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Mein Jahrhundertbuch Herausgegeben von Iris Radisch

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Mein Jahrhundertbuch

51 namhafte Autoren stellen ihrLieblingswerk des 20. Jahrhunderts vor

Ein ZEIT-Buch

Herausgegeben von Iris Radisch

2000Verlag Hermann Bohlaus Nachfolger Weimar

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Mein Iahrhundertbuch :51 namh afte Autoren stellen ihr Lieblingswerkdes 20. Iahrhundert s vor ; ein ZEIT-Buch /hrsg. von Iris Radisch.- Weimar : Verlag Hermann Bohlaus Nachfolger, 2000

ISBN 978-3-7400-1141-3

ISBN 978-3-7400-1141-3ISBN 978-3-476-02728-3 (eBook)

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Dieses Werk einschlieBlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschiitzt. IedeVerwertung auBerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohneZustimmung des Verlages un zuliissig und strafba r. Das gilt insbesond ere furVervielfaltigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeiche­rung und Verarb eitun g in elektronischen Systemen.

© 2000 Springer-Verlag GmbH DeutschlandUrsprunglich erschienen bei Verlag Hermann Bohlaus Nachfolger Weimar 2000

DOI 10.1007/978-3-476-02728-3

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Inhalt

Vorwort von Iris Radisch

Franz Kafka, Der Prozess (Louis Begley)James Joyce, Ulysses (Salman Rushdie) .Christoph David Friedrich Weinland, Rulaman(Gunter Herburger) .Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften(Milan Kundera) .Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik derAufklarung (Peter Burger) .Thomas Mann, Buddenbrooks (Siegfried Lenz) .Samuel Beckett, Der Namenlose (Wilhelm Genazino) .Tobias Wolff, In der Armee des Pharaos (John Ie Carre)Albert Camus, Der Fremde (Peter Nadas) .Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit(Cees Nooteboom) .Ezra Pound, Pisaner Cantos (Raoul Schrott) .Christoph Wilhelm Aigner, Mensch. Verwandlungen(Sarah Kirsch) .Erich Mater, Riicklaufiges Worterbuch der deutschenGegenwartssprache (Oskar Pastior) . . . . .Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag(Wolfgang Hilbig) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .Diverse Bucher (Valeria Narbikova) .Gerard Manley Hopkins, Journal (Friederike Mayrocker)Dber das Nichtlineare und Georges Perec (Milorad Pavic)Ernst Herbeck, 1m Herbst da reiht der Feenwind(Leo Navratil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Uber Ettore Schmitz, der sich Italo Svevo nannte(Claudio Magris) 55Albert Vigoleis Thelen, Die Insel des zweiten Gesichts(Maarten 't Hart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Sigmund Freud, Vorlesungen zur Einfahrung in die Psycho-analyse (Richard Rorty) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63Friedrich Durrenrnatt, Stoffe (Dieter Bachmann) . . . . 67Anatole France, Aufdem weij3en Felsen (Iurgen Engler) . 70Martin Heidegger, Sein und Zeit (Michael Theunissen) 73Winsor Mc Cay, Little Nemo (Brigitte Kronauer) .... 76Allen Ginsberg, Howl und Kaddish (Istvan Eorsi) . . . . 79Franz Kafka, Das Schloss (Georges-Arthur Goldschmidt) 83Friedrich A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft(John R. Searle) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86Bertolt Brecht, Buckower Elegien (Hans Jiirgen Syberberg) 90Andrej Tarkowskij, Die versiegelte Zeit (Gerhard Roth) 94Michail A. Bulgakow, Der Meister und Margarita(Dzevad Karahasan) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98[aroslav Hasek, Die Abenteuerdes braven Soldaten Schwejk(Daniil Granin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103Georg K. Glaser, Geheimnis und Gewalt (Peter Hartling) 107Louis-Ferdinand Celine, Reise ans Ende der Nacht(Laszlo F. Foldenyi) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IIIJuan Rulfo, Pedro Paramo (Urs Widmer) . . . . . . . .. 115Anthony Burgess, Der Furst der Phantome (Nigel Barley) 118Franz Kafka, Das Schloss (Laszlo Krasznahorkai) . 122Albert Camus, Die Pest (Lars Gustafsson) . . . . . 126Johannes Bobrowski, LevinsMahle (lngo Schulze) 132Jean-Paul Sartre, Der Ekel (Stewart O'Nan) . . .. 138Christian Morgenstern, Galgenlieder (Walter Kempowski) 141Antonio Gramsci, Die Siidfrage (Fabrizia Ramondino) . . 145Franz Kafka, Tagebucher 1910-1923 (George Tabori) . . . 151Alexander Solschenizyn, Der Archipel Gulag (Ivan Klima) 152

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Vladimir Nabokov, Lolita (Viktor Ierofejew) . . . 154Primo Levi, 1st das ein Mensch? (Gunter Kunert) 158Uber Marcel Proust (Nadine Gordimer) . . . . . 161Ernst Barlach, Dergestohlene Mond (Adolf Muschg) 162Henri Alain-Fournier, Dergrofle Meaulnes (Ludwig Harig) 166Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften(Katarina Frostenson) . . . . . . . . . . . . . . . . . 169Witold Gombrowicz, Pornographie (Peter Esterhazy) 173

Die Rezensenten . . . 177Inhalt (alphabetisch) 181

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Vorwort

Die Frage war so groBenwahnsinnig wie unbeantwortbar: Nen­nen Sie mir, auf die Gefahr, ungerecht zu sein, ein Buch, das furSie das wichtigste Buch des 20. Jahrhunderts ist? Dennochhaben wir sie Schriftstellern und Gelehrten auf der ganzen Weltins Haus geschickt. Ein Iahr lang, bis zur letzten Ausgabe desnun vergangenen Iahrtausends, haben wir in der ZEIT Bilanzgezogen. Welche Bucher werden bleiben? Welche Bucher werdenuber die Schwelle der Jahrtausendwende getragen, wie sieht un­sere eiserne Bucherration aus?Auch wenn jeder weiB, dass Bilan­zen, die man nicht selbst gefalscht hat, nie stimmen, war die Fra­ge nach einer Bibliothek des 20. Jahrhunderts zu verlockend .

Die Gegenfragen lagen auf der Hand und bei uns schnell imBriefkasten. Warum durfte man nur ein einziges Jahrhundert­buch nennen? Wer kann das schon? Literatur, meldete PeterRuhmkorf von der nahen Elbe ins Pressehaus am Speersort, seischlieBlich ein »riesiger Resonanzraum«, wie sich da auf eineinziges »Urknallbuch« beschrankenr Und warum nur ein Buchaus dem 20. Jahrhundert? Warum nicht eines beispielsweise vonKleist, schrieb Dzevad Karahasan aus Sarajevo, denn war Kleistnicht in tiefster Seele bereits ein Autor des 20. Jahrhunderts?Und uberhaupt: »Doesn't it seem quite fabricated such a choos­ing«, raunzte Richard Ford aus New Orleans. Und ChristophRansmayr schickte, animiert von der unbeantwortbaren Frage,aus Irland wunderbare Erzahlungen von Teigbuchstaben, dieaus einer fettglanzenden, langst verdampften Suppe aufsteigen,aber keinen Buchtitel ergeben, berichtete von den russischenund griechischen Buchern seines Vaters, vom Radio seinesOnkels, auf dem zwei Steinfiguren standen und sich gegen einen

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kleinen Bucherstapel stemmten und gab un s auf wunderbareWeise zu verstehen, dass die Erzahlung von seinem Jahrhundert­buch eine sehr personliche Sache, keine Angelegenheit von zweiSchreibmaschinenseiten sein kann.

Und dennoch zielt die Frage nach dem . personlichen Iahr­hundertbuch genau da hinein: ins Herz jedes einzelnen Lesers.Denn welche andere Legitimation sollte ein Kanon der Welt­literatur des 20. Jahrhunderts haben, als die eines liebendenlesenden Herzens? Eine imaginate Zentralbibliothek, zusam­mengestellt von beruhrnten Dichtern und Denkern, ist naturlichkein verbindlicher Kanon. Keine Jury hat daruber gewacht , dassdie anerkannten grofsen Meisterwerke des Jahrhunderts in die­ser Bibliothek enthalten sind. Niemand hat fur den Proporz, furAusgleich und Reprasentanz gesorgt. Darin unterscheidet sichdie Jahrhundertbuch-Bibliothek von der ZEIT-Bibliothek der100 Bucher, die vor genau zwanzig lahren Furore machte. Da­mals haben sich funf weise Herren die Kopfe daruber zerbro­chen, welche 100 Bucher in einen Kanon der Weltliteraturhineingehoren, Ein Zwei-Iahres-Plan wurde erstellt und Wochefur Woche ausgefuhrt, eine literaturkritische Planwirtschaft wur­de betrieben, die den Vorzug der relativen Gerechtigkeit hatte.

Die Bibliothek der Iahrhundertbucher ist dagegen unge­recht. Sie folgt keinem Plan, aufser dem der Neigungen undVorlieben . War die ZEIT-Bibliothek der 100 Bucher ein sorgsamangelegter Park, so ist dies ein wildwuchernder Garten derLeseluste. Der Weg, den der Leser durch diesen Garten zuruck­legt, beginnt - und das ist sicher kein Zufall - bei Franz Kafka,biegt zielgerade ab zu Joyce, fuhrt zu Robert Musil , landet weichbei Thomas Mann, macht zweimal Rast bei Albert Camus,taucht ein in den Strom der verlorenen Zeit des Marcel Proustund kehrt immer wieder zu Kafka zuruck, Als habe eine un­sichtbare Hand im Geheimen doch Regie gefuhrt, zeichnetensich auf der Landkarte des Lesens deutliche Knotenpunkte und

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vor allem Grenzen ab: Obwohl Autoren aus aller Welt nachihrem Lieblingsbuch befragt wurden, ist die Heimat der Iahr­hundertbucher vor allem Zentraleuropa, insbesondere Deutsch­land, Frankreich, Russland und Italien. Gleichwohl herrscht indiesem Kernland der Literatur die Anarchie des Herzens . Kind­heitsbucher, Worterbucher, BUcher von Freunden und Vorbil­dern, BUcher, die das Leben in wichtigen Iahren begleitet haben,BUcher von groBer regionaler Bedeutung stehen neben denanerkannten Wackersteinen der Weltliteratur. Was ein Iahr­hundertbuch ausmacht, entscheiden nicht Experten, sonderndie Zufalle und Bedingungen des privaten Lebens.

Auch dies kann man nebenbei erfahren: Den grofsen Dich­tern und Denkern geht es nicht anders als jedem Leser: Er liest,was er liebt, und er liebt vor allem, was ihrn, nein kein Kanan,keine Empfehlungsliste, sondern das Leben seiber nahe gebrachthat . Manchmal ist es wie bei Peter Esterhazy eine alte Tante, diesich abfallig uber Gombrowicz auBert - Wissen Sie Peterrr, er istein sehr grofser Schriftsteller und sehr unangenehm - und dieNeugier entfacht. Manchmal ist es ein Band von Louis-Ferdi ­nand Celine, der wie eine Briefbombe in das Leben des un­garischen Philosophen Laszlo F. Poldenyi fallt. Der braveSchwejk hat Daniil Granin schon in manch schwerer Lebens­minute ein Bier angeboten. Der Fremde von Albert Camus liegtPeter Nadas schon deswegen am Herzen, weil er im Iahr seinesErscheinens geboren ist. Und auf Little Nemo ist Brigitte Kro­nauer beim Stobern in einer Hamburger Buchhandlung gesto­Ben. Haufig sind die Lieblingsbucher die, die man seit derJugend mit sich herumtragt. So hat Michael Theunissen Seinund Zeit von Martin Heidegger schon als 18-Jahriger in einemZug verschlungen. Und GUnter Herburger zieht noch immerjenes Werk allen anderen vor, das er als Kind in der eiskaltenKammer des Nachts mit der Taschenlampe unter der Bettdeckegelesen hat.

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Erstaunlich auch, dass im Zweifel das wichtigste, das letzteBuch, das man aus dem vergangenen Jahrhundert mitnehmenmochte, doch ein Roman ist. Gewahlt werden durfte alles:Gedicht, Essay, Erzahlung, Drama, Aphorismus und philo­sophisches Werk. Und doch stehen am Ende des Jahrhundertsder grofsen Ideologien kaum theoretische Werke in der Endaus­wahl unserer Autoren. Freuds Vor!esungen zur Einfu hrung in diePsychoanalyse, Die Dialektik der Aufkiarung von Max Hork­heimer und Theodor W. Adorno, Antonio Gramscis Sudfrage,Heideggers Sein und Zeit und Der Weg zur Knechtschaft vonFriedrich A. Hayek sind alles, was vom Jahrhundert der HannahAhrendt und Rosa Luxemburg, des George Lukacs und NorbertElias, des Edmond Husser! und des Ludwig Wittgenstein, desMax Weber und des Niklas Luhmann ubrig geblieben sind.Woraus man mit aller Vorsicht schliefsen konnte, dass dasHaltbarkeitsdatum theoretischer Texte ein besonders endlichesist und literarische Weltdeutungen den abstrakten auf langeSicht uberlegen sind.

»Das wichtigste Buch des Iahrhunderts«, scheibt RichardRorty in seinem Beitrag uber Freud, »rnusste das Werk sein, demzukunftige Historiker einhellig die groisten Veranderungen imSelbstbild der menschlichen Rasse zuschreiben werden«, Wenndies stimmt, so ist das Selbstbild des Menschen im Roman nochimmer der starkste lndikator fur die Umwalzungen und Revolu­tionen des Menschenbildes.

Doch was fur ein Menschenbild ist es, das die Iahrhundert­bibliothek zeichnet? Auffallend ist, dass der Mensch in derBibliothek des 20. Jahrhunderts schon recht betagt ist. Diejungste und allerjungste Literatur kommt nicht vor, die deutsch­sprachige Nachkriegsliteratur fehlt, abgesehen von JohannesBobrowski und dem spaten Durrenmatt, beinahe vollstandig.Kein Uwe Johnson, kein Peter Weiss, keine Ingeborg Bachmann,aber auch kein Gunter Grass , keine Christa Wolf, kein Max

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Frisch, von den noch Iungeren ganz zu schweigen. Die moderneLiteratur wird einzig von Allen Ginsberg und Georges Perecvertreten. Die junge osteuropaische Literatur endet bei Nabokovund Gombrowicz. Insofern ist diese kIeine Bibliothek eherkonservativ zu nennen. Obwohl sie dunkle, abgriindige Autorenwie Louis- Ferdinand Celine, Ezra Pound oder (eine besondereUberraschung) Andrej Tarkowskij nicht ausschliefst, iiberwiegendoch die groBen Realisten des biirgerlichen Zeitalters: MarcelProust, Thomas Mann und Robert Musil auf der Seite dergroBen ironischen Chronisten; Franz Kafka, Samuel Beckett,Bertolt Brecht, Albert Camus, Jean-Paul Sartre auf der Seite derMinimalisten und Moralisten.

»Den Roman des 20. Jahrhunderts haben Joyce, Proust undKafka erfunden«, schreibt Salman Rushdie und hat damit imGrunde den geheimen Horizont dieser erlesenen Schriftsteller­bibliothek umrissen: er ist europaisch, realistisch, biirgerlichund - pardon - mannlich, Insofern hat sich im Nachhineinbetrachtet unter der Hand doch etwas wie ein Kanon hera us­kristallisiert, der gegen aile Katastrophen der Historie resistentwar. Noch immer holt man sich Auskunft uber die Schreckendes Jahrhunderts am liebsten bei Kafka, Camus und Beckett.Noch immer ist das gesellschaftliche Universum des 20. Iahr­hunderts das seiner melancholischen Apologeten, sprich dasvon Mann, Musil, Proust oder Svevo.

Und doch will auch in diesen Kanon der hochentwickeltenbiirgerlichen Katastrophenliteratur zumindest ein Titel, der indiese Bibliothek gleich zwei Mal aufgenommen wurde, nichtganz passen. Es ist der Archipel Gulag von Alexander Sol­schenizyn, den Ivan Klima als den schlagkraftigsten Beweisdafur anfuhrt, dass Literatur Reiche erschuttern kann, die volligunerschutterlich scheinen. Ohne dieses Buch, schreibt auchWolfgang Hilbig, hatten sich die kommunistischen Zwangs­systeme des 20. Jahrhunderts vermutlich nicht so schnell und so

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umfassend autgelost. »Wern das Ende der kommunistischenIllusion noch immer unbegreiflich oder uberraschend erscheint,der lasst dieses Buch auBer Acht «, meint Hilb ig. Dieses Buchbegleitet die Geschichte nicht, es macht Geschichte, es ist »zu­

tiefst menschlich in seinem Bild der Unmenschlichkeit«,schreibt Ivan Klima, »und so charakteristisch fur das 20. Iahr­hundert, dass es vielleicht das Buch des Jahrhunderts ist. .

Wenn es also einen gemeinsamen Nenner jenseits der purenVorlieben und biographischen Zufalligkeiten in dieser Biblio­thek gibt, so ist es dieser Glaube, dass Literatur Reiche erschut­tern kann, innere und auisere. Es ist der Glaube an die Literaturals einer Kraft, die uns verandert, die uns etwas lehrt, in der wiruns wieder finden, die Gemeinsamkeit stiftet. Die Bibliothek des21. Jahrhunderts mag ganz anderen Gesetzen gehorchen. Unsereerzahlt von den groBen Traumen des vergangenen Iahrhunderts,von der Pracht und Herrlichkeit einer Literatur, die mehr seinwollte als ansprechender Zeitvertreib. Dieser Ernst macht diekleine Bibliothek, auch in ihren Seitenarmen und skurrilenAuBenposten, zu einem Dokument. Ein Beweis dafur, dass eseinmal eine grofsenwahnsinnge Zeit gegeben hat , in der dasLesen noch geholfen hat .

Iris Radisch

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