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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Zeit des Umbruchs und des Aufbruchs
Institut für Geschichte der Medizin an der LMU
Sommersemester 2003
Prof. Dr. P.U. Unschuld, M.P.H.; Prof. Dr. W. Locher, MA
„Jeder Arzt behandelt nur eine bestimmte Krankheit, nicht mehrere, und alles ist voll von Ärzten. Da sind Ärzte für die Augen, für den Kopf, für die Zähne, für den
Leib, und für innere Krankheiten."
Der Aufbruch in die SpezialisierungMichael Hunze
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung.......................................................................................................................3
2. Quellensituation.............................................................................................................4
3. Ausgangssituation um 1800..........................................................................................4
3.1 Die Situation bei den praktisch tätigen Ärzten........................................................43.2 Die Situation in der akademischen Lehre...............................................................7
4. Neue Spezialdisziplinen entstehen...............................................................................7
4.1 Neue Spezialdisziplinen an den Universitäten........................................................74.2 Spezialisten betreten die Bühne der praktischen Medizin......................................9
5. Mechanismen, die zur Entstehung der Spezialdisziplinen beigetragen haben..........10
5.1 Das Wirken von Einzelpersonen...........................................................................105.2 Der Einfluß politischer Entwicklungen...................................................................125.3 Ein neues Krankheitsverständnis..........................................................................13
5.3.1 Die lokalpathologische Idee...........................................................................145.3.2 Das mechanistische Körperbild.....................................................................15
5.4 Das Zeitalter der Industrialisierung.......................................................................155.4.1 Demographische Veränderungen..................................................................155.4.2 Veränderungen der Lebensweise und der Lebensqualität............................16
5.5 Neue Forschungsergebnisse und Entdeckungen.................................................165.6 Der Aufschwung in der Chirurgie..........................................................................175.7 Veränderte Erwartungshaltung bei den Patienten................................................195.8 Gründung von Institutionen...................................................................................20
6. Spezialisierung in der Diskussion................................................................................21
7. Ausblick........................................................................................................................25
Literaturverzeichnis........................................................................................................35
Abbildungsverzeichnis...................................................................................................35
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
1. Einleitung
"Jeder Arzt behandelt nur eine bestimmte Krankheit, nicht mehrere, und alles ist voll von
Ärzten. Da sind Ärzte für die Augen, für den Kopf, für die Zähne, für den Leib, und für
innere Krankheiten."
Herodot (etwa 490-430 v. Chr.), in seinen Historien über die zeitgenössische ägyptische
Medizin1
Wie man sieht, ist das Phänomen der Spezialisierung innerhalb der Medizin, das
Vorhandensein von Experten für die Krankheiten eines bestimmten Organs oder
Organsystems bzw. für bestimmte Gruppen von Krankheiten, nicht ganz neu. Dennoch
lohnt es sich, gerade das 19. Jahrhundert im Hinblick auf dieses Phänomen näher zu
beleuchten, insbesondere für den deutschen Sprachraum2. Verschiedene Entwicklungen,
sowohl innerhalb der Medizin, als auch in den übrigen Wissenschaften, gesellschaftliche
und politische Vorgänge, neue technische Entwicklungen und nicht zuletzt das Wirken
verschiedener Einzelpersonen haben in dieser Zeit dafür gesorgt, daß „alles voll von
Ärzten“ wurde. Im Folgenden wollen wir beleuchten, welche Einflußfaktoren hier eine
Rolle gespielt haben.
Wir werfen zunächst einen Blick auf die Ausgangssituation um das Jahr 1800. Dann soll
in einem kurzen Kapitel dargestellt werden, in welchem enormen Maß in den folgenden
Jahrzehnten neue Spezialdisziplinen entstanden. In den folgenden Abschnitten werden
Mechanismen und Einflußfaktoren beschrieben, welche dieser Entwicklung Vorschub
geleistet haben. Danach gehen wir schlaglichtartig auf die Diskussionen ein, die durch die
neuen Entwicklungen innerhalb der Ärzteschaft ausgelöst wurden. Zum Schluß
betrachten wir die Auswirkungen der geschilderten Entwicklungen, die noch heute spürbar
sind, und deren mögliche Konsequenzen.
Ziel dieser Betrachtung kann nicht sein, einen auch nur annähernd vollständigen
systematischen Überblick über die Vorgänge zu geben. Vielmehr geht es darum, anhand
von Beispielen die Mechanismen aufzuzeigen, die zur Entwicklung der neuen
medizinischen Spezialfächer geführt haben.
1 zit. nach Eckart, 212 Diese Betrachtung beschränkt sich auf den deutschen Sprachraum. Es ist jedoch davon auszugehen,
daß in anderen Ländern ähnliche Entwicklungen stattgefunden haben. Riedl nennt beispielhaft England und Amerika. (Riedl, 1)
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
2. Quellensituation
Besonderen Aufschluß über die dargestellten Entwicklungen geben die komplementären
Werke Hans-Heinz Eulners, der in einer Schriftenreihe zur Medizin im 19. Jahrhundert
einerseits die Entwicklung der Spezialdisziplinen im akademischen Bereich beleuchtet,
andererseits ein Werk über das Spezialistentum in der ärztlichen Praxis verfaßt hat.
Daneben gibt es eine Dissertation von Heinrich Riedl, die vor allem die Diskussionen und
Auseinandersetzungen um die Spezialisierung beschreibt.
Wertvolle Informationen über die Vorgänge innerhalb der Ärzteschaft, die mit den
beschriebenen Entwicklungen zusammenhängen, finden sich außerdem in den
zeitgenössischen ärztlichen Zeitschriften.
3. Ausgangssituation um 1800
Um zu verstehen, auf welchem Boden die neu entstehenden Spezialdisziplinen wachsen
konnten, zunächst ein Blick auf die Situation der Ärzte um die Wende vom 18. zum 19.
Jahrhundert.
3.1 Die Situation bei den praktisch tätigen Ärzten
Eine wichtige Beobachtung zu Beginn ist, daß um 1800 der überwiegende Teil der
Bevölkerung überhaupt keinen Kontakt zu Ärzten hatte. Insbesondere auf dem Land gab
es keine Ärzte; im Krankheitsfall wurden verschiedene Heilkundige, die jedoch meist
primär andere Berufe ausübten, herangezogen. Zu diesen Heilkundigen zählten Schäfer 3,
Bader, Hebammen oder „weise Frauen“. Allenfalls holte man einen Wundarzt niederen
Grades.
In den Städten war die Situation anders. Hier gab es Ärzte, und besonders die
gehobeneren Bevölkerungsschichten zogen eher einen Arzt zu rate als einen der
erwähnten Heilkundigen, die gemeinhin als unfähig und unseriös aufgefaßt wurden. Unter
den Ärzten gab es zu dieser Zeit bereits einen gewissen Grad der Differenzierung. So gab
es Medici practici, innere Mediziner, Wundärzte verschiedener Klassen mit
unterschiedlicher Ausbildung und Befähigung, Oculisten, Stein-, Bruch- und
Hasenschartenschneider sowie Zahnärzte.
Das Selbstverständnis dieser Ärzte war ein anderes, als wir es heute kennen: Man
beschäftigte sich nicht so sehr gerne mit den Krankheiten der Armen, der
Minderbemittelten, der Kleinhandwerker und der Bauern, sondern man war an den Höfen
3 Die Schäfer hatten durch ihren ständigen Umgang mit den Tieren und deren Erkrankungen verschiedene heilkundliche Kenntnisse, die sie in begrenztem Umfang auf den Menschen übertragen konnten.
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des Adels, der Gutsbesitzer und für das reiche Bürgertum tätig und verstand sich als
Berater in medizinischen wie in nichtmedizinischen Fragen. Da viele Entwicklungen und
Entdeckungen in der Diagnostik, der Therapie und der Pharmakologie noch
bevorstanden, war die ärztliche Tätigkeit viel mehr als heute eine beratende. Die Ärzte
machten Vorschläge zur „Regelung der Lebensweise“ und kümmerten sich um die
Diätetik4. Seltener kam es zu tatsächlichen therapeutischen Handlungen wie etwa
pharmakologischen Interventionen oder Operationen.
Die Behandlung fand zunächst in den Wohnungen der Patienten statt, später auch in der
Wohnung des Arztes, ohne daß es dafür einen zweckgebundenen Behandlungsraum
gegeben hätte.
Die ärztliche Tätigkeit war bereits gesetzlich geregelt, es gab eine Medizinalordnung und
für jeden Bezirk einen staatlich angestellten Kreisphysikus oder Stadtphysikus, der über
die Einhaltung der Vorschriften wachte. Unter anderem war in diesen die Honorarfrage
geregelt: 1815 wurde in Preußen eine Taxordnung eingeführt, die ärztliche
Minimalhonorare sowohl für Wohlhabende als auch für Minderbemittelte festlegte. In der
Praxis wurde die Entlohnung des Arztes jedoch oft so gehandhabt, daß eine Familie
ihrem betreuenden Arzt ein jährliches Fixum entrichtete5.
Wichtig für unsere Betrachtung ist die Frage, in welche Stände und Kategorien sich die
Ärzte um die Wende zum 19. Jahrhundert einteilten. Diese Frage ist nicht leicht zu
beantworten, weil in den verschiedenen Einzelstaaten sehr unterschiedliche und zum Teil
recht komplexe Regelungen existierten. Als Beispiel sei Württemberg genannt, wo um
1815 drei verschiedene Arten approbierter Ärzte und neun verschiedene Klassen von
Wundärzten mit insgesamt 20 Unterstufen unterschieden wurden. Aufgrund der
Unüberschaubarkeit wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Forderungen laut, einen
allgemeinen deutschen Ärztekongreß nach französischem Vorbild einzuberufen, der die
Frage nach der Einteilung der Ärzte in Kategorien und Klassen einheitlich regeln sollte6.
4 Der Begriff Diätetik weckt beim heutigen Leser wohl am ehesten Assoziationen mit dem Begriff Diät im Sinne der Einhaltung bestimmter Ernährungsvorschriften. Im weiteren Sinne umfaßt aber die Diätetik als Teil der hippokratischen Medizin die gesamte Lebensführung des Menschen und deren Zusammenhang mit Krankheit und Gesundheit. Das diätetische Prinzip ist das Gleichmaß, die Ausgewogenheit in der Lebensführung - etwa in Schlafen und Wachen, in Arbeiten und Ruhen, in Nahrungsaufnahme und Ausscheidung, in Liebesleben und Enthaltsamkeit, in intellektueller Beanspruchung und Muße, u.v.m..
5 Riedl, 4-56 Riedl, 5
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Im Jahre 1825 wurden in Preußen Prüfungsvorschriften erlassen, die drei Kategorien von
Ärzten unterschieden:
1. Akademisch ausgebildete, promovierte Ärzte, die „entweder die chirurgischen
Krankheiten zwar auch studiert, aber keine Prüfung darin bestanden hatten, oder
lediglich für innere Krankheiten vorgebildet und geprüft waren, oder ihre Befähigung für
die gesamte Medizin nachgewiesen hatten“, die sogenannten Vollärzte.
2. Wundärzte I. Klasse, Männer mit geringer Schulbildung bis etwa zur Sekunda oder I.
Bürgerschulklasse, die den Nachweis für die Befähigung der ärztlichen Berufstätigkeit
nach beiden Richtungen zu führen hatten, innere Krankheiten aber nur dort behandeln
durften, wo kein promovierter Arzt tätig war.
3. Wundärzte II. Klasse, mit noch geringerer Schulbildung, waren nur für die sogenannte
kleine Chirurgie approbiert7.
Aus dieser beispielhaft genannten Kategorisierung wird uns deutlich, daß im
Selbstverständnis der damaligen Mediziner die Einteilung in die groben Kategorien Innere
Medizin und Chirurgie gegeben war. Eine Sonderstellung nahmen die Zahnärzte ein, die
aus den Vollärzten und aus den Wundärzten erster und -häufiger- zweiter Klasse
hervorgingen. Für die Wundärzte war dabei der Nachweise verschiedener technischer
und mechanischer Fertigkeiten vorgeschrieben. Approbierte Chirurgen durften dagegen
ohne weiteres alle Zahnoperationen durchführen, dabei jedoch nicht die Bezeichnung
„Zahnarzt“ führen. Die Fachbezeichnung „Zahnheilkunde“ findet sich erstmals urkundlich
erwähnt in einem Ministerialerlaß von 18358.
Um das Jahr 1800 zerfiel also die Ärzteschaft in die akademisch gebildeten Inneren
Mediziner und die im wesentlichen handwerklich ausgebildeten Chirurgen - ein
Dualismus, der mit sich brachte, daß die Chirurgen eine weitaus weniger angesehene
Stellung innehatten. Die Emanzipation der operativ tätigen Mediziner begann zwar schon
in 18. Jahrhundert, aber erst 1850 wurde auch für den Beruf des Chirurgen eine
akademische Ausbildung erforderlich9.
Neben den praktischen Ärzten, die in den Städten tätig waren, gab es um 1800 auch noch
fahrende Heiler, die auf Dulten, Märkten und ähnlichen Veranstaltungen ihre Kunst
feilboten, oft begleitet von Gauklern und Marktschreiern, die das Publikum anlocken
sollten.
7 Dies berichtet Erich Peiper in seiner Schrift: Der Arzt. Einführung in die ärztlichen Berufs- und Standesfragen. Wiesbaden 1906. Zit. nach Riedl, 6.
8 Riedl, 69 Eckart, 241
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
3.2 Die Situation in der akademischen Lehre
Wenn auch bei den praktisch tätigen Ärzten um 1800 die Einteilung weitgehend auf die
Zweiteilung zwischen konservativ und operativ tätigen Medizinern reduziert war, so war in
der akademischen Lehre schon ein etwas höherer Grad der Differenzierung erreicht.
Jahrhundertelang wurde in der medizinischen Ausbildung eine Gliederung in drei große
Gebiete vorgenommen: Medizin, Chirurgie, sowie Frauenheilkunde und Geburtshilfe.
Diese Dreiteilung hatte auch noch um 1800 Bestand. Neben den klinischen Fächern
wurden selbstverständlich auch allgemeinwissenschaftliche und klinisch-theoretische
Fächer gelehrt10.
4. Neue Spezialdisziplinen entstehen
4.1 Neue Spezialdisziplinen an den Universitäten
Gerade im zuletzt besprochenen Bereich, in der akademischen Lehre, ist aus heutiger
Sicht gut nachzuvollziehen und zu beschreiben, in welchem Ausmaß im 19. Jahrhundert
neue Spezialdisziplinen hier das Bild bestimmen.
Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahmen an einigen Universitäten im
deutschsprachigen Raum Fächer wie Augenheilkunde, Venerologie und Orthopädie11
Einzug in die Hörsäle12.
An unserer Universität Landshut/Ingolstadt/München beginnt diese Entwicklung mit
Beginn des 19. Jahrhunderts. Aus dem "Auszug aus dem vollständigen Lehrplan [...]
sämmtlicher Fakultäten13“ wird ersichtlich, in welchen Fächern die Herren Kandidaten zu
dieser Zeit unterrichtet werden sollten (vgl. Tab. 1).
10 Riedl, 6-811 die Orthopädie zunächst noch im engeren, ursprünglicheren Sinne des Begriffs: die Kunst, Deformitäten
des kindlichen Körpers zu verhüten und zu heilen12 Riedl, 813 Dieser Auszug aus einer Verordnung an die Hochschulen, die am 25.11.1799 erlassen worden war, findet
sich in den Vorlesungsverzeichnissen der Universität vom Wintersemester 1802/03 und vom Sommersemester 1803
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
I. Semester II. Semester III. Semester
• Medizinische
Enzyklopädie
• Anatomie
• Zoochemie
• Mineralogie
• Physiologie
• Botanik
• Zoologie
• Anthropologie
• Diätetik
• Anatomie
• Zoochemie
• Pathologie
• Theoretische Chirurgie
• ArzneymittellehreIV. Semester V. Semester VI. Semester
• Physiologie
• Pathologie
• Hebamenkunst
• Pharmaceutische
Waarenkunde
• Giftlehre
• Pharmazie
• Medizinische
Literärgeschichte
• Allgemeine Therapie
• Praktische Arzneykunst
• Theoretische Chirurgie
• Kritik der Dispensatorien
• Medizinische Polizey &
gerichtliche Arzneykunde
• Specielle Therapie
• Praktische Arzneikunde
• Kritik der ältern und
neuern Systeme der
Heilkunde
• Praktische Chirurgie
• Hebamenkunst
• Arzneimittellehre
• Rezeptirkunst
• Vieharzneikunst
Tab.1: Der Lehrplan der medizinischen Fakultät an der Universität Landshut/Ingolstadt/München zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Man sieht also, daß an klinischen Fächern (in der Tabelle grau unterlegt) nur die
Chirurgie, die innere Medizin, die Pharmakologie und die Geburtshilfe eine Rolle spielen.
In den folgenden Jahren kommen jedoch rasch einige Spezialfächer hinzu:
• im Sommersemester 1805 findet die erste eigene Vorlesung im Fach Augenheilkunde
statt
• im Wintersemester 1805/06 wird erstmals Venerologie gelehrt
• schon im Wintersemester 1806/07 gibt es eine erste Lehrveranstaltung zur Hygiene
• im Sommersemester 1808 gibt es erstmals einen „Notfallkurs“: „Ueber die
Rettungsmittel für in plötzliche Lebensgefahr Gerathene und Scheintodte -- auch für
Nichtärzte“
• im Sommersemester 1820 wird der Augenheilkunde das Stoffgebiet der Erkrankungen
des Ohres beigeordnet
• im Wintersemester 1825/26 wird zunächst im Rahmen der Pathologie über psychische
Erkrankungen gelesen
• im Sommersemester 1831 wird über Homöopathie gelesen
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
• im Wintersemester 1831/32 findet die erste eigenständige Vorlesung über die
Erkrankungen des Kindes („De cognoscendis et curandis infantium morbis14“) statt
• im Sommersemester 1837 kommt die heutzutage außergewöhnlich anmutende
Kombination von Angiologie und Neurologie auf den Stundenplan15
Der Trend zur Spezialisierung, der hier für unsere eigene Universität beispielhaft
geschildert wird, ist natürlich nicht einzigartig. Hans-Heinz Eulner schildert in seinem Werk
Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen
Sprachgebietes detailliert, wie sich an sämtlichen Universitäten im deutschen Sprachraum
plötzlich sehr viele neue Spezialfächer entwickeln. Von Greifwald bis Graz und von Bonn
bis Breslau werden in dieser Zeit überall Lehrstühle für Ophthalmologie, Dermatologie,
Otorhinolaryngologie, Pädiatrie, Psychiatrie, Orthopädie und Hygiene gegründet.
4.2 Spezialisten betreten die Bühne der praktischen Medizin
Bei den praktisch tätigen Medizinern sind ähnliche Strömungen zu beobachten, wie für
uns in den Zeitschriften der Ärzteschaft deutlich wird: hier wird lebhaft darüber gestritten,
ob man es zulassen soll, daß viele praktische Ärzte sich nicht mehr als Allgemeinärzte
verstehen, sondern sich auf die Behandlung einer bestimmten Sorte von Krankheiten
spezialisieren. Diese neue Entwicklung erregt viel Aufsehen und viel Ärger; fast verbittert
hört sich der Ausspruch an, den Ernst von Leyden bei der ersten Sitzung des Berliner
Vereins für Innere Medizin 1881 tätigte:
„Es giebt gegenwärtig kaum noch Aerzte, fast nur Specialisten, oder man ist
Specialist und nebenbei noch Arzt.“
Auch in den Kliniken gehen die Entwicklungen hin zum Spezialistentum. Rudolf Grashey,
Münchner Chirurg und Röntgenologe, greift dieses Phänomen in einem satirischen Artikel
auf, der im Jahre 1911 in der Scherznummer X der Münchner Medizinischen
Wochenschrift unter dem Pseudonym „O.J.“ erscheint. Hier schildert der Autor eine
(natürlich erdachte) Begebenheit, bei der sich soviele Spezialisten um eine Patientin
scharten, daß aufgrund des großen Andranges die Krankenhausleitung gezwungen war,
den Andrang zu reglementieren - am Kopf zum Beispiel richtete sich die Reihenfolge der
Fachärzte nach der Numerierung der jeweils dazugehörigen Hirnnerven16.
14 „Über das Erkennen und das Heilen der Krankheiten der Kinder“15 aus den Vorlesungsverzeichnissen der Universität Landshut/Ingolstadt/München16 Riedl, 84-85
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
5. Mechanismen, die zur Entstehung der Spezialdisziplinen beigetragen haben
In dieser Arbeit soll nicht der Versuch unternommen werden, detailliert und systematisch
die Geschichte eines jeden Spezialfaches darzustellen, das im 19. Jahrhundert
entstanden ist. In den folgenden Abschnitten wird statt dessen schlaglichtartig, anhand
von Beispielen, untersucht, welche Mechanismen generell die Entwicklung von
Spezialfächern bewirkt und gefördert haben.
5.1 Das Wirken von Einzelpersonen
Fortschritt geschieht immer durch die Menschen, die etwas Neues tun, die eine neue Idee
haben und sie umsetzen. Manchmal reicht das Wirken einzelner Personen, um große
Zusammenhänge zu verändern. So auch bei der Entstehung der Spezialdisziplinen in der
Medizin.
Als erstes Beispiel für einen solchen Vorgang sei Kurd Bürkner (1853 - 1913) genannt,
der sich 1877 an der Uni Göttingen über Ohrenkrankheiten habilitierte und im Folgejahr
eine private Ohrenklinik im Ernst-August-Hospital eröffnete. Im ersten Betriebsjahr fanden
sich bereits 217 Kranke ein17; anscheinend wurde die Klinik erfolgreich betrieben und ihre
Notwendigkeit gesehen - zumindest erkannte die Universität die Anstalt im Jahr 1884 als
Universitätsinstitut an, ein Jahr später erfolgte die Ernennung Bürkners zum
außerordentlichen Professor. 22 Jahre später wurde der Lehrauftrag für Laryngologie
hinzugefügt, und Bürkners Nachfolger Wilhelm Lange (1875 - 1954) wurde 1919
Ordinarius18. Das Beispiel Kurd Bürkners und seiner Klinik verdeutlicht, wie sowohl das
Wirken von Einzelpersonen als auch das Schaffen neuer Institutionen der Entwicklung
einer Spezialdisziplin Vorschub leisten können. Ein weiterer Beitrag Bürkners zur
Emanzipation der Ohrenheilkunde war sein 1892 veröffentlichtes Lehrbuch der
Ohrenheilkunde19.
Eine andere Einzelperson, die sehr zur Entwicklung einer medizinischen Fachdisziplin
beigetragen hat, ist der Wiener Ferdinand von Hebra20 (1816-1880). Ihm wird als Erstem
die Erkenntnis zugeschrieben, daß eine pathologische Hauterscheinung nicht
zwangsläufig Ausdruck einer systemischen Erkrankung sein muß, sondern eine auf die
Haut beschränkte, eigene Krankheitsentität darstellen kann. Diese Überlegung paßte sehr
17 Auch wenn die historische Signifikanz dieses Faktums eher gering sein dürfte, sei hier angemerkt, daß sich von diesen 217 Patienten 33 mit einer „Accumulatio ceruminis“ vorstellten.
18 Eulner 1967, 364; 590-59119 nach Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner.
München 200220 später Ferdinand Ritter von Hebra
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
gut in das lokalpathologische
Krankheitsdenken des 19. Jahrhunderts. Zuvor
war man der Auffassung gewesen, daß die
Haut gleichsam als Spiegel, als leicht
zugängliches Abbild der systemischen
Erkrankung des Körpers dient. Bei vielen
Krankheitsbildern war und ist diese Sichtweise
ja zutreffend, man denke an die Lepra, an die
Syphilis, und an die zahllosen anderen
Infektionskrankheiten, die mit einem Exanthem
einhergehen. Bei anderen Krankheitsbildern ist
dieses ätiopathogenetische Denken jedoch
überholt - als Beispiel mag die Skabies gelten.
Früher hatte man postuliert, daß diesem
Krankheitsbild die „schlechten Säfte“ zugrunde
lagen. Sogar die neu entdeckte Milben konnte man noch in dieses Modell einbauen,
indem man forderte, daß die Milbe im erkrankten Organismus durch Urzeugung entstehe.
Ferdinand von Hebra brachte hier als erster Ursache und Wirkung in den heute noch
gültigen Zusammenhang. Wenn man berücksichtigt, daß 80% des Klientels von Hebras in
der Ausschlagabteilung des AK Wien an der Krätze litten, ist dieses neue
ätiopathogenetische Modell ein großer Durchbruch für die Etablierung des
lokalpathologischen Denkens im Hinblick auf die Haut - und gleichzeitig ein gewichtiges
Argument für die Einrichtung eines Spezialistentums, das sich mit lokalen Erkrankungen
der Haut befaßt.
Als weitere bedeutende Leistung von Hebras ist die Idee anzusehen, dekubitusgefährdete
Patienten in Wasserbetten zu lagern, um die Gefahr der Druckgeschwüre zu vermindern.
Für die Entwicklung des Spezialfaches Dermatologie hat von Hebra noch eine zweite,
ganz entscheidende Bedeutung, indem er gegen massiven Widerstand von seiten der
inneren Medizin eigene Vorlesungen im Fach Dermatologie durchsetzte21. Die
21 Der heftigste Gegner dieser neuen Fachvorlesung in Wien war wohl Lippich, der damalige Vorstand der medizinischen Klinik, der bis dato selbst im Rahmen der Vorlesung über spezielle Pathologie und Therapie über die Hauterscheinungen gelesen hatte, und dem die Behauptung zugeschrieben wird, daß „über Hautkrankheiten vorzulesen und in diesem Fache mit der Wissenschaft fortzuschreiten ohnehin seine, des klinischen Professors Aufgabe sei“ und daß er „weder mit der Unterscheidung Dr. Hebras der Hautkrankheiten in ein Heer von Arten und Unarten noch dessen Ansicht einverstanden [sei], daß Hautkrankheiten bloß Lokalübel und allein mit Lokalmittel, namentlich Ätzmitteln, zu zerstören seien, sogar davor zu warnen bemüßigt sei“*). Es ist eine interessante Überlegung, woher wohl diese
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Abb. 1: Ferdinand Ritter von Hebra
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Zusammenfassung von Dermatologie und Venerologie vollzog sich dann in der zweiten
Hälfte des 19. Jahrhunderts recht reibungslos und von selbst, da die Zweckmäßigkeit
dieser Kombination allgemein anerkannt wurde22.
Als ein letztes, aber besonders eindrückliches
Beispiel dafür, wie das Wirken einer einzelnen
Person entscheidend für die Entwicklung einer
ganzen Spezialdisziplin war, mag uns Max von
Pettenkofer (1818 - 1901) dienen. Pettenkofers
Pionierarbeit auf dem Gebiet der Hygiene, die zur
Einrichtung eines Lehrstuhls (1865) und
schließlich zur Gründung des weltweit ersten
Hygiene-Instituts (1879) führte, war der Beginn
der Entwicklung der Hygiene zur medizinischen
Spezialdisziplin23.
5.2 Der Einfluß politischer Entwicklungen
Die Frage, welche politischen Entwicklungen die
Herausarbeitung der verschiedenen
medizinischen Fachdisziplinen beeinflußt haben
mögen, darf nicht unberücksichtigt bleiben.
Wenden wir den Blick etwas zurück aus dem 19.
ins 18. Jahrhundert. Im Zeitalter der Aufklärung erkannte der Staat es als seine Aufgabe
an, sich um die Gesundheitsversorgung seiner Bevölkerung zu kümmern - wenn auch
sicherlich nicht nur aus humanitären Beweggründen, sondern aus ökonomischen
Überlegungen. Gesunderhaltung des Volkes bedeutete Arbeitskraft, bedeutete
wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Um den Anforderungen dieser neuen Aufgabe gerecht
zu werden, benötigte man Experten - oder Spezialisten, eben! Und so haben die
Verknüpfung von Kompetenzgerangel auf der einen Seite und von unterschiedlicher pathogenetischer Denkweise auf der anderen Seite kam - man könnte Herrn Lippich unterstellen, er habe die akademische Konkurrenz Hebras gefürchtet, habe Angst davor gehabt, viele Patienten und ein Forschungsgebiet an Hebra zu verlieren, und habe aufgrund dieser Ängste seine Augen und seinen Geist vor plausiblen, neuen Denkansätzen verschlossen. Möglicherweise dient die kleine Geschichte Lippichs und Hebras als Warnung, nicht aufgrund akademischer Dünkeleien und wirtschaftlicher Überlegungen die wissenschaftliche Objektivität zu verlieren.*) in: Arzt, Leopold: Zur Geschichte der Universitätsklinik für Dermatologie und Syphilidologie in Wien. I. Dr. Ferdinand Hebra's Habilitierung. Wiener med. Wschr. 75 (1925) Sp. 327-330. Zit. nach Eulner 1967, 223.
22 Eulner 1967, 223-22523 Eckart, 278
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Abb.2: Max von Pettenkofer
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
medizinischen Spezialdisziplinen Arbeitsmedizin und Sozialmedizin, letztendlich auch der
heutige Bereich Public Health, ihre Wurzeln in Zeiten der Aufklärung, und sie sind im 19.
Jahrhundert gewachsen und gediehen.
Wiederum können wir Einzelpersonen dingfest machen, die im Rahmen der politischen
Großwetterlage das ihre dazu taten, daß die neuen Spezialdisziplinen Fuß fassen
konnten. Da ist zu nennen der Ulmer Stadtphysikus Wolfgang Thomas Rau (1721 - 1772),
vielleicht der erste Sozialmediziner, der 1764 als erster den Begriff „medicinische Policey“
im Sinne einer theoretischen Grundlage für öffentliche Gesundheitspflege und soziale
Fürsorge geprägt hat. Johann Peter Frank (1745 - 1821) publizierte zwischen 1786 und
1817 seine Schriften zum „System einer vollständigen medicinischen Policey“ und legte
damit den Grundstein für die Ausbildung der öffentlichen Gesundheitspflege als
medizinische Spezialdisziplin24.
Abb. 3: Johann Peter Frank und das Titelblatt der zweiten Auflage des ersten Bandes seiner Schrift
24 Eckart, 243-245
Seite 13/35
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Frank fordert in seinen Schriften den aufgeklärten absolutistischen Herrscher auf, sich um
die Gesundheit seines Volkes zu kümmern und sie zum Wohle des Staates zu erhalten.
Franks Inhalte erstrecken sich über ein weites Feld, er kümmert sich um den
„Zeugungstrieb“, der sich den Interessen des Staates unterzuordnen habe, behandelt die
Probleme von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett, gibt Hinweise zur Kinderpflege
und zur Erziehung, fordert die Achtung von ledigen Müttern und unehelichen Kindern,
mahnt die Einrichtung von Waisenhäusern an, spricht sich für das Stillen aus, erinnert an
die Notwendigkeit, einwandfreie Speisen zuzubereiten und sich gesund zu kleiden, spricht
über Städtebau und Wasserversorgung und über die öffentliche Sicherheit und Ordnung.
Ein ganzer Band befaßt sich mit der medizinischen Ausbildung. Daneben enthalten
Franks Schriften aber auch eugenische Vorstellungen, er fordert beispielsweise ein
Eheverbot für Menschen, die an einer Erbkrankheit leiden25.
Auch Rudolf Virchow26 war sozialmedizinisch engagiert. Im Jahre 1848 wird er im
Regierungsauftrag ins oberschlesische Typhusgebiet gesandt, um dort medizinische und
epidemiologische Beobachtungen zu machen. Sein Bericht gipfelt jedoch in einem
sozialpolitischen Bekenntnis - Virchow fordert angesichts der Not der Bevölkerung
unumschränkte Demokratie und stellt fest: „Die Cultur von 1 ½ Millionen unserer
Mitbürger, die sich auf unterster Stufe moralischer und physischer Gesunkenheit
befinden, ist unsere Aufgabe.“ Auch später noch, als Virchow schon ein bekannter und
einflußreicher Mann ist, äußert er sich zu sozialmedizinischen Fragen27.
Neben diesen großen politischen Zusammenhängen, die mit der Veränderung staatlicher
Zielsetzungen zu tun haben, haben in Einzelfällen auch banalere Einflußfaktoren der
Spezialisierung Vorschub geleistet. In Preußen bewilligten 1872 Kultusminister Falk und
Finanzminister Camphausen in rascher Folge neue Professuren für Dermatologie und
Ophthalmologie an der Universität Breslau. Dies bringt Eulner in einen Zusammenhang
mit den französischen Reparationszahlungen, die zu dieser Zeit für einen überfließenden
Staatshaushalt sorgten. Eulner zitiert hier A. Sartorius von Waltershausen, der in seinem
Werk Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815-1914 (Jena 1920, S. 579) schreibt: „Unter
dem Milliardensegen der französischen Kriegsentschädigung hielt Camphausen es für gut
überall da zu geben, wo ein neues Bedürfnis als vorhanden behauptet wurde.28“
25 Schott, 14026 Rudolf Virchow (1821 - 1902): Pathologe, publizierte 1858 seine Zellularpathologie als neue
Krankheitslehre und legte damit den Grundstein für ein neues Krankheitsverständnis.27 Schott, 15728 Zit. nach Eulner 1967, 230
Seite 14/35
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
5.3 Ein neues Krankheitsverständnis
Im 19. Jahrhundert veränderten sich unter dem Einfluß neuerer Forschungsergebnisse
und Denkweisen aus der Medizin, aber auch der anderen Naturwissenschaften, die
Erklärungsmodelle für Krankheit, das Krankheitsverständnis. Zwei Kernpunkte des sich
entwickelnden neuen Krankheitsverständnisses mögen eine gewisse Relevanz für diese
Betrachtung haben:
5.3.1 Die lokalpathologische Idee
Der Begriff „lokalpathologische Idee“ beschreibt eine Auffassung, die zunächst um 1800
in der Pariser klinischen Schule entstand - dort verblaßten ganzheitliche und
philosophische Erklärungsmuster für das Kranksein gegenüber mechanistischem Denken.
Es entstand die Idee, daß Krankheit nicht notwendigerweise ein Dysregulationszustand
des gesamten Organismus sein müsse, sondern daß vielmehr der Ort, an dem die
Krankheit in Erscheinung tritt, das Organ oder die Körperstelle, die symptomatisch wird,
der Ausgangspunkt für die Erkrankung ist29. Dieses Modell paßte gut zu Virchows
Zellularpathologie: Wenn alle Mißstände auf zellulärer Ebene entstehen, so liegt es doch
nahe, daß genau die Zellen am Manifestationsort der Erkrankung auch deren Ursprung
sind. Aus dieser Denkweise konnte man nun leicht ableiten, daß es Sinn machen würde,
für unterschiedliche Krankheits-Loci jeweils Experten zu haben. So erlaubt dieses
ätiopathogenetische Modell viel eher die Zulassung von spezialisierten Medizinern als ein
ganzheitlich-systemisches Krankheitskonzept. Den Zusammenhang von Virchows Lehre
und der Entstehung der Spezialdisziplinen greift schon Heinrich Rohlfs30 in einem
-zugegeben etwas polemischen- Artikel über den Spezialismus auf, der 1862 in der
Zeitschrift Deutsche Klinik erschienen ist:
„Weiße und rothe Blutkörperchenärzte, Fett-, Knorpel-, Nervenzellenärzte
werden nächstens ebenso en vogue sein, als jetzt die Kehlkopfs-,
Gebärmutter-, Augen-, Ohren-, Herzkrankheitenärzte; und die Specialisten sind
eigentlich verpflichtet, Hrn. Prof. Virchow, als dem Begründer der
Cellularpathologie, einen öffentlichen Dank zu votiren, da jetzt ihre und ihrer
Nachfolger Zukunft mehr denn gesichert erscheint.31“
29 Eckart, 25930 Heinrich Rohlfs (1827 - 1898) war Militärarzt, später niedergelassener praktischer Arzt in Bremen. Er
betätigte sich auch als Medizinhistoriker und war der Begründer des Deutschen Archiv für die Geschichte der Medizin und medizinische Geographie.nach Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. München 2002
31 Rohlfs, 95-96
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Für eine Gruppe von Erkrankungen hatte die lokalpathologische Idee eine besondere
Bedeutung, und das sind die psychischen Erkrankungen. Unter dem Einfluß der
lokalpathologischen Denkweisen wandelte sich hier das Bild von der „Besessenheit“ hin
zu einem hirnorganischen, neuropathologisch erklärbaren Krankheitsprozeß. Es entstand
im jungen Fach Psychiatrie die somatopsychiatrische Denkweise, für die Emil Kraepelin32
wichtig wurde. Er versuchte in seinen Publikationen, die Geisteskrankheiten nach ihren
Verläufen und nach organischen Gesichtspunkten zu klassifizieren33.
5.3.2 Das mechanistische Körperbild
In der Nachfolge der Iatrochemiker und Iatrophysiker hatte ein großer Teil der
medizinischen Wissenschaftler im 19. Jahrhundert eine kartesianische34, mechanistische
Auffassung von Bau und Funktion des Körpers. Diese Auffassung wurzelte einerseits in
den Unzulänglichkeiten des antiken humoralpathologischen Konzepts, hauptsächlich aber
in der Fülle der Erkenntnisse, die durch die neuen Methoden in den Naturwissenschaften
möglich wurden. Die neue Tendenz, den Körper in seine Einzelteile zu zerlegen und die
Erklärung seiner Funktion und Malfunktion35 mit dem Zusammenwirken dieser Teile zu
erklären, wird als Reduktionismus bezeichnet36.
Die Schlußfolgerung, die letztendlich im Zusammenhang mit der Entwicklung der
Spezialdisziplinen daraus gezogen werden kann, ist eine einfache: Läßt sich der Körper in
seine Einzelteile zerlegen, so läßt sich auch die Wissenschaft, die sich mit seiner
Funktion, seiner Dysfunktion und deren Behebung befaßt, in ihre Einzelteile zerlegen.
5.4 Das Zeitalter der Industrialisierung
Um den Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert kam es im Zusammenhang mit der
technisch-industriellen Revolution zu einem bedeutsamen Wandel des Wirtschafts- und
Soziallebens. Einige Veränderungen, die die industrielle Revolution mit sich brachte,
gewannen auch für die Medizin und hier für die Entwicklung der Spezialdisziplinen an
Bedeutung.
32 Emil Kraepelin (1856 - 1926): Psychiater, von 1904 bis 1922 Lehrstuhlinhaber in München. Neben seinen somatopsychiatrischen Klassifkationsansätzen ist er uns vor allem durch den Begriff der Dementia praecox erinnerlich, den er geprägt hat.
33 Eckart, 29734 kartesianisch: nach René Descartes (lat. Renatus Cartesius, 1596-1650). Descartes entwickelte eine
Lebenstheorie, die alle Vorgänge des menschlichen Körpers vorrangig auf physikalisch-mechanistische Prinzipien zurückführen ließ.
35 Allein der Wandel in der Wortwahl, die Verwendung von Begriffen wie Funktion und Malfunktion im Zusammenhang mit dem menschlichen Organismus, ist bezeichnend für das neue biologische Konzept.
36 Eckart, 190
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
5.4.1 Demographische Veränderungen
Als erstes sind hier demographische Veränderungen zu nennen. Die Kombination aus
agrarischen Krisen und dem Entstehen eines neuen Arbeitsmarktes in den neuen
industriellen Zentren führte zu einer Landflucht. Dies wiederum führte zu einem
Anschwellen der Städte, was aus medizinischer Sicht große Probleme mit sich brachte:
hygienische Mißstände in der dicht gedrängten Stadtbevölkerung führten zu
Erkrankungen. Die großen Cholerawellen des 19. Jahrhunderts, die sich immer wieder auf
die neuen industriellen Ballungszentren konzentrierten, legen davon Zeugnis ab37. Es ist
klar, daß diese Entwicklungen sowohl dem neu entstehenden Spezialfach Hygiene, als
auch der Einrichtung von spezialisierten Institutionen, die sich mit Sozial- und
Arbeitsmedizin beschäftigten, Vorschub leisteten.
5.4.2 Veränderungen der Lebensweise und der Lebensqualität
Neben den rein demographischen Veränderungen änderte sich auch die Lebensweise
und die Lebensqualität der Menschen. Die Arbeitsbedingungen in den neu entstehenden
Fabriken können nicht als gesundheitsfördernd beschrieben werden: lange Arbeitszeiten,
anstrengende körperliche Arbeit, mangelnder Arbeitsschutz, Umgang mit toxischen
Stoffen und andere Faktoren trugen dazu bei, daß viele Arbeiter krank wurden. Primär
waren es muskuloskelettale Schäden, direkte toxische Schäden, Schäden an Gehör und
Augenlicht und Traumen, von denen die Arbeiter betroffen waren. Sekundär kam es im
Zuge dieser Entwicklungen zu psychosozialen Beeinträchtigungen und infolgedessen zu
einer Zunahme des Alkoholismus (zeitgenössisch als „Trunksucht“ bezeichnet) und auch
der Prostitution. Angesichts der sich katastrophal verschlechternden gesundheitlichen
Situation der Bevölkerung stand die Medizin vor riesigen Herausforderungen, die mit
Veränderungen einhergingen. Und so mündeten verschiedene der genannten
Entwicklungen mehr oder weniger direkt in die Ausbildung neuer Spezialdisziplinen ein:
Die Dermatologie/Venerologie erhielt ihre Berechtigung tragischerweise aus dem
Grassieren der durch Sexualkontakt übertragbaren Krankheiten; die Pädiatrie und die
Orthopädie38 entstanden nicht minder tragisch auch deshalb, weil viele Familien
gezwungen waren, ihre Kinder zum Arbeiten in die Fabriken zu schicken - mit denkbar
schlimmen gesundheitlichen Folgen39.
37 Eckart, 252-25338 Hier ist wiederum die Orthopädie im ursprünglichen Sinn gemeint: die Verhütung und die Heilung der
Deformitäten des Kindes.39 Eckart, 252; Riedl, 10
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Abb. 4: Kinderarbeit. Das Bild zeigt Kinder, die in einer Kohlenlesehalle arbeiten (1866)
5.5 Neue Forschungsergebnisse und Entdeckungen
Manchmal ist es schwer abzugrenzen, ob jemand Geschichte durch seine Persönlichkeit
und sein Handeln schreibt, oder eher durch seine Leistungen und Entdeckungen. Eine
Erfindung, die für die Entwicklung der Augenheilkunde als Spezialdisziplin innerhalb der
Medizin eine ganz entscheidende Bedeutung hatte, wurde jedenfalls von einem Mann
gemacht, dessen Persönlichkeit und dessen unglaublich vielseitige Fähigkeiten sicherlich
ebenso eindrucksvoll sind wie seine Entdeckungen. Die Rede ist von Hermann von
Helmholtz (1821 - 1894), der zunächst an verschiedenen Universitäten als Physiologe
tätig war, um zuletzt ab 1871 in Berlin seine Karriere mit einer Physik-Professur zu
krönen. Gleichzeitig war Helmholtz Präsident der neu gegründeten physikalisch-
technischen Reichsanstalt. In der Physik ist er uns geläufig durch seine Leistungen in der
Thermodynamik, er führte den mathematischen Beweis des Energieerhaltungssatzes.
Etwas weniger bekannt ist Helmholtz' Interesse für die Musik und die Philosophie, und die
Tatsache, daß er auch in der Medizin bahnbrechendes geleistet hat. So gelang ihm um
1850 als erstem die Messung der Nervenleitgeschwindigkeit (noch heute eine
wegweisende neurologische Diagnostik). Die Erfindung, die für die Entwicklung der
Augenheilkunde maßgeblich war, war das Ophthalmoskop, der Augenspiegel, den
Helmholtz im Jahre 1850 erfand40. Mit diesem neuen Instrument war es möglich, mehr als
40 Eckart, 267; Riedl, 9
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
nur das Schwarz der Pupille zu erblicken und die Tiefen des Auges zu ergründen. Die
neue Welt, die dort den diagnostischen Blicken zugänglich wurde, umfaßte schon damals
die Beobachtung der retinalen Gefäße und der Papilla nervi optici.
Abb. 5: Hermann von Helmholtz mit einer Zeichnung seiner Erfindung, des Augenspiegels
Vergleichbaren Vorschub bei der Entwicklung der Otorhinolaryngologie leisteten die
Erfindungen des Kehlkopfspiegels durch Stütz, des Ohrentrichters und der
Parazentesenadel, alles ebenfalls Entwicklungen aus der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts41.
Ein anderes Beispiel für die Entstehung einer medizinischen Spezialdisziplin durch
Fortschritt in der Wissenschaft ist das klinisch-theoretische Betätigungsfeld des
Laborarztes. Die neuen Entwicklungen in der Chemie ermöglichten erstmals im 19.
Jahrhundert eine quantitative Labordiagnostik. Die Kenntnisse und Möglichkeiten auf
diesem Gebiet wuchsen so sehr, daß eigene Experten für dieses Feld ihre
Daseinsberechtigung erlangten.
41 Eckart, 294
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
5.6 Der Aufschwung in der Chirurgie
Eine ganz entscheidende Rolle für unsere Betrachtung
spielen die Geschehnisse in der Chirurgie, oder
vielmehr die Tatsache, daß zwei neue
„Hilfswissenschaften“ die Chirurgie ergänzten. Die
Rede ist von der Anästhesie und der
Asepsis/Antisepsis42. Spätestens mit der ersten
Lachgasnarkose durch Horace Wells43 1844 in
Amerika wurde klar, wie sehr sich die Möglichkeiten
der operativen Therapie ausdehnen würden, wenn
sich der Patient in eine künstliche Bewußtlosigkeit und
Schmerzfreiheit versetzen ließe. Als Beispiel für eine
Spezialdisziplin, die enorm von der Einführung der
Anästhesie profitierte, sei einmal mehr die
Augenheilkunde genannt. Operationen an dem sehr schmerzempfindlichen Organ Auge
wurden möglich; es war eine relativ direkte Folge der Einführung der Anästhesie, daß im
Jahre 1856 die erste Keratoplastik vorgenommen werden konnte.
Nun wird auch deutlich, weshalb die Ophthalmologie in der zeitlichen Abfolge der
Entwicklung der Spezialdisziplinen am Anfang steht - hier gab es schon sehr früh sowohl
in der Diagnostik (durch die Erfindung des Augenspiegels) als auch therapeutisch (durch
den Aufschwung in der Chirurgie) große Fortschritte, und diese beiden Faktoren konnten
bei der Ausbildung der Spezialdisziplin synergistisch wirken.
42 Unter Asepsis versteht man das keimarme Arbeiten im OP, d.h. das Bemühen, keine Infektionserreger in das Operationsfeld kommen zu lassen. Dazu dienen Maßnahmen wie die Sterilisation der Instrumente und Materialien, die sterile Abdeckung und die Desinfektion des Operationsfeldes sowie Händedesinfektion und sterile Bekleidung des Personals.Der Begriff Antisepsis bezeichnet die ergänzenden Maßnahmen, die zum Ziel haben, Infektionserreger abzutöten, die bereits in die Wunde gelangt sind (durch lokale Applikation chemischer Mittel).
43 Horace Wells (1815 - 1848) war Zahnarzt in Hartfort, Connecticut (USA). Wells war innovationsfreudig, unter anderem stellte er seine eigenen Instrumente her und erdachte eine Kampagne, mit der die Kinder zum Zähneputzen angehalten werden sollten. Seine bedeutendste Leistung war jedoch die Durchführung der ersten Lachgasnarkose im Jahre 1844. Wells erprobte seine Idee an sich selbst, er atmete NO2 ein und ließ sich dann unter Wirkung des Lachgases einen Zahn ziehen. Es wird behauptet, Wells habe im Anschluß an die Molarextraktion ausgerufen, „I did not feel so much as the prick of a pin. A new era in tooth-pulling has come!".Wells' Geschichte endet unglücklich. Nach den ersten Erfolgen mit Lachgas ging er nach New York City, wo er weiter mit Allgemeinanästhetika experimentierte. Dort landete er im Gefängnis, weil er unter dem Einfluß von Chloroform öffentliches Ärgernis erregt hatte. Im Gefängnis nahm sich Wells das Leben.nach http://www.virtualvermont.com/history/hwells.html
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Abb.6: Horace Wells
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Abb. 7: Routineamputation vor Einführung der Allgemeinnarkose. Man beachte den stattfindenden Kampf und die chirurgischen Instrumente im Vordergrund.
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Auch die Erkenntnisse von Männern wie Ignaz
Semmelweis44 und Joseph Lister45 haben, nachdem sie
sich gegen viel Widerstand und Schwierigkeiten
durchsetzen mußten, in der Chirurgie Unmögliches
möglich gemacht. In Zeiten vor Asepsis und Antisepsis
waren beispielsweise Operationen mit Eröffnung des
Peritoneums mit furchterregender Morbidität und
Mortalität behaftet und wurden deshalb nur als seltene
Verzweiflungstaten durchgeführt. Auch bei den
häufiger durchgeführten Eingriffen an den Extremitäten
war die Morbidität und Mortalität hoch, aufgrund der
großen Feinde,
„blood poisoning and green-black gangrene,
which emptied surgical wards into the graveyard,
and awarded successive occupants of the
operating table a worse chance than a
guardsman at Waterloo46“,
wie Richard Gordon anschaulich schreibt.
Die Einführung aseptischer und antiseptischer Maßnahmen veränderten diese Situation
44 Ignaz Phillip Semmelweis (1818 - 1865): Der Wiener Geburtshelfer Semmelweis hat als erster erkannt, daß das gefürchtete Kindbettfieber nicht von miasmatischen Verunreinigungen der Luft oder von der „Unreinlichkeit der Wöchnerinnen“ herrührte, sondern von den untersuchenden Händen der Gynäkologen. Semmelweis hatte die Beobachtung gemacht, daß am ehesten die Frauen erkrankten, die von Studenten und Ärzten untersucht wurden, die unmittelbar vorher Sektionen durchgeführt hatten. Semmelweis untersuchte das Phänomen und forderte in der Schlußfolgerung gründliches Händewaschen in Chlorkalklösung, regelmäßiges Waschen des Bettzeugs und sorgfältige Reinigung der Instrumente. Aufgrund dieser Überlegungen gilt Semmelweis als Begründer der Asepsis, deren Erfolgszug er selbst leider nicht erleben konnte. Es mag von uns als eine Ironie wahrgenommen werden, daß Semmelweis in einer Nervenklinik verstarb - an einer Sepsis, die aus einer Wundinfektion entstanden war.nach Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. München 2002
45 Joseph Lister (1827 - 1912): Dieser englische Operateur war durch einen Zufall auf die desinfizierende Wirkung der Karbolsäure aufmerksam geworden. Er hatte die Idee, zur Vermeidung von Infektionen den ganzen Operationsbereich mit Karbolsäure einzunebeln. Die erste Publikation über diese Methode datiert zurück ins Jahr 1867. Zusammen mit der Desinfektion der Hände der Operateure und der Instrumente erreichte Listers Karbolsäurezerstäuber tatsächlich eine drastische Senkung der Infektionshäufigkeit. Die Methode wurde später wieder aufgegeben, weil die Nebenwirkungen der vernebelten Karbolsäure auf das Personal untragbar wurden. Der Name Lister ist uns heute noch geläufig durch die Listerien, eine Bakterienfamilie.Wiederum historisch nicht besonders signifikant, aber vielleicht interessant, ist die Tatsache, daß Lister zunächst einen umfunktionierten Parfümzerstäuber für die Vernebelung der Karbolsäure verwendete, und später eigens für diesen Zweck eine dampfgetriebene Apparatur konstruierte. Diese Apparatur erhielt den Spitznamen donkey engine, Esel-Maschine.Eckart, 290; Gordon, 54
46 Gordon, 54
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Abb.8: Ignaz Semmelweis
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
drastisch und führten zu einem beeindruckenden Aufschwung in der Chirurgie.
Abb. 9: Die Antisepsis hält Einzug in die Chirurgie. Rechts im Bild sieht man einen Medizinstudenten, der mit einem umfunktionierten Parfümzerstäuber Karbolsäure in den Raum ausbringt.
Die enormen Fortschritte in der Chirurgie eröffneten also immense neue operative
Möglichkeiten, und gepaart mit dem mechanistisch-lokalpathologischen
Krankheitskonzept lag es auf der Hand, daß sich innerhalb der Chirurgie ein
Spezialistentum herausbildete, das nach und nach zur Abspaltung einiger kleiner
Teilbereiche und deren Entwicklung in neue Spezialdisziplinen führte. Dieser Vorgang ist
mitverantwortlich für die Entstehung der Ophthalmologie, der Urologie, der
Otorhinolaryngologie, und für die Ausformung der Orthopädie von einem rein
konservativen zu einem konservativen und operativen Fach47.
47 Eckart, 291-294
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
5.7 Veränderte Erwartungshaltung bei den PatientenIm Klinischen Jahrbuch von 1890 schreibt Albert Neisser48:
„Sobald erst eine Bevölkerung davon Kenntnis hat, dass einem Zweig der
Medizin besondere Pflege in einer eignen Anstalt gewidmet wird, sucht sie
erfahrungsgemäß dieselbe auf49.“
Dieser kurze Ausschnitt aus Neissers Artikel legt Zeugnis davon ab, wie auch das
verstärkte Interesse der Patienten an spezialisierten Ärzten die Spezialisierung
vorangetrieben hat. Anschaulicher und vor allem expliziter wird er eine Seite weiter:
„In keinem Zweige der Medizin
wuchert ein so arg in den Zeitungen
sich breit machendes und zur
schlimmsten Sorte von Reklame
greifendes Spezialistentum und
Pfuschertum wie in dem unsrigen,
-sicherlich ein Beweis dafür, dass
das Publikum diese Leute aufsucht (-
denn sonst würde sich die Reklame
nicht bezahlt machen -) und dies
geschieht wiederum aus dem
Grunde, weil es -mehr oder weniger
mit Recht- die Erfahrung gemacht
hat, dass die meisten praktischen
Ärzte oft mit diesem Kapiteln nicht
genügend vertraut sind oder sich
nicht genügend für sie
interessieren.“50
Neisser spricht hier einen wichtigen Punkt an: mit der Forderung der Patienten nach
spezialisierten Ärzten ist ein neuer Markt entstanden, und es wäre wohl in der Geschichte
der Menschheit das erste Mal gewesen, wenn ein neuer Markt mit neuer Kaufkraft nicht
über kurz oder lang Anbieter gefunden hätte, die seine Bedürfnisse befriedigen.
Das Interesse von Patienten an spezialisierten Ärzten dürfte tatsächlich recht groß
48 Albert Neisser (1855 - 1916) war der dritte Lehrstuhlinhaber für Dermatologie in Breslau. 1879 beschrieb er als erstes den Erreger der Gonorrhoe, der seinen Namen trägt: Neisseria gonorrhoeae. Daneben beschrieb er die Meningokokken, Neisseria menigitidis, einen häufigen Erreger der Hirnhautentzündung.
49 Neisser, 195-19650 Neisser, 197
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Abb.10: Albert Neisser
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
gewesen sein. Heinrich Köbner, Privatdozent an der Universität Breslau, bittet 1872 in
einer Eingabe den Kultusminister um die Einrichtung einer speziellen dermatologischen
Klinik, denn „aus ganz Norddeutschland [...] sehen sich Mediziner [...] genöthigt, in
Ermangelung eines genügenden klinischen Unterrichts in diesen Gebieten an ihren
heimatlichen Universitäten nach Oesterreich zu wandern, und ebenso suchen alljährlich
Hunderte von derartigen Kranken aus Preussen dort ihre Heilung.51“
Und auch in Heinrich Rohlfs' Artikel in der Deutschen Klinik von 1862 (vgl. Abschnitt 5.3.1)
findet sich eine Andeutung über die Popularität der neuen Spezialisten. Rohlfs teilt uns
hier seine Beobachtung mit, daß „wie jede Fabrikwaare und jedes Virtuosenthum,
Specialismus auf's Volk stets wie ein Magnet wirkte“, und dies sei Anlaß genug, sich als
Spezialarzt niederzulassen. Rohlfs geht sogar so weit zu sagen, der Spezialismus sei
nichts weiter als ein Deckmantel, mit dem man seine „beschränkte Schlauheit“ verbergen
könne und sich auf eine anständige Weise in die Praxis schleichen könne52.
5.8 Gründung von Institutionen
Wie wir am Beispiel von Bürkners Ohrenklinik gesehen haben (vgl. Abschnitt 5.1), ist für
die Entwicklung von Spezialdisziplinen entscheidend, daß Institutionen gegründet
werden, die sich um das neue Fach kümmern. Das Beispiel Bürkner ist hierbei nicht
ungewöhnlich: das Interesse der jungen Ärzteschaft an der Spezialisierung wuchs
(Gründe dafür haben wir in den vorhergehenden Abschnitten aufgezeigt), und nicht selten
machte sich ein junger Arzt in einem Spezialgebiet selbständig, indem er eine
spezialisierte Klinik gründete. Besonders in den 1830er Jahren war es ein durchaus
gewöhnlicher Vorgang, daß ein frisch approbierter Arzt sich in die Ausbildung bei einer
auswärtigen Koryphäe begab, um später an seinen Heimatort zurückzukehren und eine
private Poliklinik zu eröffnen. Andere nahmen zahlende Patienten in ihre eigenen Häuser
auf und führten quasi winzige Privatkliniken mit Familienanschluß53. So bedingten sich
gesteigertes Interesse an einem neuen Fach und die Entstehung von entsprechenden
Institutionen gegenseitig54.
Ein anderes Beispiel für diesen Vorgang ist die neue „orthopädische Heilanstalt“, die der
Arzt und Chirurg Jacob von Heine (1790 - 1879) im Jahre 1829 in Bad Cannstatt gründet.
Hier spezialisiert er sich auf die Behandlung von Kindern, die nach einer Poliomyelitis
51 zit. nach Eulner 1967, 22852 Rohlfs, 84-8553 Eulner 1967, 21-2354 Riedl, 10
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Lähmungen und Deformitäten aufwiesen. Er gibt zwei Schriften zu diesem Thema
heraus55. Die Gründung der Klinik, die gesammelte klinische Erfahrung und deren
Publikation half, die Orthopädie zu etablieren56.
Abb. 11: Dieses Bild zeigt einen Knaben, der eine Poliomyelitis durchgemacht hatte, vor und nach orthopädischer Behandlung. Es stammt aus Heines Werk Beobachtungen über Lähmungszustände der
untern Extremitäten und deren Behandlung (1840)
Neben der Gründung von Kliniken waren es auch Institutionen wie Fachvereinigungen
oder Verbände, sowie neu gegründete Zeitschriften, die zur Emanzipation und
Anerkennung einer neuen Spezialdisziplin beitragen konnten. Neisser argumentiert in
seinem schon mehrfach zitierten Artikel für die Einrichtung neuer dermatologischer
Kliniken unter anderem damit, daß die Lehre der Dermatologie so sehr an Umfang und
Bedeutung zugenommen habe. Als Beleg dafür führt er an, daß es die „litterarische
Produktion“ eine stetig wachsende sei, gäbe es doch schon sechs europäische und eine
amerikanische Fachzeitschrift57.
55 Beobachtungen über Lähmungszustände der untern Extremitäten und deren Behandlung, 1840, und Spinale Kinderlähmung, 1860.
56 Schott, 15657 Neisser, 196
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
6. Spezialisierung in der Diskussion
Die Zersplitterung der Medizin in eine stetig wachsende Zahl von Subspezialitäten war
natürlich innerhalb der Ärzteschaft Anlaß zur Diskussion. So gibt es eine ganze Reihe von
Zeitschriftenartikeln zu diesem Thema, und die Frage der Spezialisierung wurde auch auf
dem 17. Deutschen Ärztetag in Braunschweig im Jahre 1889 diskutiert58. Die Befürworter
der Spezialisierung stützen hierbei ihre Argumentation auf Überlegungen, die in den
vorangegangenen Abschnitten schon beleuchtet worden sind - auf den enormen
Wissenszuwachs der vergangenen Jahrzehnte, auf die Bedürfnisse und Wünsche des
Klientels, auf die veränderten demographischen und psychosozialen Bedingungen.
Doch auch die Gegner der Spezialisierung konnten gute Argumente für ihren Standpunkt
finden. Ein gewichtiges Argument gegen die Einführung von Spezialdisziplinen war die
Sorge, die allgemeine Ausbildung möge dadurch geschmälert werden, und der
allgemeinmedizinische Arzt könnte „verarmen“, weniger vielseitig werden, und würde
Patienten lieber zum Spezialisten schicken, als zu versuchen, selbst breite und vielseitige
Fähigkeiten zu erwerben und zu behalten. Es sei hier nochmal an den Artikel Albert
Neissers erinnert, der diese Sorge aufgreift und teilt (vgl. Abschnitt 5.7). Nach Neisser
fühlen sich sogar die Allgemeinmediziner selbst unzulänglich ausgebildet und suchen
daher „Ärztekurse“ auf. Neisser spricht davon, daß ein großer Teil deutscher Ärzte nach
Wien pilgerte, um dermatologische Kurse zu besuchen. Dann aber dreht Neisser den
Spieß um und argumentiert trotzdem für den Ausbau der Spezialfächer in der
akademischen Lehre - er argumentiert, daß man Spezialisten an den Universitäten
brauche, um die Allgemeinärzte in den speziellen Fächern suffizient auszubilden59.
Die Befürchtung, daß Allgemeinärzte sich nicht genügend weiterbildeten, sondern lieber
überwiesen, äußert auch Max Salomon60 1880 in der Deutschen Medizinischen
Wochenschrift61.
In einem weiteren Argument, das gegen die zunehmende klinische Spezialisierung ins
Feld geführt wurde, geht es abermals um die akademische Ausbildung: Lehrstuhlinhaber
sorgten sich darum, daß Patienten, die für ihre medizinische oder chirurgische Lehre
interessant gewesen wären, in den Spezialkliniken verschwinden könnten und somit für
58 Riedl, 2559 Neisser, 194-20060 Max Salomon (1837 - 1912) war praktischer Arzt und Medizinhistoriker.61 Riedl, 20
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
die Studenten nicht mehr zugänglich seien. Theodor Billroth62 schreibt 1876, daß es ein
enormer Rückschritt für die Medizin wäre, wenn die chirurgischen Kliniken gezwungen
wären, Patienten in Spezialkliniken abzugeben:
„Man mag an grossen Universitäten
in grossen Krankenhäusern für
talentvolle Specialisten soviele
Specialkliniken einrichten wie man
will, alle diese Dinge dürfen in der
chirurgischen Klinik deshalb doch
nicht fehlen, denn sonst wäre der
Student gezwungen, alle diese
Specialkliniken auch noch zu
besuchen, und da müsste er dann
acht und zehn Jahre statt vier und
fünf studiren. Auch stellt man sich
den praktischen Erfolg eines so breit
angelegten Unterrichtsplanes weit
grossartiger vor als er sein könnte
und sein würde: es hat eben doch
nur ein bestimmtes Maass von
Wissen zur Zeit in einem
Durchschnittsgehirne Platz.63“
Daneben führt Billroth an, er könne sich kaum vorstellen, daß eine ganz begrenzte
Spezialdisziplin einen Menschen auf Dauer ausfüllen und befriedigen kann - „kann es
etwas Faderes geben, als immer nur Kehlkopfskranke bespiegeln und betupfen, und
Hautkrankheiten begucken, abwaschen und beschmieren!“.
62 Theodor Billroth (1829 - 1894) war Chirurg und bekleidete unter anderem Lehrstühle in Wien und Zürich. Er ist uns noch heute durch seine Verdienste auf dem Gebiet der Magenchirurgie geläufig: zwei Typen der subtotalen Magenresektion heißen Billroth I und Billroth II. Daneben war Billroth der erste, der eine Kehlkopfexstirpation durchführte.nach Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. München 2002
63 Billroth, Theodor: Über das Lehren und Lernen der medicinischen Wissenschaften an den Universitäten der deutschen Nation. Wien 1876, 121-122. Zit. nach Eulner 1967, 226.
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Abb. 12: Theodor Billroth
Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Der Chirurg ist nicht der einzige, der sich Sorgen um den Platz in einem
„Durchschnittsgehirne“ macht. Auch Paul Börner64 schreibt 1883 in der Deutschen
Medizinischen Wochenschrift, daß die Gefahr bestehe, die Medizinstudenten würden von
den Einzeldisziplinen überbeansprucht, der Stundenplan würde zu voll, und letztendlich
würden keine nachhaltigen Lernerfolge erreicht. Dagegen argumentiert wiederum Neisser,
daß bei den Studenten Interesse an den Spezialfächern bestehe und daß die Kandidaten
die Notwendigkeit erkennen würden, sich Fachwissen aus den einzelnen Bereichen
anzueignen. Neisser berichtet, daß in Breslau die Studenten rege die dermatologischen
Vorlesungen besuchten und in die dermatologische Klinik kämen, obwohl es nicht
vorgeschrieben sei und auch keine speziellen Prüfungen in Dermatologie stattfänden65.
Hermann Schmidt-Rimpler66 gibt 1881 seiner Befürchtung Ausdruck, daß die
Spezialisierung eines Arztes eine Verengung seines Horizontes bei nicht wirklich
gewinnbringender Vertiefung seines Detailwissens sei67.
Heinrich Rohlfs mahnt zur Zurückhaltung der Ärzteschaft gegenüber den
Spezialisierungstendenzen und argumentiert, es sei nun gerade erst mit großer Mühe
eine Vereinheitlichung der Ausbildung und der Standesregelungen erreicht worden, und
diese Arbeit drohe durch die Aufspaltung der Medizin zunichte gemacht zu werden68.
Rohlfs wirkt sehr ergriffen von seiner eigenen Argumentation und nennt den ärztlichen
Spezialismus „das missgestaltete Kind einer fratzenhaften Charlatanerie und
habsüchtigen Eitelkeit“69.
Rohlfs hebt hier auf ein Phänomen ab, das auch einige seiner Zeitgenossen besorgt
schildern: den Pseudospezialismus. Wir haben in Abschnitt 5.7 gesehen, daß sich mit der
Aufschrift „Spezialist für ...“ Geld verdienen ließ, und das führte dazu, daß viele Ärzte sich
selbst zu Spezialisten erklärten, teilweise für Spezialisten in recht absurden Richtungen
(ein Arzt in Hamburg beschrieb sein Praxisschild: „Specialist für innere Krankheiten,
besonders für die von langer Dauer und besonderer Schwere“). In die gleiche Kategorie
fallen die sogenannten „Sechswochenspezialisten“. Dieser Begriff taucht immer wieder in
der Diskussion um das Spezialistentum auf, er ist fast ein geflügeltes Wort. Der
64 Paul Börner (1829 - 1885) war praktischer Arzt, Militärarzt und Publizist. Er begründete die Deutsche Medizinische Wochenschrift.nach Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. München 2002
65 Neisser, 20366 Hermann Schmidt-Rimpler (1838 - 1915) war erster Lehrstuhlinhaber für Augenheilkunde in Marburg.
nach Engelhardt, Dietrich von (Hrsg.): Biographische Enzyklopädie deutschsprachiger Mediziner. München 200267 Riedl, 1868 Riedl, 1169 Rohlfs, 96
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Hauptseminar: Die Medizin im 19. Jahrhundert - Der Aufbruch in die Spezialisierung
Sechswochenspezialist ist ein Arzt, der an in einer kurzen Fortbildung in einem
bestimmten Spezialfach teilgenommen hat und sich danach Spezialist nennt, obwohl er
keine profunden Kenntnisse über das Fachgebiet erworben hat70. Dieses Phänomen wird
in einem Gedicht aufgegriffen, das den Titel „Specialistenthum“ trägt und in der
Scherznummer II der Münchner Medizinischen Wochenschrift erschien - hier nur drei
Strophen daraus:
„Man sucht heraus sich ein Organ,
Um sich darauf zu werfen,
Sechs Wochen braucht man sicher dran,
Den Sinn dafür zu schärfen.
Der Arzt ist dann der rechte Mann,
Der ein Organ tractiret,
Und nicht, was jeder Hausarzt kann,
Den Kranken selbst curiret.
[...]
Ein jedes Loch am Leibe fand
Nun seinen Specialisten:
Der findet immer allerhand
Mit Künsten und mit Listen.71“
Dieses Gedicht greift den Streit gegen die Spezialisierung mit einem Augenzwinkern auf.
In diesem Sinne zum Schluß dieses Abschnittes noch ein anderes Gedicht, das 1906 in
den Fliegenden Blättern72 erschien:
70 Eulner 1967, 23-2471 Zit. nach Riedl, 43-4472 Die Fliegenden Blätter waren eine äußerst erfolgreiche und langlebige Satirezeitschrift, die von 1845 bis
1944 in München erschien.
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„Moderne Imperative.
Der Zahnarzt fordert: 'Lebe Deinen Zähnen!'.
'Gedenk der Augen!' spricht der Ophthalmist.-
'Streck Deine Muskeln, übe Deine Sehnen!'
so mahnt, wer von der Heilgymnastik ist.-
'Das wichtigste ist stets der gute Magen!'
Dies schärft der Magenarzt uns gründlich ein.-
'Für Hals und Kehlkopf muß man Sorge tragen!'
Ertönt's aus der Laryngologen Reih'n.-
'Vor allem aber - hüte Deine Lungen!'
So wird man detailliert von Kopf bis Fuß,
Daß es zuletzt den Alten wie den Jungen
Viviseziert zu Mute werden muß.-
'Bedenke, rings umgeben Dich Bazillen!'
Mischt warnend der Bakteriolog' sich ein.-
Wenn man das alles tut, um Himmelswillen,
Wo bleibt denn noch die Zeit, ein Mensch zu sein?!73“
73 Zit. nach Riedl, 60-61
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7. Ausblick
Wir haben gesehen, welche Einflußfaktoren die Entwicklung der medizinischen
Spezialfächer beeinflußt und beschleunigt haben. Werfen wir einen Blick auf den heutigen
Stand dieser Entwicklung.
Die Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns von 1993 unterscheidet 38 Fachärzte.
Innerhalb der Fachärzte gibt es noch eine Untergliederung in Schwerpunkte, die als
Zusatzbezeichnung geführt werden können. Die Innere Medizin weist neun Schwerpunkte
auf, die Chirurgie vier. Daneben gibt es 22 weitere Zusatzbezeichnungen, die ein Arzt
erwerben kann. Darüber hinaus wiederum gibt es fakultative Weiterbildungen in noch
spezialisierteren Gebieten. Damit ist es dem ambitionierten Arzt möglich, „Facharzt für
Kinderheilkunde, mit Schwerpunkt Kinderkardiologie, Zusatzbezeichnung
Naturheilverfahren, und fakultativer Weiterbildung in spezieller pädiatrischer
Intensivmedizin“ zu werden74,75. Die Frage ist, inwieweit im Zuge des immer detaillierteren,
immer feiner aufgeteilten Expertentums, die ärztliche Fähigkeit verloren geht, sich eines
Menschen mit all seinen gesundheitlichen Schwierigkeiten und Problemen anzunehmen.
Damit ist zum einen gemeint, daß ein Dermatologe in der Lage sein soll, im Bedarfsfall
die Diabeteseinstellung eines lang stationär liegenden Patienten zu korrigieren, ohne
nach einem diabetologischen Konsil zu rufen; oder daß ein Unfallchirurg eine akute
Belastungsreaktion erkennen und den Patienten einer entsprechenden Behandlung
zuführen muß. Daneben ist fächerübergreifendes Denken natürlich wichtig im Bereich der
Differentialdiagnose und bei Überlegungen, die den Zusammenhang und das
Zusammenwirken von Erkrankungen und Therapien aus verschiedenen Fachbereichen
betreffen. Doch dieses interdisziplinäre Denken und (Be-)Handeln wird sicherlich durch
die immer weiter zunehmende Subspezialisierung erschwert.
74 Um die Unterteilung in Facharztbezeichnungen, Schwerpunkte, Zusatzbezeichnungen und fakultative Weiterbildungen verständlicher zu machen, hier einige Beispiele aus den jeweiligen Kategorien:Facharztbezeichnungen: Allgemeinmedizin, Augenheilkunde, Chirurgie, Hygiene und Umweltmedizin, Klinische Pharmakologie, Neuropathologie, Psychiatrie und Psychotherapie, Psychotherapeutische Medizin, Strahlentherapie,...Schwerpunkte (hier: innerhalb der Inneren Medizin): Angiologie, Endokrinologie, Gastroenterologie, Hämatologie und internistische Onkologie, Kardiologie, Nephrologie, Pneumologie, RheumatologieZusatzbezeichnungen: Allergologie, Balneologie und medizinische Klimatologie, Flugmedizin, Psychoanalyse, Tropenmedizin, ...fakultative Weiterbildungen (hier: innerhalb der Inneren Medizin): klinische Geriatrie, spezielle internistische Intensivmedizin
75 aus der Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns in ihrer Neufassung vom 1. Oktober 1993, veröffentlicht im Bayerischen Ärzteblatt, 9/93
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Eine viel weitergehende Problematik stellt sich indes mit der Frage, inwieweit der
hochspezialisierte Arzt die Fähigkeit verliert, seinen Patienten als ganzen Menschen in
seinen biopsychosozialen Zusammenhängen zu begreifen. Die Evolution der vielen
medizinischen Subfächer hat zu einer Zerlegung des Menschen in Teile geführt, deren
Zusammenwirken schwer zu beschreiben und zu verstehen ist - und womöglich wird gar
nicht mehr versucht, es zu verstehen? Und doch hat das System, das funktionierende
oder dysfunktionale Ganze, eine viel grundlegendere praktische Bedeutung als das Teil.
Zu dieser Einsicht zurückzukehren ist vielleicht eine der wichtigsten Aufgaben, vor denen
die klinische Medizin heute steht - die Einführung eines integrierten somato-psycho-sozio-
kulturellen Denkmodells76.
In diesem Sinne lassen wir abschließend noch eine kritische Stimme zu Wort kommen,
nämlich Ludwig Fulda77:
„Wenn das noch immer so weiter geht
mit Arbeitsteilung und Spezialität,
dann wär das Wagnis noch geringer,
dem Löwen in den Rachen zu seh'n,
als mit einem kranken Zeigefinger
zum Spezialisten für Daumen zu gehen.78“
76 Besonders im Bereich der Ausbildung gibt es schon seit etlichen Jahren Forderungen nach der Betonung des biopsychosozialen Krankheitsmodells, nach integrativem, interdisziplinärem Unterricht im Gegensatz zu einer nach Fächern sortierten, detailbetonten Ausbildung#). Die Bemühungen der Universität Witten-Herdecke sind hier wegweisend, daneben zum Beispiel Schriften von Thure von Uexküll *), und auch viele studentische Initiativen fordern diesbezügliche Reformen in der Lehre.#) vgl. zum Beispiel einen Artikel von Hannes Pauli aus der Neuen Zürcher Zeitung vom 06.11.01, in der Online-Ausgabe der NZZ zu finden unter http://www.nzz.ch/2001/11/06/hc/page-article7QN8J.html*) vgl. Uexküll, Thure von; Wesiack, Wolfgang: Theorie der Humanmedizin. München, Wien, Baltimore 1998.
77 Ludwig Fulda, eigentlich Ludwig Anton Salomon (1862 - 1939, Freitod), war Populärdramatiker und Lyriker; z.B. Die Erschaffung des Weibes.nach http://www.litlinks.it/f/fulda.htm
78 Zit. nach Eulner 1967, 1
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Literaturverzeichnis
Eckart, Wolfgang U.: Geschichte der Medizin. Berlin 2000
Eulner, Hans-Heinz: Das Spezialistentum in der ärztlichen Praxis. In: Artelt, Walter; Rüegg, Walter (Hrsg.): Der Arzt und der Kranke in der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1967. Studien zur Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Band IV.
Eulner, Hans-Heinz: Die Entwicklung der medizinischen Spezialfächer an den Universitäten des deutschen Sprachgebietes. Stuttgart 1970. Studien zur Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Band IV. Hrsg.: Artelt, Walter; Rüegg, Walter.
Gordon, Richard: The Alarming History of Medicine. New York 1993.
Neisser, Albert: Über den Nutzen und die Notwendigkeit von Spezialkliniken für Haut- und venerisch Kranke. In: Guttstadt, A. (Hrsg.): Klinisches Jahrbuch. Berlin 1890 (2), 194-211.
Riedl, Heinrich: Die Auseinandersetzungen um die Spezialisierung in der Medizin von 1862 bis 1925. Diss., TU München 1981
Rohlfs, Heinrich: Ueber den Specialismus in der Medicin. In: Deutsche Klinik. 14 (1862), 81-85 und 93-97
Schott, Heinz (Hrsg.): Die Chronik der Medizin. Gütersloh/München 2000.
Toellner, Richard: Illustrierte Geschichte der Medizin. Erlangen, 1992
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Ferdinand Ritter von Hebra. Toellner, 3216.Abb. 2: Max von Pettenkofer. Toellner, 3301.Abb. 3: Johann Peter Frank und die „medicinische Polizey“. Schott, 140.Abb. 4: Kinderarbeit. Schott, 163.Abb. 5: Hermann von Helmholtz. Toellner, 3219.Abb. 6: Horace Wells. http://www.trincoll.edu/~aallan/horace.htmAbb. 7: Routineamputation. Gordon, Abb. 21.Abb. 8: Ignaz Semmelweis. Toellner, 3345.Abb. 9: Listers Parfümzerstäuber. Gordon, Abb. 10.Abb. 10: Albert Neisser. Toellner, 3283.Abb. 11: Knabe mit Poliomyelitis. Schott, 156.Abb. 12: Theodor Billroth. Toellner, 3135.
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