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Die Türen schlossen sich hinter ihm und der Lift schoss in die Höhe. Meinhardt spürte einen schrägen Rhythmus in der Brust. Sein Herz stotterte. 42. Stock, hatte der Pförtner gesagt, dritte Tür rechts. Meinhardt fühlte sich wie in einem Blechsarg. Wenn sie ihn nahmen, würde er jeden Tag hier hochdonnern müssen wie ein Erzengel. Und wie immer auf den letzten Drücker. Der Schweiß brach ihm aus, als der Aufzug bremste. Die Türen öffneten sich und Meinhardt betrat den Flur. Er rümpfte die Nase. Steril wie in einem Krankenhaus. Da hingen die Gemälde, von denen Sendzik gesprochen hatte, als Farbtupfer. Es herrschte Totenstille. Dritte Tür rechts also. Aber zuerst schnell auf die Toilette. Vor dem Spiegel wischte Meinhardt sich den Schweiß von der Stirn und prüfte kritisch sein Aussehen. Gegen die Krähenfüße war kein Kraut gewachsen, aber die grauen Strähnen hätte er färben sollen. Einen Blick an sich herab. Die Schuhe blitzten, die Nadelstreifenhose war ziemlich abgetragen, ebenso der schwarze Sakko, aber er hatte nichts Besseres. Seine Garderobe bestand nun mal aus abgelegten Klamotten, die ihm Bekannte geschenkt hatten oder stammte aus geplünderten Rotkreuzbeuteln. Meinhardt hatte keine Zeit mehr gehabt, sich etwas Elegantes zu klauen. Das zählte alles nicht viel, hatte Sendzik ihm eingeschärft. Hauptsache, natürlich auftreten und locker sein, und das bei seiner verfluchten Höhenangst. Meinhardt zupfte sich die Krawatte zurecht und machte sich auf. Dritte Tür rechts. Zwei Namen standen an der Tür. J. C. Bratengeier und F. Gaul. Er klopfte und betrat das Büro. Herr Meinhardt, nehme ich an?“ Meinhardt nickte. Sie musterten sich gegenseitig von Kopf bis Fuß. Die Sekretärin war jung. Ihre dunkelbraunen Haare fielen auf die Schulter. Sie hatte eine hohe Stirn, Riesenpupillen hinter einer schwarzen Hornbrille. Meinhardt musterte ihre Titten und dann den Silberklunker an den Ohren, um den Hals und an den Fingern. Ziemlich krass, aber sie schminkte sich dezent. „Herr Bratengeier ist noch in einer Sitzung. Kann aber nicht mehr lange dauern.“ Meinhardt fuhr sich verlegen durchs Haar. Krawatten können Sie wohl nicht binden. Lassen Sie mich raten, den Knoten hat Ihre Mutter geknüpft?“ Die Sekretärin lächelte verschmitzt. Sie tänzelte hinter dem Schreibtisch hervor und zog Meinhardt die Krawatte vom Hals. Sie sind ja total verspannt! Drehen Sie sich mal um!“ Mit der Hand machte sie eine Drehbewegung wie eine Ballettlehrerin und schaute streng durch ihre Brille. Los, los“, drängte sie. Gehorsam drehte Meinhardt sich um. Sie presste sich an seinen Rücken, legte ihr Kinn auf seine Schulter und schnüffelte an seinem Ohr. Meinhardt bekam einen Ständer. Kichernd legte die Sekretärin ihm die Krawatte um den Hals und schlang von hinten, unter seinen Armen hindurch, einen Knoten. Und keinen einfachen. Ich hieße Fiona“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Vorsicht! Der Alte kommt!“ Sie gab Meinhardt einen Schubs und brachte ihre Frisur in Ordnung. Fast wäre er gestolpert. „So, da ist ja unser Quereinsteiger! Meinhardt, ich grüße Sie! Und Philosophie also studiert im Nebenfach ...“ Bratengeier streckte ihm die Hand entgegen. Der Händedruck war lasch. Meinhardt krümmte sich und hoffte, dass der Mann seinen Ständer nicht bemerkte. Bratengeier war korpulent, hatte einen geschorenen Schädel, buschige, schwarze Augenbrauen. Er führte den Bewerber in sein Büro, an einen Schreibtisch voller Briefe und Akten. Meinhardt schaute sich neugierig um. Links neben der Tür hing das Gemälde eines Herrn, offensichtlich nicht von Sendzik, der Bratengeier wie aus dem Gesicht geschnitten war. Am Fenster ein riesiges Aquarium, das die gesamte Fensterfront nach

Meinhardt kriegt die Motten

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Auszug aus dem Roman Meinhardt kriegt die Motten

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Die Türen schlossen sich hinter ihm und der Lift schoss in die Höhe. Meinhardt spürte einen schrägen Rhythmus in der Brust. Sein Herz stotterte. 42. Stock, hatte der Pförtner gesagt, dritte Tür rechts. Meinhardt fühlte sich wie in einem Blechsarg. Wenn sie ihn nahmen, würde er jeden Tag hier hochdonnern müssen wie ein Erzengel. Und wie immer auf den letzten Drücker. Der Schweiß brach ihm aus, als der Aufzug bremste. Die Türen öffneten sich und Meinhardt betrat den Flur. Er rümpfte die Nase. Steril wie in einem Krankenhaus. Da hingen die Gemälde, von denen Sendzik gesprochen hatte, als Farbtupfer. Es herrschte Totenstille. Dritte Tür rechts also. Aber zuerst schnell auf die Toilette. Vor dem Spiegel wischte Meinhardt sich den Schweiß von der Stirn und prüfte kritisch sein Aussehen. Gegen die Krähenfüße war kein Kraut gewachsen, aber die grauen Strähnen hätte er färben sollen. Einen Blick an sich herab. Die Schuhe blitzten, die Nadelstreifenhose war ziemlich abgetragen, ebenso der schwarze Sakko, aber er hatte nichts Besseres. Seine Garderobe bestand nun mal aus abgelegten Klamotten, die ihm Bekannte geschenkt hatten oder stammte aus geplünderten Rotkreuzbeuteln. Meinhardt hatte keine Zeit mehr gehabt, sich etwas Elegantes zu klauen. Das zählte alles nicht viel, hatte Sendzik ihm eingeschärft. Hauptsache, natürlich auftreten und locker sein, und das bei seiner verfluchten Höhenangst. Meinhardt zupfte sich die Krawatte zurecht und machte sich auf. Dritte Tür rechts. Zwei Namen standen an der Tür. J. C. Bratengeier und F. Gaul. Er klopfte und betrat das Büro.

„Herr Meinhardt, nehme ich an?“

Meinhardt nickte. Sie musterten sich gegenseitig von Kopf bis Fuß. Die Sekretärin war jung. Ihre dunkelbraunen Haare fielen auf die Schulter. Sie hatte eine hohe Stirn, Riesenpupillen hinter einer schwarzen Hornbrille. Meinhardt musterte ihre Titten und dann den Silberklunker an den Ohren, um den Hals und an den Fingern. Ziemlich krass, aber sie schminkte sich dezent. „Herr Bratengeier ist noch in einer Sitzung. Kann aber nicht mehr lange dauern.“

Meinhardt fuhr sich verlegen durchs Haar.

„Krawatten können Sie wohl nicht binden. Lassen Sie mich raten, den Knoten hat Ihre Mutter geknüpft?“

Die Sekretärin lächelte verschmitzt. Sie tänzelte hinter dem Schreibtisch hervor und zog Meinhardt die Krawatte vom Hals.

„Sie sind ja total verspannt! Drehen Sie sich mal um!“ Mit der Hand machte sie eine Drehbewegung wie eine Ballettlehrerin und schaute streng durch ihre Brille.

„Los, los“, drängte sie. Gehorsam drehte Meinhardt sich um. Sie presste sich an seinen Rücken, legte ihr Kinn auf seine Schulter und schnüffelte an seinem Ohr. Meinhardt bekam einen Ständer. Kichernd legte die Sekretärin ihm die Krawatte um den Hals und schlang von hinten, unter seinen Armen hindurch, einen Knoten. Und keinen einfachen.

„Ich hieße Fiona“, hauchte sie ihm ins Ohr. „Vorsicht! Der Alte kommt!“ Sie gab Meinhardt einen Schubs und brachte ihre Frisur in Ordnung.

Fast wäre er gestolpert. „So, da ist ja unser Quereinsteiger! Meinhardt, ich grüße Sie! Und Philosophie also studiert im Nebenfach ...“ Bratengeier streckte ihm die Hand entgegen. Der Händedruck war lasch. Meinhardt krümmte sich und hoffte, dass der Mann seinen Ständer nicht bemerkte. Bratengeier war korpulent, hatte einen geschorenen Schädel, buschige, schwarze Augenbrauen. Er führte den Bewerber in sein Büro, an einen Schreibtisch voller Briefe und Akten. Meinhardt schaute sich neugierig um. Links neben der Tür hing das Gemälde eines Herrn, offensichtlich nicht von Sendzik, der Bratengeier wie aus dem Gesicht geschnitten war. Am Fenster ein riesiges Aquarium, das die gesamte Fensterfront nach

Osten einnahm. Bratengeier klatschte in die Hände und musterte Meinhardt. „Ich habe Sie mir eher vorgestellt wie den Herrn Kaiser, wissen Sie, den Mann von der Hamburg-Mannheimer. Artig, gescheitelt, devot und stets korrekt.“ Er zog die Schreibtischschublade auf und nahm ein Blechkästchen und eine Pinzette heraus.

Fiona brachte Kaffee und Knabberzeug. Bratengeier fütterte die Fische mit Würmern aus dem Kästchen.

„Bettas, Neons und Guramis ... Kampffische beruhigen ungeheuer, sage ich immer! Fünf Millimeter Panzerglas. Sicher ist sicher.“ Meinhardt schaute ungläubig. „Die Sicherheit der Fische meine ich. Da sind Sie baff, was?“

Im Zweifelsfall lieber schweigen, hatte Sendzik gesagt, als Unsinn zu reden.

„Dissertation über Clausewitz, ja ... wir haben Tränen gelacht.“

Meinhardt stand versteinert. „Nichts für ungut!“ Bratengeier klopfte ihm auf die Schulter. „Haben Sie gedient?“ Meinhardt schüttelte den Kopf. „Untauglich, was? Keine Panik, Sie sind schon nach meinem Geschmack! Keine Panik! Nach den Turbulenzen der letzten Zeit, müssen wir uns etwas ausdenken, um unsere Produkte zu verkaufen. Eine Doppelstrategie, ähm, das werden Sie erst später begreifen ... Die Medien verderben das Spiel. Machen uns das Geschäft kaputt. Versuchen sie jedenfalls, ähm, das heißt: Die Alten lassen ihr Erspartes lieber unter der Matratze, statt zu spekulieren. Ich verstehe gar nicht, was die wollen. Die können bedenkenlos zocken, haben doch eine Grundsicherung, wenn alle Stricke reißen, kommt der Vater Staat für sie auf ...“

Bratengeier ging zum Aquarium.

„Für mich ist das die Allegorie des Seins.“ Er deutete auf seine Fische. „Da unten geht es doch ganz genauso zu. Nur die Besten überleben. Darwin! Nicht Ihr oller Clausewitz.“

Jetzt hatte die Stunde der Wahrheit geschlagen. Meinhardt hatte sich vorbereitet auf die Theorien der Liberalen und Neoliberalen. Statt über Keynes zu referieren, würde er die Flucht vom Hundertsten ins Tausendste antreten. Sendzik hatte ihn gestern Abend noch mit der Theorie komplexer Systeme getriezt. Unterdessen hatten sie ordentlich gebechert. Auch die Exkurse, dass Lenin in Zürich Clausewitz exzerpiert hatte, um sich auf die Revolution vorzubereiten, war ihm schnurzegal. „Lassen Sie mich ausreden!“ maulte Bratengeier, obwohl Meinhardt nichts sagen wollte. Seine Stimme rutschte in ein Falsett. „Sie wollen einwenden, dass es nicht egal ist, ob man eine Schachpartie mit Schwarz oder Weiß spielt. Zu 56 Prozent gewinnt Weiß. Geschenkt. Auch die geografischen Gegebenheiten des Schlachtfeldes, von denen Clausewitz spricht. In welchem Stadium befinden wir uns? Wir sind im Niedergang begriffen, jammern die Moralisten schon seit Ewigkeiten. Die Verbesserung der Welt überlassen wir den Narren. Nur sie denken über so einen Quatsch nach. Moral! Pah! Die Politik hat die Moral schon lange an die Wand gestellt. Paff ! Paff ! Honi soit qui mal y pense! Auch Sie haben krauses Zeug an weiße Wände gesprüht! Leichte Sachbeschädigung. Aber keine Panik! Im Gegenteil! Das freut uns! Das bleibt unter uns und die Akte im Safe. Wer bis zwanzig kein Kommunist ist, ist kein Mensch und den können wir nicht als unser Aushängeschild gebrauchen ...“ Bratengeier drückte einen Klingelknopf auf dem Schreibtisch. „Gäulchen, Champagner, Pergament und Feder bitte!“ Fiona brachte die Utensilien auf einem Tablett. Meinhardt krakelte seinen Namenszug auf das Papier, dann stießen sie an. Bratengeier war zufrieden. Unvermittelt sprang er auf.

„Gäulchen, erklären Sie ihm, wo´s lang geht!“

Bratengeier eilte davon und Fiona schloss die Tür hinter ihrem Chef. „Komm, oller Clausewitz! Fast hättest du´s verpeilt!“ Fiona ging ans Aquarium und Meinhardt folgte ihr. Mit den Sektgläsern in der Hand beobachteten sie, wie sich vor dem Fenster eine Metallgondel herabsenkte. Das Ding hing an dünnen Stahlseilen in der Luft. Ein Fensterputzer vollführte mit einem Wischer Kreisbewegungen auf der Scheibe. Wie ein Taucher wirkte er zwischen den Fischen. Sein Mund bewegte sich, aber es war kein Wort zu hören. Fiona zuckte die Achseln. Der Mann malte ein Herz aus Schaum auf die Scheibe warf ihr eine Kusshand zu. Die Sekretärin hob das Sektglas. Der zweite Mann in der Gondel drehte eine Zigarette. Meinhardt machte einen Schritt zurück. Ihm war flau. In so einer Kiste, an Spinnenfäden

aufgehängt, würde er vor Angst sterben.

„Dann klären Sie mich auf!“ bat er Fiona. „Mach es eben, wie alle anderen auch. Kommst ins Büro, setzt dich an den Schreibtisch. In der Probezeit nicht auffallen. Wenn der Alte etwas will ...“ Bratengeier kam zurück ins Büro. „Gut, dass Sie noch hier sind! Kommen Sie, da kann ich Sie gleich den anderen vorstellen! Sind schon neugierig auf Sie!“ Bratengeier eilte voraus, Meinhardt hinterher. Vor einem Sitzungsraum ließ Bratengeier ihm den Vortritt. Gestalten mit rasierten Schädeln und Sonnenbrillen auf der Stirn beäugten ihn. Fast alle trugen goldene Ohrringe. Die Anzüge und Hemden kamen nicht von der Stange. Meinhardt fühlte sich unwohl. Er wurde taxiert wie ein Sklave auf dem Markt. „Meine Herren, nur eine Minute! Nur kurz unseren neuen Mitarbeiter vorstellen. Herr Meinhardt, der profunde Kenner von Clausewitz und Konsorten, Sie verstehen? Kurz und gut, Sie werden mir zustimmen, dass wir keinen Fehler begehen, mit ihm als Gesicht unserer Bank.“

In der Güntherstraße herrschte Ruhe. Sofort Bericht erstatten, dann hatte er es hinter sich. Meinhardt klingelte und nach einer Weile streckte der Maler seinen Kopf aus dem Atelier.

„Alles gut gelaufen, oder? Siehst du, wie ich dir gesagt habe: In der Kaste der Bankiers steht er ganz oben. Außerhalb der Gesetze. Mir frisst er aus der Hand, seitdem ich die Möpse seiner Alten gemalt habe ...“

„Möpse?“

„Nicht was du meinst! Zwei Köter, die sie abgöttisch liebt! Er schätzt mich, weil ich kein Blatt vor den Mund nehme. Bei mir bekommt er Dinge zu hören, von denen Grünhörner und Zuckerschnecken keine Ahnung haben. Nietzsche, Jünger ...“

„Und weil dich die Göttin geküsst hat ...“

„Nein, geküsst hat sie den Parmenides! Mir hat sie sich hingegeben!“

Meinhardt winkte ab.

„Schlag nicht über die Stränge!“

„So toll zahlen die auch nicht. Apropos. Ich bräuchte bis zum Zahltag ...“

Auf diesem Ohr war Sendzik taub. Sicher war er selbst klamm.

„Söhne dich endlich mit Edda aus. Dann gebe ich euch einen Sack voll Gold zur Hochzeit! Bratengeier ist eigensinnig, man muss ihn zu nehmen wissen. Der Zeitgeist ...“

„Frisst mir aus der Hand!“

Reichlich spät trudelte Meinhardt an seinem ersten Arbeitstag ein, dennoch als Erster. Alle Türen waren geschlossen. Am Ende des Ganges werkelte ein Blaumann. Er brachte gerade ein Türschild an. W. Meinhardt, Pressesprecher, 42.0.034. Der Grieche plapperte ohne Unterlass, zuerst kamen Klatschgeschichten, dann Belehrungen, wie man die Bank führen müsste. Klang nicht mal dumm. Meinhardt versuchte, sich das eine oder andere zu merken. Vassilios überreichte ihm den Büroschlüssel, nachdem er die Tür geöffnet und Meinhardt den Empfang quittiert hatte. Der Raum enthielt nur einen Schreibtisch und einen Stuhl. Was er sonst noch brauche, könne er bestellen, sagte der Hausmeister und verabschiedete sich. Kaum hatte Meinhardt ein paar Karussellrunden auf seinem Stuhl gedreht, klopfte es und ein verlottertes Wesen trat ein, Löwenmähne, unrasiert, einer seiner Schneidezähne fehlte. Es stellte sich als Hubert Groß, Lichtbildner vor. Er fotografiere lieber Mädchen und die am liebsten nackig, wenn man ihn fragte. Sein Händedruck war schlapp. Meinhardt musste am Schreibtisch posieren. Groß rückte ihn hin und her. Als die Position gefunden war, ließ er die Kamera rattern und umtanzte sein Modell. „Lächeln! Jetzt mal ernst! Heldenpose! Danke, das war´s schon. Hat doch nicht

wehgetan! Kann sich sehen lassen. Habe die Ehre!“

Meinhardt begleitete Groß zur Tür. Zum Glück ließ sie sich auch von innen verschließen. Er drehte den Schlüssel zweimal um. Vergewisserte sich und drückte zweimal die Klinke. Sicher ist sicher. Akribisch untersuchte er dann sein Büro. Zuerst auf allen vieren den Boden. Er versuchte den Teppichboden anzuheben, kroch in alle Ecken, schnüffelte und klopfte schließlich die Wände ab. Bis zur Decke, auf dem sich drehenden Bürostuhl balancierend. Eine Deckenplatte hob er an und steckte seinen Kopf in den Hohlraum. Er kramte in seiner Hosentasche nach dem Feuerzeug. Fand es und ließ es ein paar Mal in der Dunkelheit der abgehängten Decke aufflammen. Erleichtert sprang er auf den Boden und nahm den Stuhl vom Tisch. Er rollte ihn ans Fenster und schaute runter auf die Stadt. Der Himmel über der Hölle war grau. Nach und nach trudelten die Nachbarn ein. Schlüsselrascheln, Hüsteln, Türenschlagen, dann war wieder Ruhe. Er schloss die Tür wieder auf und setzte sich an den Schreibtisch. Das Nichtstun machte Meinhardt irre und er beschloss Fiona einen Besuch abzustatten. Herausfinden, wie der Hase lief. Schneidig klopfte er an und drückte die Klinke. Die Tür war verschlossen. Auf dem Rückweg fand er in der Kaffeeküche eine Zeitung von gestern, die er gelangweilt durchblätterte. Dann trat er an Fenster. Man musste sich abhärten. Die Höhe durfte ihm nichts mehr ausmachen. Er zwang sich nach unten zu schauen. Ameisen. Wahnsinnig viele und winzig. Und gleichgültig waren sie.

Unschlüssig stand Meinhardt vor dem Kommerzturm und beobachtete, wie seine Arbeitskollegen in Gruppen von dreien und vieren ins Westend gingen. Alle trugen weiße oder hellblaue Hemden, einen schwarzen Sakko und eine schwarze Hose. Die Mädchen trugen die Mode der Saison. Weiße Blousons, braune Hosen. „Mahlzeit“, rief Bratengeier ihm zu und eilte in Richtung Oper davon. Eine Gruppe von Grufties schlug den Weg ins Bahnhofsviertel ein. Bratengeier hatte nun den nötigen Vorsprung. Meinhardt folgte ihm durch die Anlagen in Richtung Rothschildpark. Auf dem Reuterweg lärmten Traktoren, neben marschierten Bauern mit Transparenten. "Bänker kriegen Rettungsschirme, Bauern ein Tritt". Ein Bauernmädchen in blauer Latzhose trieb ein Schwein vor sich her durch die Anlage. Wo denn diese Statue sei, die mit dem Bären und dem Bullen, wollte sie wissen. „Vor der Börse“. Meinhardt deutete in die Richtung. Die Sau trug eine Bauchbinde mit der Aufschrift: „Banken haben immer Schwein!“ Bratengeier hatte er nun aus den Augen verloren. Egal. Das Mädchen trug einen Plastikkanister in der Linken, in der rechten Hand eine Peitsche, einen langen Stab mit einer Kordel am Ende. Meinhardt lief neben ihr her, verbeugte sich scherzhaft. „Irgendwie lässt sich die Krise nicht greifen“, sagte sie. „Oder ist sie wieder vorbei, noch bevor sie angefangen hat? Vielleicht bin ich nicht die Einzige, der die Reden am 1. Mai völlig verschnarcht vorkamen. Bald geht es wieder zu wie in den Dreißigern, Schlangen von Arbeitslosen mit Schildern um den Hals. Nehme jede Arbeit an. Suppenküchen ...“

„Hast du Apfelwein in dem Kanister?“

Sie lachte. „Nein. Heizöl! Stinkt doch ordentlich. Für Molotowcocktails!“

Ohne sich um ihn zu scheren, lief sie hinter dem Schwein her, das sich in die Büsche verdrückt hatte. Das Öl schwappte aus dem Kanister.

„Vor dem Stadtbad rechts!“ brüllte er ihr nach. Ihr folgen? Hat Zeit, kurz vor dem Ende der Kundgebung. Erst mal was kiffen. Meinhardt hatte keinen Zweifel, dass er die Liberté flachlegen würde. Das Schwein müsste man derweil irgendwo anbinden.