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Max Brod zu Gott...— 8 — schmalen mädchenhaften Hände, sie gehen weich über ein Klavier: er erzählt von Musik, von den tschechischen Künstlern, von Smetana und Janacek, den

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Max BrodTycho Brahes Weg

zu Gott

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Max Brod Ausgewählte Werke

Herausgegeben von Hans-Gerd Kochund Hans Dieter Zimmermann

in Zusammenarbeit mit Barbora Šramkováund Norbert Miller

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Max BrodTycho Brahes Weg

zu GottRoman

Mit einem Vorwort von Stefan Zweig

WALLSTEIN VERLAG

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Gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung Köln und unterstützt vom Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds

sowie dem deutschen Auswärtigen Amt

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet

diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Wallstein Verlag, Göttingen 2013www.wallstein-verlag.de

Vom Verlag gesetzt aus Aldus RomanUmschlaggestaltung: Susanne Gerhards, DüsseldorfDruck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen

ISBN (Print) 978-3-8353-1334-7ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-2450-3

ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-2451-0

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Inhalt

Vorwort (Stefan Zweig) . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Kapitel 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17Kapitel 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38Kapitel 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53Kapitel 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65Kapitel 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80Kapitel 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101Kapitel 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114Kapitel 8 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147Kapitel 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195Kapitel 10 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246Kapitel 11 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280Kapitel 12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311

Nachwort (Roland Reuß) . . . . . . . . . . . . . . . 317

Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326Über den Autor 327

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Vorwort

Es wäre verlockend, einmal das Bildnis all jener Dichter zu zeichnen, deren Kraft erst allmählich aus einer an-fänglichen Zartheit gewachsen ist. Denn noch erscheint der Irrtum verbreitet, Jugend sei bei jedem Künstler ge-walttätige Zeit, Mut, der in Übermut hinüberschießt, strömendes und frech aufpochendes Selbstvertrauen, der Bakkalaureus im Faust. Aber ist in Wahrheit nicht jene andere Jugend der Dichter unendlich häufiger, die in wunderbarer Scheu vor den Dingen beginnt, mit zarter Melancholie, mit einem süßen und sehr befangenen Er-schrecken vor der Vielfalt der Aufgaben und einer Zag-heit gegen die eigene, noch ungeprobte Kunst? Vielleicht ist in Dichtern dieser verhaltenen Art die Kraft nicht minder gegenwärtig schon als in den andern, die laut und stürmisch sich gebärden: nur der Mut ist in ihnen noch nicht reif, die Dinge zu bestehen und ihnen erhobener Stirn entgegenzutreten. So war Rainer Maria Rilkes Be-ginn, eine Zagheit zuerst, ein unendliches Leisesein und Sichniederneigen zum Kleinen, ein Sichbescheiden in der Demut allen Anfangs. Und so hat sein Landsmann, Max Brod (1884 zu Prag geboren), im Schatten der gleichen Häuser, im Schatten derselben Demut ein Jahrzehnt spä-ter sein stark aufsteigendes Werk begonnen. Noch sehe ich ihn, wie ich ihn das erstemal sah, einen Zwanzigjäh-rigen, klein, schmächtig und von unendlicher Beschei-denheit. Ich sehe ihn in seiner beglückten Freude, Prag, die geliebte und bezaubernde Stadt, einem Fremden erst-malig zeigen zu dürfen und von all seiner strömenden Liebe zu heroisch vergangener Welt zu erzählen. Seine

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schmalen mädchenhaften Hände, sie gehen weich über ein Klavier: er erzählt von Musik, von den tschechischen Künstlern, von Smetana und Janacek, den er für die Welt entdeckte, immer aber von andern, niemals von sich und seinen selbstgeschaffenen Liedern und Sonaten. Man fragt ihn nach seinem Werke: statt aller Antwort rühmt er einen völlig unbekannten Franz Kafka als den wirk-lichen Meister neuzeitlicher Prosa und Psychologie. Man spricht von seinen Versen, aber er wehrt ab: auf der Schulbank säße einer, der Franz Werfel heiße, dieser sei einer der größten lyrischen Dichter unserer Zeit. So war er damals, dieser junge Dichter, vollkommen hingegeben an alles, was ihm groß schien, an das Fremde, Erhabene und Wunderbare in jeder Form und Gestalt, im Vergan-genen wie erst im ungewiß sich Entformenden.

Um ihn stand eine uralte Stadt, gefüllt mit Geschichte und Geheimnis, die Riesenburg des Hradschin, in der einst Kaiser über Europa geboten, und scheu sieht der junge Mensch zu dem Gewaltigen auf: wie dürfte man wagen, diese Vergangenheit zu bewältigen, wie gegen ein so Hoheitsvolles und Weiträumiges mit seinen kleinen Kräften bestehen? Nein, das ist zu groß: so wendet sich der Beginnende zunächst an das Kleine. Mit jener wun-derbaren Zartheit, die ihm eigen ist, gleichsam mit einer Tuschfeder zeichnet er zunächst nur winzige Ausschnitte seiner Umwelt hin: das Schicksal eines tschechischen Dienstmädchens, die Näherinnen in einer kleinen Schnei-derei, ein Stück Landaufenthalt, ein paar Verse, sordiniert hingesprochen in einen leisen Raum, ganz persönliche Sprache voll Reinheit des Klangs und des Herzens. Alles dies schon mit vollendetem Kunstsinn, intime zärtliche Gebilde ganz besonderer neuartiger, ja schon expressio-nistischer Eigenform; nur der entschlossene Vorsprung

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fehlt noch darin, über das Detail hinweg in die Zusam-menhänge, aus dem Täglichen hinüber ins Heroische, aus dem Linden und Leisen des Bekennens sich in die Leiden-schaft der Forderung, der moralischen Postulate hinüber-zuwagen. Nein, nur nicht zu stark Anteil nehmen, es risse einen sonst mit, und man hat dazu noch kein Recht. Dieser »Indifferentismus«, dies Sichwehren gegen das mächtig Mitreißende bezeichnet auch seinen ersten großen Roman »Schloß Nornepygge«, der voll ist von bezaubernden Im-pressionen, ein erster deutscher Pointillismus der Psycho-logie. Auch in der Gefühlswelt versucht er sich vorerst im kleinen, im Detail, im Nicht-zu-weit-Ausschwingenden zu bewähren, und so gilt Max Brod uns allen lange Jahre als einer der erlesensten Kleinkünstler deutscher Sprache: seine Essays wie seine Novellen, seine Gedichte wie seine Musik, alle haben sie gleiche Helligkeit des Geistes bei gleicher Verhaltenheit des Gefühls. Alle haben sie, eben durch dies Neuartige des Tonfalls, durch die seelische Offenheit, auf seine Generation gewirkt, auf Werfel vor allem, und manches, das später den Expressionisten als Entdeckung zugeschrieben wurde, war hier in Keim und edel enthüllter Blüte vorbildliche Form geworden. Schon ist die Kühnheit da, aber sie bekennt sich nur zu sich selbst, sie hebt noch nicht die Stimme entschlossen und selbstgewiß in die Welt.

So beginnt dieser Dichter: mit Zartheit, mit Demut, gleichsam mit immer gesenktem Haupt. Seine Augen-lider sind noch geblendet von jedem überstarken Licht, und scheu beugt er sie nieder: man kann ihm lange dar-um nicht bis ganz hinab in die Seele sehen. Es fehlt ihm eines zu seinem vielfältigen Können – es ist der edelste Mangel dieser Art Jugend: Mut zur Entscheidung, Mut zur Vehemenz gegen die Welt. Und plötzlich ist auch die-

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ser ihm gegeben. Denn der Krieg stößt mit seiner ganzen Gewalt gerade auf diese Generation, der wir angehören, und mitten hinein in unser Leben und weckt in uns etwas auf, das noch nicht ganz in uns zur Besinnung gekom-men: das Gefühl der Verantwortung. Ein Reich stürzt ein, das ein Jahrtausend bestanden, Geschichte, sie ist plötz-lich nah mit schmetterndem Flügelschlag, entscheiden-des Geschehnis füllt jede Stunde bis zum Rand. Und man empfindet sofort: gegen dieses Ungeheure wäre alles Spielen mit kleinen Dingen zynisch und unentschuldbar. Hier sind endlich Probleme gegeben, Probleme, denen man nicht ausweichen darf, und zu denen man Stellung aus seinem eigenen Blut, mit seinem eigenen Geist fin-den muß. Jedweder Indifferentismus, das empfindet Max Brod sofort, wie immer man ihn bislang betrieben, wäre nun eine Feigheit der Seele, und mit endlich entschlosse-nem Mut stellt er sich kühn, Blick in Blick gegen die Ge-genwart und geradeaus zu all seinen Vergangenheiten. Die große Güte, die in ihm immer lag, die aber gewisser-maßen nur privat hilfreich war, nun erst strömt sie füllig ein in sein Werk, um ihm wieder zu entströmen. Mit si-cherer Kraft drängt nun sein Sinn dem Gewaltigen zu. Schon die Jahre vor dem Kriege hatten ein Männliches in ihm bestärkt: nun tritt es vor in den geistigen Kampf. Die Stadt, durch die er bislang scheu ging, ohne Mut, sie zu deuten und sie künstlerisch mit einem Griff zu fassen, ihr setzt er jetzt ein Denkmal in seinem damals schon fertig gestalteten »Tycho de Brahe« und im »Reubeni«: das Mittelalter, diese Wolke von Vergangenheit über der kleineren Gegenwart, nun zerstreut er sie, indem er mit schöpferischem Blitz sie durchlichtet. Das Problem des eigenen Bluts wird großartig gestaltet in seinem Roman »Reubeni«, aus Liebelei formt sich der Roman einer wirk-

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lich leidenschaftlichen Liebe in dem »Leben mit einer Göttin«, und die ganze Einstellung zu Welt und Zeit formuliert sich in dem zweibändigen Gedankenwerke »Christentum, Judentum und Heidentum«. Aus lässig zärtlicher Betrachtung wird überall leidenschaftliches Bekenntnis, aus dem bloßen Dabeisein und Daneben-stehen schöpferisches Innensein. Mit einem Ruck hat sich der Kleinkünstler in das Große gestoßen, und der wie ein scheu erschreckter Knabe vor dem Wunderbaren stand, als einem Jenseitigen und einem Unerreichbaren, nun sieht er das Magische allerorts und überall mitten im Leben und der Vergangenheit als das »Diesseitswunder«, bereit, jedem gläubig sich hinzugeben und von jedem kräftig sich steigern zu lassen, willige Beute jeder Leiden-schaft, frommer und kühn aussagender Zeuge seines eigenen strömenden Gefühls.

Diese starke, weit ausholende, kräftige Linie, dieser Wurf und Schwung weiten Zielen entgegen, ihn hat Max Brod im wesentlichen erst seit dem Kriege gelernt. Aber der Künstler in ihm hat darum das Frühere nicht verges-sen, die zarte Bindung im seelischen Bezug, die Liebe zum schaffenden und leuchtenden Detail, das Spitzen-werk der zarten und belebenden Einfälle. So sind seine Romane gleichzeitig weit und gefüllt, sie haben Leben von innen und außen, von der Zeit und vom ewigen Licht, und alle leben sie vom geistigen Widerspiel einzel-ner Menschen, der dann ins Historische und Heroische riesige Schatten wirft. Tycho de Brahe, der Kaiser, der Papst, Kepler, Aretino, Rabbi Löw, Reubeni und der Mär-tyrer Molcho bedeuten nicht nur zufällige Figuren, son-dern symbolische Typen der Weltbetrachtung, sie sind von kosmischem Geiste durchdrungen und mit ihren Schicksalen ans Metaphysische gebunden. Nichts ist bloß

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Einfall, dekoratives Detail in diesen Romanen, zufällig aufgelesener, aus Büchern gelesener Stoff, der kolori-stisch verlockt, sondern aus einer Notwendigkeit der Aussage und des Bekennens stellt nun der Dichter seine Gestalten gegen die Welt, um sich selbst in ihnen und sich die Welt durch sie zu erklären. Und nur in diesem Sinn haben historische Romane für uns noch seelische Gültigkeit, wenn längst vergangene Gestalt Symbol wird für zeitloses Gefühl und ihre Probleme einmünden in das Dauernde und Gültige. Wenige Werke haben so durchaus den Geist, das Gefühl des Mittelalters uns vermittelt als der »Tycho de Brahe« und »Reubeni«. Geheimnisvolle Räume des Gefühls und der Gedanken sind durch sie er-lichtet, Gestalten von den Schatten sinnlich beschworen, und doch gehören ihre geistigen Gegensätze unserem in-nern Leben noch als ein Lebendiges zu: an nichts vermag ja auch der phantasievollste Sinn tätig teilzunehmen, was nicht nostra res, unsere eigenste Sache abwandelte. So wären zu unrecht solche Romane Max Brods in die For-mel des historischen Romans beschränkt, denn sie sind ebenso Darstellung eines religiös und moralisch Gegen-wärtigen, als einer zeitentfernten Kultur: der Stoff in ih-nen mag transponiert sein in sinnlich und farbig ein-dringlichere Epochen, als die unsern uns erscheinen, ihr Pneuma aber, ihr zeitlicher Atem ist ein und derselbe und wie immer der einzig fruchtbare: strömende, anteilneh-mende Liebe am Geringen wie am Gewaltigen, Gläubig-keit ohne starre Form, aber in jeder Form sich belebend. Daß Zeit nur ein Flüchtiges darstellt, Gewandung, die das Wesentliche nicht wandelt, wird man eben an der Zwei-heit seiner Darstellung gewahr, für die alles Zeitliche nur Vorwand ist, das Ewige und Verehrungswerte in ihr zu entdecken. Wer in diesem Wege so weit vor und schon so

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nahe an das Herz aller Leidenschaft herangedrungen, vermag nie mehr innezuhalten: und so kann die für vie-les schon dankbare Empfindung nur mit innigstem Ver-trauen einen solchen Dichter begleiten, der seit Jahren alle eigenen Maße immer wieder erfüllt und immer hö-herer Spannung großartig erweitert.

Stefan Zweig

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Meinem Freunde

Franz Kafka

»Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte ein-brach. Und er sprach: Laß mich gehen, denn die Morgen-röte bricht an. Er aber antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn

Er sprach: Wie heißest du? Er antwortete: Jakob. Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern

Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen ge-kämpft, und bist obgelegen.

Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißest du? Er aber sprach: Warum fragest du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.

Und Jakob hieß die Stätte Pniel; denn ich habe Gott von Angesicht gesehen, und meine Seele ist genesen.«

1. Mos. 32.

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Mit immer dringenderen Briefen hatte der große Tycho Brahe, sobald er nur selbst am Prager Hofe bei Kaiser Rudolf II. festen Stand fühlte, den jungen Astronomen Johann Kepler zu sich eingeladen. Die Korrespondenz wurde schon einige Jahre lang geführt. Kaum war näm-lich Keplers Name mit seinem ersten kosmographischen Werk, dem bescheiden so genannten »Prodromus«, in der Sphäre gelehrter Bestrebungen aufgetaucht, so fühlte sich Tycho, der verbannte, vielumhergetriebene, alternde Mensch, sofort von tiefer Hingezogenheit zu dem neuen Forschergeist bewegt; es war ihm, als habe er nun von dorther allein Bestätigung und Widerlegung, Verständ-nis und Kampf zu erwarten, als müsse er von diesem fri-schen Kopf das Schicksal seines weiteren Lebens empfan-gen. Von Anbeginn beobachtete er daher Kepler so, wie etwa der müde Vater auf den heranwachsenden Sohn sieht, voll Angst und froher Erwartung zugleich. Jede Zeile, die aus Graz kam, war ihm bedeutungsvoll, und ob-wohl die Erlebnisse seiner letzten Jahre, die ihm oft als eine ununterbrochene Kette von Fehlschlägen erschie-nen, ihn reizbar, mißtrauisch, heftig gemacht und ein an-geborenes hochfahrendes Wesen verstärkt hatten, war sein Benehmen gegen den jungen Gelehrten von selt-samer Sanftheit, ja Demut. Oft mußte er über sich selbst lächeln und sich fragen, ob er nicht bezaubert oder ver-blendet sei, daß er einem Anfänger, den er nie von Aug’ zu Aug’ gesehen hatte, von dem er eigentlich nur wenig wußte, gar so höflich entgegenkomme. Nach solchen Zweifeln aber gab sich in ihm verstärkt und deutlicher,

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als er sie je gehört hatte, eine innere Stimme kund: – Mein ganzes Leben war einsam, ich habe Nachbeter und blinde Schüler, Untertanen, Sklaven gehabt. Muß ich mich nicht freuen, wenn mir ein liebender Stern zu guter Letzt nun einen Ebenbürtigen, einen Helfer, einen Erben meiner Kunst heraufführen will, muß nicht jedes Bedenken der gelehrten Sitte, all dieser Unfug von Meisterei und An-fängerei zu Pulver zerstauben vor dem einzigen großen Gefühl: Ein Freund! Ein erster würdiger Genosse und Bruder! – Und indem er sich so aus einer Welt irdischer Rangordnungen und Hemmnisse, an der er genugsam litt, in ein Dasein rückhaltloser Geistesherrschaft empor-zündete, fühlte er sich ganz durchdrungen von Kepler, hatte teil an ihm, entzückte sich so feurig an dem bloßen Vorhandensein des großen, ihn und den Freund um-schlingenden Weltgenius, daß ihm seine eigenen begei-sterten Briefe, in denen er Keplers elegante scharfe Dia-lektik, seine Gelehrsamkeit, seine ingeniose Spekulation, seinen runden Stil pries, nur noch als ein matter Ab-klatsch dieser Hingabe erscheinen mußten. Er war ja ent-schlossen, ganz aufrichtig zu sein, nach so vielen halben, unerquicklichen, nur eben zweckentsprechenden Bezie-hungen in diesem neu sich anknüpfenden Verhältnis nichts Falsches und Vorsichtiges zu dulden; und so hielt er auch damit nicht zurück, daß er die Lobesworte Kep-lers auf das Kopernikanische Weltsystem bedaure, daß er aber hoffe, ihn einmal noch zur eigenen, zur Tychoni-schen Konstellation zu bringen. Dies schrieb er gleich im ersten Brief; standen nicht an, sofort das Vertraulichste zu äußern. »Nur komme«, hieß es in einem andern Schreiben, in dem durch das Latein erlaubten kollegialen Du-Tone, »komme, Du wirst in mir einen Freund finden, der Dir auch in bösen Läuften mit Rat und Hilfe nicht

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fehlen wird. Ich wünschte aber, daß Dich nicht Deine un-günstige Lage zu mir heranzwänge, sondern Dein eige-nes freies Urteil und zu unserer gemeinsamen Wissen-schaft die Liebe und Überschwenglichkeit.«

Kepler befand sich damals wirklich in ungünstiger Lage. Sein Amt eines Universitätsprofessors und »Land-schaftsmathematikers der Steiermark« war bedroht, ja sein bloßer Aufenthalt im Lande brachte Gefahr; denn Kepler war Protestant, und der Erzherzog Ferdinand hat-te unlängst bei einer Wallfahrt gelobt, alle Ketzer in sei-nen Gebieten auszurotten, ging auch ernstlich daran, die-ses Versprechen durch Ausweisungen und Haftbefehle wahrzumachen. Kepler mußte seine junge Frau in Graz zurücklassen und nach Ungarn fliehen. Einige Jesuiten, die sein wissenschaftliches Wirken mit Interesse verfolg-ten und ihn schließlich noch zum Katholiken zu machen hofften, setzten seine Rückberufung durch. Kaum aber war er in der Stadt, so begannen die Anfeindungen von neuem. Vergebens bemühte er sich um eine Anstellung in seiner württembergischen Heimat. So blieb ihm nichts übrig, als seine Blicke nach Prag zu richten. Und Tycho rief unermüdlich in seinen herzlichen Briefen: »Nicht als Gast, als erwünschtesten Freund will ich Dich halten und als liebsten Genossen meiner himmlischen Kontempla-tionen, so weit eben die Instrumente ausreichen, die ich gegenwärtig zur Hand habe. Und wenn Du bald kommst, so finden wir wohl auch eine Stellung, in der für Dich und die Deinen für alle Zukunft besser als bisher gesorgt sein wird.« – So schrieb denn Kepler, Tychos Ansturm mit Gemessenheit beantwortend, zunächst an einige gut Bekannte in Prag, an Johann Homelius, an seine Gönner, den Geheimen Rat Baron Hofmann und andere, und als alle ihm zurieten, sich in Prag zu zeigen und bei Kaiser

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Rudolf eine dauernde Anstellung anzustreben, wagte er die große Reise. Weib und Stieftochter ließ er in Graz zurück.

In Prag traf er Tycho nicht mehr, denn diesem war durch des Kaisers Gunst eben das Schloß Benatek an der Iser zum Wohnsitz und zur Einrichtung einer Sternwarte überlassen worden. Auch der Kaiser war nach Pilsen ab-gereist; ein unerwartetes Ereignis, das mehrfache un-sichere Deutung erfuhr. So meldete sich denn Kepler von Prag aus bei Tycho an, der ihm sofort seinen westfä-lischen Gehilfen, den Junker Franz Tengnagel, mit einem guten großen Reisewagen entgegenschickte. –

Dieser Wagen stand an einem trüben Februarmorgen des Jahres 1600 vor dem Gasthof »Beim goldenen Greif« auf dem Hradschin, wo Kepler logierte, zur Abreise be-reit, als ein älterer schlanker Mann, vom Schloß heran-eilend, sichtbar wurde. Es war des Kaisers Leibarzt, Thad-däus Hagecius, in der Landessprache Hajek geheißen, der den beiden Reisefertigen lebhaft Zeichen machte. Beide erkannten ihn denn auch, begrüßten ihn freundlich, und als er die Absicht äußerte, mit ihnen nach Benatek zu fah-ren, luden sie ihn gern ein, sofort einzusteigen. Nament-lich Tengnagel freute sich, einen so munteren Plauder-menschen für die sechsstündige Fahrt gewonnen zu haben, denn aus dem schweigsamen Kepler war wenig heraus-zubringen. Tengnagel, der in dem neuen Schüler einen sehr gefährlichen Nebenbuhler in Tychos Gunst witterte, mochte ihn überhaupt von Anfang an nicht leiden.

»Ich muß doch einmal sehen«, schwatzte Hagecius gleich los, »wie die Landluft dem malefizischen Blasen-leiden des alten Herrn anschlägt. Und mich an die aulam Caesaris nach Pilsen zu begeben, würde ich gar nicht wagen, ohne die neuesten Referenda über des Tychonis

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Wohlbefinden mitzubringen. Also mächtig ist dieser be-rühmte Mann in den favorem unseres Herrn gekommen, das mögt ihr mir fest glauben, und keiner Sache begehret der Kaiser schärfer, denn daß dem Tychoni zur Exerzie-rung seines studii und artis astronomicae alles auf das bequemste zur Hand sei und eingerichtet werde.«

Unter solchen Reden fuhr der Wagen die steile Haupt-straße der Kleinseite hinab, rollte über die lange Steinerne Brücke und dann in die Alte Stadt hinein, deren Häuser, recht anders als die in der Umgebung der Burg auf dem Hradschin und der Kleinseite, nur aus Holz und Lehm erbaut waren. Manche Wände schienen nur aus den eben gefällten Baumstämmen, noch mit der Rinde, in Eile zu-sammengeschlagen. In den engen schmutzigen Straßen herrschte ein fürchterlicher Gestank, aber glücklicher-weise war man bald am Festungswall angelangt. Die Wa-che am Tor wollte nicht gleich passieren lassen, und Ha-gecius mußte erst seinen Kopf, der stadtbekannt war, zum Fenster hinausstecken, ehe man die Kutsche freigab.

»Die Posten haben strenges Reskript erhalten«, erläu-terte Hagecius, sobald man auf der offenen Landstraße war, »niemanden ohne Testimonium passieren zu lassen. Ist nämlich durch Hofastrologen eine große Pest über die Stadt Prag vorausgesagt worden. Ja, manche wollen durch ihre spectationes coeli geradezu wahrgenommen haben, daß diese erschreckliche Pestilenz schon in der Stadt sich extendiere. Weshalb auch der Kaiser sich nach Pilsen be-geben hat und ich auf dem Weg ebendahin bin. Es solle aber zur Vermeidung einer größeren Perturbation der Gemüter nicht publice davon gesprochen werden.« Die faltigen Augenlider des lustigen Gesichtes fielen bei die-sen Worten blinzelnd über die Augen nieder, aber das Lächeln seiner Mundwinkel konnte er nicht beherrschen.

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»Des Kaisers Majestät haben nicht gern diese Interrup-tion aller Gewohnheiten auf sich genommen, dermaßen sie auch nicht glauben, daß die Pfeile solcher Krankheit auf ihr Haupt gerichtet seien. Es ist solches nämlich gleichfalls horoskopiert worden …«

»Dieses Horoskop hat mein Lehrer Tycho selbst ge-stellt«, unterbrach Tengnagel gewichtig die skeptische Rede des Arztes, »daß Rudolfus Secundus durch keinerlei Krankheit sterben, sondern wie Heinrich III. von Frank-reich von einem Mönch würde ermordet werden. Und die Wahrheit davon wird sich zeigen.«

»Was haltet Ihr, Professor, von der Sterndeutekunst?« wandte sich in diesem Augenblick Hagecius mit einem Ruck an Kepler, der bisher stumm, in seinen grauen Mantel gehüllt, dagesessen war, und gab damit einer Fra-ge Ausdruck, die alle Gemüter jener Zeit, die wissen-schaftlichen wie die der Laien, aufs innigste beschäftigte.

Kepler schwieg noch eine Weile und es schien, als habe er die Frage gar nicht gehört. Als aber der Wagen an einer Biegung scharf ausschüttelte, brach es aus seiner Ecke hervor: »Lauter Lug und Trug! Schade, die Luft mit der-gleichen Worten zu erschüttern und die Zeit dabei müßig auszugeben. Ich erachte das Astrologieren für nichts denn eine Epidemiam, welche nicht bloß einzelne, son-dern den größten Teil des Menschengeschlechtes erfaßt hat. Mit ihren Triangulis, mit ihren Häusern und Örtern des Firmamenti, mit ihren qualitatibus und dignitatibus der Sterne, als da sind: Wärme, Feuchtigkeit, Kälte der Planeten und deren Einfluß auf Krieg, Hungersnot, Dür-re, und mit allen Dingen solcher Gestalt haben unsere wohlfeilen Prophetlein jedesmal nur eine einzige zutref-fende Vorhersagung machen können: daß man ihre nich-tigen einbildnerischen Traktätchen in Massen kaufen

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werde. Denn das ist ihnen jedesmal eingetroffen.« Er lachte hart auf und warf seinen Rücken an die Kutschwand zurück, noch lange nachher riß er ärgerlich an seinem Schnurrbart.

Tengnagel sah ihn erstaunt und feindselig an; eine solch entschiedene Rede über einen strittigen wissen-schaftlichen Gegenstand hatte er noch nie gehört, denn Tycho pflegte selten eine scharf abgegrenzte Meinung zu äußern und behandelte namentlich Dinge, die mit dem Zeitgeschmack verknüpft waren, nur äußerst vorsichtig. Aber auch dem witzigen Arzt kam so viel Offenheit sicht-lich ungelegen. Er gehörte zu jenen unruhigen Köpfen, die alles anzweifeln, die aber ebensowenig wie eine starre Lehre die endgültige Verneinung gelten lassen wollen, da sie eben nur in dem ewigen Belächeln und unernsten Achselzucken die rechte Lust ihres Verstandes finden. So bemühte er sich denn sofort, Keplers schlichte Worte zu verwässern und zu verstricken. Alle opera der Astrologie dürfe man solchen Narrenspossen denn doch nicht gleichhalten, man müsse unterscheiden zwischen den elenden Destillierern, Wettermachern, hermetischen Künstlern, fahrenden Adepten, wie sie der Hof Rudolfs leider in viel zu reichen Mengen herberge, und etwa je-nen ersten Weisen, die vorzeiten auf der tabula smarag­dina ihre gewiß tiefen Kenntnisse niedergelegt hätten. So habe doch auch Tycho Brahe selbst den Tod des gro-ßen Sultans Soleiman seinerzeit richtig vorhergesagt. – Kepler schüttelte den Kopf. – »Und doch war es so«, fuhr ihn Tengnagel jetzt schon wütend an und faßte unwill-kürlich mit der Hand ans Degengehenk.

Hagecius aber glaubte nun wieder dem Kepler etwas mehr recht geben zu müssen, um die Wage gleichzuhal-ten; daher legte er dem Tengnagel die Hand begütigend

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auf die Schulter und erinnerte ihn an die beiden engli-schen Schwindler, Dee und Kelley, die am Hofe, der eine mit seinem heiligen Kristallstein, der andere mit seinem trinkbaren Gold und Lebenselixier, so viel Aufsehens ge-macht und jeder gar als ein neuer Hermes Trismegistos gepriesen worden seien, worauf sie doch zum Schluß, ih-rer Laborationen überwiesen, ein klägliches Ende gefun-den hätten. – Der alte ironische Herr war nun in seinem eigentlichen Bereich, indem er Hofklatschgeschichten bissig preisgab, auch seiner selbst am wenigsten schonte als eines, der in den alchymistischen Küchen gläubig mit-gearbeitet und gar eine »Prager Zeitschrift der Magier« herausgegeben habe. Hierbei wandte er sich vornehmlich an Kepler, denn er hielt es für seine angenehme Pflicht, den Fremden über die Verhältnisse, in denen er sich nun zu bewegen haben würde, aufzuklären. Über kurz oder lang werde er ja gewiß auch in Audienz beim Kaiser er-scheinen. Der Kaiser, der Kaiser! … Hagecius lächelte zweideutig bei diesem Ausruf und seine Miene, die schon bei kleineren Anlässen sich wichtigtuerisch genug zu-sammenfaltete, wurde nun vollends geheimnisvoll und zerknittert wie ein altes Pergament: der Kaiser, ja das sei ein schwieriges Kapitulum. Die einen hielten ihn gar für krank im Geist, insania captum, das müsse man aber wohl durchaus als Ausstreuung der spanischen und ka-tholischen Partei ansehen, die darauf sinne, dem Kinder-losen (er habe freilich sechs uneheliche Kinder) schon bei Lebzeiten einen päpstlich gesinnten successorem und co­adjutorem zu ernennen. Für etwas seltsam aber dürfe wohl auch der Getreue dem Herrn es anrechnen (hier fuhr wieder ein Lächeln über die grauen Wangen und man wußte nicht, sollte es zeremoniösen Respekt aus-drücken oder eine Bosheit), daß der Kaiser so unver-

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brüchlich ruhig und zurückgezogen lebe und nun gar auch in seinem Garten gedeckte Gänge habe aufführen lassen, um bei seinen kargen Spaziergängen nur ja von niemandem erblickt zu werden. Monatelang habe man ihn bitten müssen, zur Huldigung der Landstände nach Mähren zu reisen. Und in letzter Zeit verlasse er das Schloß überhaupt kaum mehr. Kein Reiten, kein Ball-spiel. Hier und da ließe er sich noch die herrlichen spani-schen und italienischen Rosse, Geschenke des Königs von Spanien, unter den Fenstern vorbeiführen und freue sich an ihrem schön bewegten Anblick; aber das sei auch alles. Zumal in rebus politicis lasse er alle Dinge laufen und nur sehr unregelmäßig und mit äußerster Unlust wohne er einer Sitzung seines Geheimen Rates bei; weshalb denn auch die Wirren mit dem Türken und Siebenbürger, ja mit dem eigenen Bruder Mathias zu keinem Ende kä-men … »Nun, Ihr werdet ja solcherlei Unbilden noch ge-nugsam am eigenen Leibe spüren«, schloß er und sah dabei Kepler mit einem recht zufriedenen Blick an.

»Wir Musenjünger haben indes zu einer Lamentation keinen Grund«, erwiderte der Junker. »Für uns nennt man es nicht mit Unrecht ein goldenes Zeitalter. Die Kai-serliche Majestät gewährt uns benevolenter alles, dessen unsere Wissenschaften not haben. Ihr werdet Eure Au-gen groß machen, Meister Hagecius, wenn Ihr seht, wie wir das Jagdschloß Benatek schon zu einer Hohen Schule der Urania, zu einem zweiten Uranienburg umgerüffelt haben. Es wird allda auch bereits observieret, einen groß-mächtigen Sextanten haben wir aufgestellt.« Lebhaft fiel Hagecius ein und stellte sofort einige Fragen, aus denen man sah, daß die Neugierde, Tychos neue Einrichtungen und Erfindungen zu sehen, ihn nicht minder als die Sor-ge um dessen Befinden auf diese Reise getrieben hatte.

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Der Junker antwortete mit Behagen, seine Schilderungen steigerten sich in ihrer Großartigkeit, und nachdem er Tychos Ruhm, Einsicht und unbegreifliche Arbeitskraft verherrlicht hatte, vergaß er auch nicht, sich selbst ins protzigste Licht zu stellen, indem er schließlich andeutete, daß Tycho auch in weltlichen Dingen, wie bekannt, stets einen guten Griff bewiesen und so auch zu allerletzt einen wackeren Schwiegersohn sich ausgewählt habe: Herrn Franz Tengnagel. – »Was! Was! Ausgezeichnet!« rief Hagecius und beglückwünschte, vom Sitz emporhüpfend und durch den Gang des Wagens wieder zurückgeworfen, den jungen Bräutigam, der mit selbstgefälligem und sichtlich schon oft wiederholtem Witz vorbrachte, daß er in letzter Zeit vom Spekulieren auf den Martem und Jo-vem sich habe entbinden lassen und nur mehr um seine irdische Venus, genannte Elisabeth Brahe de Knudstrup, sich beschäftige. Sodann setzte er seine prahlerischen Schilderungen fort und konnte gar nicht genug über den Glanz und die Macht der Tychonischen Familie sagen, in die er natürlich sich selbst schon mit einbezog. Aufgebla-sen und rot im dicken Gesicht saß er steif da, die Hand auf den Degenknauf zwischen den Knien gestemmt; wie es aber beschränkten Menschen seiner Art geht, daß sie manchmal genau das Gegenteil dessen beweisen, worauf sie ausgegangen sind, so machte sich Tengnagel plötzlich daran, wie im Schwung der durch die Erzählung aufge-stauten hohen Bedeutung und Kraft, einen gewissen Kaspar von Mühlstein zu beschimpfen, den Brandeiser Hauptmann, dem auch das Schloß Benatek unterstehe. Diese böhmische Bestie hatte sich unterfangen, trotz eines Briefes von Geheimsekretär Barvitius, dem Tycho sein kaiserlich versprochenes Gehalt nicht auszuzahlen, mit der Begründung, daß er keinen Befehl vom Kaiser und

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von den Ständen besitze. Wegen jedes Stubenumbaus, wegen jedes Ofens, wegen jeder Fuhre Holz müsse man mit dem Menschen auf das erbittertste verhandeln, und neulich habe er dem Tycho ins Gesicht geschrien: die Rentkassen seien leer, und wären sie gefüllt, so wüßte er das Geld auch eher zur Verbesserung der Deiche und zum Einkauf von Pferden und Kühen anzuwenden.

»Da habt Ihr Euer goldenes Zeitalter«, sprang Hage cius listig ein. »Die Schatzkammer ist leer, und ganz Eu ropa rüstet wider uns. Heißt es nicht, daß der franzö sische Heinrich, eben erst Katholik geworden, mit der deut-schen evangelischen Fürstenschaft einen eidlichen und bellicosen contractum wider uns gemacht hat? So sind uns die Lutherischen wie die Römischen gram, und Prag selbst halten die aufrührerischen Stände, die Calviner, die Brüderunität, die Ultraquisten, die alten Hussiten und malkontentes Volk jeden generis wie im Kriegszustand. Da darf man sich denn nicht wundern, wenn ein braver kaiserlicher Offizier gegen einen hergereisten Doktor, und sei er noch so groß, den Mund aufreißt.«

Scheinbar vermittelnd wandte sich Hagecius an den Junker, aber man fühlte, daß es ihm nicht um eine ge-rechte Ausgleichung zu tun war, vielmehr darum, wie zuvor dem Bilde des Kaisers so nunmehr dem eben durch Tengnagel verherrlichten Tycho eine recht andere Schil-derung anzuhängen. Einen kranken, gebrechlichen, mü-den, bedauernswerten Pilger nannte er ihn, einen schwe-ren Mann, der mit seiner sechsköpfigen Familie, mit Begleitung von Studenten, Dienerschaft, Hausgeist-lichen, mit seinen riesigen kostbaren Instrumenten und Sammlungen, die man nirgends aufstellen könne, mit seiner Bibliothek, ja mit seiner eigenen Druckerpresse sogar sich durch Europa wälze und nirgends Ruhe finde,

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überall anstoße und in seinen natürlichen Ansprüchen auf ein fürstlich großzügiges Leben allen Plackern und Quälgeistern nur tausend Angriffspunkte biete, welche überdies auch seine cholerische Affektion, seine Zank-sucht und Ungeduld nur vermehre.

Tengnagel widersprach und bramarbasierte, seine Eitel-keit wollte im weitesten Umkreis keinen Mangel zu-gestehen; der zweiflerische Arzt stach dagegen und zer-störte. So ging es noch lange weiter. Aber alle diese Gespräche, die eigentlich gar nicht als Auseinanderset-zung zwischen den beiden Männern, sondern als Beleh-rung Keplers gedacht waren, verfehlten in seltsamer Weise ihren Zweck; denn Kepler, den sich die beiden auf-geregt und der neuen Zukunft gespannt entgegenhar-rend vorstellten, konnte mühelos zwischen dem Groß-sprecher und dem Klugredner seine würdige Ruhe bewahren: sie war von Anfang an nicht in Frage gestellt gewesen. In diesem hageren Manne mit dem kleinen, wie unreifen, unentwickelten Gesichtchen lebte eine Beharr-lichkeit sondergleichen, eine ganz einfache Richtung al-ler angespanntesten Geisteskräfte, die ihn nach außen hin völlig absperrte, ihn unverletzlich, aber auch für alles, was nicht seine Wissenschaft betraf, aufnahmsunfähig machte. Seine ganze Begabung und, damit übereinstim-mend, seine ganze Leidenschaft war nur auf ein Ziel ge-richtet, auf die wissenschaftliche Bewältigung der Welt, als deren nächsten Schritt er die Erforschung der Ster-nengesetze so ausschließlich vor Augen hatte, daß ein Freund einmal äußeren konnte: Gäbe es von einem be-stimmten Moment an keine Sterne, so werde es auch kei-nen Johannes Kepler mehr geben. – Wirklich war nichts imstande, ihn von dieser einzigen Richtung seines Da-seins abzubringen, für die gleichsam all das unendliche

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Feuer, alles Große und Lebendige seiner Seele aufgespart dalag (jeder Anstoß konnte es hell auflodern lassen, wie sein Ausbruch gegen die Astrologie den Reisegenossen schon gezeigt hatte); für alle übrigen Tätigkeiten des Lebens hingegen dienten nur kärgliche Schlacken und trü-be Rückstände seines Geistes, so daß er im gewöhnlichen Verkehr oft sogar kalt und nüchtern, pedantisch, klein-lich vorsichtig, streitsüchtig, ja ganz unbedeutend er-scheinen konnte. Er tappte nicht etwa, wie andere geniale Naturen, mit liebenswerter Naivität und Kindlichkeit in den Alltag hinein; dazu hätte doch noch eine gewisse Frische und Munterkeit des Herzens gehört. Kepler aber verbrauchte sein ganzes Ich, Kopf wie Herz, in wissen-schaftlicher Arbeit und für den menschlichen Umgang blieb nur ein grämlicher undeutlicher kleiner Schatten seines Wesens übrig. Indessen wurde diese Widernatür-lichkeit dadurch beinahe ganz aufgehoben, daß er selbst sich in dieser Entstellung nicht zu mögen schien und eben nicht länger, als unbedingt nötig war, im Zustand des gewöhnlichen Lebens verblieb. Es galt ihm nur, die unumgänglichsten Bedürfnisse zu decken; im übrigen gab es für ihn nichts als Arbeit, heiße, befreiende, aufstei-gende Arbeit. Dann überließ er sich mit beinahe bewußt-loser Zuversicht seiner geistigen Stimme, die ihn an den Zacken der Außenwelt vorbei mit Nachtwandlersicher-heit, ohne Aufregung und Anstrengung weiterführte, so daß seine ganze Nervenkraft für die großen Aufgaben frei blieb; dann, in der göttlichen Arbeit, kam alles über ihn, was ihm sonst mangelte, Feuer, Frische, Kindlichkeit, Witz, Ahnung und Herzlichkeit, der große Zug, die sorg-lose Hingabe. Eine solche Hingabe führte ihn nun zu Tycho, aber nicht zu dem dunklen schicksalsvollen Men-schen, sondern nur zu dem originellen und staunenswert