Click here to load reader
Upload
duongtruc
View
212
Download
0
Embed Size (px)
Citation preview
Marsilius-Sommer schule: „Neue Interdisziplinäre Anthropologie:
Leib – Geist – Kultur“
Thiemo Breyer, Gregor Etzelmüller, Thomas Fuchs,
Thomas Holstein, Grit Schwarzkopf, Klaus Tanner, Michael Welker
Auszug aus dem Jahresbericht
„Marsilius-Kolleg 2012/2013“
UniversitätHeidelbergZukunftseit 1386
marsilius kolleg
95Breyer / etzelmüller / fuchs / Holstein / schwarzkopf / tanner / Welker
Der Mensch als Wesen, dessen Lebensform auf einzigartige Weise seine bio-
logische Ausstattung mit seiner fähigkeit zur kulturbildung verbindet stand im
Mittelpunkt der sommerschule 2012 des Marsilius-kollegs. Organisatoren, Refe-
renten und teilnehmer der tagung diskutierten insbesondere, wie der traditio-
nelle Dualismus von natur und kultur in anti-reduktionistischer Absicht über-
wunden werden könnte. Als entscheidender Ansatz hierfür
wurde die Verkörperung des menschlichen Geistes (embodi-
ment) thematisiert und aus unterschiedlichen Zugängen inter-
disziplinär diskutiert. Der Leib fungiert in dieser Betrachtungs-
weise als Medium, in dem sich arttypische Merkmale, die sich
aus dem evolutionären Prozess der Menschwerdung (Homini-
sation) ergeben, mit mentalen inhalten, die Bestandteile der
kultur sind, verbinden.
Die sommerschule bot 30 nachwuchswissenschaftlern
aus Geistes-, kultur- und naturwissenschaften die Möglich-
keit, ihre forschungsprojekte mit führenden experten auf den
Gebieten der evolutionsbiologie, Anthropologie, ethnologie,
soziologie, Philosophie und theologie zu diskutieren und ein-
blicke in aktuelle fragestellungen der Wissenschaften vom
Menschen zu erhalten. Als Referenten konnten die biologi-
sche Anthropologin ursula Wittwer-Backofen (freiburg), die
Paläoanthropologin Miriam Haidle (tübingen), die entwick-
lungspsychologin sabina Pauen (Heidelberg), der evolutions-
und kognitionspsychologe Daniel Haun (Leipzig), der neuro-
physiologe Andreas Draguhn (Heidelberg), die Philosophen
Hans-Peter krüger (Potsdam) und Matthias Jung (koblenz-
Landau) sowie der ethnologe stefan Beck (Berlin) gewonnen
werden. Die teilnehmer waren nachwuchswissenschaftler (Doktoranden und
Postdoktoranden) aus Deutschland, der schweiz, Österreich und italien. etwa
die Hälfte der teilnehmer beschäftigen sich in ihren forschungsarbeiten mit
Geistes- und sozial-/kulturwissenschaften, die andere Hälfte mit naturwissen-
schaften und technischen Wissenschaften. Diese Zusammensetzung bot eine
anregende interdisziplinäre Diskussionsgrundlage.
Marsilius-
Sommer schule:
„Neue Inter-
disziplinäre
Anthropologie:
Leib – Geist –
Kultur“ thiemo breyer gregor etzelmüllerthomas Fuchsthomas Holsteingrit schwarzkopfKlaus tannerMichael Welker
96 97
Wissenschaftliches Programm:
Das wissenschaftliche Programm der sommerschule gliederte sich in drei sek-
tionen mit entsprechenden Leitfragen: (1) evolutionstheoretische Grundlagen, (2)
embodiment, (3) Leib und kultur. Jede sektion bestand aus drei Modulen:
- Vorträge der Referenten mit anschließender Diskussion (je 90 Minuten)
- Gruppen- und textarbeit, in der zentrale texte der Referenten sowie klassi-
sche texte zum sektionsthema besprochen wurden (je 120 Minuten). für die
Gruppen- und textarbeit wurde als Arbeitsgrundlage vorab ein Reader mit
klassischen und zentralen texten zusammengestellt.
- Projektvorstellungen der teilnehmenden, in denen diese ihre eigenen Arbei-
ten zur Diskussion stellten.
Die sektion 1. über evolutionstheoretische Grundlagen befasste sich mit der
frage nach der biologischen entwicklung des Menschen im Rahmen der erd-
geschichte und der entstehung von Lebewesen. Von ursula Wittwer-Backofen
wurden zur erhellung dieser frage zunächst unterschiedliche Hominisationssze-
narien vorgestellt und die entwicklung arttypischer Merkmale in evolutionären
Zeiträumen herausgearbeitet. ergänzt wurde diese biologisch-anthropologische
Herangehensweise durch den Vortrag von Daniel Haun, der sich aus evolutions-
psychologischer sicht mit dem Mensch-tier-Vergleich anhand der kognitiven
fähigkeiten von Primaten auseinandersetzte. Hierbei wurde schon deutlich, dass
dasjenige, was die Philosophie traditionell als das Wesen des Menschen zu defi-
nieren versuchte, nur durch den vertikalen Vergleich mit nicht-menschlichen
Lebensformen ebenso wie den horizontalen Vergleich der menschlichen kulturen
untereinander angemessen verstanden werden kann. ein aktuell kontrovers disku-
tiertes thema, nämlich das Verhältnis von Vernunft und emotion, aufgreifend,
führte Andreas Draguhn in die moderne Hirnforschung ein und plädierte für einen
intensivierten Dialog zwischen neurologie, Philosophie und Anthropologie. tho-
mas Holstein richtete den fokus seines Beitrags zum Abschluss dieser sektion
dann noch einmal zurück auf die ursprünge des Lebens und zeigte, wie sich evo-
lutionär uralte strukturen in den unterschiedlichen stadien der Ontogenese auch
des modernen Menschen erhalten haben und fortwährend aktualisiert werden.
in der sektion 2. über embodiment trat die Verkörperung des menschlichen
Geistes in den Vordergrund der Betrachtung. Aus entwicklungspsychologischer
neurobiologische, psychologische und kulturwissenschaftliche Aspekte kreativen Prozesses Breyer / etzelmüller / fuchs / Holstein / schwarzkopf / tanner / Welker
98 99
Anderen fungierendes Medium begriffen werden muss. Miriam Haidle illustrierte
weiterhin anhand paläontologischer funde den stellenwert des Werkzeug-
gebrauchs für die entwicklung kognitiver und kultureller fähigkeiten. Das metho-
dologische Problem, dass aus archäologischen Daten nicht direkt eine theorie des
Verhaltens abgeleitet werden kann, wurde intensiv diskutiert. es zeigte sich, dass
die Daten selbst erklärt werden mithilfe einer theorie des Verhaltens, die für die
Gegenwart entwickelt und in die Vergangenheit übertragen wird.
Den abschießenden Vortrag der sommerschule hielt thomas fuchs zum
thema „Verkörperung, sozialität und kultur“. unter der these, dass der mensch-
liche Leib einerseits das „natürliche subjekt“ darstellt, andererseits aber von vorn-
eherein auf Zwischenleiblichkeit bzw. intersubjektivität hin angelegt ist, wurden
unterschiedliche ebenen der Leiberfahrung (z. B. fungierender Leib, pathisch-
triebhafter Leib, mimetischer Leib und inkorporativer Leib) differenziert. Dies
stellte eine weitere systematisierung dar, anhand derer auch in der Abschlussdis-
kussion bereits thematisierte Phänomene geordnet wurden. insgesamt zeigte sich,
dass für das Projekt einer „neuen interdisziplinären Anthropologie“ auch eine
umdeutung des naturbegriffs notwendig wird: Die natur gehört zu unserer leibli-
chen subjektivität, die menschliche natur ist phylogenetisch wie ontogenetisch
aber nicht ohne ihre einbettung in die menschliche kultur zu begreifen.
sicht wandte sich sabina Pauen in ihrem Vortrag der frage zu, ob schon Babys
ein Personenkonzept haben und wie dieses evtl. durch zwischenleiblichen kontakt
mit der primären Bezugsperson erworben wird. es zeigte sich, dass die natürliche
Angelegtheit des Menschen auf verkörperte interaktion in besonderem Maße die
entwicklung sozial-kognitiver fähigkeiten ermöglicht. Das so markierte Verhältnis
von natürlichen und geistigen Aspekten des Menschen wurde von Michael Welker
anschließend aus theologischer Perspektive aufgegriffen. sein Vortrag themati-
sierte die Anthropologie des Paulus im Hinblick auf die Leitfrage „Was ist ein geis-
tiger Leib“? Hierbei erschien das paulinische konzept des Herzens (kardia), das
einerseits fleischlich ist, andererseits kognitive, emotionale und voluntative funkti-
onen verbindet, für eine realistische Verhältnisbestimmung von Biologie und Anth-
ropologie besonders attraktiv. ebenso war das paulinische konzept des Geistes,
der eine Mannigfaltigkeit von erinnerungen und imaginationen beherbergt und
eine Vielzahl von individuen mit ihren energien verbindet, anschlussfähig für die
fragestellungen der sommerschule. im unterschied zur theologischen unter-
suchte Hans-Peter krüger sodann die philosophische Anthropologie, die sich als
Denkströmung im 20. Jahrhundert entwickelt hat und die Dualität von Leib und
körper als grundlegende struktur des menschlichen Wesens charakterisiert.
Anhand einiger von Helmuth Plessner aufgenommener Grundeinsichten in die
exzentrizität menschlicher selbst-, Welt- und fremdbezüge wurde der Begriff des
embodiment weiter geschärft.
Die sektion 3. zum thema Leib und kultur wurde von Matthias Jung eröffnet,
der den Übergang von leiblicher Präsenz zu reflexiver Distanzierung untersuchte.
Die anthropologisch zentrale fähigkeit, aus der Befangenheit leiblicher Befindlich-
keiten herauszutreten und diese in reflexiver einstellung zu betrachten und zu
bewerten, wurde phänomenologisch herausgearbeitet und am Begriff der „Artiku-
lation“ expliziert. Die Artikulation von Bedeutung setzt schon bei der natürlichen
Ausstattung des Menschen ein, nämlich in der spezifischen Gegliedertheit des
körpers, die auf kommunikation angelegt ist und expressivität ermöglicht. im
anschließenden Vortrag von stefan Beck wurde eine Ausweitung des Verkörpe-
rungsbegriffs auf den Raum vorgenommen. unter dem stichwort „emplacement“
wurde die ökologische und sozial-kulturelle einbettung menschlicher kognition
herausgestellt. Dabei zeigte sich einmal mehr, dass der menschliche Geist nicht
als in sich abgeschlossenes solipsistisches informationsverarbeitungssystem ver-
standen werden kann, sondern als in ständiger interaktion mit der Welt und den
Marsilius-sommer schule 2012: „neue interdisziplinäre Anthropologie: Leib – Geist – kultur“ Breyer / etzelmüller / fuchs / Holstein / schwarzkopf / tanner / Welker
100 101
Lebenswelt und der Medien vor dem Hintergrund von politischen und kulturellen
konflikten erlebt wird, sowie der Möglichkeiten, in dieser konstellation Beziehun-
gen zu führen. es kann als künstlerische Reflexion auf die frage des menschli-
chen umgangs mit der Variabilität von kulturen und Zeiterfahrungen verstanden
werden, eine frage, die aus wissenschaftlicher sicht auch in der sommerschule
einen zentralen stellenwert einnahm.
Fazit:
Die sommerschule hat bei teilnehmenden, Referenten sowie Organisatoren
großen Anklang gefunden. Zwar war das Programm straff und die komplexität
des zu bewältigenden stoffes sehr hoch, doch konnten einige der anthropologi-
schen Grundfragen, die sich im interdisziplinären kontext gestellt haben, einer
zumindest streckenweisen Beantwortung durchaus näher gebracht werden. Der
enge kontakt zwischen nachwuchswissenschaftlern und ausgewiesenen
ex perten, das angenehme Arbeitsklima im internationalen Wissenschaftsforum
Heidel berg (iWH) sowie die fachliche Zusammensetzung des gesamten teams
wurden von allen Beteiligten als Bereicherung erfahren. Positiv hervorgehoben
werden sollte auch, dass auch sechste Marsilius-sommerschule von der unter-
stützung und förderung durch die BAsf se profitierte. insgesamt kann die
sommerschule als großer erfolg gewertet werden und es bleibt zu hoffen, dass
das gewählte format fortgesetzt wird und entsprechende unterstützung findet.
Das Marsilius-kolleg der universität Heidelberg dankt
der BAsf se für die freundliche unterstützung.
Marsilius-sommer schule 2012: „neue interdisziplinäre Anthropologie: Leib – Geist – kultur“
Abendvortrag:
im Rahmen der sommerschule konnte mit Hans Joas einer der renommiertes-
ten deutschen soziologen für einen öffentlichen Abendvortrag gewonnen werden,
der sich im schnittfeld von Anthropologie und Religionssoziologie mit der kulturel-
len funktion von Ritualen beschäftigte. Der Vortrag mit dem titel „Das Ritual und
das Heilige. Überlegungen zur Anthropologie kollektiver idealbildung“ fand am 27.
Juli in der Alten Aula statt. Am folgenden Vormittag wurde noch ein Workshop mit
Prof. Joas abgehalten, bei dem die teilnehmer Rückfragen zum Vortrag stellen
konnten und in intensiver Diskussion sein neues Buch „Die sakralität der Person“
besprachen. Dieses Gesprächsformat hat sich als besonders lebendig und frucht-
bar herausgestellt.
rahmenprogramm:
Als kulturelle umrahmung und ergänzung zur wissenschaftlichen Auseinan-
dersetzung mit anthropologischen themen wurde am 25. Juli in seiner Premieren-
woche das gefeierte theaterstück „Zeitstillstand“ von Pulitzer-Preisträger Donald
Margulies im Zimmertheater Heidelberg besucht. Das stück ist der Versuch einer
Darstellung des heutigen Lebensgefühls, wie es durch die Beschleunigung der
Breyer / etzelmüller / fuchs / Holstein / schwarzkopf / tanner / Welker
Fellows am Marsilius-Kolleg vom 1.03.2012 bis 28.02.2013
Prof. dr. Monika bobbertinstitut für Geschichte und ethik der Medizin der universität Heideberg
Prof. dr. gerhard dannecker institut für deutsches, europäisches und internationales strafrecht und
strafprozessrecht der universität Heidelberg
Pd dr. tom M. ganten Abteilung innere Medizin iV des universitätsklinikums Heidelberg
Prof. timo goeschl, Ph.d. Alfred-Weber-institut für Wirtschaftswissenschaften der universität Heidelberg
Prof. dr. Annette Kämmerer Psychologisches institut der universität Heidelberg
Prof. dr. Anton F. Koch Philosophisches seminar der universität Heidelberg
Prof. dr. thomas Kuner institut für Anatomie und Zellbiologie der universität Heidelberg
Prof. dr. thomas MaissenHistorisches seminar der universität Heidelberg
Prof. Jörg Oechssler, Ph.d. Alfred-Weber-institut für Wirtschaftswissenschaften der universität Heidelberg
Prof. dr. Matthias Weidemüller Physikalisches institut der universität Heidelberg
Prof. dr. stefan Wiemann Abteilung Molekulare Genomanalyse des Deutschen krebsforschungszentrums
Heidelberg
Prof. dr. Michael Wink institut für Pharmazie und Molekulare Biotechnologie der universität Heidelberg
Auf dem Gruppenbild sind außerdem abgebildet:
Prof. dr. Wolfgang schluchter (Direktor des Marsilius-kollegs)
Prof. dr. Hans-georg Kräusslich (Direktor des Marsilius-kollegs)
tobias Just (Geschäftsführer des Marsilius-kollegs)
fellows am Marsilius-kolleg vom 1.03.2012 bis 28.02.2013
v.l.n.r.: Anton F. Koch, Matthias Weidmüller, Michael Wink, Tom M. Ganten, Jörg Oechssler, Gerhard
Dannecker, HansGeorg Kräusslich, Annette Kämmerer, Thomas Kuner, Thomas Maissen, Tobias Just, Timo
Goeschl, Monika Bobbert, Wolfgang Schluchter, Stefan Wiemann
103