auf die Hünen zu und drosch wild auf sie ein. Seine stählernen Ar­me ruderten durch die Luft und lichteten die Reihen der vorrückenden Spukgestalten.

Der Effekt war auch für Grizzard uner­wartet.

Die Hünen blieben stehen und starrten ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Einige lösten sich einfach im Nichts auf. Die ande­ren liefen in Panik aus dem Raum. Sie flüch­teten.

Grizzard blieb schützend vor Caidon-Rov stehen, bis er die leise Stimme in seinem Be­wußtsein hörte. Und jetzt erinnerte er sich in allein Einzelheiten an das, was mit ihm ge­schehen war, als er vor dem unförmigen Klumpen in der oberen Kugel kniete. Das Locken des fremden Willens, die Sehnsucht, seiner Existenz ein Ende zu machen und sich dem Fremden bedingungslos unterzu­ordnen, in ihm aufzugehen, zu sterben, um ein neues, schattenhaftes Leben zu führen …

Die Stimme wurde lauter und eindringli­cher. Sie schrie nach Hilfe. Dann ebbten die

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Impulse ab. Porquetor starb.

*

Er hatte die Kontrolle über seine Ge­schöpfe endgültig verloren. Schlimmer noch: Sie wandten sich gegen ihn und ka­men, um ihn zu töten. Die von ihm abgege­benen psionischen Energien richteten sich jetzt in Form der aus allen Teilen der Feste heranströmenden Realvisionen gegen ihn. Er konnte sie nicht mehr auflösen.

PORQUETOR hatte einen zweiten Fehler gemacht. Hätte er nicht kurzzeitig all seine Energien auf die Schaffung neuer Realvisio­nen konzentriert und dadurch den Eingebo­renen für wenige Minuten aus seinem Bann entlassen müssen, wäre Caidon-Rov jetzt tot – und mit ihm der Verwachsene. Entschei­dend für den Fehlschlag war allerdings Ra­vaals Glaube daran gewesen, tatsächlich ei­nem Herrn der FESTUNG gegenüberzuste­hen, wie PORQUETOR es ihm einsuggeriert hatte.

Nun mußte er erkennen, daß er zu lange mit dem Angriff gezögert hatte. Der Ver­wachsene hätte niemals die Rüstung anlegen dürfen. Sein Anblick hatte PORQUETOR, der quasi durch die Augen seiner Schöpfun­gen sah, den letzten Funken seines Verstan-des verlieren lassen. Er hatte einen Kurz­schluß in ihm ausgelöst.

Der unterschwellige Haß, den das Mon­strum wegen der Fehlschläge gegen sich auf baute, übertrug sich auf die Realvisionen und lenkte sie in die Kugel.

Sie tauchten vor der unförmigen Masse auf. Ihre zerstörerischen Energien drangen in sie ein.

Es war ein langer und schrecklicher Tod. Noch einmal strahlte PORQUETOR Hilferu­fe aus.

Er sollte niemals erfahren, ob sie gehört worden waren.

PORQUETOR starb zum zweitenmal – und diesmal blieb nichts von ihm übrig. Der pulsierende Klumpen auf der kleinen Platt-

Horst Hoffmann

form verging zusammen mit den Realvisio­nen, als ob Materie mit Antimaterie zusam­mengestoßen wäre.

*

Grizzard erlebte das Sterben des Mon­strums mit, und er mußte all seine Beherr­schung aufbringen, um nicht die Kontrolle über die Rüstung zu verlieren.

Die plötzliche Stille hatte etwas Unwirkli­ches, Beängstigendes an sich.

Grizzard wußte, daß jetzt der Augenblick zur Flucht gekommen war. Er beugte sich mit dem neuen, unbesiegbaren Körper über Caidon-Rov und untersuchte ihn. Der Hage­re war nur leicht verletzt.

Grizzard mußte aus der Feste verschwun­den sein, bevor er zu sich kam.

»Es tut mir leid, Freund«, murmelte er. »Aber ich muß gehen. Eines Tages wirst du mich vielleicht verstehen können.«

Er gab sich einen Ruck. Caidon-Rov be­gann sich schon zu bewegen.

Grizzard erreichte das Flügeltor einige Sekunden zu spät. Kaum hatte er den Öff­nungsmechanismus gefunden und die beiden Flügel aufschwingen lassen, als das Tor auch schon wieder vor ihm zuknallte.

»Verräter!« hallte Caidon-Rovs Stimme aus mehreren verborgenen Lautsprechern zugleich. »Ich hatte recht, dir nicht zu trau­en. Gib auf. Du wirst niemals entkommen. Alle Ausgänge sind verriegelt.«

Panik erfaßte Grizzard. Er lenkte die Rü­stung die nächstbeste Treppe hinauf, stampf­te über einen gewundenen Korridor und er­reichte eine weitere Treppe.

»Gib auf!« hörte er Caidon-Rovs sich fast überschlagende Stimme. »Du gehörst mir! Mir allein!«

Die Brüstung! fuhr es Grizzard durch den Kopf.

Er lief schneller, erreichte einen weiteren Gang. Er versuchte, sich zu orientieren. Plötzlich stand Caidon-Rov vor ihm.

»Geh aus dem Weg!« forderte Grizzard. »Die Rüstung gehört mir, alles, was du

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besitzt, gehört mir. Auch du!« Caidon-Rovs Worte beseitigten die letzten

Bedenken. Grizzard erkannte, daß er dem Hageren für alle Zeiten ausgeliefert sein würde, wenn er jetzt nachgab. Caidon-Rov dachte nur an sich.

Einer der Arme des Halbroboters stieß den Hageren aus dem Weg. Er prallte gegen eine Wand, wo er bewußtlos zu Boden sank. Der Weg war frei.

Minuten später stand Grizzard auf der Brüstung und blickte an den Mauern der Fe­ste hinab.

Es war fraglich, ob es ihm mit der schwe­ren Rüstung überhaupt gelang, an den Mau­ern hinabzuklettern, ohne abzustürzen.

Noch einmal stand ihm das Glück zur Sei­te. Grizzard deutete es als einen Wink des Schicksals, als er das dicke Stahlseil sah.

Er hob es auf. Noch einmal zögerte er. Grizzard wußte,

daß er sich auf einen langen und gefährli­chen Weg begab. Aber er hatte keine Wahl, wenn er seinen Körper finden wollte.

Er konnte nicht ahnen, daß sich irgendwo auf dieser fremden Welt ein Wesen befand, das genau wie er auf der Suche war.

Grizzard befestigte ein Ende des Seiles an einer Zinne der Brüstung. Sein langer Weg begann.

EPILOG

Nach langem und beschwerlichem Mar­sch hatten sie endlich die Feste Grool er­reicht. Es war Abend und begann bereits zu dämmern.

Atlan stieß eine Verwünschung aus, als er die Dalazaaren sah, die die Feste in einiger Entfernung belagerten. Es handelte sich aus­

nahmslos um schwerbewaffnete Krieger. Es war mehr als zweifelhaft, ob sie die

beiden Männer passieren lassen würden. Nur ungern erinnerte sich der Arkonide an seine bisherigen Erfahrungen mit diesen Eingebo­renen.

Er und Feigling waren ohne Chance ge­gen die Übermacht. Feigling begann bereits, allerlei Fragen zu stellen. Er machte den Eindruck, als wolle er jeden Augenblick fliehen.

Atlan überlegte schon, ob es nicht besser wäre, die Feste zu umgehen und weiter nordwärts zu wandern, als einige der Wilden plötzlich aufsprangen und laute Schreckens­schreie ausstießen.

Sie zeigten immer wieder auf die untere Brüstung.

Atlans Verstand weigerte sich, das zu ak­zeptieren, was er im Schein der vielen klei­nen Feuer sah.

Auch Feigling hatte die Gestalt erblickt, die sich an einem Seil langsam an den Mau­ern der Feste herabließ.

»Das kann nicht sein«, murmelte der Ar­konide. »Porquetor ist tot!«

»Porquetor?« entfuhr es Feigling. »Das … das ist der schreckliche Porquetor?«

Als Atlan seinen Fehler erkannte, war es schon zu spät. Feigling schrie schrill auf und rannte weg.

Einige der Dalazaaren fuhren herum. »Und jetzt wird's verdammt ungemüt­

lich«, knurrte der Arkonide.

ENDE

E N D E