Marcuse-Materialismus Und Metaphysik

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  • 8/12/2019 Marcuse-Materialismus Und Metaphysik

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    Materialismus und MetaphysikVon

    Max Horkheimer (Frankfurt a. M. .Aus seiner Erforschung der philosophischen Anschauungen,welche

    in Europa seit der Antike aufgetreten sind, hat Dilthey die Einsichtgewonnen, da alle metaphysischen Versuche die Aufstellung eineseinheitlichen allgemeingltigen Systems bezwecken, ohne da ihnenbis heute ein Schritt vorwrts in dieser Richtung gelungen wre.Wenn er selbst es unternimmt, Typen der Weltanschauung zu sondern,so hebt er darum auch den subjektiven Charakter der von ihm ge-troffenen Einteilung hervor: Die berzeugung von der Unmglich-keit jenes allgemeingltigen Systems vernichtet auch den meta-physischen Anspruch, welchen die Ordnung der einzelnen Systemeselbst erheben knnte.Die Aussagen, in deren Zusammenhang Diltheys Typologieerst Bedeutung gewinnt, zielen freilich, ebenso wie die in ihr ge-ordneten metaphysischen Systeme, auf das Ganze des Seins. Ent-sprechend seiner berzeugung von der Konstanz der Menschennaturund der Selbigkeit der Welt sieht Dilthey die Weltanschauungenund die Systeme, in welchen sie Gestalt gewinnen, als verschiedeneAntworten auf das eine Rtsel des Daseins aus dem Leben hervor-gehen. Und wie die Philosophie im Unterschied von der wissen-schaftlichen Forschung stets auf dieses Rtsel des Lebens. . . aufdieses Ganze, in sich Verschlungene, Geheimnisvolle gerichtet istl),so betrachtet auch Dilthey selbst das Problem, was ich in der Weltsoll, wozu ich in ihr bin, was in ihr mein Ende sein wird, als das-jenige, welches mich am meisten angeht 2). Die drei von ihm auf-gestellten Kennzeichen des philosophischen, in Wahrheit meta-physischen Geistes: Selbstbesinnung, d. h. die konsequente undradikale Frage gegenber den subjektiven und objektiven Gegeben-heiten; Einordnung alles Erkennbaren in einen einheitlichen Zu-sammenhang; Streben nach Begrndung der Allgemeingltigkeit

    ') Schriften, Bd. VIII, S. 206/7.) 1. c.

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    2 Max Horkheimerder Erkenntnis durch den Rckgang auf ihre letzten Rechtsgrnde,treffen auf seine eigenen Bestrebungen zu. Wenn er es auch vermiedenhat, seine Anschauung in einem metaphysischen System wirklich auszufhren, so verfolgt die Analyse der Weltanschauungendoch nicht blo die Absicht, einzelne fr die Theorie der Geschichtewichtige Elemente klar herauszustellen, sondern seine Arbeit sollebenso wie Religion und u r s p r n g l ~ h e Metaphysik zu Bedeutungund Sinn des Ganzen l) fhren. Jedes System verstrickt sich zwarnach Dilthey in Antinomien, und erst das historische Bewutseinzerbricht die letzten Ketten, die Philosophie und Naturforschungnicht zerreien konnten . Aber dieses befreiende Bewutsein rettet

    zugleich dem Menschen die Einheit seiner Seele, den Blick in einenobzwar unergrndlichen, doch der Lebendigkeit unseres Wesensoffenbaren Zusammenhang der Dinge. Getrost mgen wir in jederdieser Weltanschauungen einen Teil der Wahrheit verehren. Undwenn der Lauf unserer Lebens uns nur einzelne Seiten des unergrndlichen Zusammenhangs nahebringt - wenn die Wahrheit der Weltanschauung, die diese Seite ausspricht, uns lebendig ergreift, dannmgen wir uns dem ruhig berlassen: die Wahrheit ist in ihnen allengegenwrtig 2).

    In der historischen und psychologischen Typologie der Weltanschauungen, wie sie Dilthey und Jaspers unternommen haben, kommtdie Kritik des liberalen Brgertums an der Absolutheit seines eigenenDenkens zum Ausdruck. Die Gleichordnung der verschiedenen metaphysischen Ideen und das Bewutsein ihrer durchgngigen geschichtlichen Bedingtheit bedeuten eine starke Unbefangenheit gegenber derMacht ursprnglich von ihm selbst verewigter Kategorien, wenngleichdie Systeme nicht durch Erkenntnis ihrer gesellschaftlichen Ent-stehungsbedingungen und ihrer gesellschaftlichen Funktion, sondernmit Hilfe selbst wieder hypostasierter Begriffe von Mensch, Leben,Persnlichkeit, schpferischer Entwicklung als abhngig begriffenwurden. Bei dieser teilweisen Befreiung von den bestimmten In-halten der Vergangenheit umkleideten sich nun die Formen der Weltanschauung in ihrem Wandel mit dem Glanz des metaphysischenProzesses. Was alles an weltanschaulichen Einstellungen, Weltbildern, Strebungen, Gedanken in Menschenkpfen entstanden ist,kann nicht absolut nichtig sein. Es war einmal als Kraft da undkehrt zu allermeist auf typische Weise einmal wieder . . . solche Ge-

    l) I c. S. 82) I c. S. 223, vgl. S. 271.

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    Materialismus und Metaphysik gdanken mgen falsch, unsinnig, tuschend sein, die menschlicheSeele hat eine Artung, die sich in solchen Gedanken ausdrckt. Sieerlebt und bewegt in sich etwas auf eine Weise, da jene Objektivie-rung dafr als treffender Ausdruck, als Offenbarung und selbst-verstndlich anerkannt wurde und wird l). In Ermangelung desGlaubens an die unbeschrnkte Gltigkeit eines ausgefhrten Systemswurde die Reihe der kulturellen Gestaltungen, ihr Rhythmus, ihreAbhngigkeit voneinander, ihre hnlichkeiten zum Bildungsgutgemacht; als solches lste die Geistesgeschichte die frheren Systemeund Schulen in der Herrschaft ab. Der Unterschied lag wesentlichin der Gleichgltigkeit gegenber dem bestimmten Inhalt der Ideenselbst. Mit der schwindenden Aussicht, die Wirklichkeit im Rahmender bestehenden Ordnung vernnftig, d. h. den Bedrfnissen derAllgemeinheit angemessen, zu gestalten, wurden die Unterschiedezwischen den einzelnen Konstruktionen der besten Welt, welche diefrheren Systeme als das vernnftige Wesen der empirischen ent-worfen hatten mehr und mehr belanglos. Die unberbrckbareKluft zwischen Wirklichkeit und Vernunft brachte den Versuch,sie philosophisch ineinszusetzen, ja sie durch den Begriff derAufgabe aufeinander zu beziehen, in Verruf. Der ungebrocheneHarmoniegedanke gehrt der liberalistischen Phase an. Er entsprichteiner durch die Vielzahl selbstndiger Unternehmer gekennzeichnetenVolkswirtschaft. Das Bild der Zusammenstimmung ihrer Inter-essen zum reibungslosen Funktionieren des Ganzen wird auf dieGesamtgesellschaft, d. h. auf die verschiedenen Gesellschaftsklassenbertragen. Die monopolistische Phase behlt die Leugnung derKlassengegenstze bei, doch wird der Kampf auf dem Weltmarktzwischen wenigen Machtgruppen so sehr zum Hauptthema der Epoche,da von hier aus anstelle der bereinstimmung zwischen den Einzel-existenzen Begrfe wie die Tragik, der Heroismus, das Schicksalals zentrale geschichtsphilosophische Kategorien erscheinen. Diemateriellen Interessen der einzelnen gelten als belanglos, als etwas,das weniger zu erfllen als zu berwinden ist. Doch pflegt die Philoso-phie der Gegenwart die auf den Entwurf rationaler Systeme ge-richteten Anstrengungen der Vergangenheit nicht einfach zu ver-neinen. Sie verherrlicht die Schpferkraft und Gre ihrer Autoren,die sthetischen Qualitten der gewachsenen Einheit ihrer Werke,die trotz der Widersprche zwischen den Systemen angeblich injedem sich ausdrckende Wahrheit und frdert so die Bewunderung

    1 Jaspers Psychologie der Weltanschauungen 1919, S. 4.

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    4 Max Horkheimerund Ehrfurcht vor den Gestalten der Vergangenheit, den formalenGlauben an Gre, Persnlichkeit und Fhrertum; durch diesebiologistische und historistische Einebnung der Unterschiede ver-nichtet sie freilich den schlichten Anspruch auf inhaltliche Geltungder Lehren. Sie setzt an Stelle der- sachlichen Prfung der altenSysteme die hingebungsvolle Einfhlung und Beschreibung und rettetdurch diese Erhebung der Geistesgeschichte zu einer neuen Metaphysikdie Einheit der Seele , verschliet sich aber damit den Zugang zuwichtigen Gegenstnden der geistesgeschichtlichen Betrachtung selbst.

    Indem die Lehre von den Weltanschauungen ein metaphysischesInteresse verfolgt, zentriert sie die von ihr dargestellten Denkgebildewesentlich um gleichgerichtete Absichten. Der die Geschichte derPhilosophie durchziehende Gegensatz zwischen den zwei gedank lichen Verhaltungsweisen, welcher von der heutigen geschichtlichenSituation aus als der entscheidende erscheint, der Gegensatz zwischenMaterialismus und Idealismus, wird in der heutigen philosophischenLiteratur daher keineswegs begriffen. Er gilt als ein Streit zweiermetaphysischer Richtungen und pflegt ohne groe Schwierigkeitenvon der modernen philosophischen Problematik her entschieden zuwerden. Das Miverstndnis ist vor allem durch die Verkennungder materialistischen Theorie und Praxis bedingt. Wenn auch diemeisten philosophischen Vertreter des Materialismus an die meta-physischen Fragestellungen anknpfen und den idealistischenThesen eigene entgegensetzen, so verbaut sich doch eine Behandlungdies9r Gedankenrichtung, welche sie hauptschlich als eine Ant-wort auf metaphysische Fragen nimmt, das Verstndnis ihrergegenwrtig wichtigsten Eigentmlichkeiten.Dilthey selbst sieht im Materialismus eine Metaphysik und zwareine Lehre ber das Verhltnis des Weltgrundes zur Welt und derSeele zum Leib l . Er ist darin nur der herrschenden philosophischenAuffassung gefolgt. Diese sieht schon seit mehreren Jahrzehnten imMaterialismus vorwiegend nicht den Gegensatz gegen den Idealismus,sondern gegen den Spiritualismus. Materialismus und Spiritualismuswerden beide als realistische Antworten auf die Frage nach dem Wesender Welt einem im Sinn der Bewutseinsphilosophie verstandenenIdealismus gegenbergestellt 2 . Die gesellschaftlichen Wurzeln dieser

    1) Vgl. I c. S. 97 ff) Vgl. z. B.: Ludw. Bchner, An Sterbelager des Jahrhunderts, Gieen1898, S. 134; R Richter , Einfhrung in die Philosophie, Leipzig undBerlin 1920, S. 67ff.; Herrn. Cohen, Schriften zur Philosophie und Zeit.geschichte, e r l i ~ 1928, Bd. 2, S. 382; und viele andere.

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    Materialismus und Metaphysik 5Terminologie mgen in der ZweifrontensteIlung des franzsischenBrgertums whrend des 19. Jahrhunderts gegen Feudalitt undProletariat zu suchen sein. Der Materialismus wird dabei auf dieeinfache Behauptung zurckgefhrt, alles Wirkliche sei Materieund ihre Bewegung. Ob sich der betreffende Philosoph dann selbstzu einem idealistischen oder zu einem realistischen Standpunkt bekennt, die materialistische Behauptung wird auf jeden Fall raschverworfen. Sofern sie nicht dazu zwingt, in Widerspruch mit demprimitivsten Verstand alles Geistige, vor allem das Bewutseinund den Verstand selbst, als bloen Schein zu erklren, ist sie daraufangewiesen, es durch geknstelte Hypothesen und fragwrdigeHinweise auf zuknftige Entdeckungen der Wissenschaft aus materiellen Vorgngen abzuleiten. Den Ausfhrungen ber Materialismus pflegt daher sogleich eine denkbar einfache Widerlegung zufolgen, die er nach seinem Historiker F. A. Lange nicht parierenkann . Das Bewutsein lt sich aus stofflichen Bewegungen nichterklren l).

    n der deutschen Literatur ist dieses Argument seit dem Materialismusstreit von 1854 unermdlich wiederholt worden. Esscheint zwar bei oberflchlicher Betrachtung, als knnten durchdie Kenntnis der materiellen Vorgnge im Gehirn gewisse geistigeVorgnge und Anlagen uns verstndlich werden . Das geringsteNachdenken lehrt, da dies Tuschung ist , heit es in der berhmten Ignorabimusrede von Du Bois-Reymond 2 . DemMaterialisten mu der psychologische Raum zu einem bloenPhnomen werden, wobei stets unbegreiflich bleiben wird, wie einsolches Phnomen jemals entstehen konnte 3). Es spricht freilichvieles dafr, da sich bei jeder Freude und berhaupt bei jedemVorgang in unserem Bewutsein ein mit diesem eng verbundenerunwahrnehmbarer Atombewegungsvorgang in unserem Grohirn ab- spielt. Aber die Freude ist nicht dieser Bewegungsvorgang, sondernsie hngt nur auf irgendeine Weise mit ihm zusammen. Die materialistische Lehre, da alle seelischen Vorgnge, z. B. auch die Gefhle,materielle Bewegungsvorgnge seien, ist demnach falsch 4). Demunmittelbaren Erleben gegenber, das uns die fundamentale Verschiedenheit zwischen physischer und psychischer Realitt von

    ' ) F. A. Lange , Geschichte des Materialismus, Iserlohn 1877, 2. Bd., S. 3.I) Reden von Emile Du Bois-Reymond, Leipzig 1886, S. 123.3 Oswald Klpe, Die Realisierung, Leipzig 1923, 3. Bd., S. 148.') Erich Becher , Erkenntnistheorie und Metaphysik, in: Die Philosophiein ihren Einzelgebieten, Berlin 1925, S. 354/55.

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    Mall: HorkheimerSchritt zu Schritt aufntigt, wird die materialistische Behauptungimmer paradox bleiben... Aber ebensowenig ist eine AbleLtungmglich . . . 1). So vermgen denn alle diese (materialistischen)Argumente nichts an der Tatsache zu ndern, da die von uns er-lebten psychischen Vorgnge etwas von allem Materiellen vollkommenVerschiedenes sind 2). In Wirklichkeit versagt die Theorie schonbeim ersten Schritt. Wie aus raumzeitlichen Nervenprozessen einBewutseinsproze wird, wie auch nur der einfachste Empfindungs-inhalt wirklich entsteht, kann sie nicht nur nicht nachweisen, sondernauch nicht prinzipiell verstndlich machen. Zwischen dem einenund dem anderen liegt ein vollstndig irrationaler Hiatus, denkein verfolgbar durchgehendes Band berbrckt 3 . Gerade aberdas Hervorgehen auch nur des geringsten Schimmers von geistigerLebendigkeit aus rein stofflicher Bewegung ist etwas Denkunmg-liches, da sich eine solche Erzeugung des Geistigen aus Stofflichemnur behaupten, aber nicht verstehen lt. . . Tatschlich ist auchder Materialismus meistens gar nicht konsequenter Monismus, sondernin irgendeiner Verhllung oder Erschleichung wird neben der bloenMaterie ein zweites Prinzip eingefhrt, aus welchem sich dann diegeistigen Erscheinungen leichter ableiten lassen 4). Jaspers erklrtgegen den von ihm als Positivismus bezeichneten Materialismus:

    Wenn ich nichts bin wie die in erkennbaren Kausalzusammen-hngen stehende Natur, so ist es nicht nur unbegreiflich, da ichsie erkenne und da ich aus der Erkenntnis in sie eingreife, sondernabsurd, da ich mich rechtfertige 5). Der Materialismus erscheintdemnach als ein offenkundiger, hchst einfach widerlegbarer Irrtumder Metaphysik. Der fortgesetzte Versuch, geistige Vorgnge alsmaterielle hinzustellen, wre in der Tat gerade so unsinnig wie dieBehauptung, pfel seien eine Art von Birnen oder Hunde eine Artvon Katzen 6). Unter diesen Umstnden hat Erich Adickes nichtblo sein eigenes, sondern das Urteil aller derjenigen, die sich in dergegenwrtigen philosophischen Literatur ber den Materialismusorientieren, ausgesprochen. Der Materialismus scheidet wegen

    1) W. Winde lband Einleitung in die Philosophie, Tbingen 1923, S. 125.') W. Je rusa lem Einleitung in die Philosophie, Wien und Leipzig1923, S. 114.3 Nie. Har tmann Grundzge einer Metaphysik der Erkenntnis, Berlinund Leipzig 1921, S. 100.') Max Adler, Lehrbuch der materialistischen Geschichtsauffassung,Berlin 1930, S. 78/79.') Jaspe r s Philosophie, 1. Bd., Berlin 1932, S. 221.' ) W. Winde lband 1. c.

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    Materialismu8 und Metaphysik 7seiner Flachheit und prinzipiellen Unzulnglichkeit selbstverstnd-lich ohne weiteres aus l).

    Die durch alle Gegenstze und Wandlungen der Philosophie inden letzten Jahrzehnten unvernderte Wiederholung derselbenArgumente gegen eine so schwache These hngt mit dem geschicht-lichen Kampf zusammen, der gegen verhate Behauptungen, Wer-tungen, Forderungen ausgefochten wird. Das Wort Materialismusbezeichnet ja nicht blo jene fragwrdige Aussage ber die Totali-tt der Wirklichkeit, sondern eine ganze Reihe von Gedanken undpraktischen Verhaltungsweisen. Diese erscheinen in einigen materia-listischen Theorien und in einem groen Teil der brigen philo-sophischen Literatur als Folgen jener These ber die Gesamtver-fassung der Welt. Wre die grundlegende Behauptung zerstrt, somte, wenigstens bei den klar denkenden Materialisten, nach derherrschenden Ansicht eine andere Metaphysik, sei es eine andererealistische Spielart, etwa der Spiritualismus, gegenwrtig Exi-stenzphilosophie genannt, oder ein ausgesprochener Idealismus ihreStelle einnehmen. Mag der Materialismus gegenber den anderen

    mglichen Auffassungen vom Weltganzen als noch so unzulnglich er-scheinen, seine allgemeinste, die Welt berhaupt betreffende These wirdauch im Kampfe gegen ihn als grundlegend fr bestimmte praktischeKonsequenzen, ja fr eine einheitliche Lebensgestaltung genommen,ebenso wie die idealistische Metaphysik als die sinngeme Vor-aussetzung idealistischer Handlungsweise gilt. Ein etwa vorhandenerGegensatz zwischen dem vom Beobachter erschlossenen Sinn desHandelns und der vom Handelnden selbst vertretenen materialistischenThese, die mangelnde Einheitlichkeit wird dann als logischerWiderspruch kritisiert. Was beim Idealismus zutrifft, wird also auchvom Materialismus vorausgesetzt, da nmlich auf der ,Grundlageeines Weltbilds die Fragen nach Bedeutung und Sinn der Welt ent-schieden und hieraus Ideal, hchstes Gut, oberste Grundstze fr dieLebensfhrung abgeleitet werden 2). Diese Struktur von Welt-anschauungen, insofern sie eine vollstndige Auflsung des Lebens-rtseis zugeben unternehmen 3), scheint iI . der Tat einer ganzenReihe materialistischer Systembildungen anzuhaften; bei genauererAnalyse zeigt sich aber, da die inhaltliche Fassung der materia-listischen Theorie diese einheitliche Struktur sprengt. Die Kritik

    ') Erich Adickes, in: Die deutsche Philosophie der Gegenwart inSelbstdarstellungen, 2. Bd:, Leipzig 1921, S. 20.) Dilthey, 1. c. S. 82.8) Dilthey, 1. c.

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    8 ax Horkheimerdieses Komplexes von Ansichten und Verhaltungsweisen durch die Bestreitung der materialistischen These ber die Gesamtverfassungder Welt, von welcher man ihn als abhngig ansieht, bliebeauch dann miverstndlich, wenn die bestrittene These jeweilseine genauere Interpretation erfhre, als s zu geschehen pflegt.Die Metaphysik verspricht sich als Erfolg ihrer Beschftigungmit dem Rtsel des Daseins, mit dem Ganzen der Welt, mitdem Leben , dem An-Sich oder wie sonst sie immer die Richtungihrer Frage beschreiben mag, die Mglichkeit, positive Konsequenzenfr das Handeln zu ziehen. Das Sein, zu dem sie vorstt, mu eineVerfassung haben, deren Kenntnis fr die menschliche Lebensfhrungentscheidend ist, es mu eine diesem Sein angemessene Haltunggeben. Das Bestreben, sein persnliches Leben in allen Teilen vomEinblick in die letzten Grnde abhngig zu machen, kennzeichnetden Metaphysiker, gleichviel ob das, was er erblickt, ihn zu hchsterweltlicher Aktivitt, Gleichmut oder Askese bestimmt, gleichgltigauch, ob die Forderung als fr alle Zeiten und Menschen identischoder als differenziert und wandelbar sich darstellt.Der metaphysische Glaube, da die Gestaltung des individuellenLebens aus dem zu entdeckenden Sein begrndbar sei, sprichtsich am deutlichsten in den direkt theologischen Systemen aus.Gott kann ein bestimmtes Verhalten von den Menschen fordern,die, welche ihm zuwiderhandeln, verfallen in Snde. Die theologischen Systeme sind mit sich selbst einig, nur ein persnliches Wesenkann Forderungen stellen, nur ein bewuter Wille so eindeutig sein,da sich die Richtigkeit eines Lebens an ihm messen lt. Die berihre Beziehung zur Theologie unklare Metaphysik pflegt die bereinstimmung des individuellen Lebens mit der Forderung des Absoluten nicht als Gehorsam, sondern als Angemessenheit, Echtheit,Eigentlichkeit oder berhaupt als philosophische Weisheit anzusehen.Wenn der Dogmatismus das Unbedingte, das er im Unterschied zuden von Kant ausgehenden idealistischen Strmungen als Seinzu erkennen meint, nicht naiv zugleich als summum bonum betrachtet, so erscheint s doch in den meisten seiner Systeme wenigstensals primr wertbehaftet ; das eigene Sein zu bewahren oder zu dem,was man ist, zu werden, gilt dann als ethische Maxime. Soweit jeneidealistischen Strmungen das Unbedingte nicht als Sein, sondernals Gesetzgebung, Tathandlung oder doch als Inbegriff von freienAkten entdecken, fordern sie zugleich Achtung vor dem Sinn dieserAkte, eine Anpassung des empirischen Menschenlebens an den in-

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    Materialismus und Metaphysiktelligiblcn Grund der Persnlichkeit, bis zu dem die Philosophievorstt. Aber nicht blo dort, wo der religise Ursprung des Ab-hngigkeitsverhltnisses noch in der Befehlsform bewahrt ist, sondernauch in allen Fllen, wo berhaupt die bereinstimmung eines Da-seins mit seinem in der Metaphysik entdeckten Grund fr wertvollgehalten wird, gilt die zugrunde liegende Wirklichkeit als normativ.Das Wesen, dem die Metaphysiker den emphatischen Namen einesWirklichen l) geben, enthlt bei ihnen auch die Regel fr die sich ent-scheidende Existenz.Die materialistische These schliet ihrer Natur nach solche Fol-gerungen aus. Das Prinzip, welches sie als Wirklichkeit bezeichnet,taugt nicht zur Normgebung. Die Materie ist an sich selbst sinn-los, aus ihren Qualitten folgt keine Maxime fr die Lebensgestal-tung : weder im Sinn eines Gebots noch eines Musterbildes. Nichtals ob ihrc genaue Kenntnis fr den Handelnden ohne Vorteil wre:der Materialist wird sich je nach seinen Zielen der Struktur derWirklichkeit aufs eingehendste zu v e r ~ i h e r n trachten, aber obgleichdiese Ziele im gesellschaftlichen Gesamtproze immer auch durch diejeweilige wissenschaftliche Erkenntnis der Wirklichkeit wie ber-haupt durch den Stand der Produktivkrfte mitbedingt sind, folgensie doch nicht aus der Wissenschaft. Die Erkenntnis, welche immerschon auf Grund einer bestimmten Praxis und bestimmter Ziel-setzungen erworben wird, steht zwar in Wechselwirkung mit denHandlungen der Menschen, sie ist an der Gestaltung der uerenund inneren Wirklichkeit beteiligt, liefert aber nicht Vorbilder,Maximen, Anweisungen fr ein wahrhaftes Leben, sondern Mitteldazu und ist daher nicht Aufschwung, sondern Theorie. Wenn MaxScheleI' im Anschlu ari Platon die metaphysische Haltung mit Rechtals den Versuch des Menschen, sich selber als natrliches, fertigesSein zu transzendieren, sich selbst zu vergttern oder Gott hnlichzu werden 2 beschreibt, so ist die Wirklichkeit, welcher der Materia-list sich zu bemchtigen sucht, das Gegenteil einer gttlichen, undsein Bestreben geht viel mehr dahin, sie nach ihm als sich nach ihrzu richten.Soweit die Materialisten solche abschlieenden Stze wie den,da alles Wirkliche Materie sei, formuliert haben, erfllen diese inihren Lehren daher eine ganz andere Funktion als bei ihren Gegnern;sie enthalten den allgemeinsten und leersten Abzug aus ihren Er-

    1 Hegel, Enzyklopdie 6.2 Vom Ewigen im Menschen, Leipzig 1921, S. 100.

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    10 Mnx Horkheimerfahrungen, keineswegs ein Gesetz fr ihr Handeln. Fr die Mehrzahl der nichtmaterialistischen Richtungen werden die Einsichtenum so bedeutsamer und folgenschwerer, je allgemeiner, umfassender,abschlieender, prinzipieller sie sind; fr die Materialisten gilt zwarnicht das gerade Gegenteil - dies ist nur beim extremen und daherselbst metaphysischen Nominalismus der Fall - sondern der Grad,in dem allgemeine Gesichtspunkte fr eine Handlung ausschlaggebend werden, hngt jeweils von der konkreten Situation desHandelnden ab. Die Bekmpfung irgendeiner allgemeinen philosophischen These als der fr die materialistische Verhaltungsweiseausschlaggebenden geht daher an der Eigenart des materialistischenDenkens vorbei. Die These ist so wenig magebend fr die inhaltlichen Entscheidungen, da z. B einflureiche Materialisten derAufklrung, allen voran Diderot, zeitlebens ber diese allgemeinenDinge schwanken konnten, ohne da deshalb der Charakter ihrerpraktischen Stellungnahme im geringsten verndert worden wre.Nach den Materialisten kann sich zwar die Erkenntnis groer, ber dieGegenwart hinausweisender Tendenzen in der Praxis ebensowohl bewhren wie die Erkenntnis von Einzelheiten, ja, sie stehen der These,da die Wissenschaft sich in der bloen Konstatierung von Tat-sachen erschpfe, sehr kritisch gegenber, aber jene alles berhauptumspannenden Urteile sind nach ihnen wegen ihrer weiten Entfernungvon der Praxis, aus der sie gewonnen wurden, stets fragwrdig undnicht sehr belangvoll. In den metaphysischen Systemen pflegen dieAkzente umgekehrt verteilt zu sein; die besonderen Erkenntnissewerden dort gewhnlich blo als Beispiele der allgemeinen verstanden.Wenn bei den Materialisten ein Irrtum um so verzeihlicher erscheint,je weiter er von den ihnen jeweils praktisch wichtigen Umstndenabliegt, so bringen ihre Gegner gewhnlich einen um so grerenErnst auf, je mehr es um Prinzipielles geht. Prinzipielles kann, wiegesagt, auch fr die Materialisten von hchster Bedeutung werden,aber der Grund fr diese Bedeutung folgt nicht aus der Natur desPrinzipiellen als solchem, er liegt nicht allein in der Theorie, sondernergibt sich aus den Aufgaben, die in der betreffenden Epoche vonder Theorie zu bewltigen sind. So kann etwa die Kritik eines religisen Glaubenssatzes im Komplex der materialistischen Ansichtenzu eineri bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort eine entscheidende Rolle spielen, whrend sie unter anderen Umstndenbelanglos ist; so besitzt in der Gegenwart die Er.Jtenntnis der gesamtgesellschaftlichen Bewegungstendenzen konstitutive Bedeutung

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    Materialismus und l\letaphysikfr die materialistische Theorie, whrend im 18. Jahrhundert dieProbleme des gesellschaftlichen Ganzen gegenber den erkenntnistheoretischen, naturwissenschaftlichen und rein politischen Fragennoch zurcktraten. Den Zusammenhang dieses Einen, Unbeant-wortbaren, des Groen, Unbekannten l), den die Metaphysik gewhnlich im Auge hat, pflegt die materialistische Theorie freilichweder als Ausgang noch als Ziel zu nehmen.

    Wenn nun eine an metaphysischen Fragen orientierte Behandlung des Materialismus verfehlt ist, so darf doch das Verhltnisdes Materialismus zur Metaphysik keineswegs etwa als das der prinzipiellen Gleichgltigkeit angesehen werden. Aus dem bisher Gesagten folgt bereits, da die materialistischen Anschauungen mitdem Gedanken einer absoluten Forderung unvertrglich sind. DiescForderung kann sinnvoll freilich nur durch den Glauben an ein absolutes Bewutsein begrndet werden. Sie ist in der neueren Metaphysik sowohl durch die Berufung auf eine bestimmte Seinsverfassung (Spinoza) als auf die Wurzeln des Denkens (deutscher Idealismus) als auf das Wesen des Menschen (religiser Sozialismus)als auf eine Reihe anderer Prinzipien erhoben worden. Sie schlietje nach der gesellschaftlichen Situation, von der aus sie verkndet. wird, die verschiedensten rckschrittlichen oder fortschrittlichenInhalte ein. Immer bt sie die Funktion aus, menschliche, geschichtliche, partikulare Zwecke mit dem Schein der Ewigkeit zu umkleiden,sie zu einem den geschichtlichen Vernderungen selbst nicht Unterworfenen und daher Unbedingten in Beziehung zu setzen. Ihrenotwendige Verbindung mit der Annahme eines absoluten Bewutseins wird zwar gegenwrtig durch die philosophischen Versuche,den Forderungscharakter deskriptiv in der Tiefe der Phnomeneselbst aufzuweisen, verhllt; doch haben alle Denkrichtungen, soweit eine absolute, an jeden einzelnen ergehende Forderung in ihneneine motivierende Rolle spielt, wegen dieser Verbindung idealistischenCharakter. Der Kampf zwischen Materialismus und Metaphysikerscheint heute auch um dieser Problematik willen vor allem alsGegensatz zwischen Materialismus und Idealismus.

    In der bisherigen Geschichte ist die religise und metaphysischeBegrndung irgendwelcher Forderungen immer durch den Kampfgesellschaftlicher Gruppen bedingt worden. Sowohl die herrschendenwie die beherrschten Klassen haben ihre Ansprche nicht blo alsAusdruck ihrer besonderen Bedrfnisse und Wnsche, sondern zu-

    1 Dilthey. J c. S. 207.

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    2 l\iax orkheimefgleich als allgemeinverbindlkhe in transzendenten Instanzen ver-ankerte Postulate als dem ewigen Wesen der Welt und des Menschenangemessene Grundstze verkndigt. Die Lage der Beherrschten hates freilich wenigstens in der neueren Zeit mit sich gebracht dasie ihre Forderungen vielfach nicht unmittelbar verabsolutiertensondern da sie die vorhandene Wirklichkeit als einen Widerspruchzu den von den Herrschenden selbst als gltig behaupteten Prin-zipien hinstellten. Indem sie die universale Durchfhrung der mo-ralischen Prinzipien mittels welcher die bestehende Ordnung be-grndet wurde forderten vernderten sie dann zugleich die Be-deutung dieser Prinzipien ohne da ihre neue metaphysische Be-grndung notwendig geworden wre. Die Forderung nach Anwendungdes Christentums in den Bauernkriegen enthielt einen dem damaligenInhalt des Christentums gegenber vernderten Sinn. Ebenso mudie Forderung e i n ~ r allgemeinen Durchfhrung der brgerlichenGerechtigkeitsidee dazu fhren die Gesellschaft des freien Tauschesdurch deren Vorstellung diese Idce ursprnglich ihren Inhalt g ~ w a n nzu kritisieren und aufzuheben. Der Nachweis des Widerspruchszwischen dem Prinzip der brgerlichen Gesellschaft und ihrem Da-sein bringt die einseitige Bestimmung der Gerechtigkeit durch dieFreiheit und der Freiheit durch bloe Negation ins Bewutsein unddefiniert die Gerechtigkeit positiv durch den Grundri einer ver-nnftigen Gesellschaft. Im Zusammenhang mit diesem Umschlagdes Begriffs der Gerechtigkeit wird dieses ursprnglich als ewig be-hauptete Prinzip in seiner geschichtlichen Entstehung erkannt undals durch die Verhltnisse der Klassengesellschaft bedingter vonbestimmten Menschen hervorgebrachter Gedanke verstanden. In derGegenwart hat sich daher der Kampf um eine bessere Ordnungvon der bernatrlichen Begrndung gelst. Die zu ihm gehrigeTheorie ist materialistisch.Zwischen dem Idealismus der herrschenden und der gegen dieHerrschaft kmpfenden Schichten besteht aber noch ein andererUnterschied. Der Hinweis auf eine absolute Forderung hat nur einen

    ~ i n n sofern das Handeln der Menschen nach ihren innerweltlichenInteressen entweder einer Korrektur oder wenigstens einer Recht-fertigung bed trf. Whrend die Beherrschten durch diesen Hin-weis das Recht auf eine nur durch den Stand der Produktivkrftebegrenzte Triebbefriedigung der Allgemeinheit zu begrnden suchtenwar es den Herrschenden um die Motivierung der Einschrnkungdieses Rechts zu tun. Ganz gewi ist diese Einschrnkung im Lauf

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    Materialismus und Metaphysik 13der Geschichte nicht blo dort mit religisen und metaphysischenArgumenten verfochten worden, wo sie der Entwicklung hinderlich, sondern auch, wo sie fr die Steigerung der gesamtmenschlichenKrfte notwendig und fruchtbar war. Das Auftreten einer irrationalen Begrndung besagt noch nichts gegen die Rationalitt desBegrndeten. Jedenfalls versucht der Materialismus, an die Stelleder Rechtfertigung des Handelns die Erklrung durch das geschicht- .liche Verstndnis der Handelnden zu setzen. Er sieht in dieser Rechtfertigung immer eine Illusion. Wenn die Mehrzahl der Menschen bisjetzt auch ein sehr starkes Bedrfnis danach hegt, wenn sie sich beiwichtigen Entscheidungen nicht blo auf die Gefhle der Emprung,des Mitleids, der Liebe, der Solidaritt berufen mag, sondern ihre Triebkrfte durch die Kennzeichnung als sittliche zu einer absolutenWeltordnung in Beziehung setzt, so ist damit noch keineswegsdie vernnftige Erfllbarkeit dieses Bedrfnisses erwiesen. Das Lebender meisten Menschen ist so elend, der Entbehrungen und Demtigungen sind so zahlreiche, Anstrengungen und Erfolge stehen meistin einem so ungeheuerlichen Miverhltnis, da die Hoffnung, dieseirdische Ordnung mchte nicht die einzig wirkliche sein, nur zu begreiflich ist. Indem der Idealismus diese Hoffnung nicht als das, wassie ist, erklrt, sondern sie zu rationalisieren strebt, wird er zumMittel, den durch Natur und gesellschaftliche Verhltnisse erzwungenen Triebverzicht zu verklren. Kein Philosoph hat tiefer eingesehen, da die Annahme einer transzendenten Ordnung nur aufdie Hoffnung der Menschen zu begrnden ist, als Kant. Der Schlu,

    da etwas sei (was den letzten mglichen Zweck bestimmt), weiletwas geschehen soll l), ist nach ihm eine unausweichliche Konsequenz. Indem er aber diese Hoffnung, die auf Glckseligkeit geht( denn alles Hoffen geht auf Glckseligkeit 2) mcht blo konstatiert, sondern philosophisch unterbaut hat, nherte sich seineursprnglich aufklrerische Vernunftanalyse betrchtlich dem vonihm bekmpften System einer dogmatischen Metaphysik.Wenn aus dem Anspruch auf Glck, den das wirkliche Leben biszum Tode nicht gehalten hat, zuletzt blo die Hoffnung, aber nichtdie Erfllung hervorgeht, so konnte die Vernderung der das Unglck bedingenden Verhltnisse zum Ziel des materialistischenDenken werden. Je nach der geschichtlichen Lage gewann dieses Zieleine andere Gestalt. Angesichts der Entwicklung der Produktivkrfte

    1 Kritik der neuen Vernunft, Kanon, 2. Abschnitt.2 Kant, 1. c.

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    14 ? fax Horkheimerim Altertum waren: auch die materialistischen Philosophen demLeiden gegenber auf die Ausbildung innerer Praktiken angewiesen;Seelenruhe ist die Auskunft in einer Not, vor der die ueren Mittelversagen. Der Materialismus des frhen Brgertums zielte dagegenauf die Vermehrung der. Naturerkenntnis und die Gewinnung neuerKrfte zur Beherrschung von Natur und Menschen. Das Elend derGegenwart aber ist an die gesellschaftliche Struktur geknpft.Darum bildet die Theorie der Gesellschaft den Inhalt des heutigenMaterialismus.Die praktischen Anforderungen wirken auf Inhalt und Form dermaterialistischen Theorie zurck. Whrend die idealistische Lehre ihreverschiedenen Systeme als versuchte Antworten auf die ewig gleicheFrage, das ewig gleiche Rtsel versteht, und es liebt, von dem Gesprchder Philosophen ber die Jahrtausende hinweg zu reden, weil sie jaimmer dasselbe Thema haben, gehrt es zur materialistischen Ansicht,da sie wesentlich durch die jeweils zu bewltigenden Aufgaben be-stimmt ist. Die grte Bedeutung der Philosophie liegt darin, da wirdie vorausgeschauten Wirkungen zu unserem Vorteil nutzen und aufGrund unserer Erkenntnis nach Ma unserer Krfte und Tchtig-keit absichtlich zur Frderung des menschlichen Lebens herbei-fhren knnen. Denn die bloe berwindung von Schwierigkeitenoder Entdeckungen verborgener Wahrheiten sind nicht so groerMhe, wie sie von der Philosophie aufzuwenden ist, wert; und vollendsbrauchte niemand seine Weisheit anderen mitzuteilen, wofern erdamit weiter nichts zu erreichen hofft alle Spekulation geht amEnde auf eine Handlung oder Leistung aus'(1). Das Thema desphysikalischen Materialismus im 17 . Jahrhundert lie noch die ab-schluhafte Gleichung von Wirklichkeit und Krper zu. Heutefhrt die Erforschung des gesellschaftlichen Prozesses auf die Wechsel-wirkung zwischen Menschen und Natur und entfaltet seine fr diekulturellen Verhltnisse bestimmende Rolle. Jene Gleichung wirddamit keineswegs fr ungltig erklrt, 'sondern ihrer Genesis undGestalt nach als abhngig von. den Aufgaben des frhen Brgertumserkannt. Die Lehre von der fundamentalen geschichtlichen Rolleder konomischen Verhltnisse gilt nunmehr als Kennzeichender materialistischen Ansicht, und mit diesem neuen Inhaltist es auch unmglich geworden, irgendeinem obersten Prinzip alsPrinzip abschluhafte Gestalt zu geben. Wenn die Menschen mit

    1) Thomas Hobbes Grundzge der Philosophie Lehre vom Krperbers. von FrischeisenKhler Leipzig 1915. S. 31.

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    Materialismus und Metaphysik 5der Natur auch sich selbst und alle ihre Verhltnisse verndern, danntritt an die Stelle der philosophischen Ontologie und Anthropologieeine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate, die sich ausder Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen l). Die Mglichkeit, mit Hilfe dieser ResultateEntwicklungstendenzen, welche ber die unmittelbare Gegenwarthinausweisen, zu erkennen, berechtigt nicht dazu, die Zusammenfassung einfach auf die Zukunft zu bertragen. Whrend alle Metaphysik die Einsicht in ein Wesenhaftes in dem Sinne erstrebt, dain ihm auch der Kern der Zukunft vorweggenommen ist - was sieentdeckt, mu nie blo der Vergangenheit, sondern immer auchzugleich der Zukunft zugrunde liegen, - abstrahiert der gegenwrtigeMaterialismus nicht durch die Konstruktion berwlbender Begriffe von dem Unterschied der zeitlichen Dimensionen. Selbst dieMglichkeit, aus der Betrachtung der Menschen in der Vergangen.heit bestimmte allgemeine Zge zu gewinnen, fhrt nicht zu ihrerHypostasierung als bergeschichtliche Momente. Die Gesellschaft,von der das Sein des Menschen mit abhngt, ist ein unvergleichbares,sich fortwhrend umstrukturierendes Ganzes, und die hnlichkeitmenschlicher Zge in den bisherigen Geschichtsepochen ermglichtzwar sehr wohl Begriffsbildungen, die fr das Verstndnis gegenwrtiger sozialer Bewegungen entscheidend sind gestattet aber keineswegs, sie als Grund der Gesamtgeschichte zu deuten. Das Verstndnis der Gegenwart ist um so idealistischer, je mehr es sich an einervon genauer psychologischer Kenntnis bewut absehenden Aufstellungsogenannter Urelemente menschlichen Seins anstatt an den konomischen Ursachen der materiellen Not orientiert.

    Ist die materialistische Theorie eine Seite der Anstrengungen zurVerbesserung der menschlichen Verhltnisse, so steht sie damit ohneweiteres zu allen Versuchen; welche die gesellschaftlichen Problemevon untergeordneter Bedeutung erscheinen lassen, in Widerspruch.Nicht blo der jngst aufgetretene Spiritualismus, welcher das Individuum monadologisch hypostasiert und damit die Gestaltung derkonomischen Grundlagen entwertet, sondern alle Bestrebungen, dasGewicht der Einsicht in die irdische Ordnung zu vermindern, indemman den Blick auf eine vorgeblich wesenhaftere lenkt, rufen diematerialistische Kritik immer wieder hervor. Vor allem sieht derMaterialismus in jeder Art von Philosophie, welche die unbegrndbare

    1 Marx-Engels, Die deut.sche Ideologie, Gesamtausgabe Bd. 5, S. 16,erlin 1932.

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    16 Max HorkheimerHoffnung zu rechtfertigen unternimmt oder ihre Unbegrndbarkeitauch nur verschleiert, einen Betrug an den Menschen. Bei allemOptimismus, den er im Hinblick auf die Vernderung der Verhltnisse aufbringen mag, bei aller Einschtzung des Glcks, das ausder Arbeit an der Vernderung und aus der Solidaritt hervorgeht,trgt er also einen pessimistischen Zug an sich. Das vergangene Unrecht ist nicht wieder gutzumachen. Die Leiden der verflossenenGeschlechter finden keinen Ausgleich. Aber whrend in den idealistischen Strmungen der Pessimismus sich heute auf die irdischeGegenwart und Zukunft, d. h. auf die Unmglichkeit des knftigenGlcks der Allgemeinheit zu beziehen und als Fatalismus oder Strmungdes Untergangs zu uern pflegt, trifft die dem Materialismus einwohnende Trauer die vergangenen Geschehnisse. Allgemeine Vermutungen, ob die Erdbevlkerung als Ganzes nicht unter den bisherigen Grundstzen eine Vermehrungstendenz erreicht hat, die dendurch Technik, Wissenschaft und Wirtschaftsfortschritt berhauptmglichen Erweiterungen des Nahrungsmittelspielraums unangemessen ist" ), Gedanken an ein bereits berschrittenes Optimumder technischen Produktivitt an sich, die pessimistischen Vorstellungen von einer Dekadenz der Menschheit, einer "Peripetieihres Gesamtlebens und Alterns" 2 , sind dem Materialismus fremd.Sie spiegeln die Verlegenheit einer die Krfte hemmenden Gesellschaftsform als Ohnmacht der Menschheit wider.Die Behauptung einer absoluten Ordnung und einer absolutenForderung setzt immer den Anspruch auf Wissen vom Ganzen, vonder Totalitt, vom Unendlichen voraus. Ist unser Wissen wirklichunabgeschlossen, besteht eine unaufhebbare Spannung zwischen Begriff und Sein, so darf kein Satz die Wrde vollendeter Erkenntnis inAnspruch nehmen. Wissen vom Unendlichen mu selbst unendlichsein. Eine Erkenntnis, die sich selbst fr unvollendet hlt, ist nichtErkenntnis des Absoluten. Deshalb hat die Metaphysik die Tendenzin sich, die ganze Welt als Vernunftprodukt zu betrachten. Dennvollendet erkennt die Vernunft nur sich selbst. Das immanenteMotiv, das den deutschen Idealismus beherrscht und schon in derVorrede zur Kritik der reinen Vernunft ausgesprochen wird, danmlich in der Erkenntnis apriori den Objekten nichts beigelegtwerden kann, als was das denkende Subjekt aus sich selbst her-

    1 Max Scheler, Die Wissensformen und- die Gesellschaft, Leipzig 1926,S. 166.I ebda., S. 167.

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    Materialismus und Metaphysik 7nimmt" ) oder mit anderen Worten, da die Vernunft nur von sichselbst absolute Erkenntnis gewinnen kann, ist das Geheimnis derMetaphysik berhaupt. Auch der Empiriokritizismus ist ihr darinbeizuzhlen : er behauptet die Empfindungen als das wahre, selbstndige, unbedingte Sein, weil das Wissen von ihnen unmittelbares,d. h. auf sich selbst bezogenes Wissen ist. Wenn die modernste Metaphysik auch ausdrcklich "die Festigkeit eines endgltigen Wissensvom Sein 2 in Frage stellt, so behlt sie doch das absolute Bewutsein als bewegten Widerschein des Innersten der Existenz. Wissenund Gewutes sind in der echten Metaphysik identisch, das Dasein,von dem sie spricht, "ist konstituiert durch Erschlossenheit, d. h.Verstehen'(3). Einzig hierdurch lt sich die Mglichkeit der neuestenwie der alten Metaphysik begrnden, wie vorsichtig jene auch dieIdentitt von Subjekt und Objekt immer fassen mag.

    Der Materialismus besitzt dagegen in der Erkenntnis von der unoaufhebbaren Spannung zwischen Begriff und Gegenstand einenkritischen Selbstschutz vor dem Glauben an die Unendlichkeit desGeistes. Diese Spannung bleibt nicht berall die gleiche. Die Wissenschaft ist ein Inbegriff von Versuchen, sie auf die verschiedensteWeise zu berwinden. Von dem Augenblick an, wo sie den Anteildes Subjekts an der Bildung der Begriffe mit in Rechnung stellt,nimmt sie das Bewutsein ihrer Dialektik in sich auf. Ein dialektischer Proze ist dadurch gekennzeichnet, da er sich nicht alsWirkung aus einzelnen gleichbleibenden Faktoren begreen lt;seine Momente verndern sich vielmehr fortwhrend gegenseitigin ihm selbst, so da sie nicht einmal radikal voneinander zu unter-scheiden sind. So ist die Entwicklung des menschlichen Charakterszwar sowohl durch die konomische Situation als durch die individuellen Krfte des bestimmten Individuums bedingt. Beide Mo-mente bestimmen sich aber selbst fortwhrend, so da in der Gesamtentwicklung keines von ilmen als wirkender Faktor darzustellenist, ohne das andere mit in diese Darstellung hineinzunehmen .hn-liches gilt fr die Wissenschaft als realen Proze. Ihre Begriffe sindgewi durch die Objekte bedingt, gleichzeitig aber auch durch diesubjektiven Faktoren der Forschung, wie durch die Methoden unddie Richtung des theoretischen Interesses. Trotz der Notwendigkeitfr die Wissenschaft, den subjektiven Anteil fortwhrend zu be-

    ') Vorrede zur 2. Auflage.2 Karl Jaspers, Philosophie, 2. Bd., Berlin 1932, S. 200.3 Heidegger, Sein und Zeit. In: J ahrb. f Philos. und phnomenolog.Forschung, 8. Bd., Halle 1927, S. 230.

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    18 Max Horkheimerstimmen und dadurch die Differcnz zu berwinden, lt sich niedas Subjekt vom Objekt vollkommen reinlich scheiden oder, wasdasselbe heit, Wissen und Gegenstand radikal zur Deckung bringen,es sei denn in der begrifflosen Empfindung, wo sie unmittelbar identisch sind. Die theoretische Aktivitt der Menschen, ebenso wie diepraktische, ist nicht die unll-bhngige Erkenntnis eines festen Gegenstands, sondern ein Produkt der sich verndernden Realitt. Sogarin einer frei sich selbst bestimmenden Gesellschaft mte die wennauch noch so allmhlich sich verndernde Natur einen der Identittwiderstrebenden Faktor bilden. Die Physik ist ein Abstraktionsprodukt handelnder Menschen, sie lt sich auf knftige Erfahrungimmer nur als vielfach bedingte Hypothese, nie als Spiegelung einesangeblichen Wesens der Naturgeschichte beziehen.

    In dem kantianischen Begriff der unendlichen Aufgabe ist etwasvon dieser Erkenntnis enthalten, aber er unterscheidet sich von derdialektischen Auffassung u. a. dadurch, da als Erfllung der Aufgabe ein rein intellektueller und geradliniger Progressus erscheint,der zwar die Entfernung vom Ziel nie berwindet, aber dafr dasZiel, nmlich die Totalitt, "soweit wir sie erstreben und postulierendrfen" ), in Wahrheit schon voraussetzt. Die Subjekt-ObjektRelation ist aber im Gegensatz zu dieser Lehre nicht durch dasBild zweier konstanter, begrifflich vllig durchleuchteter und sicheinander nhernder Gren zu beschreiben, vielmehr stecken inden von uns als objektiv bezeichneten subjektive und in densogenannten subjektiven auch objektive Faktoren, und zwar so,da wir zum historischen Verstndnis einer bestimmten Theoriedas Ineinanderspielen beider, also menschlicher und auermenschlicher, individueller und klassenmiger, methodologischer undgegenstndlicher Momente darzustellen haben, ohne jedes dieserMomente von den anderen in seiner Wirksamkeit restlos isolierenzu knnen. Fr das Zusammenspiel der bei den einzelnen Theorienzu bercksichtigenden Krfte gibt es keine allgemeine Formel, sieist in jedem Fall selbst zu erforschen. Wenn man auch die Naturforschung, die sich im Lauf der brgerlichen Gesellschaft in theoretischer Vereinheitlichung und Technik besttigt, ganz mit Rechtals Annherung der Wissenschaft an die Realitt beschreiben mag,so wird andererseits das Bewutsein, da sowohl diese Beschreibungwie die in ihr verwendeten Kategorien mit der Arbeit und Inter-

    1 Vgl. H. Cohen, Logik der reinen Erkenntnis 2. Auf ., Berlin 1914,S. 532/33.

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    Materialismus und Metaphysik 19essenrichtung der gegenwrtigen Menschen zusammenhngen, zwarder Wahrheit jener Feststellung keinen Eintrag tun, aber verhindern,da etwa die Begriffe Annherung und Realitt zu einem die Ge-samtgeschichte berwlbenden Schema gebraucht und zum Ge-danken eines unendlichen Progressus oder Regressus verewigt werden.Bei Kant selbst ist dieser Gedanke vorwiegend noch kritisch ge-fat und bedeutet zunchst nichts anderes als den Mangel einer be-stimmten Grenze fr die Erforschung ineinandergreender. Bedin-gungen. Seine Idee eines intuitiven Verstandes fhrt jedoch, obgleichdieser ein Problem ist l), notwendig zu jener Vorstellung einesgeradlinigen Erkenntnisprozesses, denn wenn es auch nur denkbarist, da einem solchen "intellectus archetypus" ein uns unerkenn-barer, bersinnlicher Realgrund fr die Natur gegeben wre under das Naturganze als System" 2 , so, da keine Korrektur mehrmglich wre, also unmittelbar, vor sich htte, dann kannfreilich die ordnende Wissenschaft auf ihrem Weg stehen bleiben,ja auch einmal einige Schritte nach rckwrts tun, aber das,was sie zu erkennen strebt, ist durch die menschlichen Begeben-heiten, zu denen sie selbst mit hinzugehrt, nicht vernderlich,es ist der Zeit nicht unterworfen. Nach Kant ist ja die fruns Menschen bestehende Notwendigkeit, da wir zeitlich, d. h.nacheinander wahrnehmen, nicht in den Dingen an sich selbstbegrndet, sondern gleichsam eine Gebrechlichkeit des en.dlichenSubjekts. Die Zeit ist lediglich eine subjektive Bedingung. unserer menschlichen Anschauungen ( , und an sich, auer demSubjekte, nichts" 3 . Sogar ich selbst bin nach Kant in Wahrheitnicht in der Zeit, denn wenn ich selbst oder ein anderes Wesenmich ohne diese Bedingung der Sinnlichkeit anschauen knnte,so wrden eben dieselben Bestimmungen, die wir uns jetzt alsVernderungen vorstellen, eine Erkenntnis geben, in welcher dieVorstellung der Zeit, mithin auch der Vernderung, gar nicht vor-kme. Die Zeit ist darum nicht etwas an sich selbst, auch keineden Dingen objektiv anhngende Bestimmung" 4 . Diese LehrenKants stehen dem dialektischen Begriff der Erkenntnis als einesnur im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Dynamik zu be-stimmenden unselbstndigen Prozesses entgegen. Natrlich mssenBegrfe wie Theorie und Erkenntnis jeweils eine klare Bedeutung

    1) Kant, K. d. r. Vern., 2. Auf ., S. 344.2 Kant, K. d. Urt., 2. Auf ., S.351/52.8 Kant, K. d. r. Vern., 2. Auf . S. 51.4 Kant, K. d. r. Vern., 2. Aufl., S. 54 und Anmerkung.

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    20 Max Horkheimerhaben, nur auf Grund von wenn auch groben Aufweisen oder Definitionen lassen sie sich verstehen und anwenden. Aber derdialektische. Materialismus begreift solche Bedeutungen als im Zusammenhang der gegenwrtigen Situation gebildete Abstraktionenaus dem Material der Vergangenheit und nicht als feste, unvernderliche, der Zukunft zugrundeliegende Elemente. Die wissenschaftlichen Gedanken der Menschen, ebenso wie die von derWissenschaft erkannte und zu erkennende Natur werden zwarauch knftig als Momente der historischen Dynamik eine Rollespielen. Aber da sie ebensosehr vom Gesamtproze her bestimmtund verndert werden, wie sie ihn als Produktivkrfte bestimmenund verndern, so kann die Anwendung der im Zusammenhang mitder gegenwrtigen Situation gebildeten Definitionen, d h. die gegenwrtige Bedeutung dieser Begriffe, einmal sinnlos werden, und dasBild eines ausschlielich durch die einfachen Gren Erkenntnisund Gegenstand konstruierten unendlichen Prozesses erscheint daher als Verabsolutierung abstrakter Bedeutungen. Die Verabsolutierung zeigt sich als die andere Seite der bertriebenen Relativierung der Wissenschaft durch manche kantianische und viele andereidealistische Strmungen. Die Verlegung der Zeitlichkeit in das erkennende Subjekt oder in den Grund der Existenz raubt derWissenschaft die Mglichkeit, die Subjekte selbst als in die Ge-schichte einbezogen zu erkennen, oder sie setzt die historische Erkenntnis als blo empirische und die Sachen selbst gar nichtbetreffende herab. Um ihr berhaupt die Wrde der Wahrheit zuverleihen, hat Kant diese blo auf Erscheinungen beschrnkteWissenschaft dann durch den Gedanken der unendlichen Aufgabeauf die Totalitt oder auf das An-Sich der Dinge bezogen.Wenn sich aber, wie es notwendig ist, die kritische Analyse nichtblo auf die wissenschaftliche, sondern auch auf die philosophischeArbeit richtet, dann verfllt ihr zwar die dogmatische Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich, ebenso wie die i r entsprechende von wissenschaftlichen und philosophischen Begriffen,aber die Erkenntnis tritt dafr selbst als geschichtliches Phnomenhervor. Im Gegensatz zu manchen weltanschaulichen Folgerungendes Kritizismus fhrt daher die konsequente Anwendung der kantischen Kritik zur Ausbildung der dialektischen Methode. Hegelhat sie entfaltet, aber zugleich als in seinem eigenen System zumAbschlu gekommen betrachtet. Deshalb wird sie bei ihm nichtauf das WiSSE D dE'l Gegenwart, sondern nur ltuf die vergangenen

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    lIfaterialiHmus und Metaphysik 21Theorien wirklich angewandt. Hegel ist darin Idealist da er seinSystem absolut setzt doch er hat das gedankliche Werkzeug geschaffen um diese Verkehrtheit zu berwinden. Die richtige Anwendung der Methode bedeutet nicht einfach da nun das HegelschcSystem oder berhaupt die in e ~ Gegenwart herrschenden Anschauungen genau so zu behandeln wren wie Hegel die vergangenenbehandelt hat, vielmehr verlieren sie alle den Stufencharakter zumAbsoluten hin den bei Hegel auch die frheren Lehren wegen seinesGlaubens da die Dialektik bei ihm ihren Abschlu gefunden habenoch an sich tragen. Indem Feuerbach Marx und Engels die Dialektikaus ihrer idealistischen Gestalt lsten gewann der Materialismusdas Bewutsein der sich fortwhrend verndernden und doch nichtaufhebbaren Spannung seines eigenen Denkens zur Realitt und damitden ihm eigenen Begriff der Erkenntnis. Selbstverstndlich leugnet eralso nicht das Denken. Auch den Materialisten des 17 und 18 Jahr-hunderts lag dies fern. Aber er fate es im Gegensatz zumIdealismusimmer als das Denken bestimmter Menschen in einer bestimmtenZeit. Er bestreitet seine Autonomie.

    Wenn der Materialismus die soeben bezeichnete abstrakte Vorstellung der Dialektik entwickelt ja wenn er sich berhaupt aufsein Verhltnis zu diesen allgemeinen Fragen besinnt entspringtdies weniger einer ihm selbst einwohnenden Dynamik als dem Bedrfnis der Kritik welche die Metaphysik dureh ihre gesellschaftliche Funktion hervorruft. Es geht ihm nicht um Weltanschauungauch nicht um die Seele der Menschen sondern um die nderungder bestimmten Verhltnisse unter denen die Menschen leiden undihre Seele freilich verkmmern mu. Dieses Interesse selbst ltsich zwar historisch und psychologisch begreifen aber nicht allgemeinbegrnden. Es gibt weittragende Formulierungen die fr den Materialismus uerst wichtig sind. Jene abstrakten Formulierungen dagegen zu welchen ihm die idealistische ThemasteIlung den kritischenAnla gibt haben blo mittelbare Bedeutung. Die Metaphysik erklrt das Allerallgemeinste z B. die Elemente wclche allen Menschenaller Zeiten aller Orte aller Gesellschaftsschichten ja womglichallem Dasein eigen sind zum Konkreten . Sie berbietet sich imHervorbringen immer neuer Lehren immer neuer Entwrfe umdieses Letzte Ursprngliche Konkrete zu entdecken und auf eshinzuweisen. Der Materialismus ist in solchen Entwrfen verhltnismig unproduktiv weil er sich wenig von ihnen fr seine Aufgabenverspricht. Whrend der Idea.Iismus wegen der selbstndigen Be-

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    22 Max Horkheimerdeutung, die das Geistige fr ihn besitzt, sich damit beschftigt,die eigenen Voraussetzungen stndig von neuem in Frage zu ziehen ,

    ist die Prfung der eigenen Voraussetzungen im Materialismusdurch wirkliche Schwierigkeiten, in welche die von ihnen ab-hngige Theorie gert, motiviert. Er ist in diesen Fragen viel wenigerradikal als die idealistische Philosophie.

    Dies kommt auch im Gegensatz gegen sie selbst zum Ausdruck.Nicht die Systeme als Ganze werden von ihm angegriffen, sonderndie Behauptung eines ursprnglichen Sinnes des Geschehens. Dieseliegt nicht blo bei ausgefhrten Sinndeutungen, sondern schonberall dort vor, wo von einer ursprnglichen und magebendenStruktur der Welt oder des Menschen die Rede ist, gleichgltig obdiese Struktur als Gegenstand oder als Geflecht von aller Gegen-stndlichkeit vorhergehenden Akten gelten soll. Eine so gearteteAnthropologie mu notwendig davon absehen, da die Richtung derAbstraktion oder des entdeckenden Verfahrens, mittels welcherdie Kenntnis der grundlegenden Strukturen jeweils gewonnen wird,selbst einer bestimmten geschichtlichen Situation zugehrt, d. h. dasProdukt eines dialektischen, niemals in sauber voneinander getrenntesubjektive und objektive Elemente zu zerfllenden Prozesses ist;sonst knnte ihr Ergebnis sich selbst nicht als unmittelbare Einsichtin den Grund der Existenz anstatt als eine dieses Spannungscharaktersbewute Theorie verstehen. Die an diese Hypostasierung von Er-kenntnissen notwendig gebundene Behauptung eines erfllten oderzu erfllenden Sinnes oder Seins und die von ihr abhngigen Zgeder Systeme stehen zum Materialismus in Gegensatz. Viele so-genannte materialistische Lehren tragen solche Zge an sich, besondersjene, welche mit der Behauptung der Ursprnglichkeit der Materieeine Verehrung der Natur oder des Natrlichen verbinden, gleich-sam als ob das Ursprngliche oder Selbstndige an sich besonderenRespekt verdientel).Andererseits enthalten viele idealistische Systeme wertvollemateriale Erkenntnisse, welche trotz der weltanschaulichen Absichtenihrer Urheber wichtige Elemente des wissenschaftlichen Fortschrittsdarstellen. Die Dialektik selbst ist idealistischer Herkunft. MancheEntwrfe der modernen Metaphysik haben als Modelle zur Beur-teilung der gegenwrtigen Menschen, als Hypothesen , wie Dilthey

    1 Hufig erscheint dieser Pantheismus freilich als leicht ablsbare Form,so wenn der tapfere Vanini Natura, quae Deus est sagt, und in Klammernhinzufgt enim principium motus (De admirandis naturae reginacdeaeque mortalium arcanis, libri quattuor, Lutetiae 1616. S. 366).

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    Mat.el ialismus und Metaphysik 23selbst die Systeme der Vergangenheit bezeichnetl), hchste Bedeutung. Der idealistische Zug eines Werkes kommt hufig in scheinbaren Kleinigkeiten zum Ausdruck: etwa in der Anwendung einesder Idee autonomer Erkenntnis zugeordneten Pathos, in der Wichtigkeit, mit welcher lngst vergangene Philosophen und ihre Probleme,der Unwichtigkeit, mit welcher die reale Not der Gegenwart undihre Ursachen behandelt werden. Die Bedeutung, welche die Hervorhebung dieser feinen Unterschiede des Denkens, ja berhaupt dieUnterscheidung zwischen Materialismus und Idealismus hat istnicht systematisch zu begrnden, sondern ergibt sich erst im Zusammenhang mit der Rolle dieser Strmungen in der Gegenwart.Nicht da der Idealismus flschlich den Geist unendlich setzt, sondernda er damit auch die Vernderung der materiellen Existenzbedingungen der Menschen zu etwas Sekundrem stempelt, ltdiese intellektuellen Differenzen so stark hervortreten.Der Materialismus fordert die Vereinigung von Philosophie undWissenschaft. Er anerkennt zwar arbeitstechnische Unterschiedezwischen allgemeineren philosophischen und einzelwissenschaftlichEmAufgaben, ebenso wic Unterschiede zwischen den Methoden derForschung und der Darstellung, aber nicht zwischen denen der Wissenschaft berhaupt und der Philosophie als solcher. Dies bedeutetkeineswegs, da die einzclnen gegenwrtigen Wissenschaften oder garihr eigenes Bewutsein von sich selbst, ihre Wissenschaftstheorie alsder heute hchste Grad von Einsicht hinzunehmen wren. Infolgeder bestehenden Verhltnisse ist vielmehr der herrschende Wissenschaftsbetrieb von wichtigen Einsichten abgeschnitten und bewahrteine veraltete Form. Die Beurteilung, wie weit Gesamtstruktur undBeschaffenheit der einzelnen Wissenschaften der realisierbaren Er-kenntnis entsprechen, ist selbst ein kompliziertes theoretisches Problem. Es kann nicht ein fr allemal entschieden werden. Weil im17 und 18 Jahrhundert die gesamte Wissenschaft auf der mechanischenNaturlehre beruhte, ja sich fast in ihr erschpfte, lie der damaligeMaterialismus als einziges Wissen von der Wirklichkeit die mathematisch-mechanische Naturwissenschaft gelten. Seine Erkenntnisund Methodenlehre n t s p r ~ h dieser berzeugung. Schon der physikalische Materialismus der Vogt und Haeckel im 19 Jahrhunderthat jedoch das Bestreben, Philosophie und positive Wissenschaft zuvereinigen, praktisch aufgegeben, indem zu ihrer Zeit die mechanische Naturlehre keineswegs mehr mit dem Inhalt der Wissenschaft

    1) Dilthey. 1 c., S. 97.

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    24 Max HOl'kheimerzusammenfiel, sondern gegenber den Gesellschaftswissenschaftenstark an aktueller Bedeutung verloren hatte. Sie wurden nun auchfr die Methodologie entscheidend. Der haeckelsche rein naturwissenschaftliche Monismus ist daher ein Pseudo-Materialismus, wassich auch in seiner weltanschaulichen, von der geschichtlichen Praxisablenkenden Funktion kundgibt. Wenn aber Max Scheler den Materialismus im Jahre 1926 noch zu der Reihe von Auffassungen, die denErkenntniswert der mechanischen Naturlehre berschtzen", rechnet,und behauptet, da er die "siebenfache Relativitt der formalmechanischen Natur- und Seelenbetrachtung bersah und den Mechanismus darum zu einem ,Ding an sich' machte"l), so hat er offenbarden Sinn der materialistischen Forderung der Vereinigung von Wissenschaft und Philosophie vollstndig miverstanden. Dieser ist dasgenaue Gegenteil der Verabsolutierung bestimmter Wissensinhalteund fordert vielmehr, da jede Erkenntnis zwar keineswegs als blowillkrliches Erzeugnis, aber doch als Vorstellung bestimmter Menschen in einem bestimmten geschichtlichen Augenblick genommenwerde, eine Vorstellung, die freilich vom Produkt zur Produktivkraftwerden kann. Keineswegs ist der Materialismus auf eine bestimmteAuffassung von der Materie festgelegt, vielmehr entscheidet darberkeine andere Instanz als die fortschreitende Naturwissenschaft selbst.Ihre Ergebnisse sind nicht blo im Hinblick auf die ihrem zuknftigen Gang immanenten Korrekturen relativ, sondern auch insofern,als die Physik zwar die allgemeinsten Formeln fr die Erfahrungeiner bestimmten Gesellschaft ber das raum-zeitliche Geschehengewinnt, aber stets den nie restlos zu entziffernden Stempel ihrersubjektiven Herkunft an sich trgt.

    Durch diesen Begriff der \Vissenschaft unterscheidet sich derMaterialismus vom Positivismus und Empiriokritizismus des 19. Jahrhunderts. Der Umstand, da der Positivismus seit seinem Entstehen in der Aufklrung bei Turgot und d'Alembert 2 "le dogmegeneral de l'invariabilite des lois naturelles"3) enthielt und zwar dieAbhngigkeit des Handclns von der jeweiligen Kenntnis der natrlichen Ordnung, aber nicht die Abhngigkeit sowohl der Ordnungwie ihrer Kenntnis von der Aktivitt der Mensc):J.en ins Bewutseinhob, mute ihn notwendig dazu fhren, die Wissenschaft selbstbei allem Glauben an ihren Fortschritt unhistorisch zu fassen. Dieser

    1) Max Schele ", Die 'Vissensformen und die Gesellschaft, 1. c . S. 299ff.2) Vgl. d. Aufsatz VOll G. Misch, Zur Entstehung des franz. Positivismus,Archiv f Gesch. d. Phi los., 14.3) Aug. Comto, Discours sur I'esprit posjt,if, Paris, HJO l, 22.

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    lIlaLerialismus und Metaphysik 25Mangel bliebe bestehen, selbst wenn der besonders im Empiriokritizismus ausgebildete, aber fr den gesamten Positivismus magebendeGlaube an die Zusammensetzbarkeit der Welt aus Elementen, alsderen "vorlufig"l) letzte die Empfindungen gelten, etwa durch einemodernere Auffassung abgelst werden sollte. Ernst Machs Ansichtunterscheidet sich trotz seiner weitgehend pragmatischen Auffassung der Wissenschaft im Hinblick auf die Ungeschichtlichkeit derErkenntnis nur wenig von der kantianischen. Auch nach ihm istder ganze Zeitverlauf nur an Bedingungen unserer Sinnlichkeit

    gebunden" 2 . Daraus folgt zwar nicht, wie manche materialistischeAutoren meinen, da es vor den Menschen keine Natnr gegeben htte,d. h. der Widerspruch gegen die Naturgeschichte. n dem subjektiv entworfenen Zeitsehema mu die Gattung Mensch keineswegs die erstenStellen besetzen, sondern sie kann sehr wohl hinter einer unbegrenztlangen Vorgeschichte eingeordnet werden. Doch verhindert dann dieBehauptung der Subjektivitt der Zeit die Gleichsetzung des erkennenden Subjekts mit den endlichen Menschen. Auch der Empiriokritizimus deckt sich insofern mit der idealistischen Metaphysik als erein von der Zeit unabhngiges Subjekt voraussetzt. Deshalb trifft diematerialistische Kritik mit ihrem Hinweis eine entscheidende Schwchedieser Lehre.Aber es besteht noch ein weiterer Unterschied zwischen allenmaterialistischen und positivistischen Richtungen. Dieser trittzwar gerade in den Arbeiten Machs nicht sehr deutlich herver, weiler persnlich, ohne da freilich sein subjektivistischer Standpunktdie Notwendigkeit dazu enthielte, von der neuen Bescheidenheit derWissenschaftler vor der Spekulation frei gewesen ist3 ). Der Positivismus ist nmlich stolz darauf, da er sich nicht um das "Wesen"der Dinge, sondern nur um die Erscheinungen, also darum., was unstatschlich von ihnen gegeben sei, bekmmere. " . . . tous les bonsesprits reconnaissent aujourd'hui que nos etudes reelles sont strictement circonscrites a l'analyse des phenomtmes pour decouvrir leurslois effectives, c'esta-dire leurs relations constantes de suecession

    1 Vg . E. Mach, Die Analyse der Empfindungen , 9. Auf ., Jena 1922,S. 24, und Erkenntnis und Irrtum , 4. Auf ., Leipzig 1920, S. 275.2) E. Mach, Die Analyse der Empfindungen. 1. c., S. 270.,3 Siehe zu dieser Bescheidenheit u. a. H. Poincare in der aufschlureichen Sammlung Le Materialisme actueI , Paris 1918, S. 50/51: " . . . t.antque Ia science est imparfaite, Ia liberte eonservera une petite pIaee et si eeHeplace doit sans cesse se restreindre, c'en est assez pourtant pour que, de Ia,elle puisse tou t dir iger; or, Ia science sera tou jours imparfaite, antque I'esprit se distingue de son object. il ne saurait Ie connaitre parfaitement"puisqu'il n en verra jamais que I 'exter ieur . l(Sperrungen von 111 H.

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    26 Mux Horkheimerou de similitude, et ne peuvent nullement concerner leur natureintime, ni leur cause, ou premiere ou finale, ni leur mode essentielde production l). Auch John Stuart Mill definiert in seiner Logik dieKrper als die verborgene uerliche Ursache, auf welche wirunsere Empfindungen beziehen . Nach seiner Ansicht kennen w rvon der Natur des Krpers und des Geistes zufolge der besten jetztexistierenden Lehre nichts, als die Gefhle, welche der erstere erregt und die der letztere erfhrt . Ein Krper ist das geheimnisvolle Etwas, das den Geist zu fhlen anregt, der Geist ist das mysteriseEtwas, das fhlt und denkt 2 . Durch diese Lehre von der notwendigen Beschrnkung der Wissenschaft auf Erscheinungen odervielmehr durch Herabsetzung der erkannten Welt zu einem nurueren schliet der Positivismus grundstzlich seinen Frieden mitjeder Art von Aberglauben. Er bringt die sich in der Lebenspraxis bewhrende Theorie um ihren Ernst. bersteigert die nichtpositivistischeMetaphysik die Idee ihrer eigenen Erkenntnis, indem sie sinngemihre Autonomie behaupten mu, so setzt der Positivismus die nachseiner Ansicht allein mgliche Erkenntnis zu einer Sammlung uerlicher Daten herab. Den Widerspruch zwischen der metaphysischenKennzeichnung der erkannten Wirklichkeit als Erscheinung undueres einerseits und andererseits seiner angeblichen Vorsicht, inwelcher jene undialektische Trennung freilich schon enthalten ist,pflegt er auerdem zu bersehen. Das Wahre nicht zu wissen undnur das Erscheinen des Zeitlichen und Zuflligen - nur das Eitle zuerkennen, diese Eitelkeit ist es, welche sich in der Philosophiebreitgemacht hat und in unseren Zeiten noch breit macht und dasgroe Wort fhrt'(3). Was Hegel gegen die Aufklrung einwendet,richtet sich heute vor allem gegen die freilich in der Aufklrungentstandene positivistische Philosophie. Er selbst hat keineswegs,wie es in dieser Formulierung scheinen knnte, Wahrheit und Wissenvon Zeitlichem voneinander getrennt, sondern im Gegenteil - darinliegt seine grte Tiefe - das Wissen von Zeitlichem als Zeitlichemzum eigentlichen Inhalt der Philosophie gemacht. Sein Idealismusbesteht freilich in dem Glauben, da eben diese Bezeichnung vonEtwas als einem Endlichen oder Beschrnkten den Beweis von der

    1 A. Comte, Cours de philosophie positive, 5e edition, Paris 1893, Bd.II.,S. 338.2 J. St. Mill, System der deduktiven nnd induktiven Logik, bers.v. J. Schiel, Braunschweig 1862, I. Tl., S. 74/76.3 Hegels Anrede an seine Zuhrer bei Erffnung seiner Vorlesungenin Berlin am 22. Oktober 1818, Werke, Vollst. Ausg., VI. Bd., Berlin1843, S. XXXIX.

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    MaLerialitill1l18 unu MeLaphysik 27wirklichen Gegenwart des Unendlichen, Unbeschrnkten ent-hlt, da Wissen von Grenze nur sein kann, insofern das Unbegrenztediesseits im Bewutsein ist" ). Doch Hegel ist der echten Aufklrung trotz seiner Gegnerschaft gegen sie dadurch verwandterals der Positivismus, da er kein der menschlichen Erkenntnis grundstzlich unzugngliches Gebiet fr die bloe Ahnung freigibt. DerPositivismus dagegen ist sich seiner Duldsamkeit in dieser Hinsichtwohl bewut, ja er hat die Bedeutung seines Namens ausdrcklichauch als Gegensatz gegen das Negative , d. h. gegen die Verneinungsolcher Ahnungen verstanden wissen wollen. Die gesunde Philosophie,sagt Oomte, beseitige zwar die notwendig unlsbaren Fragen, abersie sei dabei unparteiischer und duldsamer als ihre Gegner, sie untersuche die Bedingungen der Dauer und des Niedergangs vergangenerGlaubenssysteme, "sans prononcer jamais aucune negation absolueO'est ainsi qu'elle rend une scrupuleuse justice non seulement auxdivers systemes de monotheisme autres que celui qui expire aujourd'huiparmi nous, mais aussi aux croyances polytheiques, ou meme'fetichiques, en les rapportant toujours aux phases correspondantesde l'evolution fondamentale 2). Das historische Verstndnis jenerVorstellungen bedeutet hier zugleich die Anerkennung des demWissen prinzipiell unzugnglichen, in die historische Dialektik nichteinbezogenen Gebiets, auf das sie sich beziehen.Auch der a ~ e r i a l i s m u s sucht alle geistigen Gestaltullgenhistorisch zu begreifen. Aber aus seiner Einsicht, da es keinunendliches Wissen geben knne, folgt fr ihn nicht die Unparteilichkeit gegenber dem jeweiligen Anspruch des endlichen,es doch zu sein. Mit der Erkenntnis der Beschrnktheit des Denkens sind keine Gebiete gesetzt, auf die es nicht anzuwenden wre;diese positivistische Meinung ist vielmehr selbst ein Widerspruch.Da wir nicht alles wissen, heit ganz und gar nicht, da das,was wir wissen, das Unwesentliche, und das, was wir nichtwissen, das Wesentliche sei. Diese Fehlurteile, durch die derPositivismus bewut seinen Frieden mit dem Aberglauben undseinen Unfrieden mit dem Materialismus gemacht hat, lassen Bergsons Erniedrigung des theoretischen Denkens und die Entstehungder modernen intuitionistischen Metaphysik als Folge der positivistischen Philosophie erscheinen. Der Positivismus ist in Wirklichkeit der Intuitionsmetaphysik viel verwandter als dem Materialis-

    1 Hegel, Enzykl., 60.') Aug. Comte, Discours sur I'esprit positif, 1. c., S. 62.

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    8 Mnx HOl'khcilllormus, mit dem ihn 'diese flschlicherweise zusammenzubringen pflegt.Wenn auch seit der Jahrhundertwende der Positivismus gegenberder herrschenden Metaphysik als nicht konkret , in Wahrheit nichtspiritualistisch genug erscheint, handelt es sich doch bei beiden umzwei verschiedene Phasen einer die natrliche Erkenntnis entwertenden, abstrakte begriffliche Strukturen hypostasierenden Philosophie.Begrndet doch Bergson, wie die Lebensphilosophie berhaupt, seineMetaphysik der duree auf die Behauptung einer unmittelbaren, durchIntrospektion festzustellenden Begebenheit, nur da diese Gegebenheitbei Bergson nicht aus voneinander abgehobenen Elementen, sondernim lebendigen, durch Intuition zu erfassenden Flu des Lebens bestehen soll. Die Metaphysik der Elemente, die Interpretation der Wirk-1ichkeit als Inbegriff ursprnglich isolierter Gegebenheiten, das Dogma.von der Unwandelbarkeit der Naturgesetze, der Glaube an die Mglichkeit eines abschlieenden Systems sind die speziellen metaphysischen Thesen des Positivismus, die subjektivistische Behauptungder unmittelbaren, ursprnglichen, theoriefreien Gegebenheiten alswahrer Wirklichkeit hat er mit dem Intuitionismus ebenso gemeinsamwie das Beiwort nur , durch das beide die auf rationelle Voraussicht gerichtete, von ihnen freilich mechanistisch miverstandeneTheorie beschrnken mchten. Im Kampf gegen den Materialismussind sie daher miteinander ganz einig. Ja, wenn die Wehrlosigkeit dieserPhilosophie vor allen supranaturalistischen Strmungen besonderskra n ihrer Ohnmacht vor Spiritismus und Okkultismus, diesenkruden Formen des Aberglaubens, zum Ausdruck kommt, so hatBcrgson darin noch einen Vorzug vor Comte. Die inhaltliche Metaphysik besetzt ja mit ihren eigenen Spekulationen die transzendentenGebiete, so da sie, wie Comte ihr vorwirft, gegen die herrschendenLehren vom Jenseits n'a jamais pu ~ t r que critique l). Bergsonmu daher erst ausdrcklich versichern, die Transexistenz des Bewutseins sei si probable que l'obligation de la preuve incomberaa celui qui nie, bien plutOt qu'a celui qui affirme , und die echtePhilosophie fhre uns peu apeu aun etat qui equivaut pratiquementa la certitude 2). Comte dagegen ist kraft seiner Gleichsetzung derWirklichkeit mit subjektiven Gegebenheiten, mit bloen Erscheinungen von vornherein gegenber allen behaupteten Erlebnissenund Erfahrungen des bersinnlichen grundstzlich machtlos. In

    ') Aug. Comte, Discours sur 1 esprit positif, 1 c., S. 51.2 Bergson, L'.me et le corps, in dcr schon erwhnten Sammlung Le

    l\Iaierialisme aetuel , S. 47/48. .

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    Materialismus und Metaphysik 29der Gegenwart ist die mehr positivistische und die mehr intuitionistische Spielart dieser durch die Konsequenz des Okkultismusgekennzeichneten Philosophie kaum noch zu unterscheiden. Nach HansDriesch ist es klar, da seine Lehre allem ,Okkulten' nicht nur nichtwiderspricht, sondern ihm geradezu den Weg bereitet l). Bergsonscheut sich nicht, in seinem neuesten Buch zu versichern, "que sil'on met en doute la realite des 'manifestations telepathiques' parexemple, apres les milliers de depositions concordantes recueillies surelles, c'est le temoignage humain en general qu'il faudra declarerinexistant aux yeux de la science: que deviendra l'histoire? Under hlt es fr gar nicht unmglich, "qu'une lueur de ce monde inconnunous arrive visible aux yeux du corps'(2). Ja, er erwgt ernsthaft,da von solchen Nachrichten aus der anderen Welt eine vlligeUmwandlung der Menschheit ausgehen knne. Die Vernachlssigung des theoretischen Faktors zugunSten der bloen unmittelbaren Gegebenheit bringt die Wissenschaft vllig um illre aufklrende Wirkung. "Wo die Empfindung in ihrer angeblichenSelbstndigkeit als Kriterium der Wirklichkeit gilt, da kann dieUnterscheidung zwischen Natur und Spuk ins Schwanken kommen 3).Die Nachfolger Comtes, besonders die Empiriokritizisten und dielogistische Schule, haben ihre Terminologie so verfeinert, da derUnterschied zwischen den bloen Erscheinungen, mit denen sich dieWissenschaft zu beschftigen hat, und dem Wesentlichen nicht mehrin ihr vorkommt. Aber die Entwertung der Theorie macht sich aufdie verschiedenste Weise geltend, so z. B. wenn Wittgenstein inseinem brigens hervorragenden Tractatus Logico-Philosophicus4)erklrt: "Wir fhlen, da selbst wenn alle mglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme nochgar nicht berhrt sind. Freilich bleibt dann ehen keine Frage mehr;und eben dies ist die Antwort Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische. Auch der Materialismus glaubt, wie oben dargelegt, keineswegs, da die Lebensprobleme rein theoretisch lsbar seien, aber es ist nach ihm auch undenkbar, da auf andere Weise der "Sinn des Lebens nach langenZweifeln klar S) werden knnte. Es gibt weder "das Mystische ,noch,..den "Sinn des Lebens .

    1) H. Driesch, Philosophie des Organischen, Leipzig 1921, S. 387.} H. Bergson, Les dellx sources de la morale et de la religion, Paris1932, S. 342.} H. Cohen, Logik d. reinen Erkenntnis, 2. Auf ., Berlin 1914, S. 490.4} London 1922, S. 1 ~ 6 ) Wittgenstein, 1. c.

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    30 Max HorkheimerDer Materialismus hat mit der positivistischen Lehre gemein,

    da er als wirklich nur anerkennt, was sich in sinnlicher Erfahrungausweist. Seit seinem Entstehen enthlt er den Sensualismus insich. Was wir im Geiste schauen, nimmt alles seinen Ausgang vonden sinnlichen Wahrnehmungen , sagt Epikur1) . Wenn dualle sinnlichen Wahrnehmungen verwirfst, so wirst du auch nichtsmehr haben, worauf du dich bei deinem Urteil ber diejenigen be-ziehen knntest, von denen du behauptest, da sie falsch seien 2).

    Diese erkenntnistheoretische Lehre hat der Materialismus wh-rend seiner Geschichte beibehalten. Sie dient ihm als kritische Waffegegen dogmatische Begriffe. Jede Behauptung bedarf der Bewhrungin sinnlicher Erfahrung. Aber der Materialismus verabsolutiert nichtden Sensualismus. Die Forderung des Ausweises jeder Existenzdurch die Sinnlichkeit bedeutet nicht, da diese selbst sichim historischen Proze nicht verndere oder gar ihre Elementeals die festen Bausteine der Welt zu betrachten seien. Wennder Aufweis durch sinnliche Erfahrungen jeweils notwendig mitzur Begrndung von Existenzialurteilen gehrt, so sind diesinnlichen Erfahrungen noch lange nicht identisch mit den kon-stanten Elementen der Welt. Abgesehen davon, da die Theoriestets mehr ist als bloe Sinnlichkeit und sich nicht restlos auf Emp-findungen zurckfhren lt, ja, da nach der neuesten Entwicklungder Psychologie die Empfindungen weit entfernt davon, die elemen-taren Bestandteile der Welt oder auch nur des psychischen Lebenszu sein, vielmehr selbst erst durch einen komplizierten Abstraktions-proze jeweils aus der Destruktion gestalteter psychischer Gebildeals Derivate zu gewinnen sind3) , darf die Beschaffenheit unserer Sinn-lichkeit keineswegs verewigt werden. Sie ebenso wie die Beziehung desSubjekts zu den Gegebenheiten ist bedingt und vernderlich.Schon innerhalb der Gegenwart gibt es den Widerstreit zwischenden Konstatierungen der einzelnen Subjekte, und dieser ist keines-wegs blo durch Majoritt, sondern mit Hilfe der Theorie zu schlichten.Sinnliche Erlebnisse bilden die Grundlage der Erkenntnis, berallsind wir auf sie angewiesen, aber Entstehung und Bedingungen derErkenntnis sind nicht zugleich Entstehung und Bedingungen derWelt.

    1) Die Nachsokratiker, bers. v. Nestle, Jena 1923, Bd. 1., S. 183.8 Ebenda, S. 213.3 Vgl. hierzu z. B. H. Corneli us, Transzendentale Systematik, Mnchen1916, S. 154: An die Stelle der Vereinigung eines zuvor Getrennten inder ,Synopsis des Mannigfaltigen durch den Sinn' tritt die Trennung der

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    Materialismus und Metaphysik 3Wenn die positivistischen mit fast allen anderen philosophischen

    Strmungen gegen den Materialismus zusammenstimmen so hngtdies freilich nicht blo mit den soeben besprochenen Unterschiedensondern auch mit der materialistischen Lehre von der Lust zusammen.Da die Handlungen nach dem Materialismus nicht notwendig auseiner letzten absoluten These folgen wurde zu zeigen versucht. DerMaterialist wird zwar zur Begrndung seiner Entscheidungen je-weils auf mehr oder weniger allgemeine Sachverhalte verweisenaber er sieht nicht davon ab da auch unter Voraussetzung der vonihm angefhrten Bestimmungsgrnde nur bei hnlichen psychischenSituationen hnliche Entscheidungen zu erwarten sind. DieseSituationen haben selbst ihre gesellschaftlichen und individuellenBedingungen sie sind geschichtlich geworden und daher lt sichaus der Gltigkeit einer bestimmten Erkenntnis ohne Bercksichti-gung der tatschlichen psychischen Verfassung keineswegs ein be-stimmtes Handeln als notwendig herleiten. Diese materialistischeAnsicht hat nicht blo die negative Bedeutung der Ablehnung einermetaphysisch zu begrndenden Moral sondern ist von den Materia-listen stets so verstanden worden da das Streben der Menschennach ihrem Glck als eine natrliche keiner Rechtfertigung be-drftige Tatsache anzuerkennen sei. Inwiefern nur eine naive ko-nomistische Psychologie dieses Streben nach Glck blo im Sinneiner Befriedigung grobmaterieller Bedrfnisse verstehen kann istin dieser Zeitschrilt durch die Arbeiten von Erich Fromm eingehenddargelegt worden. Die Struktur der Bedrfnisse in den verschiedenenGesellschaftsformen bei den einzelnen sozialen Gruppen wie bei denIndividuen ist vernderlich und nur im Hinblick auf eine bestimmteTeile vermge der Unterscheidung innerhalb des unmittelbar gegebenenGanzen des Bewutseinsverlaufs ... ; Koffka , Psychologie, in: DiePhilosophie in ihren Einzelwissenschaften, Berlin 1925 S. 548: DieEmpfindungen, die der Psychologie solange zugrunde lagen, sind . . nichtAusgangspunkte, sondern Endpunkte einer Entwicklung, letzte Erzeugnissedes Isolierungsprozesses, der die natrlichen Grenzgegebenheiten auf-spaltete, Einzelgebilde, dafr in einer Durchgestaltung, die sie als natrliehe Glieder des Ausgangsganzen nicht besitzen. .. Die Empfindungensind also gewi Kunstprodukte ... ; Werthe imer , ber Gestalttheorie,im Symposion, Bd. I, Heft 1: Man sieht, da das, was primitiv ist, waseigentlich zugrunde liegt was voran liegt mit unserem Sptder iva t , mitunserem Kulturprodukt von Empfindungen, wenig zu tun hat . Diessind nur zufllig ausgewhlte Stellen aus relativ spten Arbeiten. Vgl. vorallem Koffka Zur Psychologie der Wahrnehmung , in: Geisteswissen-schaften , 1914 sowie die gesamte gestalttheoretische Literatur, wo imGegensatz zur blo philosophischen Ablehnung der psychischen Elementen-lehre strenge Nachweise fr die Unselbstndigkeit der Empfindungen inexperimentellen Arbeiten verstreut zu finden sind.

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    32 Max HorkheimerZeit und eine konkrete Situation darzustellen. Die bekannten undunbekannten Kmpfer mit materialistischer Gesinnung, ~ e l h eseit Jahrtausenden um der verschiedensten Ziele willen, zumeistaber aus Solidaritt mit den leidenden Menschen, Freiheit undLeben verloren haben, beweisen, da die Sorge um das eigeneleibliche Wohl mit dieser Denkrichtung nicht enger verknpft istals mit jeder anderen. Durch die Ablehnung der Illusionen eineridealistischen Metaphysik waren sie jeder Aussicht auf einen individuellen Lohn in der Ewigkeit, also eines wichtigen egoistischen Antriebs, der sonst in Wirksamkeit ist, beraubt. Die immer wiederholten Versuche, aus ihrer reinen Hingabe an die Interessen der Menschheit einen Widerspruch zu der von ihnen bekundeten materialistischenberzeugung zu konstruieren, entbehren jedes philosophischen Rechts.Wegen der zu solchen Miverstndnissen fhrenden einfachen Psychologie, welche den meisten um eine absolute Moral besorgten Lehren zugrunde liegt, sagt heute der Materialismus richtiger, da alle Menschennach Glck, nicht da sie nach Lust streben. Auch haben sie jaweniger ihre Lust, als das, was ihnen Lust macht, im Auge; jeder istauch bei den einfachen Dingen, wie Hegel es von den sogenanntengeistigen sagt, gewohnt, sich um die Sache, nicht zum Vergngen,d. h. mit der bestndigen Reflexion der Beziehung auf sich als einzelnen, sondern als Sache 1) zu bekmmern. Der Materialismuslehnt es jedoch ab, deswegen einen Unterschied zwischen Glck undLust zu machen, weil die Befriedigung der Lust, im Gegensatz zuhheren Motiven, der Begrndung, Entschuldigung oder Rechtfertigung bedrfte. Diese Rechtfertigung kann in einer bestimmtenGesellschaft fr bestimmte Handlungen durchaus zweckmig sein,aber dann nur im Hinblick auf eine selbst gesetzte oder sonst vorhandene Autoritt, nicht auf Grund einer unbedingten Ordnung.Da die Menschen durch elementare Lust- und Unlustreaktionenbestimmt sind, ist vielleicht keine sehr treffende psychologischeBeschreibung, aber doch ein guter Hinweis auf jenen Tatbestand, ber den sich der Materialismus im Gegensatz zur idealistischenGeisteshaltung nicht emprt. Obgleich auch einzelne sonst idealistischePhilosophen, z: B. Hegel, hier mit dem Materialismus ganz bereinstimmen, wirkt dieser Punkt in Verbindung mit dem Mangel einerSinndeutung der Welt wohl als ein Motiv dafr, da untereinanderganz entgegengesetzte Richtungen den Materialismus immer wieder

    J Hegel, Vorlesungen b. d. Geschichte d. Philosophie Ir . Bd.Jubilumsausgabe Bd. 18, S. 465.

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    Materialismus und Metaphysik 33auf die offenkundig unhaltbare methaphysische These von der ausschlielichen Wirklichkeit der Materie bringen, um ihn dann mitleichter Mhe zu widerlegen.

    Der Materialismus der Gegenwart ist nicht vornehmlich durch dieformalen Zge, welche gegenber der idealistischen Metaphysikhervorzuheben sind, gekennzeichnet, sondern durch seinen Inhalt:die konomische Theorie der Gesellschaft. Erst auf Grund der Abstraktion jener Formen aus diesem Inhalt treten sie an den vergangenen Ansichten als heute wichtige Kennzeichen hervor. Dieverschiedenen materialistischen Lehren sind daher keine Beispieleeiner feststehenden Idee. Die konomische Theorie der Gesellschaftund der Geschichte ist nicht aus rein theoretischen Motiven, sondernaus dem Bedrfnis entstanden, die gegenwrtige Gesellschaft zu begreifen; denn diese Gesellschaft ist dazu gelangt, eine immer grereAnzahl Menschen von dem auf Grund des allgemeinen Reichtums anwirtschaftlichen Krften mglichen Glck abzusperren. m Zusammenhang damit bildet sich auch die Vorstellung einer besserenWirklichkeit, welche aus der heute herrschenden hervorgeht, und dieserbergang wird zum Thema der gegenwrtigen Theorie und Praxis.An Idealen fehlt es dem Materialismus daher nicht. Sie bestimmen sichim Zusammenhang mit den Bedrfnissen der Allgemeinheit und werdengemessen an dem, was mit den vorhandenen menschlichen Krftenin sichtbarer Zukunft mglich ist. Aber der Materialismus verzichtetdarauf, diese Ideale der Geschichte, und damit auch der Gegenwart, als von den Menschen unabhngige Ideen zugrunde zu legen.Dieses Bestreben des Idealismus tut der Geschichte mehr Ehre anals der Idee. Die Ideale knnen zu bewegenden Krften werden,soweit nmlich die Menschen darangehen, sie aus bloen, wenn auchbegrndeten Vc,r;ltellungen zur Wirklichkeit zu machen. Aber dieGeschichte selbst hat darum bis jetzt nicht aufgehrt, ein Inbegriffvon Kmpfen zu sein. Selbst im Hinblick darauf, da es gelingenmag, die Ideale zu verwirklichen, verzichtet der Materialismus darauf,

    das, was geschehen ist und geschieht, dies Einmalige, Zuflligeund Momentane auf einen wert- und sinnvollen Zusammenhang l)zurckzubcziehcn, wie es die Geistesgeschichte tut. Er wird daher VOlldiese , wie von der Metaphysik berhaupt, kaum verstanden werdenknnen.