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Mecklenburg-Vorpommern
Die nachstehenden Prüfungsaufgaben sollen den Schülerinnen und Schülern des Landes sowohl zur individuellen Prüfungsvorbereitung als auch im Rahmen des Unterrichts in Lernsituationen zur Verfügung gestellt werden, eine Nutzung als Klausur unter abiturähnlichen Bedingungen ist damit ausgeschlossen. Der Nutzerkreis ist auf Schülerinnen und Schüler sowie Lehrkräfte des Landes Mecklenburg-Vorpommern beschränkt. Dieses Dokument ist urheberrechtlich geschützt und darf weder analog noch digital veröffentlicht werden. Eine Weitergabe, insbesondere an Nachhilfeinstitute, Verlage oder ähnliche Einrichtungen, ist untersagt. Sowohl dieses Titelblatt als auch der Text der Fußzeile dürfen nicht von den Aufgaben getrennt werden.
Zentralabitur 2019
Deutsch
Erhöhtes Anforderungsniveau
Prüfungsaufgaben
Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 2 von 25
Dieses Dokument ist urheberrechtlich geschützt und darf nur zur Prüfungsvorbereitung von Schülerinnen und Schülern in Mecklenburg-Vorpommern verwendet werden. Titelblatt und Fußzeilen dürfen nicht entfernt werden.
Block I
B Sandra Danicke: »Das Bewerten von allem, was wir nutzen und sehen, ist
fast so üblich geworden wie Zähneputzen. Als gehöre
Notenverteilen zu unserer Verbraucherpflicht«
(Textauszug)
1. Analysieren Sie den Textauszug und bewerten Sie seine Gestaltungs- und
Wirkungsweise.
2. Setzen Sie sich kritisch mit der von Danicke geschilderten Entwicklung des
Bewertens und Kommentierens auseinander.
Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Aufgabe.
Sandra Danicke (*1968): »Das Bewerten von allem, was wir nutzen und sehen, ist
fast so üblich geworden wie Zähneputzen. Als gehöre
Notenverteilen zu unserer Verbraucherpflicht«
(Textauszug)
Sandra Danicke (*1968) ist eine deutsche Kunsthistorikerin, Kunstkritikerin und Autorin.
Vor ein paar Jahren habe ich einen Zukunftsroman gelesen. Er handelt von einer Frau, die in
einem Internetkonzern bei der Kundenbetreuung arbeitet. Die Kunden bewerten sie. Die
Vorgesetzten bewerten sie ebenfalls, oft mehrmals täglich. Auch von ihr wird erwartet, dass 3
sie Dinge bewertet, Veranstaltungen, Aktivitäten, permanent. Fast rund um die Uhr. An vier
verschiedenen Bildschirmen gleichzeitig. Das Buch – The Circle von Dave Eggers – ist
inzwischen auch verfilmt worden. Ich hielt es für völlig überzogen. Bis ich kürzlich aus dem 6
Urlaub kam und die Flughafentoilette aufsuchte.
Ich hatte mir gerade die Hände gewaschen und war bemüht, nichts mehr anzufassen, als
mich eine Reihe bunter Smileys dazu aufforderte, per Knopfdruck die Sauberkeit der 9
Sanitäranlagen zu bewerten. Gerade so, als sei ich bei irgendeinem Prüfdienst angestellt,
der die Effizienz der Putzkolonne zu kontrollieren hat. Leicht verärgert ging ich zum
Gepäckband. Als ich meinen Koffer in Empfang genommen hatte, warteten wieder Smileys. 12
Diesmal war es die Geschwindigkeit der Gepäckbeförderung, die ich bewerten sollte, obwohl
ich mich dafür nicht im Geringsten qualifiziert fühlte. Woher soll ich wissen, welches die
angemessene Zeit für die Beförderung der Koffer ist, wenn ich den Arbeitsablauf gar nicht 15
kenne?
[…]
Menschen bewerten, was ihnen begegnet. Das ist normal. Es dauert nur eine
Zehntelsekunde, bis wir uns einen ersten prägenden Eindruck von unserem Gegenüber 18
verschafft haben. Wenn wir eine Wohnung besichtigen, wissen wir meist sofort, ob sie für
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uns infrage kommt. Nur war es die längste Zeit so, dass wir diese Erkenntnisse allenfalls im
Freundeskreis kundtaten. In den vergangenen Jahren jedoch ist das Bewerten von nahezu 21
allem, was wir nutzen und sehen, fast so üblich geworden wie das tägliche Zähneputzen.
Routiniert werden wir von Dienstleistern abgefragt, als gehöre das Verteilen von Noten zu
unserer verdammten Verbraucherpflicht. 24
Einmal sollte ich telefonisch eine Dame vom Callcenter meines Telefonanbieters bewerten,
und das bereits kurz nachdem ich mich bei ihr darüber beschwert hatte, dass mein Internet
nicht funktioniert. Sie hatte veranlasst, dass mir ein neuer Router geschickt wurde. Dass das 27
Quatsch war, merkte ich erst Tage später, als ich der Dame längst ein Gut erteilt hatte. Ich
hatte ihr nicht schaden wollen, sie war ja nett gewesen. Hinterher fühlte ich mich
missbraucht. Unfreiwillig war ich von einer Kontrollinstanz eingespannt worden, deren 30
Methoden ich ablehne.
Wozu überhaupt soll dieses ständige Bewerten gut sein? Ist doch logisch, werden viele
sagen: Es hilft dem Unternehmen, Service und Produkte zu verbessern, und es hilft anderen 33
Kunden, die richtige Wahl zu treffen. Dass die Mehrheit der Verbraucher das so sieht, zeigen
zahlreiche Studien. Eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom etwa ergab, dass 65 Prozent
der Befragten Kundenbewertungen in Online-Shops als Entscheidungshilfe nutzen. Aber 36
treffen sie damit wirklich immer die beste Wahl?
Ich glaube: Nein, und das kann ich ausnahmsweise beurteilen, weil ich selbst oft nur auf
Bewertungen anderer zurückgegriffen habe. Bei der Suche nach einer Unterkunft in einer 39
fremden Stadt etwa oder beim Kauf einer neuen Matratze. Ich habe auch schon
Bewertungen studiert, die mir völlig fremde Menschen über die Kompetenz eines
Orthopäden oder einer Zahnärztin hinterlassen haben. Fakt ist allerdings, dass mich solche 42
Recherchen meist verwirrt zurücklassen. Wenn ich die Anmerkungen über ein Hotel lese,
verunsichert es mich, wenn fünf Leute alles super fanden, aber einer die Hellhörigkeit der
Zimmer moniert. Wenn jemand kritisiert, der Arzt sei so kurz angebunden, weiß ich nicht, ob 45
ich das nicht eher gut finden soll, weil der vermutlich schnell auf den Punkt kommt. Auch bei
der Matratzensuche kam ich nicht weiter, schließlich haben die meisten Menschen ein
anderes Gewicht und ein anderes Schlafverhalten als ich. Und trotzdem habe ich Stunden, 48
nein: Wochen meines Lebens mit Alltagsexpertisen von Hinz und Kunz vergeudet.
Die Ansprüche der Menschen sind einfach zu verschieden, und meist haben sie mit meinen
eigenen Bedürfnissen nicht das Geringste zu tun. Nie im Leben würde ich den Kollegen mit 51
seiner seltsamen Vorliebe für Instantkaffee nach seinem Lieblingsvietnamesen fragen. Aber
im Netz soll ich plötzlich Menschen vertrauen, die womöglich Kampfhunde züchten und in
ihrer Freizeit Utta Danella1 lesen. Dass das selten gut gehen kann, liegt eigentlich auf der 54
Hand.
Bewertungsportale versprechen stets das größte Glück: die besten Hotels, die schönsten
Restaurants, die verlässlichste Versicherung, die leckerste Fertigbolognese. Trotzdem sind 57
wir nicht zufriedener als früher. Weil das vermeintlich Beste eben oft nur dem kleinsten
gemeinsamen Nenner entspricht, dem Konsens der Masse. Das Spezielle, Eigenwillige droht
darin unterzugehen. Und ist es nicht so, dass die Meinung der Masse sich oft selbst 60
1 Utta Danella: eigentlich Utta Schneider (1920 – 2015), verfasste zahlreiche Romane im Bereich der Unterhaltungsliteratur
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reproduziert? Ich jedenfalls wurde in meinem Bewertungsverhalten schon häufig beeinflusst:
Als alle einen bestimmten Wein toll fanden, mochte ich mich nicht als Geschmackslaie
outen, obwohl ich das anders sah. Als alle den Charme einer Airbnb-Wohnung priesen, wäre 63
es mir kleinkariert vorgekommen, mich über den Schimmel im Kühlschrank aufzuregen.
Ganz so, als wohne der Massenmeinung eine höhere Wahrheit inne. Dabei weiß ich, dass
das blanker Unsinn ist. Die Masse kauft Billighackfleisch und fährt Volkswagen. Was soll 66
daran gut oder gar weise sein?
Erfunden, um eine Vertrauensbasis zwischen Fremden zu schaffen, haben sich Rating-
Systeme zu einem Kontrollinstrument entwickelt, das selbst außer Kontrolle geraten ist. […] 69
Dass der Bewertungswahn vor allem in den USA beängstigende Dimensionen angenommen
hat, zeigt sich auch an einer App namens Peeple, die dort seit dem vergangenen Jahr auf
dem Markt ist. Die Anmeldung erfolgt über Facebook, dann kann man Menschen, die bei 72
Peeple registriert sind, in drei Kategorien „empfehlen“: beruflich, persönlich, romantisch. Eine
„Empfehlung“ kann jedoch auch negativ sein.
Wie würde ich in einer solchen App bewertet werden? Und von wem? Vielleicht findet die 75
Verkäuferin aus der kleinen Boutique, dass ich die anprobierten Klamotten nicht ordentlich
genug auf den Bügel gehängt habe. Womöglich würde die unsympathische
Sprechstundenhilfe des Neurologen andere vor meiner labilen Psyche warnen. 78
[…]
Unterdessen hindert uns das ganze Herumbewerten daran, Erfahrungen zu sammeln, ohne
die ein Leben nichts wert ist: Überraschungen, Glückstreffer, Fehler gehören dazu.
Meine letzte Airbnb-Wohnung auf einer griechischen Insel habe ich bewusst von einem 81
jungen Mann gemietet, der noch keine einzige Bewertung hatte. Obwohl es wenige Meter
weiter eine Unterkunft gab, in der zahlreiche Gäste sich offenbar wie in Abrahams Schoß2
gefühlt hatten. Nennt es Helfersyndrom, nennt es vermessen, aber ich dachte, der Typ hätte 84
ohne mich nie eine Chance, und buchte. So traf ich Dimix. Er holte uns von der Fähre ab,
brachte uns in sein gemütliches, sauberes Häuschen, in dem die Kunstwerke seines Vaters
an den Wänden hingen, und forderte uns auf, seinen prall gefüllten Kühlschrank leer zu 87
essen.
Schweren Herzens habe ich ihn hinterher bewertet. Dabei hätte ich diesen Geheimtipp gerne
für mich behalten. 90
(2017)
Die Zeit Nr. 44, 26. Oktober 2017
2 Abrahams Schoß: Redewendung, die ihren Ursprung in der Bibel in dem Gleichnis vom reichen Mann und vom armen Lazarus
hat. Der arme Lazarus wird nach seinem Tod von den Engeln in den Schoß Abrahams getragen, wo er, geborgen und glück- lich, keine Not mehr erleiden muss. Der egoistische, reiche Mann landet in der Hölle.
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Block II
B Materialgestütztes Schreiben argumentierender Texte
Verfassen Sie zu Tucholskys These „Was darf die Satire? Alles.“ (M1) einen
Kommentar für die Rubrik „Jugend schreibt“ in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Nutzen Sie für Ihre Argumentation die beigefügten Materialien und bringen Sie
eigenes Wissen zum Thema ein.
Formulieren Sie eine geeignete Überschrift.
Zitate aus den Materialien werden dem Stil des Kommentars entsprechend ohne
Zeilenangabe nur unter Nennung der Autorin/des Autors und ggf. des Titels
angeführt.
Der Kommentar sollte etwa 1000 Wörter umfassen.
Material 1: Kurt Tucholsky (unter dem Pseudonym Ignaz Wrobel). Was darf
die Satire? (1919)
Kurt Tucholsky (1890 – 1935) war ein deutscher Journalist und Schriftsteller (schrieb auch
unter den Pseudonymen Kaspar Hauser, Peter Panter, Theobald Tiger und Ignaz Wrobel);
aufgrund seiner journalistischen Tätigkeit wurden gegen ihn juristische Prozesse eingeleitet.
Frau Vockerat: »Aber man muß doch seine Freude haben können an der Kunst.«
Johannes: »Man kann viel mehr haben an der Kunst als seine Freude.«
Gerhart Hauptmann1 3
Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem
Sofa und nimmt übel.
Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: „Nein!“ Eine Satire, die zur Zeichnung 6
einer Kriegsanleihe2 auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die
große, bunte Landsknechtstrommel3 gegen alles, was stockt und träge ist.
Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als 9
hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den
angreift und morgen den.
Der Satiriker ist ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun 12
rennt er gegen das Schlechte an.
1 Gerhart Hauptmann (1862 – 1946): deutscher Schriftsteller
2 Kriegsanleihe: Wertpapier, das der Finanzierung eines Krieges dient und dessen Kauf der Gewährung eines Kredits an die
Regierung gleichkommt. Da Kriegsanleihen häufig nicht zurückgezahlt wurden, verloren Kleinanleger das investierte Geld. 3 Landsknechtstrommel: Vor allem im 16./17. Jahrhundert markierten Landsknechte, angeworbene Berufssoldaten, mit
Trommeln den Rhythmus der marschierenden Soldaten.
Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 6 von 25
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Die Satire eines charaktervollen Künstlers, der um des Guten willen kämpft, verdient also
nicht diese bürgerliche Nichtachtung und das empörte Fauchen, mit dem hierzulande diese 15
Kunst abgetan wird.
Vor allem macht der Deutsche einen Fehler: er verwechselt das Dargestellte mit dem
Darstellenden. Wenn ich die Folgen der Trunksucht aufzeigen will, also dieses Laster 18
bekämpfe, so kann ich das nicht mit frommen Bibelsprüchen, sondern ich werde es am
wirksamsten durch die packende Darstellung eines Mannes tun, der hoffnungslos betrunken
ist. Ich hebe den Vorhang auf, der schonend über die Fäulnis gebreitet war, und sage: 21
„Seht!“ – In Deutschland nennt man dergleichen ‚Kraßheit‘. Aber Trunksucht ist ein böses
Ding, sie schädigt das Volk, und nur schonungslose Wahrheit kann da helfen. [...]
Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach 24
ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht
anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten. [...]
Wir sollten nicht so kleinlich sein. Wir alle – Volksschullehrer und Kaufleute und Professoren 27
und Redakteure und Musiker und Ärzte und Beamte und Frauen und Volksbeauftragte4 – wir
alle haben Fehler und komische Seiten und kleine und große Schwächen. Und wir müssen
nun nicht immer gleich aufbegehren (‚Schlächtermeister, wahret eure heiligsten Güter!‘), 30
wenn einer wirklich einmal einen guten Witz über uns reißt. Boshaft kann er sein, aber
ehrlich soll er sein. Das ist kein rechter Mann und kein rechter Stand, der nicht einen
ordentlichen Puff vertragen kann. Er mag sich mit denselben Mitteln dagegen wehren, er 33
mag widerschlagen – aber er wende nicht verletzt, empört, gekränkt das Haupt. Es wehte bei
uns im öffentlichen Leben ein reinerer Wind, wenn nicht alle übel nähmen.
So aber schwillt ständischer Dünkel zum Größenwahn an. Der deutsche Satiriker tanzt 36
zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen
Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire
ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint. 39
Was darf die Satire?
Alles.
4 Volksbeauftragte: Volksvertreter, die an Aufträge ihrer Wähler direkt gebunden sind und daher jederzeit abberufen werden
können.
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Material 2: Satire (Definition)
Satire [lat. satira, älter satura, eigtl. „mit versch. Früchten gefüllte Schale“] die, -/-n,
Literaturgattung, die durch Spott, Ironie, Übertreibung bestimmte Personen, Anschauungen,
Ereignisse oder Zustände kritisieren oder verächtlich machen will. Sie kann sich mit allen
literar. Formen verbinden. [...] Wort- und Bild-S. (→ Karikatur) verbinden sich in den im 19.
Jh. aufkommenden satirischen Zeitschriften.
Material 3: Stefan Neuhaus. Was darf die Satire? Kurt Tucholsky, Jan
Böhmermann1 und die Folgen (2016)
Stefan Neuhaus (*1965) ist Professor für deutsche Literaturwissenschaft.
[…]
Wenn sich Texte, wie es bei Satiren der Fall ist, auf zeitgeschichtliche Realitäten beziehen,
dann handelt es sich nach Meinung der Kritiker um zweckgerichtete Texte, also um
Gebrauchstexte, die in ihrer Zeit verhaftet sind, und demnach nicht um Kunst. Das ist ein 3
populärer Irrtum, denn Satiren gehören zur Literatur und für Literatur gelten eigene Gesetze.
Bereits Friedrich Schiller hat erklärt: „In der Satire wird die Wirklichkeit als Mangel dem Ideal
als der höchsten Realität gegenübergestellt.“2 Die beobachtbare Realität wird an einem Ideal 6
gemessen und dieses Ideal drückt sich in der Negation, in der ironischen Überzeichnung des
Gegenteils aus.
[...]
Zum Übertreibungsgestus der Satire gehört bereits seit Kurt Tucholsky, dass sie, mit einem 9
juristischen Begriff gesagt, Personen der Zeitgeschichte der Lächerlichkeit preisgibt, lustvoll
und ohne Rücksicht auf Tabus. Wichtig ist festzuhalten: Die Herabsetzung bezieht sich nicht
auf die Person, sondern auf das, wofür sie steht. Die reale Person wird zur literarischen 12
Figur, zur Repräsentantin des ‚Schlechten‘. Zugleich wird die Herabsetzung mindestens
doppelt als Literatur, also als Kunst markiert, denn die Satire wird sichtbar durch den
Tabubruch einerseits und die Komik, mit der dieser Tabubruch geschieht, andererseits. 15
Allerdings kann man Satire nur dann verstehen, wenn man in der Lage ist, die Rahmungen,
die die Satire als Satire markieren, zu erkennen und die Komik des Tabubruchs
wahrzunehmen. 18
Wer diese beiden basalen Zuordnungsvoraussetzungen nicht kennt, kann Satire nicht ‚lesen‘
und wird gegen sie opponieren – dies ist allerdings eine gewollte Provokation. Denn die
1 Jan Böhmermann ist ein deutscher Satiriker, Moderator und Buchautor. Gegen ihn wurde aufgrund eines als Satire gekenn-
zeichneten Gedichts über den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan von der Regierung der Türkei und
Erdoğan selbst Strafanzeige erstattet, woraufhin in Deutschland ein Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaft eingeleitet wurde. Das Ermittlungsverfahren ist mit der Begründung, dass sich keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine
strafbare Handlung ergeben hätten, wieder eingestellt worden. Der „Fall Böhmermann“ löste eine heftige Diskussion über Meinungs- und Kunstfreiheit aus. 2 Schiller, Friedrich: Erzählungen. In: Sämtliche Werke. Bd. 5: Theoretische Schriften. Hg. von Gerhard Fricke und Herbert G.
Göpfert. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 91993, S. 722.
Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 8 von 25
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Satire wird, insbesondere als politische Satire, immer auch getragen von der aufklärerischen 21
und postaufklärerischen Absicht, zur Freiheit erziehen zu wollen.
[…]
Material 4: Erich Mühsam. Wiegenlied (1915)
Erich Mühsam (1878‒1934, ermordet im Konzentrationslager Oranienburg) war ein
deutscher Schriftsteller, Anarchist, Pazifist und politischer Aktivist.
Still, mein armes Söhnchen, sei still.
Weine mich nicht um mein bißchen Verstand.
Weißt ja noch nichts vom Vaterland, 3
daß es dein Leben einst haben will.
Sollst fürs Vaterland stechen und schießen,
sollst dein Blut in den Acker gießen, 6
wenn es der Kaiser befiehlt und will. –
Still, mein Söhnchen, sei still!
Trink, mein Söhnchen, von meiner Brust. 9
Trink, dann wirst du ein starker Held,
ziehst mit den andern hinaus ins Feld.
Vater hat auch hinaus gemußt. 12
Vater ward wider Willen und Hoffen
von einer Kugel ins Herz getroffen.
Aus ist nun seine und meine Lust. – 15
Trink von der Mutter Brust!
Freu dich, goldiges Söhnchen, und lach.
Bist du ein Mann einst, kräftig und groß, 18
wirst du das Lachen von selber los.
Fröhlich bleibt nur, wer krank ist und schwach.
Vater war lustig. Ich hab ihn verloren, 21
hab dann dich unter Schmerzen geboren, –
hörst drum ewig mein bitteres Ach!
Freu dich, Söhnchen, und lach! 24
Schlaf, mein süßes Söhnchen, o schlaf.
Weißt ja noch nichts von Unheil und Not,
weißt nichts von Vaters Heldentod, 27
als ihn die bleierne Kugel traf.
Früh genug wird der Krieg und der Schrecken
dich zum ewigen Schlummer erwecken ... 30
Friede, behüt meines Kindes Schlaf! –
Schlaf, mein Söhnchen, o schlaf …
Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 9 von 25
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Material 5: Stefan Sichermann. Neue Satzzeichen sollen Inflation von Frage-
und Ausrufezeichen im Internet eindämmen!!! (2010)
Stefan Sichermann (*1980) ist Chefredakteur der Satirezeitschrift Der Postillon, die seit 1845
existiert.
Mannheim (dpo) - Jeder weiß, dass in Internet-Chats
und Blog-Kommentaren derjenige Recht hat, der
seine Ausführungen durch die meisten Ausrufe- und 3
Fragezeichen unterstreicht. Um diesem Trend
entgegenzuwirken und Platz sparen zu helfen, hat der
in Mannheim ansässige Dudenverlag die deutsche 6
Sprache nun um zwei neue, stärkere Satzzeichen
erweitert, die künftig gleich für ganze Gruppen dieser
Argumentationshilfen stehen sollen: ヤ und ‽. 9
Das sogenannte „Brüllzeichen“ ヤ soll denselben Wert besitzen wie zehn Ausrufezeichen
(!!!!!!!!!!) bzw. Einsen (!!!1!!11!!), während das „Interrobang“ ‽ für drei Fragezeichen, zwei
Ausrufezeichen und noch ein Fragezeichen stehen wird (???!!?). 12
[…]
„In Zeiten des ,World Wide Web‘ muss sich die Schriftsprache an die geschaffenen
Realitäten anpassen“, erklärte ein Sprecher des Dudenverlags gegenüber dem Postillon.
„Außerdem verschwenden Sätze auf Bild.de, in Foren oder auf Twitter wie ,Sarrazin hat 15
rehct !!!!!!!!!!!!!!!!!!‘, ,Armes Deutschlant!!1!!!!!11!‘ oder ,Was willst du den eigentlich???!!?‘
wertvollen Webspace. Die neuen Satzzeichen verhindern quasi, dass das Internet
irgendwann voll ist.“ 18
Erste Internetreaktionen auf die geplanten Neuerungen reichen von ,Superヤ Endlich, tut sich
wasヤヤ‘ bis hin zu „Wer glauben die, dass die sind‽‽‽‽‽‽‽‽‽‽‽
Ich lass mir doch nicht vorschreiben wie ich zu schreiben habeヤヤヤヤヤヤヤヤ“. 21
Material 6: Satire und Karikatur (Auszug aus einer Rechtsberatung durch eine
Anwaltskanzlei, 2017)
[…]
Im Rahmen einer Satire oder einer Karikatur wird bewusst ein Zerrbild der Wirklichkeit
vermittelt. Es liegt im Wesen einer Satire, dass sie übertreibt. Dem Gedanken, den sie
ausdrücken will, gibt sie einen scheinbaren Inhalt, der über das wirklich Gemeinte 3
hinausgeht. Der Leser oder Zuschauer wird in aller Regel jedoch erkennen, welche
tatsächliche Aussage hinter der Satire steht.
Abitur 2019 Deutsch Erhöhtes Anforderungsniveau Seite 11 von 25
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Darstellungen im Rahmen einer Satire oder einer Karikatur dürfen aus diesem Grund 6
rechtlich nicht nur vordergründig aufgefasst werden. Es muss zwischen dem Aussagekern
und seiner humoristisch satirischen Ausgestaltung unterschieden werden. Der Aussagekern
und die konkrete satirische Ausgestaltung sind jeweils getrennt voneinander rechtlich zu 9
prüfen. Der Aussagekern ist rechtlich zu bewerten wie andere Äußerungen ebenfalls.
Die satirische Ausgestaltung genießt hingegen presserechtlich größere Freiheiten.
Übertreibungen und Verzerrungen […] sind Teil des satirischen Konzeptes. In einer Satire 12
eine missverständliche Formulierung zu verwenden, ist daher nicht prinzipiell unzulässig.
Dies gilt besonders für Personen der Zeitgeschichte (Prominente) und Politiker.
Insbesondere dann, wenn die karikierte Person durch ihr Verhalten selbst Anlass zur Kritik 15
gegeben hat. Satire und Karikatur in ihrer konkreten Ausgestaltung sind von dem Grundrecht
der Meinungsäußerungsfreiheit geschützt, gegebenenfalls können sie sogar eine Kunstform
sein, die durch die Kunstfreiheit grundrechtlich geschützt ist. 18
Andererseits ist auch das Persönlichkeitsrecht der karikierten Person durch das Grundgesetz
geschützt. Es ergibt sich also ein rechtliches Spannungsfeld zwischen dem Schutz der
konkreten Satire und dem Schutz der Persönlichkeit des Betroffenen. Eine rechtlich 21
zulässige Satire oder Karikatur muss sich also innerhalb dieses Spannungsfeldes bewegen.
Wenn eine Satire oder eine Karikatur nicht etwas Vorhandenes übertreibt oder überpointiert,
sondern ohne reale Grundlage in eine vollkommen absurde Richtung zielt, wird in vielen 24
Fällen das Persönlichkeitsrecht des Betroffenen schwerer wiegen. Die Satire ist dann
unzulässig.
Satire und Karikatur sind auch dann unzulässig, wenn sie die Grenzen des für den 27
Betroffenen Erträglichen überschreiten. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn sie
beleidigend sind. Der Betroffene muss es auch nicht dulden, dass er besonders obszön
karikiert wird oder durch sexuelle Darstellungen gedemütigt wird. Entscheidend ist, ob die 30
Darstellung auf die persönliche Ehre des Betroffenen abzielt oder auf äußere Umstände wie
politische Verhältnisse.
[…]
Material 7: Swen. Satire (2014)
Silvan Wegmann (*1969) ist ein bekannter Schweizer Karikaturist; er publiziert unter dem
Kürzel Swen.
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Material 8: Jesko Friedrich. Was darf Satire? (2009)
Jesko Friedrich (*1974) ist Autor und Regisseur der Satire-Sendung extra 3 des
Norddeutschen Rundfunks und tritt dort auch als Darsteller auf.
[…] Satire ist in erster Linie gegen etwas gerichtet, und zwar gegen eine als fehlerhaft und
schlecht empfundene Wirklichkeit in Form von Personen, Institutionen und Geisteshaltungen.
Diese werden kritisch mit einem Ideal verglichen, dem sie nicht entsprechen. Der ironische 3
Humor, mit dem dies oft geschieht, ist dabei nur ein Vehikel, das ohne den kritischen
Anspruch der Satire zu reiner Komik bzw. Comedy wird.
Dementsprechend sollte die zentrale Frage an jeden satirischen Beitrag, egal in welchem 6
Medium, sein: „Wer ist der Feind?“ Oder, wem das zu martialisch klingt: „Wer ist
verantwortlich für einen (veränderbaren) schlechten Zustand?“ Eine kurze Bemerkung zum
Ideal, dem die Satire verpflichtet ist: Dieses Ideal kann sich natürlich überall im 9
demokratischen Spektrum befinden, und so ungerne man gut gemachte Satire des
politischen Gegners sieht, so wenig dürfte man von vornherein sagen: „Das darf Satire
nicht“. Was Satire nicht darf, ist, kein Ideal haben. 12
[…]
Grundsätzlich gilt: Jeder hat das Recht auf satirische Kritik. Christen, Juden, Moslems,
Behinderte und Behindernde, Frauen, Männer, Intersexuelle – sie alle taugen zum Feind,
wenn sie ein entsprechendes Fehlverhalten an den Tag legen. Feind-Probleme, die in 15
meinem Alltag bei extra 3 immer wieder auftreten, sind zum Beispiel:
a) angeblicher Feind hat bei genauerem Hinsehen Recht
b) es gibt mehrere Feinde 18
c) der Feind hat einen zu niedrigen Status
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Punkt a) führt in der Praxis dazu, dass der Film nicht gemacht wird. An einem gewählten
Feind festzuhalten, obwohl die Fakten ihn vollständig entlasten, wäre nicht Satire, sondern 21
Propaganda. In diesem Zusammenhang muss auch gesagt werden, dass Satire eines mit
Sicherheit nicht darf, und das ist: Fakten verfälschen. Ein zuspitzendes Fokussieren auf die
Fehler des Feindes darf, ja muss sogar vorgenommen werden. Satire muss wehtun, sonst 24
bleibt sie wirkungslos. […] Hingegen wäre es aber unredlich, zum Beispiel eine statistische
Zahlenangabe (Atommüllfässer in der Asse1, getötete Zivilisten im Irak oder Ähnliches)
kurzerhand zu verdoppeln, um etwa das Fehlverhalten der Verantwortlichen noch deutlicher 27
herauszustellen. Letztendlich wäre so ein Vorgehen auch kontraproduktiv, da der Satiriker
selbst angreifbar würde. Hier ist auch ironische Verfremdung, mit der Satire gerne arbeitet,
keine Entschuldigung: Die Fakten, die ironisch oder in anderer verfremdeter Form präsentiert 30
werden, müssen trotzdem wahr sein.
Ein gutes Beispiel für Punkt b) ist der Nahostkonflikt: Das Leiden der palästinensischen
Zivilbevölkerung und der Terror gegen Israel sind so untrennbar miteinander verbunden, 33
dass die Fokussierung auf eine der beiden Parteien als satirisch verstandenen „Feind“ oft als
überzogen parteiisch erscheint. Beide Konfliktparteien als Feinde in einem Beitrag
funktionieren nicht gut, da das Fehlverhalten der einen Partei dasjenige der anderen 36
relativiert und begründet, ja sogar teilweise entschuldigt. Sagen wir so: Zwei Feinde sind
theoretisch möglich und erlaubt, aber lass es lieber.
Punkt c) konstituiert für mich ein satirisches Tabu. Satire tritt nicht nach unten. Das arme 39
Würstchen ist nicht der Feind. […]
[Besonders ärgerlich] ist in diesem Zusammenhang die zum ausschließlichen Zwecke der
Belustigung veranstaltete, forcierte Verhöhnung Schwächerer, die sich als Satire ausgibt. 42
Beispiel: Im Jahr 2004 kommentierte Stefan Raab2 das Foto einer jungen türkischen Mutter,
die die Schultüte für ihr Kind trug, mit dem Satz: „Die Dealer tarnen sich immer besser.“ Vor
Gericht wollte Raab dies als „zulässige Satire“ verstanden wissen. Gegen diese 45
Inanspruchnahme muss sich die Satire verwahren. Diese Äußerung ist keine Satire, schon
gar keine zulässige. Die Frage lautet wie immer: Wer ist der Feind? Junge Mütter? Junge
Türkinnen? Warum? […] 48
1 Asse: ehemaliges Salzbergwerk bei Wolfenbüttel, als Atommülllager genutzt
2 Stefan Raab: deutscher Fernsehmoderator, Entertainer, Unternehmer, Singer-Songwriter, Komponist sowie Fernseh- und
Musikproduzent; beendete 2015 seine Fernsehkarriere
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Quellenangaben:
Material 1: Tucholsky, Kurt: Was darf die Satire? In: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Bd. 2. Hg. von Mary
Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1975, S. 42-44.
Material 2: Brockhaus-Enzyklopädie in vierundzwanzig Bänden. Bd. 19. Mannheim: Brockhaus 19
1992, S. 210.
Material 3: Neuhaus, Stefan (04.06.2016): Was darf die Satire? Kurt Tucholsky, Jan Böhmermann und die
Folgen. Zugriff am 24.11.2017 auf http://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=2214
Material 4: Mühsam, Erich: Wiegenlied. In: Gesamtausgabe. Gedichte. Bd. 1. Hg. von Günther Emig. Berlin 1983,
S. 297 f.
Material 5: Sichermann, Stefan (04.10.2010): Neue Satzzeichen sollen Inflation von Frage- und Ausrufezeichen
im Internet eindämmen!!! In: Der Postillon 10 (2010). Zugriff am 24.11.2017 auf http://www.der-
postillon.com/2010/10/neue-satzzeichen-sollen-internet.html
Material 6: Kanzlei Schröder: Satire und Karikatur (ohne Jahr). Zugriff am 24.11.2017 auf
http://www.kanzleischroeder-kiel.de/artikel/oeffentliche-behauptungen/satire-und-karikatur.html
Material 7: Wegmann, Silvan (2014): Satire. Zugriff am 24.11.2017 auf http://www.swen.ch/?month=201401
Material 8: Friedrich, Jesko (2009): Was darf Satire? In: ARD Jahrbuch 2009. Zugriff am 24.11.2017 auf
www.ndr.de/fernsehen/sendungen/extra_3/wir_ueber_uns/wasdarfsatire100.html
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Block III
A Walter Hasenclever: Der Sohn (Textauszug)
B Franz Kafka: Brief an Julie und Hermann Kafka
1. Interpretieren Sie den Textauszug aus Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“.
2. Vergleichen Sie beide Textauszüge unter ausgewählten Aspekten.
Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Aufgabe.
Walter Hasenclever (1890 – 1940): Der Sohn (Textauszug)
Erster Akt
Erste Szene
Das Zimmer des Sohnes im elterlichen Hause. In der Mittelwand ein großes Fenster mit
Ausblick in den Park; fern die Silhouette der Stadt: Häuser, ein Fabrikschornstein.
Im Zimmer die mäßige Eleganz eines angesehenen Bürgerhauses. Möbel in Eichenholz: die 3
Ausstattung eines Studierzimmers; Bücherschränke, Arbeitstisch, Stühle, Landkarte. Türe
rechts und links. Die Stunde vor der Dämmerung.
Der Sohn. Der Hauslehrer. 6
DER SOHN Ich bin 20 Jahre alt und könnte am Theater sein oder in Johannisburg
Viadukte bauen. Weshalb muß es an der Formel für den abgestumpften Kegel scheitern!
Alle Professoren waren mir gewogen, sogar der Direktor sagte mir vor. Ich hätte die 9
Aufgabe glänzend gelöst – wäre ich nicht im letzten Augenblick geflohn. Ich glaube, es gibt
etwas, das zwingt uns zum Schmerz. Ich hätte die Freiheit nicht ertragen. Vielleicht werde
ich niemals ein Held. 12
DER HAUSLEHRER Sie haben also die Matura nicht bestanden. Wie oft habe ich mit
Ihnen hier an diesem Tische gesessen und mit Ihnen die Formeln gepaukt. Habe ich Ihnen
denn nicht erklärt, daß man den kleinen vom großen Kegel subtrahiert! Antworten Sie! 15
DER SOHN Ja, Herr Doktor. Sie haben es mir erklärt. Ich verstehe Ihren Schmerz. Sie
sind traurig, weil dieser Kegel in der Welt ist. Glauben Sie mir, ich bin es nicht mehr! Mir
fehlt sogar die vergängliche Pose, die sich noch unter Tränen verhöhnt. Sie werden sagen, 18
ich sei ein Schwächling oder ein Schurke. […]
DER HAUSLEHRER Wir hätten in den letzten Tagen nicht so viel arbeiten sollen. Ihr
Zustand ist begreiflich. Sie stehn unter einer seelischen Depression. 21
DER SOHN Ich glaube, die Seele der Menschen ist nicht so einfach. Dieser Tag ist ein
Erlebnis. Meine Sehnsucht, frei zu werden, war zu groß. Sie war stärker als ich, deshalb
konnte ich sie nicht erfüllen. Ich habe zu viel empfunden, um noch Mut zu haben. Ich bin an 24
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mir selber verblutet. Ich werde wohl niemals die Kraft haben, das zu tun, wofür ich da bin.
Jetzt sehen Sie ein, daß ich die Matura nicht bestehen konnte: ich wäre an irgend etwas
zugrunde gegangen. 27
DER HAUSLEHRER Beruhigen Sie sich. Es ist nicht so schlimm.
DER SOHN Ich danke Ihnen. Sie sind gut zu mir. Man wird Sie davonjagen, weil ich ein
Idiot bin. 30
DER HAUSLEHRER Ich wollte, ich könnte Ihnen helfen.
DER SOHN Mein Vater wird dafür sorgen, daß es nicht geschieht.
DER HAUSLEHRER Wie werden Sie es ihm sagen? 33
DER SOHN Bitte telegraphieren Sie ihm, Sie wissen seine Adresse. Es ist mir
unmöglich, das selber zu tun. Ich fürchte seinen Zorn nicht, doch ich leide an jedem
Menschen und an jeder Straße. Ich bin gedemütigt durch jede Existenz, die meine 36
Sehnsucht nach ihr verringert. […]
DER HAUSLEHRER Ich möchte Ihnen etwas sagen. – Seien Sie nicht bekümmert
meinetwegen, wenn Ihr Vater mich nach Ihrem Durchfall entläßt … 39
DER SOHN schnell Sie haben Familie und müssen sorgen. Ich bin schuld, wenn Sie
unser Haus verlassen. Das tut mir leid.
DER HAUSLEHRER Das soll Ihnen nicht leid tun! Denken Sie an sich. Wenn ich auch nur 42
Ihr Hauslehrer bin – glauben Sie mir – ich liebe Sie trotzdem!
DER SOHN ergreift seine Hände Mein alter Freund, ich wußte es, daß Sie mich
lieben. Eines Tages, wenn ich geerbt habe, will ich Sie einladen auf eine Reise nach Paris 45
oder Hindostan. Dann werden wir in den Louvre gehn und mit arabischen Mädchen
soupieren. Die Erde, die uns trennt, ist nicht so groß! Auch für Sie leben die Götter Homers
und Schillers Lied an die Freude. 48
DER HAUSLEHRER Was werden Sie jetzt tun?
DER SOHN Vielleicht einen Monolog halten. Ich muß mich aussprechen mit mir. Sie
wissen, daß man sonst diese Mode verachtet. Ich habe es niemals als schimpflich 51
empfunden, vor meinem eignen Pathos zu knien, denn ich weiß, wie bitterernst meine
Freude und mein Schmerz ist. Seit meiner frühesten Kindheit hab ich gelernt, die
Einsamkeit um mich her zu begeistern, bis sie in Tönen zu mir sprach. Noch heute kann ich 54
in den Garten gehn und vor etwaigen Bäumen eine Symphonie dirigieren und mein eigner
Tenor sein … Kennen Sie das Gefühl nicht?
DER HAUSLEHRER bescheiden Wir wohnen auf einer Etage. 57
DER SOHN Wenn sie Beifall rufen und man sich verbeugen muß mit einer Nelke im
Knopfloch …
DER HAUSLEHRER Wer ruft denn? 60
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DER SOHN Die Leute, die nicht da sind! Begreifen Sie doch, Mensch: man lebt ja nur in
der Ekstase; die Wirklichkeit würde einen verlegen machen. Wie schön ist es, immer wieder
zu erleben, daß man das Wichtigste auf der Welt ist! 63
DER HAUSLEHRER Was soll ich Ihrem Vater telegraphieren?
DER SOHN Schonen Sie ihn nicht: er haßt mich! Ich weiß, er wird rasen. Ich bin feige,
sonst würde ich lügen, man habe mich von der Schule gejagt, daß um eine Stunde seine 66
Wut sich vergrößert. Telegraphieren Sie ihm alles, was Sie wollen – nur nicht, daß Sie mich
lieben.
DER HAUSLEHRER Ich verstehe Ihren Vater nicht. 69
DER SOHN Wenn Sie selber einmal Vater sind, werden Sie genau so wie er. Der Vater –
ist das Schicksal für den Sohn. Das Märchen vom Kampf des Lebens gilt nicht mehr: im
Elternhaus beginnt die erste Liebe und der erste Haß. 72
DER HAUSLEHRER Aber sind Sie nicht der Sohn?
DER SOHN Ja, deshalb bin ich im Recht! Das kann keiner verstehn außer mir. Später
verliert man die Balance mit sich in dieser Zeit. Lieber Doktor: vielleicht werden wir uns 75
nicht wiedersehn. Hören Sie noch einen blutenden Rat aus meinem Herzen: wenn Sie
jemals einen Sohn haben, setzen Sie ihn aus oder sterben Sie vor ihm. Denn der Tag
kommt, wo Sie Feinde sind, Sie und Ihr Sohn. Dann gnade Gott dem, der unterliegt. 78
DER HAUSLEHRER Lieber Freund, wir werden uns allesamt in dieser Welt verirren.
Weshalb wollen Sie so grausam sein! Gehen Sie doch auf die Straße, und sehen Sie ein
Tier an, das vor dem Donner erschrickt. Wissen Sie, wie hungrigen Mädchen zumute ist, 81
und sind Sie einmal einem Krüppel begegnet, der morgens um 6 Uhr Brot holt? Dann
werden Sie dankbar sein, einen Vater zu haben. Jedem von uns geschieht Unrecht, und
jeder tut Unrecht. Wer wirft den ersten Stein! Ich war ein armer Hund, und mein Vater hat 84
für mich gearbeitet. Ich habe gesehn, wie er gestorben ist. Und ich habe geweint. Wer das
erlebt hat, der richtet nicht mehr.
DER SOHN Wer hilft mir, wenn ich traurig bin? Glauben Sie, ich kann einschlafen jeden 87
Abend, wenn ich schlafen muß? Glauben Sie, ich wüßte nicht, wie weh es tut, wenn man
am Sonntag nicht aus dem Hause darf, wo doch jedes Dienstmädchen zum Tanze geht?
Mein Vater wird niemals dulden, daß jemand auf der Welt mein Freund ist. Ich habe die 90
Süßigkeit eines ärmsten Bewohners noch nie gekostet. Und weshalb redet er nicht mit mir
über Gott? Weshalb spricht er nicht von Frauen? Weshalb muß ich heimlich Kant lesen, der
mich nicht begeistert? Und weshalb dieser Hohn über alles, was doch weltlich ist und 93
schön? Glauben Sie, es genügt, wenn er mir manchmal am Abend das Sternbild des
großen Bären zeigt? Er sitzt mit seiner Zigarre unten auf der Terrasse, wenn längst kein
Automobil mehr in die Stadt fährt. Aber ich stehe oben und kämpfe mit allen Göttern und 96
sterbe vor einer Frau, die ich noch nicht kenne. Wie oft bin ich des Nachts im Hemd über
die Stiegen gewandelt, sehnsüchtig wie ein Geist, der keine Ruhe findet.
DER HAUSLEHRER Hätten Sie noch eine Mutter, Ihnen wäre wohl. 99
DER SOHN Meine Mutter starb bei meiner Geburt. Ich weiß nichts von ihr. […]
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(1916)
Walter Hasenclever: Sämtliche Werke, Band 2. Stücke. 1. Bis 1924. Mainz 1992, S.235-239.
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Franz Kafka (1883 – 1924): Brief an Julie und Hermann Kafka
Nr. 22: An Julie und Hermann Kafka
[Marielyst1, Juli 1914]
… Insoferne aber bin ich mit Berlin nicht fertig, als ich glaube, daß mich diese ganze Sache
zu eurem und zu meinem Wohle (denn die sind ganz gewiß eines) hindert, so weiter zu
leben wie bisher. Seht, ein wirklich schweres Leid habe ich euch vielleicht noch nicht 3
gemacht, es müßte denn sein, daß diese Entlobung2 ein solches ist, von der Ferne kann ich
es nicht so beurteilen. Aber eine wirkliche dauernde Freude habe ich euch noch viel weniger
gemacht und das, glaubt mir, nur aus dem Grunde, weil ich selbst mir diese Freude nicht 6
dauernd machen konnte. Warum das so ist, wirst gerade Du, Vater, obwohl Du das
Eigentliche, was ich will, nicht anerkennen kannst, am leichtesten verstehn. Du erzählst
manchmal, wie schlecht es Dir in Deinen ersten Anfängen gegangen ist. Glaubst Du nicht, 9
daß das eine gute Erziehung zur Selbstachtung und Zufriedenheit war? Glaubst Du nicht,
übrigens hast Du es auch schon geradezu gesagt, daß es mir zu gut gegangen ist? Ich bin
bis jetzt durchaus in Unselbständigkeit und äußerlichem Wohlbehagen aufgewachsen. 12
Glaubst Du nicht, daß das für meine Natur gar nicht gut gewesen ist, so gütig und lieb es
auch von allen war, die dafür sorgten? Gewiß es gibt Menschen, die sich ihre Selbständigkeit
überall zu sichern verstehn, ich gehöre aber nicht zu ihnen. Allerdings gibt es auch 15
Menschen, die ihre Unselbständigkeit nirgends verlieren, aber nachzuprüfen, ob ich zu
diesen doch nicht gehöre, scheint mir kein Versuch zu schade. Auch der Einwand, daß ich
zu einem solchen Versuch zu alt bin, gilt nicht. Ich bin jünger, als es den Anschein hat. Es ist 18
die einzig gute Wirkung der Unselbständigkeit, daß sie jung erhält. Allerdings nur dann, wenn
sie ein Ende nimmt.
Im Bureau werde ich aber diese Besserung niemals erreichen können. Überhaupt in Prag 21
nicht. Hier ist alles darauf angelegt, mich, den im Grunde nach Unselbständigkeit
verlangenden Menschen, darin zu erhalten. Es wird mir alles so nahe angeboten. Das
Bureau ist mir sehr lästig und oft unerträglich, aber im Grunde doch leicht. Ich verdiene auf 24
diese Weise mehr als ich brauche. Wozu? Für wen? Ich werde auf der Gehaltsleiter
weitersteigen. Zu welchem Zweck? Mir ist diese Arbeit nicht entsprechend und bringt sie mir
nicht einmal Selbständigkeit als Lohn, warum werfe ich sie nicht weg? Ich habe nichts zu 27
riskieren und alles zu gewinnen, wenn ich kündige und von Prag fortgehe. Ich riskiere nichts,
denn mein Leben in Prag führt zu nichts Gutem. Ihr vergleicht mich manchmal zum Spaß mit
Onkel R. Aber gar zu weit führt mich mein Weg von ihm nicht ab, wenn ich in Prag bleibe. Ich 30
werde voraussichtlich mehr Geld, mehr Interessen und weniger Glauben haben als er, ich
werde dementsprechend unzufriedener sein, vielmehr Unterschiede wird es kaum geben. –
Ich kann außerhalb Prags alles gewinnen, das heißt ich kann ein selbständiger ruhiger 33
Mensch werden, der alle seine Fähigkeiten ausnützt und als Lohn guter und wahrhaftiger
Arbeit das Gefühl wirklichen Lebendigseins und dauernder Zufriedenheit bekommt. Ein
solcher Mensch wird sich – es wird nicht der kleinste Gewinn sein – auch zu euch besser 36
stellen. Ihr werdet einen Sohn haben, dessen einzelne Handlungen ihr vielleicht nicht billigen
1 Marielyst: dänisches Ostseebad
2 Entlobung: Anspielung auf die Lösung des Verlöbnisses mit Felice Bauer am 12.07.1914
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werdet, mit dem ihr aber im Ganzen zufrieden sein werdet, denn ihr werdet euch sagen
müssen: ›Er tut, was er kann.‹ Dieses Gefühl habt ihr heute nicht, mit Recht. 39
Die Ausführung meines Planes denke ich mir so: Ich habe fünftausend Kronen. Sie
ermöglichen mir, irgendwo in Deutschland in Berlin oder München zwei Jahre, wenn es sein
muß, ohne Geldverdienst zu leben. Diese zwei Jahre ermöglichen mir, literarisch zu arbeiten 42
und das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit und äußerer
Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte. Diese
literarische Arbeit wird es mir ermöglichen, nach diesen zwei Jahren von eigenem Verdienst 45
zu leben und sei es auch noch so bescheiden. Sei es aber auch noch so bescheiden, es wird
unvergleichlich sein zu dem Leben, das ich jetzt in Prag führe und das mich dort für
späterhin erwartet. Ihr werdet einwenden, daß ich mich in meinen Fähigkeiten und in der 48
durch diese Fähigkeiten zu bildenden Erwerbsmöglichkeit täusche. Gewiß, das ist nicht
ausgeschlossen. Nur spricht dagegen, daß ich einunddreißig Jahre alt bin und derartige
Täuschungen in einem solchen Alter nicht in Rechnung gezogen werden können, sonst wäre 51
jedes Rechnen unmöglich, ferner spricht dagegen, daß ich schon einiges, wenn auch wenig,
geschrieben habe, das halbwegs Anerkennung gefunden hat, endlich aber wird der Einwand
dadurch aufgehoben, daß ich durchaus nicht faul und ziemlich bedürfnislos bin und daher, 54
wenn auch eine Hoffnung mißlingen sollte, eine andere Erwerbsmöglichkeit finden und
jedenfalls euch nicht in Anspruch nehmen werde, denn das wäre allerdings sowohl in der
Wirkung auf mich als auf euch noch viel ärger als das gegenwärtige Leben in Prag, ja es 57
wäre gänzlich unerträglich.
Meine Lage scheint mir danach klar genug zu sein, und ich bin begierig, was ihr dazu sagen
werdet. Denn wenn ich auch die Überzeugung habe, daß es das einzig Richtige ist und daß 60
ich, wenn ich die Ausführung dieses Planes versäume, etwas Entscheidendes versäume, –
so ist es mir doch natürlich sehr wichtig zu wissen, was ihr dazu sagt.
Mit den herzlichsten Grüßen Euer Franz 63
(1914)
Franz Kafka: Briefe an Ottla und die Familie. Fischer Taschenbuchverlag. Frankfurt am Main 2011, S. 22-24.
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Block IV
A Ludwig Tieck: Wonne der Einsamkeit
B Erich Kästner: Kleines Solo
1. Interpretieren Sie das Gedicht „Wonne der Einsamkeit“ von Ludwig Tieck.
2. Vergleichen Sie die Gestaltung des Themas Einsamkeit in den Gedichten „Wonne
der Einsamkeit“ von Ludwig Tieck und „Kleines Solo“ von Erich Kästner.
Berücksichtigen Sie dabei sowohl inhaltliche als auch formal-sprachliche Aspekte.
Der Schwerpunkt liegt auf der ersten Aufgabe.
Ludwig Tieck (1773 – 1853): Wonne der Einsamkeit
O holde Einsamkeit,
O süßer Waldschatten,
Ihr grüne Wiesen, stille Matten1 , 3
Bei euch nur wohnt die Herzensfreudigkeit.
Ihr kleinen Vögelein
Sollt immer meine Gespielen sein, 6
Ziehende Schmetterlinge,
Sind meiner Freundschaft nicht zu geringe.
Unbefangen 9
Zieht ihr des Himmels blaue Luft,
Der Blumen Duft
In euch mit sehnendem Verlangen. 12
Ihr baut euch euer kleines Haus,
Haucht in den Zweigen Gesänge aus
Von Himmels-Ruhe rings umfangen. 15
Weit! weit!
Liegst du Welt hinab,
Ein fernes Grab. 18
O holde Einsamkeit!
1 Matten: Bergwiesen
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O süße Herzensfreudigkeit!
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Kommt ihr Beengten 21
Herzbedrängten,
Entfliehet, entreißt euch der Quaal,
Es beut2 die gute Natur, 24
Der freundliche Himmel,
Den hohen gewölbten Saal,
Mit Wolken gedeckt, die grüne Flur: 27
Entflieht dem Getümmel!
O holde Einsamkeit!
O süße Freudigkeit! 30
(1802)
Tieck, Ludwig: Wonnen der Einsamkeit. In: Ludwig Tieck. Schriften in zwölf Bänden. Hg. von Manfred Frank,
Achim Hölter u. a., Bd. 7: Gedichte. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1995, S. 471.
Die Rechtschreibung und die Einzüge am Strophenanfang entsprechen der Textquelle.
2 beut: bietet
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Erich Kästner (1899 – 1974): Kleines Solo
Einsam bist du sehr alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine. 3
Träumst von Liebe. Glaubst an keine.
Kennst das Leben. Weißt Bescheid.
Einsam bist du sehr alleine – 6
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Wünsche gehen auf die Freite1.
Glück ist ein verhexter Ort. 9
Kommt dir nahe. Weicht zur Seite.
Sucht vor Suchenden das Weite.
Ist nie hier. Ist immer dort. 12
Stehst am Fenster. Starrst auf Steine.
Sehnsucht krallt sich in dein Kleid.
Einsam bist du sehr alleine – 15
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
Schenkst dich hin. Mit Haut und Haaren.
Magst nicht bleiben, wer du bist. 18
Liebe treibt die Welt zu Paaren.
Wirst getrieben. Mußt erfahren,
daß es nicht die Liebe ist ... 21
Bist sogar im Kuß alleine.
Aus der Wanduhr tropft die Zeit.
Gehst ans Fenster. Starrst auf Steine. 24
Brauchtest Liebe. Findest keine.
Träumst vom Glück. Und lebst im Leid.
Einsam bist du sehr alleine – 27
und am schlimmsten ist die Einsamkeit zu zweit.
(1947)
1 auf Freite gehen: auf Brautschau gehen, sich eine Frau suchen; allgemeiner: um jemanden werben
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Kästner, Erich: Kleines Solo. In: Erich Kästner. Werke. Hg. von Franz Josef Görtz. Bd. II: Wir sind so frei.
Chanson, Kabarett, Kleine Prosa. München, Wien: Carl Hanser Verlag 1998, S. 152.
Die Rechtschreibung und die Einzüge in der 1., 3. und 4. Strophe entsprechen der Textquelle.