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manuelle therapie Muskuloskeletales System – Klinik und Forschung Februar 2015 · Seite 1 – 52 · 19. Jahrgang www.thieme.de / manuelletherapie 1 · 2015 Herausgeber J. Bessler C. Beyerlein T. Davies-Knorr S. Klien F. Morrison J. H. van Minnen J. Schomacher SCHWERPUNKT Zentralisation Mit der Zentralisation diagnostizieren und prognostizieren Kraftmessung mit modifiziertem Handdynamometer Myofasziale Triggerpunkte bei Spannungskopfschmerzen Praxis: eine Diagnose, drei Therapien

manuelletherapie - Thieme...besser diagnostizieren und prognostizieren Effektivität: Immer mehr Klassifikationssysteme für Patienten mit spinalen Schmerzen integrieren die Zentralisation

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manuelletherapieMuskuloskeletales System – Klinik und Forschung

Februar 2015 · Seite 1 – 52 · 19. Jahrgang www.thieme.de / manuelletherapie 1 · 2015

HerausgeberJ. BesslerC. BeyerleinT. Davies-KnorrS. KlienF. MorrisonJ. H. van MinnenJ. Schomacher

SCHWERPUNKT

Zentralisation

Mit der Zentralisation diagnostizieren und prognostizieren

Kraftmessung mit modifiziertem Handdynamometer

Myofasziale Triggerpunkte bei Spannungskopfschmerzen

Praxis:eine

Diagnose, drei

Therapien

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manuelletherapie 1. 2015

Schwerpunkt Zentralisation 13 Anfangsturbulenzen um die Zentralisation

und aktuelle Evidenz Autor: C. Schmidt

18 Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizieren Autoren: H. Clare, S. May

23 Drei Patienten – eine Diagnose – drei unterschiedliche Therapien Autor: R. Genucchi

29 Refresher-Fragen zur Zentralisation

Originalia 31 Ist die manuelle Untersuchung von aktiven

myofaszialen Triggerpunkten bei Patienten mit Spannungskopfschmerzen zuverlässig? Autoren: C. Bianchi, A. Meichtry, L. Tänzer, U. Ritter, M. J. Ernst

38 Inter- und Intratester-Reliabilität der Kraft-messung von Knieextension und -flexion mit einem modifizierten Handdynamometer an gesunden Probanden Autoren: A. Schäfer, M. Dressel, S. Kämmerer, L. Peschke, M. Ramos Braun, T. Schöttker-Königer

45 Validität und Reliabilität der lumbalen PPIVM und PAIVM – Ist die Verwendung dieser Tests in der Praxis noch zeitgemäß? Autoren: M. Neubauer, E. Hengeveld, G. Bucher-Dollenz

Rubriken 4 Forum 7 Forschung kompakt 52 Buchbesprechung · Termine

HerausgeberJohannes Bessleraus Dossenheim ist Manualtherapeut-OMT (AGMT) und Master of Manual Therapy (UWA/Perth). Als Mulligan-Instruktor ist er seit 2002 international, seit 2010 auch an verschiedenen Hochschulen in Deutsch-land und der Schweiz tätig. Er arbeitet klinisch in einer Praxis in Heidelberg mit Spezialisierung auf die Behandlung von muskuloskeletalen und kraniofazia-len Patienten. Seit 2006 im Herausgeberteam.

Dr. Claus Beyerleinaus Ulm an der Donau ist Manualtherapeut (OMT-DVMT) und Diplom-Sportwissenschaftler. Er ist Mitglied der Mulligan Concept Teachers Association (MCTA). Nach dem Studium an der Curtin Universi-ty of Technology in Perth/Australien promovierte er an der Universität Ulm zum Thema Erstkontakt in der Physiotherapie in Deutschland – Erkennung von Red Flags. Seit 2003 im Herausgeberteam.

Trisha Davies-Knorraus München ist Manualtherapeutin (MSc, MCSP, DVMT-OMT) und IMTA-Instruktorin. Sie arbeitet klinisch an der Klinik und Poliklinik für Physikali-sche Medizin und Rehabilitation der Universität München. Neben der Mitgliedschaft in der DVMT-Weiterbildungskommission und der DFAMT Monito-ring Gruppe ist sie Fellow of the Higher Education Academy. Seit der Gründung der Zeitschrift im Jahr 1997 gehört sie dem Herausgeberteam an.

Fiona Morrisonlebt in Rodgau. Sie ist seit 1994 Physiotherapeutin (BAppISc), seit 2000 Manualtherapeutin (MHIthSc, MCSP, APAM, DVMT-OMT). Sie arbeitet in einer am-bulanten Reha-Praxis. Von 2005–2012 war sie Mit-glied der DVMT Weiterbildungskommission, ab 2007 als Leiterin. Von 2004–2011 war sie deutsche Dele-gierte für IFOMPT. Seit 2013 im Herausgeberteam.

Sebastian Klienaus Freiburg ist seit 1996 Physiotherapeut. Sein Inter-esse für die Therapie muskuloskeletaler Beschwerden führte ihn über die Ausbildung im Kaltenborn- und Maitland-Konzept schließlich zur OMT des SVOMP. Im Jahr 2003 absolvierte er die Prüfung zum OMT/svomp. Seit Juni 2011 hat er seine eigene Praxis in Freiburg. Er gehört seit 2007 zum Herausgeberteam.

Jan Herman van Minnenlebt in Bettlach in der Schweiz. Er ist Manualthera-peut (OMTsvomp), IMTA-Seniorinstruktor und ar-beitet klinisch als Mitinhaber seiner Gruppenpraxis in Grenchen. Seit der Gründung der Zeitschrift im Jahr 1997 ist er im Herausgeberteam.

Jochen Schomacherlebt in Küsnacht in der Schweiz. Er ist Manualthera-peut und Instruktor Manuelle Therapie (OMT Kalten-born-Evjenth-Konzept). 2012 hat er seinen PhD in Clinical Sciences von der Aalborg University, Däne-mark erhalten. Er gehört seit der Gründung der Zeit-schrift 1997 zum Herausgeberteam.

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Wissenschaftlicher BeiratFrans van den Berg, PT/MT, A-Zell am Moos | Dr. med. Heiner Biedermann, Köln | Prof. Dr. Jan Cabri, N-Oslo | Heiko Dahl, PT/MT, Wremen | Dr. Markus Dirheimer, Blaustein | Bernd Falkenberg, PT/MT, Iserlohn | Prof. Dr. Dr. med. Ralf-Peter Franke, Ulm | Andreas Gattermeier, PT/MT, Fürstenzell | Roland Gautschi, PT/MT, CH-Baden | Christian Gloeck, PT/MT, Seehausen | Dr. Eva Grill, MPH, München | Prof. Dr. med. Michel Jesel, F-Strasbourg | Lothar Jörger, PT/MT, Bad Kissingen | Prof. Dr. Jan Kool, PT/Bew.-Wiss., CH-Igis | Dr. sc. med. Wolfgang Laube, A-Feldkirch | Dr. med. Bernard Memheld, Offenburg | Peter Oesch, PT/MT, CH-Wangs | Ursula Schauer-Klatt, PT/MT, Freiburg | Thomas Schöttker-Königer, PT/MT, Fürstenfeldbruck | Hugo Stam, PT/MT, CH-Zurzach | Prof. Dr. med. Peter M. Villiger, CH-Bern | Pieter Westerhuis, PT/MT, CH-Langendorf | Prof. Udo Wolf, PT/MT, Bochum | Fritz Zahnd, PT/MT, CH-Forch

Patienten mit unspezifischen Rückenschmerzen haben eigentlich eine gute Prognose. Schmerzt ihr Rücken lassen sich die spinalen Körperstrukturen per CT oder MRT beurteilen. Nutzt man dagegen die Zentralisation als Unter-suchungsinstrument, ist eine mechanische Diagnose und Therapie möglich.

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18 SCHWERPUNK T ZENTR ALISATION · Vertiefung

Clare H, May S. Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizieren. Manuelle Therapie 2015; 19: 18–22

Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizierenEffektivität: Immer mehr Klassifikationssysteme für Patienten mit spinalen Schmerzen integrieren die Zentralisation. Sie ist ein nachweislich zuverlässiges Instrument. Unsere Schwerpunktautoren Helen Clare und Stephen May meinen, dass sie fest zur Untersuchung gehören sollte.

▀ Erfüllt ein Bewertungsinstrument bestimmte Kri-terien, ist es für Kliniker nützlich. Die Vorausset-zungen sind: gruppenübergreifende Definition,

tritt bei den meisten Patienten mit spinalen Schmerzen auf, ist zuverlässig identifizierbar und seine Identifikation dient der Be-

handlung, Prognose oder Diagnose. Es gibt zwei systematische Reviews zu diesem Thema. Sie legen nahe, dass die Zentralisa-tion die Kriterien erfüllt [1, 30]. Kliniker sollten die Zentralisa-tion bei Patienten mit spinalen Schmerzen in die Untersuchung fest einbauen.

Abb. 1 Extension in Bauchlage mit Überdruck durch den Therapeuten.

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Clare H, May S. Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizieren. Manuelle Therapie 2015; 19: 18–22

Nichtzentralisation und nicht-diskogenen Pathologien [11, 25, 52]. Die Studien verglichen die Reaktionen auf eine Diskografie mit Zentralisation/Peripheralisation. Donelson et al. [11] fanden einen signifikanten Zusammenhang zwischen positiver Diskogra-fie und Zentralisation (p<0,004) oder Peripheralisation (p<0,001). Ausbleibende Symptomveränderungen bedeuten, dass die Disko-grafie wahrscheinlich negativ ist (p<0,001). Die Studie stellte ei-nen direkten Zusammenhang zwischen der Zentralisationsreakti-on und einer intakten Anuluswand fest.

Weitere Studien verglichen MRT- und CT-Befunde mit Schmerzreaktionen. Sie kamen jedoch zu dem Ergebnis, dass bei fortgeschrittenen Bandscheibenpathologien (wie Extrusion und Sequestration) sehr häufig eine Zentralisation stattfindet [2, 4, 5, 37]. Woraus sich schließen lässt, dass derartige mit Zentralisation assoziierte Bandscheibenpathologien unklar bleiben.

Im Baseline-Assessment ist der Befund der Directional Prefe-rence oder Zentralisation nachweislich ein aussagekräftiger Indi-kator für die Behandlung und die funktionellen Ergebnisse [14]. Setzt man Zentralisation und Directional Preference ein, lässt sich eine Untergruppe identifizieren: Patienten mit unspezifi-schen mechanischen spinalen Symptomen. Sie sprechen erwie-senermaßen auf Übungen mit spezifischer Richtung besser an als auf unspezifische Übungen [28, 29]. Mehrere spinale Klassifikati-onssysteme nutzen klinisch induzierte Symptomveränderungen, um die Behandlung und Prognose festzulegen [18, 32, 34, 36, 42] (▶ Tab. 1).

StudienergebnisseLaut mehrerer Studien gibt es einen Zusammenhang zwischen Zentralisation und diskogenen Pathologien respektive zwischen

▀ Tab. 1 Mechanische Diagnostik und Therapie

Begriff Definition

Zentralisation Phänomen, bei dem distale Schmerzen, die ihren Ursprung in der Wirbelsäule haben, fortschreitend in distal-pro-ximaler Richtung beseitigt werden. Es handelt sich um eine Reaktion auf wiederholte spezifische Bewegungen und/oder das längere Beibehalten einer spezifischen Haltung. Diese Lageveränderung bleibt bestehen, bis alle Schmerzen beseitigt sind. Die Schmerzzentralisierung begleiten häufig signifikant zunehmende zentrale Rücken-schmerzen. Haben die Patienten ausschließlich Rückenschmerzen, verlagern sich die Schmerzen von einem aus-gedehnten Bereich in eine zentralere Lage und werden schließlich beseitigt.

Peripheralisation Phänomen, bei dem proximale Symptome, die ihren Ursprung in der Wirbelsäule haben, fortschreitend in proxi-mal-distaler Richtung hervorgerufen werden. Es handelt sich um eine Reaktion auf wiederholte spezifische Bewe-gungen und/oder das längere Beibehalten einer spezifischen Haltung. Diese Lageveränderung der Symptome bleibt langfristig bestehen. Möglicherweise besteht ein Zusammenhang mit einem verschlechterten neurologi-schen Status.

Directional Preference Klinisches Phänomen, bei dem wiederholte spezifische Bewegungen und/oder das längere Beibehalten einer spe-zifischen Haltung die Symptome und/oder die mechanischen Eigenschaften klinisch relevant verbessern, jedoch nicht zwangsläufig zu einer Symptomzentralisierung führen. Sie ist ein wesentlicher Aspekt des Derangement-Syndroms.

Derangement-Syndrom Ein internes Derangement verursacht eine Störung der normalen Ruheposition der betroffenen Gelenkflächen. Unabhängig von ihrem Ursprung sorgt eine interne Verschiebung von Gelenkgeweben dafür, dass Schmerzen konstant bleiben, bis die Verschiebung reduziert wird. Die interne Verschiebung von Gelenkgeweben behindert die Bewegung.Das konzeptuelle Modell zur Erklärung des Derangement-Syndroms stellt einen Zusammenhang her zwischen der Präsentation und internen Bandscheibenverschiebungen.Das Derangement-Syndrom ist gekennzeichnet durch variable klinische Präsentationen und typische Reaktionen auf Belastungsstrategien. Dazu zählt die Verschlechterung oder Peripheralisation der Symptome als Reaktion auf bestimmte Bewegungen und Haltungen. Es beinhaltet auch die Reduktion, Beseitigung oder Zentralisation von Symptomen und die Wiederherstellung der normalen Bewegung als Reaktion auf therapeutische Belastungsstra-tegien.

Eigenschaften der ZentralisationDie Zentralisation…

▬ tritt beim Derangement-Syndrom auf. ▬ tritt bei akuten und chronischen Patienten auf. ▬ tritt bei wiederholten spezifischen Bewegungen oder bei länger beibehaltenen spezifischen Haltungen auf. ▬ tritt am häufigsten bei Extension auf. ▬ tritt weniger häufig bei lateralen Bewegungen oder Flexion auf. ▬ wird begleitet von einer verbesserten mechanischen Präsentation. ▬ zeigt, welche Bewegungen/Haltungen für die Behandlung geeignet sind. ▬ deutet auf eine gute Prognose hin, ausbleibender Behandlungserfolg auf eine schlechte.

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Clare H, May S. Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizieren. Manuelle Therapie 2015; 19: 18–22

Häufigkeit der ZentralisationZentralisation ist ein weit verbreitetes klinisches Phänomen. Es tritt bei Patienten mit akuten (74 Prozent), subakuten (50 Pro-zent) und chronischen (40 Prozent) spinalen Symptomen auf [30]. In entsprechenden Studien reichte die Häufigkeit von 31 [46] bis 87 Prozent [12, 23]. Die niedrigere Rate in der Studie von Werne-ke et al. ist auf die enger gefasste Definition der Zentralisation und die verwendete Kategorie partielle Zentralisation zurückzufüh-ren (▶ Tab. 3).

Bisher berücksichtigte nur eine Studie [46] Patienten mit HWS-Symptomen. 25 Prozent dieser Patienten fielen in die Kate-gorie Zentralisation und 46 Prozent in die Kategorie partielle Zen-tralisation.

Laut Werneke et al. tritt die Zentralisation bei Patienten mit akuten Symptomen öfter auf als bei chronischen Patienten [43, 48]. Bei jüngeren Patienten tritt sie häufiger auf (18 bis 44 Jahre 61 Prozent, über 65 Jahre 15 Prozent) [43, 47].

Reliabilität der ZentralisationDie Methoden zur Untersuchung der Reliabilität des Zentralisati-onsphänomens haben sich verändert. Videoaufzeichnungen des Patientenassessments [10, 18]wurden ebenso eingesetzt, wie die direkte Beobachtung durch zwei Therapeuten gleichzeitig [22, 23, 41, 46].

Interrater-ReliabilitätBei Bewertungen der Zentralisation im Assessment von Patienten mit Nackenschmerzen betrug der Kappa-Wert zur Übereinstim-mung der Beurteiler 0,46 [10]. Bei Patienten mit Rückenschmer-zen reichten die Kappa-Werte von 0,79 [18] und 0,7 [23] bis 0,51 [22].

Die höheren Reliabilitätswerte scheinen mit dem zunehmen-den Training nach McKenzie assoziiert zu sein. In einer aktuellen Studie verbesserte zusätzliches Training bei Patienten mit LWS-Symptomen jedoch nicht das Zustimmungsniveau für die Bewer-tung der Zentralisation. Weitere Studien sind erforderlich, um diesen Zusammenhang zu bestimmen [43].

Prognostischer Wert der ZentralisationSeit über zehn Jahren ist die Bestimmung der Prädiktoren für Chronizität und Behinderung bei Patienten mit spinalen Schmer-zen ein Forschungsschwerpunkt. Der prognostische Wert der Zentralisation wurde umfassend untersucht und hauptsäch-lich mit guten Ergebnissen assoziiert, wohingegen das Ausblei-ben der Zentralisation mit schlechten Ergebnissen verknüpft war [1]. In einem aktuellen systematischen Review untermauern 21 von 23 Studien den prognostischen Wert der Zentralisation [30]. Drei qualitativ hochwertige Studien ergaben eine starke Evidenz für die diagnostische Validität der Zentralisation [27, 40, 45]. Laut zweier Studien ist die Evidenz mäßig [42, 46], einer anderen Stu-die zufolge ist die Evidenz für Nichtzentralisation als negativen prognostischen Faktor mäßig [35]. Zwei Studien ergaben eine mä-ßige Evidenz zuungunsten der Zentralisation [8, 38]. Die übrigen 15 Studien ermittelten eine moderate Evidenz für die prognosti-sche Validität der Zentralisation.

▀ Tab. 2 Derangement-Syndrom und Behandlungserfolg

BewegungsrichtungZentralisation (%)

LWS BWS HWS

Extension 70 72 85

laterale Bewegung 25 19 15

Flexion 6 9 0

Zentralisation tritt nicht bei einer Blockade der lumbalen Fa-cettengelenke auf [26]. Sie zeigt sich jedoch bei diskogen verur-sachtem Schmerz und wenn das Aufstehen aus dem Sitz schmerz-haft ist [52].

Eigenschaften der ZentralisationZentralisation tritt ausschließlich bei Patienten mit Derange-ment-Syndrom auf. McKenzie [31] vermutete, dauerhafte auf-gelöste, ursprünglich in die Gliedmaßen ausstrahlende Schmer-zen sind ein Zeichen dafür, dass ein Derangement oder eine inter-ne Bandscheibenverschiebung reduziert wurde. Für den Kliniker bedeutet dies, dass er die für den Patienten richtige Bewegungs- oder Haltungsrichtung gefunden hat und diese zur Behandlung nutzt. Bleibt die Zentralisation während der Übungen unvoll-ständig oder partiell, muss der Therapeut mehr Kraft in diesel-be Richtung ausüben, zuerst mit Überdruck (▶ Abb. 1) und dann zur Steigerung mit Mobilisation. Die Zentralisation kann rasch oder schrittweise einsetzen. Meist begleitet sie eine verbesser-te mechanische Präsentation, wie eine rückläufige akute Defor-mierung, ein vergrößerter Bewegungsumfang und/oder ein ver-besserter neurologischer Status [7]. Am häufigsten führt die Ex-tension zu einer Zentralisation in den Wirbelsäulenabschnitten [20]. Deutlich seltener zentralisieren laterale Bewegungen und die Flexion. Veränderte Wirbelsäulenhaltungen können ebenfalls eine Zentralisation bewirken (▶ Tab. 2). Williams et al. [51] stell-ten fest, dass bei Patienten mit Symptomen im unteren Rücken eine lordotische Sitzhaltung eher zentralisiert (56 Prozent) als eine kyphotische (10 Prozent).

Definitionen der ZentralisationAb den 90er-Jahren modifizierten Forscher McKenzies ursprüng-liche Definition der Zentralisation von 1981. Meistens indem sie die abnehmende Symptomintensität ergänzten [9, 21]. Fritz et al. [16] nahmen in ihre Definition auch die veränderten neurologi-schen Zeichen und Symptome auf. Werneke et al. [46] verengten dagegen die Definition. Sie verwendeten eine Körperschablone, um die Schmerzverlagerung zu messen. Um der Definition zu ge-nügen, reichte auf der Schablone eine durch die Schmerzen ver-änderte Körperregion aus. Sie forderten außerdem, dass die Zent-ralisation während der Behandlung auftreten müsse und dass die Symptome sich stetig verbessern müssten. War eine der Bedin-gungen nicht erfüllt, klassifizierten sie den Zustand des Patien-ten als partielle Zentralisation. In der Fachliteratur gibt es even-tuell aufgrund der unterschiedlichen Definitionen unterschiedli-che Prävalenzraten.

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Clare H, May S. Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizieren. Manuelle Therapie 2015; 19: 18–22

▀ Tab. 3 Häufigkeit der Zentralisation

Studie Symptom(dauer) Zentralisation (%)

Broetz et al. 2003 gemischt 58

Broetz et al. 2008 gemischt 73

Browder et al. 2007 gemischt 21

Bybee et al. 2009 ohne Angabe 79

Christiansen et al. 2009/2010

gemischt 30

Delitto et al. 1993 subakut 61,5

Donelson et al. 1990 gemischt 87

Donelson et al. 1991 gemischt 47

Donelson et al. 1997 chronisch 49

Erhard et al. 1994 subakut 55

Fritz und Brennan 2007

subakut 35

George et al. 2005 akut 50

Karas et al. 1997 gemischt 73

Kilpikoski et al. 2002 chronisch 87

Kilpikoski et al. 2010 gemischt 89

Laslett et al. 2005 chronisch 32

Laslett et al. 2006 chronisch 28

Long 1995 chronisch 47

Mitchell et al. 2001 gemischt 87

Murphy et al. 2009 gemischt 61

Rapala et al. 2006 ohne Angabe 56

Schmidt et al. 2008 gemischt 39

Skikic und Suad 2003 gemischt 61,5

Skytte et al. 2005 subakut 42

Sufka et al. 1998 gemischt 69

Werneke et al. 1999 akut 77

Werneke et al. 2008 gemischt 17

Werneke et al. 2010 gemischt 43

Werneke et al. 2011 gemischt 41

Young et al. 2003 chronisch 11

Zusammenfassung gemischt/ohne Angabe

42,4

akut 76,8

subakut 39,8

chronisch 40

Nackenschmerzen 45,7

Gesamtergebnis 43,9

Zentralisation und psychosoziale FaktorenFür Kliniker ist bedeutsam, dass die Zentralisation nachweislich ein signifikanterer Ergebnisprädiktor ist als psychosoziale Indi-katoren wie angstbedingtes Vermeidungsverhalten [19], subjek-tives Beeinträchtigungsniveau, Depressionen [29], berufliche Zufriedenheit, Waddell-Zeichen als Hinweis auf eine nichtorga-nische Pathologie, schmerzbedingtes Verhalten und Somatisie-rung [46]. Nichtzentralisation hat sich dagegen als negativer Prä-diktor erwiesen und ist stärker mit psychologischen Aspekten assoziiert. Werneke und Hart [44] wiesen nach, dass Nichtzent-ralisation mit dem Auftreten nichtorganischer Zeichen, schmerz-bedingtem Verhalten, Somatisierung und beruflichen Ängsten assoziiert ist. In einer späteren Studie konnten sie außerdem zei-gen, dass sich bei Zentralisierern Angstüberzeugungen gleicher-maßen verbesserten wie die Symptome. Bei Nichtzentralisierern müssen Angstüberzeugungen dagegen separat behandelt wer-den [48].

Zentralisation als BewertungsinstrumentInzwischen wurde nachgewiesen, dass bei Patienten mit Rücken- und ausstrahlenden Beinschmerzen die Zentralisation mit einem verbesserten Aktivitätsniveau verbunden ist [2]. Al-Obaidi et al. [3] untersuchten in einer Kohortenstudie Patienten mit chroni-schen Kreuzschmerzen und vollständiger oder partieller Zentra-lisation. Sie erfassten messbare Veränderungen: des Schmerzes, der körperlichen Leistungsfähigkeit und der Angst- und Behinde-rungsüberzeugungen. Stellt man laut Werneke et al. [47] bei Pa-tienten mit Kreuzschmerzen Zentralisation und Directional Pre-ference fest, ist die kurzfristige klinische Prognose für Funktio-nen und Schmerzen günstiger. Eine ähnliche Studie mit Patienten mit Nackenschmerzen ergab, dass die Directional Preference und (geringer) die Zentralisation Bewertungskategorien repräsentie-ren, die mit verbesserten funktionalen Ergebnissen assoziiert sind [43].

fAZIT

um die Angemessenheit und effektivität der Behandlung von Patienten mit spinalen Schmerzen zu verbessern, betonen Leitli-nien, wie bedeutsam die auf Zeichen und Symptomen basieren-de Patientenklassifikation ist. in Zeiten knapper gesundheits-budgets sind Behandlungsentscheidungen essenziell, die die Pa-tientenergebnisse und Prognosen verbessern.Das klinische Phänomen der Zentralisation ermöglicht, Patien-ten mit unspezifischen Schmerzen und einer guten Prognose als wesentliche Patientenuntergruppe zu erkennen. es ist ein wert-voller klinischer faktor für die Vorhersage langfristig günstiger ergebnisse.Die aktuelle evidenz weist darauf hin, dass Zentralisation kon-sistent und zuverlässig identifiziert werden kann – eine wichti-ge eigenschaft für jedes klinische Bewertungsinstrument. Das erkennen der Zentralisation beim Patientenassessment anhand wiederholter spinaler Bewegungen und Haltungsänderungen bietet in der Behandlung Orientierung und stellt sicher, dass an-gemessen und effektiv therapiert wird. Verzichtet ein Kliniker

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Clare H, May S. Mit der Zentralisation besser diagnostizieren und prognostizieren. Manuelle Therapie 2015; 19: 18–22

Literaturverzeichnis am Ende der HTML-Version unter: www.thieme-connect.de/products/manuelletherapie

DOI 10.1055/s-0035-1545384manuelletherapie 2015; 19: 18–22© Georg Thieme Verlag KGStuttgart · New York · ISSN 1433-2671

bIbLIOgRAfIE

Helen ClarePhD (USyd), DipPhty (Otago NZ), GradDipManipTher (Cumb), MAppSc (Syd), Dip M. D.&T arbeitet als Physiotherapeutin im klinischen Bereich muskulo-skeletale Störungen und forscht zur mechanischen Diagnose und Therapie. Die Direktorin des McKenzie-Ausbildungsprogramms vermittelt als Senior Faculty Member das McKenzie-Konzept.Suite 24, 272 Pacific Highway, Crows Nest, NSW [email protected]

Stephen MayEnglish MA (Oxford), Grad Dip Physiotherapy (Leeds School of Physiotherapy), Dip MDT, Sc Health Service Research and Health Technology (University of Sheffield), PhD (Sheffield Hallam University)arbeitete viele Jahre mit muskuloskeletalen Patienten im Nati-onal Health Service und ist seit 2002 Dozent für Physiothera-pie an der britischen Sheffield Hallam University. 2006 erhielt er ein Forschungsstipendium der Chartered Society of Physiotherapy und pro-movierte 2008 mit seiner Arbeit über die „Entwicklung verschiedener Aspekte der mechanischen Diagnose und Therapie“.

AUTORENauf das Bewerten der Zentralisation durch wiederholte Bewe-gungen, enthält er sich und dem Patienten ein leistungsstarkes und prognostisches Bewertungsinstrument vor.Zentralisation ist ein allgemein anerkanntes Konzept, das Klini-ker häufig zur untersuchung von Patienten mit rücken- und na-ckensymptomen einsetzen und das viele forschungsgruppen untersuchten. Zentralisation ist ein wertvolles, kostengünsti-ges und zuverlässiges instrument. Überprüft man in spinalen As-sessments die Zentralisation routinemäßig, verbessert man die Behandlung von Patienten mit spinalen Schmerzen effektiv. ▄