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hp://medicalaidforrefugees.at „Mit der kalten Wierung ist die Situaon untragbar!“ Zwischenbericht zur medizinischen Versorgung der in Österreich ankommenden Flüchtlinge Medical Aid for Refugees Stand 12. November 2015

Medical Aid for Refugees: Zwischenbericht Österreich

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Zwischenbericht zur medizinischen Versorgung der in Österreich ankommenden Flüchtlinge

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„Mit der kalten Witterung ist die Situation untragbar!“

Zwischenbericht zur medizinischen Versorgung der in Österreich ankommenden Flüchtlinge

Medical Aid for RefugeesStand 12. November 2015

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Zwischenbericht zur medizinischen Versorgung der in Österreich ankommenden Flüchtlinge

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Für den Inhalt verantwortlich:

Arbeitskreis Medical Aid for Refugeesc.o. Ärzte ohne Grenzen / Médecins Sans Frontières österreichische SektionBüroadresse & Firmensitz:Taborstraße 101020 WienÖsterreich

E-Mail: [email protected]

© Fotos: André Höschele, Mariella Hudetz

Stand: November 2015

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Zwischenbericht zur medizinischen Versorgung der in Österreich ankommenden Flüchtlinge

Die Initiative „Medical Aid for Refugees“ ist ein spontaner Zusammenschluss verschiedener Hilfsorganisationen, Privatinitiativen und ehrenamtlicher Ärzte und Ärztinnen. Ihr Ziel ist es, eine möglichst lückenlose medizinische Versorgung für Flüchtlinge zu garantieren. Die Initiative versteht sich als Bindeglied zwischen ehrenamtlichem medizinischem Personal und den offiziell beauftragten Hilfsorganisationen.

Die Initiative ist aus der Mitte August 2015 entstandenen „Initiative medizinische Beratung in Traiskirchen“ hervorgegangen. In der derzeitigen Form ist sie seit 25. September aktiv. In den vergangenen Tagen und Wochen waren über die Initiative vermittelte Ärzte und Ärztinnen am Grenzübergang Nickelsdorf, in Wiesen, in der Nova-Rock-Halle im Burgenland, in Traiskirchen, am Wiener Westbahnhof und am Hauptbahnhof, im Dusika-Stadion und in diversen Notschlafstellen tätig.

Insgesamt wurden in dem Zeitraum (bis 12. 11.) 237 Ärzte und Ärztinnen zu 378 Einsätzen vermittelt. Gemeinsam leisteten sie medizinische Versorgung im Ausmaß von über 1782 Stunden.

Aus medizinischer Sicht bereitet heute vor allem die unzureichende Vorbereitung auf die kalte Jahreszeit Sorge. Die über die Initiative organisierten Ärzte und Ärztinnen warnen eindringlich vor den medizinischen Folgen der fehlenden winterfesten Einrichtungen für Ankommende und Durchreisende.

In den Tagen seit den beiden Assessments durch Ärzte ohne Grenzen und unmittelbar vor Veröffentlichung dieses Berichts wurden vermehrt Menschen aus Traiskirchen in andere Betreuungseinrichtungen (Salzburg, Schwechat, etc.) verlegt. Alle in diesem Bericht für die Betreuungsstelle Traiskirchen formulierten Empfehlungen haben selbstverständlich auch für an-dere Aufnahme-zentren und Transitlager in Österreich Gültigkeit.

Bei Bedarf wird Ärzte ohne Grenzen auch Zugang zu anderen Einrichtungen fordern, um sich ein Bild über die dortige medizinische und psychosoziale Versorgung der Menschen zu machen.

Aus medizinischer Sicht ist festzuhalten, dass die wiederholte Verlegung von einem provisorischen Massenquartier ins andere für Menschen, die einen langen und oft traumatisie-renden Fluchtweg hinter sich haben, jedenfalls abzulehnen ist. Die Sicherung einer stabilen, den humanitären und sanitären Standards entsprechende Unterbringung für Menschen, die hierzu-lande Schutz suchen, muss höchste Priorität haben.

Das Assessment-Team von Ärzte ohne Grenzen bestand aus einem Internisten, einem Allgemeinmediziner und Psychiater, einem Pädiater, einer Psychologin, einer Psychotherapeutin, einer Wasser- und Sanitärexpertin sowie dem Geschäftsführer der österreichischen Sektion von Ärzte ohne Grenzen.

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Die bisherigen Erfahrungen ergeben folgendes Bild:

1. Medizinischer Zustand der Ankommenden

Die meisten Erkrankungen sind relativ einfach (etwa Atemwegserkrankungen, Husten und Schnupfen). Zu Beginn standen Fußleiden wie Blasen und Druckstellen im Vordergrund, auch Überlastungsbeschwerden; häufig waren vor allem stressbelastete Familien mit Kleinkindern, die unter Verdauungsbeschwerden, Essstörungen oder Infekten litten. Daneben sehen die Ärzte und Ärztinnen alle Arten von chronischen Krankheiten: Rheuma, Diabetes, Multiple Sklerose, Fehl- bildungen, Verletzungsnarben durch Misshandlungen und Unfälle auf der Flucht, etwa Haut- verletzungen durch Stacheldraht.

Immer wieder gibt es auch komplexere Probleme: Vor allem bei chronischen Erkrankungen, wie nicht gut eingestellter Diabetes Mellitus, Bluthochdruck oder seit Wochen bestehenden Gelenksschmerzen nach Traumata.

Insgesamt ist zu sagen, dass die Patienten und Patientinnen, auch wenn es sich oft nicht um dramatische Krankheitsfälle handelt, in den Versorgungsstellen mit den vorhandenen Mitteln nicht zufriedenstellend behandelt werden können.

Ein Arzt drückt es wie folgt aus: „Man gibt den Leuten Medikamente, weiß aber, dass sie eigentlich weitere Kontrollen oder Untersuchungen bräuchten.“

Wie von vielen Ärzte und Ärztinnen beobachtet wurde, ist ein wesentliches Problem die Trennung von Familien, wenn ein Familienmitglied stationär aufgenommen werden muss.

Es fehlt an der Dokumentation von Krankheitsfällen. Notwendig wäre etwa ein standardisiertes Formular zur Dokumentation für Patienten, die ins Krankenhaus gebracht werden, oder für chronisch kranke Patienten, etwa Dialysepatienten, die weiterreisen. Für die Kollegen in den Krankenhäusern, die ja meist keine Übersetzer haben, wäre die Anamnese damit erleichtert.

Insgesamt ist deutlich, dass die Flüchtlinge von der Reise durch Regen und Kälte bereits deut-lich gezeichneter sind, als noch vor ein paar Wochen. Infekte der Respirationstrakte nehmen mit dem feuchtkalten Wetter deutlich zu, oft auch mit Beeinträchtigungen der Lunge und Asthma. Zuletzt wurden häufig Unterkühlungen festgestellt.

Dusikastadion, November 2015 (© André Höschele)

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2. LageindenNotquartieren

Die Schutzsuchenden, darunter auch in die Obdachlosigkeit gedrängte Asylwerber ohne Zugang zur Grundversorgung, bleiben heute immer öfter über einen längeren Zeitraum in den Not-quartieren. Dadurch ist es mit Erster Hilfe allein nicht mehr getan. Derzeit haben sie dort keine Möglichkeit einer medizinisch umfassenden Betreuung. Zum einen beklagen die Mediziner den Mangel an Material und medizinischer Ausrüstung in den einzelnen Erstversorgungsstellen, und zum anderen werden die sanitären Einrichtungen dem Bedarf eines längeren Aufenthaltes in sehr vielen Notunterkünften nicht gerecht.

Ein Ärztin beschreibt: „Der Mobile Dienst wird bestellt für ein, zwei Patienten. Aber vor Ort finden wir eine ganz andere Situation vor, als ob man zu einer Ordination angetreten ist. Viele Menschen stauen sich vor der Tür, mit teils chronischen Problemen wie Koronare Herzkrank- heiten, Insulinbehandelter Diabetes oder mit Hämophilie. Schwangere mit wiederkehrenden Beschwerden, immer noch respiratorische Infekte und natürlich die vielen Kinder. An einem Vor-mittag sind 4 – 5 Quartiere mit dem Mobilen Dienst kaum zu schaffen. So gut kann man gar nicht mit Medikamenten vorbereitet sein. Jetzt wäre doch der Zeitpunkt für eine intensivierte Versor-gung gekommen!“

Ein anderer Arzt berichtet von seinem Dienst am Westbahnhof: „Das sind untragbare hygieni-sche Verhältnisse. Ich habe einem Mann mit leichter Skabies die Anwendung von Infectoskab erklärt. Darauf fragte er mich: ‚Wie soll ich das abwaschen, wenn ich nicht duschen kann’.“

Dusikastadion, November 2015 (© André Höschele)

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3. Vorbereitung auf die kalte Jahreszeit

Alle Ärzte beschreiben die schwerwiegenden Auswirkungen der Witterung auf die ankom-menden Menschen. Einer von ihnen berichtet: „Es wird immer kälter und das spüren wir selbst beim Arbeiten, vor allem in der Nacht, und sehen an den Patienten und Patientinnen. Erkältungen nehmen deutlich zu, es ist daher anzunehmen das bei bestehenden Unterbringungsmöglichkeiten (tagsüber auf dem kalten Bahnhofsboden) bald auch vermehrt Pneumonien und andere bakterielle Infektionen dazu kommen werden.“

Aus medizinischer Sicht ist davon auszugehen, dass die Zahl der Hospitalisierungen in den kommenden Tagen und Wochen zunehmen wird, zumal die Menschen aufgrund der Witterungs-bedingungen in einem immer schlechteren Zustand in Österreich ankommen werden.

Ein Arzt fasst es so zusammen: „Mit der kalten Witterung ist die Situation am Hauptbahnhof untragbar, schon jetzt, wo es „nur“ nasskalt ist.“ Der daraus resultierenden Gesundheitsgefähr-dung ist nur durch warme, trockene Unterkünfte entgegenzuwirken – Unterkühlung, Infekte, Anginen, Harnwegsinfekte und Lungenentzündungen werden sonst noch größere Probleme bereiten.

Ein anderer berichtet aus Nickelsdorf: „Säuglinge und Kleinkinder sind besonders in ihrer Gesund-heit gefährdetet, erhalten aber in keiner Weise eine altersadäquate Betreuung und Hilfe. Sie wer-den in Nickelsdorf extremer Nässe und Kälte ausgesetzt, was sicher für manchen Säugling bzw. Kleinkind schwere Erkrankung, wenn nicht den Tod bedeutet.“

Mobile Einheit, Oktober 2015 (© André Höschele)

Dusikastadion, November 2015 (© André Höschele)Mobile Einheit, Oktober 2015 (© André Höschele)

Nickelsdorf, Oktober 2015 (© Mariella Hudetz)

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4. SituationderehrenamtlichenHelferundHelferinnen

Der unermüdliche und über Monate dauernde Einsatz der tausenden freiwilligen Helfer und Helferinnen sowie die harschen Witterungsbedingungen fordern ihren Tribut. Zunehmend sind bei ihnen Ermüdungserscheinungen zu beobachten, auch Erkrankungen nehmen zu. Damit wird es schwieriger, die freiwilligen medizinischen Dienste zu besetzen. Ein beträchtliches Organisati-onsdefizit zwischen Freiwilligen und den Einsatzorganisationen erschwert die Situation zusätzlich. Die fehlende Unterstützung der ehrenamtlichen Privatpersonen und Initiativen der Zivilgesell-schaft durch die in Verantwortung stehenden Behörden ist in jeder Hinsicht inakzeptabel.

Mittel- und langfristig wird es nicht möglich sein, die Herausforderung überwiegend durch von Freiwilligen getragenen Betreuungsinitiativen erfolgreich zu bewältigen.

5. Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen

Gemeinsam und in enger Zusammenarbeit mit dem Roten Kreuz in Traiskirchen ist es gelungen, ein gut funktionierendes Netzwerk von ortsansässigen bzw. in der näheren Umgebung niederge-lassenen Fachärzten und Kliniken für Überweisungen und (telf.) Konsiliardienste aufzubauen.

Ärzte und Ärztinnen sehen nun besorgt der Entscheidung entgegen das Rote Kreuz aus dem Erstaufnahmezentrum abzuziehen. Damit würde dieses über Wochen aufgebaute erfolgreiche System zur adäquaten medizinischen Betreuung von Schutzsuchenden im Erstaufnahmezentrum nicht weitergeführt werden.

Dusikastadion, November 2015 (© André Höschele)

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EmpfehlungenBasierend auf den oben zusammengefassten Erfahrungen sprechen die in Medical Aid for Refugees organisierten Ärzte folgende Empfehlungen an die Verantwortlichen aus:

Die Transitzentren (Nickelsdorf, Spielfeld, …) und Notunterkünfte müssen umgehend für kalte Jahreszeit adaptiert werden, zudem sollten angesichts der raschen Veränderung der Fluchtrouten winter-gerechte Transitzentren an allen in Frage kommenden Grenzübergängen verfügbar sein. Die Hilfe muss darauf ausgerichtet werden, dass die Schutzsuchenden sich in diesen Zentren heute länger aufhalten als am Anfang der Krise. Damit verändert sich der Bedarf an medizinischer Betreuung mit Auswirkungen auf das benötigte medizinische Material, die Ausstattung, die Medikamente (z.B für chronische Erkrankungen), und auf die Anforderungen an sanitäre Einrichtungen.

In allen medizinischen Betreuungsstellen müssen einfache Prozesse der Versorgung implementiert werden, die auch eine Koordinierung mit den diversen Krankenhäusern vorsehen. Letztere ist entscheidend für all jene Fälle, in denen eine über die Erstversorgung hinaus gehende medizinische Betreuung notwendig ist. Es braucht unter anderem die Dokumentation von Krankheitsfällen und Pathologien, mehrsprachige Überweisungsdokumentationen, die ausreichende Information von Angehörigen und Sicherstellung, dass Familien durch eine stationäre Aufnahme nicht auseinandergerissen werden.

Eine engere Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den Freiwilligen und den verantwortlichen Behörden sowie die bewusste Unterstützung der Freiwilligen durch die Behörden sind dringend notwendig, um die Zivilgesellschaft komplementär zu den staatlichen Strukturen in dieser Ausnahmesituation optimal einzubinden.

Um in der sehr dynamischen Situation die Grundbedürfnisse der Menschen auf der Flucht, sowie deren medizinische Versorgung in angemessener und humaner Weise erfüllen zu können, ist die Ausarbei-tung eines nachhaltigen Konzeptes notwendig. Dieses wird nur mit Einbindung aller Beteiligten und unter Einhaltung humanitärer Standards erfolgreich gemeistert werden.

Die Fortführung der fachmedizinischen Betreuung von Schutzsuchenden im Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen muss garantiert werden, damit es nicht wieder zu einer inakzeptablen Situation wie im Sommer 2015 kommt.

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Traiskirchen, August 2015 (© Mariella Hudetz)

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