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Meßkünstler and Rossebiiidiger · meines hinreisens were, ob ich wol andere gegen andern fürgebe.«10 Im Fortgang der Abhandlung will Langius ihn Uberzeugen, daß er das falsche

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Meßkünstler and Rossebiiidiger Zur Funktion v o n Model len u n d Metaphern

i n philosophischen Affek t theor ien

Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades

am Fachbereich Philosophie und Sozialwissenschaften I

der Freien Universität Berlin

vorgelegt von Rudiger Zill

aus Berlin

Tag der Disputation:

Tag der Promotion:

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1. Gutachter: Prof. Dr. Johannes Rdibeck

2. Gutachter: Prof. Dr. Wolfgang Lefevre

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INHALTSUBERBLICK

Einlettung: Das In teresse am Affektbegr i f f 7

( A ) MODELLGESCHICHTE 2 4

(1) W a s i s t e in Modell? 24

(1.1) Gegenständliche Modelle 25 (1.2) Theoretische Modelle 51

(1.3) Formale Modelle und Archetypen 59

(2) Was i s t eine Metapher? 62

(2.1) Geschichte und Funktion -Von Aristoteles zu Nietzsche 63

(2.2) Aktueller Zugaivg zur Metapher 73 (2.2.1) Verführung der Vernunft oder Mittel der Einsicht -

Von Bachelard zu Rorty 73 {222) Hans Blumenbergs Theorie der Unbegrifflichkeit 79 (2.2.3) Die Aufwertung der Metapher als erkenntnisproduzierende Figur 86

(2.2.3.1) Konflikttheorie 88 (2.2.3.2) Substitutions-. Vergleichs- und Interaktionstheorie -

Max Blacks Neuansatz 91

(2.3) Zur Rolle der Ähnlichkeit 97

(2.3.1) Der Mythos der Substitutiorstheorie 97 (2.3.2) Aspekte der Interaktionstheorie I: Das Metaphernthema 100

(2.3.3) Aspekte der Interaktionstheorie II: Die Bedeutung dss fokalen Implikationasystems 103

(2.3.4) Aspekte der Interaktionstheorie III: Was heißt »Interaktion der Metaphernpole« ? 114

(2.3.5) Aspekte der Interaktionstheorie IV: Die Kreativität der Metapher 119

(2.4) Metapher und Vergleich 125 (2.5) Struktur der Metapher 130

(3) ModellUbertragung 133 (3.1) Metapher als Modell 133 (3.2) Übertragung und Verifikation 146 (3.3) Modell - Metapher - Gleichnis 151

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Inhaltsüberblick

( B ) PHILOSOPHISCHE AFFEKTTHEORIEN 154

(1) Ein P rob l em wi rd exponie r t :

D a s Sokra t l sche Tugendwissen o d e r

Die k a i t e Raserei d e r Le idenschaf t be i Eur ip ides 155

(1.1) Sokrates oder dar Meßkünatter

Di« intellektualistische Interpretation der akrasia a l s Irrtum 164

(1.2) Euripides' Kritik a n Sokrates 176

(1.2.1) Kypris' Zorn. Phaidra und Hippolyte« 177

(1^2) "Doch über meine Einsicht siegt der Trieb." Medea vor dem Kindermord 181

(2) P ia ton - D e r In t rapsychische Bürgerkr ieg 19]

(2.1) Der rebellisch« Leib 191

(2.2) Di« triadisch« S««le - verkörpert 194

(2.3) IM« triadieche S««l« - das Gleichnis 200

(2.3.1) Im Kampf mit dsn Seelenroseen. Selbstbeherrschung als Dressur 201

(2.3.2) Metaphemüberschufl im Swtenrosss-Gteichnis 205

(2.4) Paideia und Politeia 210

(2.5) Di« triadische Seal« - das Modell 216

(2.5.1) IM« undifferenzierte Psyche als Modell der Pedis 219

(2.5.2) Di« differenziert« Polls als Modell der Psych« 227

(2.5.3) Eickurs: Von (ten philoeophiehistoriachen Schwierigkeiten mit dem triadischen

Modell 234

(2.6) Metapher, Gleichnis und Modell in Piatons Seel«nth«orie 242

(3) A r t s t o t e i e s - Zwischen Scyl la u n d Charybdls 257

(3.1) Das triadische Modell bei Aristotetes 257

(3.1.1) Di« dr«i Lebensformen und die Suche nach dem höchsten Gut 257

(3.1.2) Instansen der S««te a l s psychisch« Vermögen 261

(3.1.3) Dl« drei Formen des oraktikon 268

(3.1.4) Dualismus und Trichotomi« 269

(3.1.5) Di« dr«i elementaren Bestandteile der Polis 272

(3.2) Dl« B«dsutung cter Affekt« 277

(3.2.1) Affekt und Urteil 278

(3.2.2) Affekt und Streben 284

(3.2.3) Bewertung des Affekts 266

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Inhaltsüberblick

(3.3) Die Bedeutung der Vernunft I:

Handlungstheorie und habituelle Affektbeherrschung 291

(3.3.1) Streben und Vernunft -

Grundkompnenten der Handhing 291

(3.3.2) Naturanlage und sittliche Disposition -

Die Genese der Tugend 301

(3.4)Die Bedeutung der Vernunft II:

Akrasia 306

(3.4.1) Typologie der Beherrschtheit 306

(3.4 2) Ursachen der Unbeherrschtheit 310

Rückblick - t iberb l ick - Ausbl ick

D a s t r i ad ische Mode l l 319

Abbildniigsverzeichiiis 327 Literatur 329

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EINLEITUNG

DAS INTERESSE AM AFFEKTBEGRIFF

Eine Theorie d e r Af fek te s tand lange Zeit m i t im Zent rum philosophischer Frage­

stel lungen. Zumindest zwei de r vier klassischen Kardinaltugenden -Weisheit»

Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit- result ieren aus dem rechten Verhäl t ­nis d e r Vernunf t gegenüber best immten Leidenschaften: gegenüber den Begierden

in d e r Besonnenheit, gegenüber d e r Furcht in de r Tapferkeit . Heu te scheint von diesen Kardinaltugenden auf d e n e r s t en Blick n u r noch eine i n de r Ethik Uberlebt

zu haben. Eine »Theorie de r Gerechtigkeit« bleibt nach wie vor aktuell , kaum aber eine d e r Mäßigung ode r d e r Tapferkeit . Dies i s t e iner d e r Gründe, warum auch die

Af fek te ihren zentralen Platz in d e r Philosophie verloren haben. »Arzneikunst hel l t des Leibes Krankheiten. Weisheit be f re i t d ie Seele von Leiden­

schaften.« heißt e s schon bei Demokrit.1 Damit i s t ein Thema angeschlagen,

daß die antike Philosophie weitgehend beherrscht . Die Verknüpfung von intel lek­tuel len Vermögen mi t de r Fähigkeit zu r Affektbeherrschung i s t aber eine doppelte.

Schon Piaton k lag t Uber den s törenden Einfluß al les Körperlichen auf die geistige

Tätigkeit. Schmerz und Lust und ein Ubermaß a n Leidenschaft t r üben den Blick,

behindern die Erkenntnis, untergraben die Weisheit .2 Damit wird das Affekt ive

zum erkenntnistheoretischen Problem.

Zum anderen f inde t sich aber in de r gesamten Antike ein bre i ter Konsens, daß e s genau dies intel lektuelle Vermögen, die Vernunf t , sei, die die Begierden und

Ängste zu beherrschen habe: Weisheit be f re i t die Seele von Leidenschaften. 3

Das erkenntnistheoretische und d a s ethische Problem werden wechselweise m i t ­einander verknüpft . Diese Verknüpfung t r i t t am deut l ichsten in de r PhÜosophie der S toa hervor. »Wer k lug is t , i s t auch selbstbeherrscht. . .«, heißt e s bei Seneca,

und: »Wenn d u dem Weisen einige Leidenschaften einräumst , wird ihnen die Ver­n u n f t nicht gewachsen sein und wie von einem Wildbach davongetragen werden,

zumal wenn d u ihm nicht eine einzige Leidenschaft einräumst, m i t d e r e r sich

auseinandersetzen kann, sondern alle. Die Schar wenn auch noch s o belangloser

Leidenschaften h a t m e h r Macht, a l s die Hef t igkei t e iner großen sie hä t t e . « 4

Die enge Verknüpfung von Vernunf t und Leidenschaften e rhä l t s ich v o r al lem in

de r Ethik. Noch Spinozas »Ethica Ordine Geometrico Demonstrate* von 1677 k u l ­miniert in e iner Affekt theorie . Nachdem in den e r s t e n beiden Teilen dieses Werks

1 Diels (1956) II, 152. Fragm. 31 2 Phaidios 66 3 "Denn die Überzeugung, daß die Affekte, freilich nicht nur die des Leids, durch die Ver­nunft gezügelt werden können, liegt tief im griechischen Wesen und beherrscht die Ethik von Sokrates an." Nestle (1975) 379f. Diese Überzeugung beschränkt sich aber nicht nur auf die griechische Antike, nicht einmal nur auf die Antike insgesamt. Sie gilt unwidersprochen bis ins 16. Jahrhundert n. Chr.. 4 Seneca (1969ff) IV. 233/235

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Einleitung 8

die metaphysischen Grundlagen gelegt worden sind, »Von Gott« u n d »Von de r Natur und dem Ursprünge des Geistes«, widmet sich de r gesamte d r i t t e Teil dem

Ursprung u n d der Natur de r Af fek te . Teil IV sp i tz t die Frage auf die »mensch­

liche Knechtschaf t ode r die Macht de r Affecte« zu, während schließlich im f ü n f ­t e n Teil die menschliche Freiheit, und d a s heißt die Macht d e s Verstandes Uber

die Leidenschaft, gefeier t wird.® Das Interesse a n derart igen Untersuchungen, die Wilhelm Dilthey »Menschen­kunden und Theorien de r Lebensführung« genannt h a t 6 , hiel t ununterbrochen

bis ins 17. Jahrhundert hinein an , zuweilen s ta rk , zuweilen weniger s tark . So läfit

sich beispielsweise gegen Ende des 16. Jahrhunderts eine deutliche Zunahme dieses

Interesses a n de r Affekt theorie bemerken. Wird die e r s t e H ä l f t e d e s Jahrhunderts

noch von einer friedlichen, verhalten optimistischen Stimmung beherrscht , einer

Stimmung, wie man sie zum Beispiel in den neoplatonisch gefärb ten Novellen des

»Heptameron« von Marguerite d e Navarre an t r i f f t , s o wird de r Grundton de r zwei­t e n Jahrhunder thälf te weit düsterer . E r wird angeschlagen von ausdrücklich neostoischen oder doch s toisch inspirierten Schrif ten wie den »Essais« von Mon­

taigne, »La philosophic morale des stoiques« von Guillaume du Vair oder auch

vom Werk d e s J u s t u s Lipsius, de r d a s s to ische Gedankengut e r s tmals in eine systematische Synthese zu bringen versuchte7 .

In dieser Zeit f inden sich aber nicht n u r Reflexionen über Ursprung und Wirkung

d e r Leidenschaften im Rahmen umfassender e th ischer Überlegungen; e s f inde t sich auch eine erstaunliche Häufung von explizit a f fekt theore t i scher Literatur, von der Descartes* »Les passions de l'äme«® n u r de r bekanntes te Fall i s t . Diese Trak­

t a t e sind zunächst ebenfal ls e h e r s toisch inspiriert, später , zu Beginn d e s 17. Jahrhunderts» mehr ar is totel isch-thomist isch orientier t . 9

® Vgl. Spinoza (1978). 6 Vgl. Dilthey (1914c) 422ff. 7 Zu Lipsius vgl. z.B. "De Constantia Jibri due", 15831, Antwerpen 15842, davon eine deut­sche Übersetzung "Von der Beständigkeit" von Andreas Viritius. 15991, 16012 (vgl. Lipsius (1965)), eine englische Übersetzung T w o Bookes of Constancie", englished by John Stradling, Gentleman, London 1595t "Politicorum sive Civilis Doctrinae libri sex", Lyons 1589, engl. Über­setzung: "Sixe Bookes of Politickes or Civile Doctrine" von William Jones. Gentleman, London 1594t "Manuductionis ad Stoicam Philosophiam libiri tres", 1604i alle auch in: Lipsius (1675) Bd. IV. 6 Descartes (I897ff) XI, 291-498 und (1984), vgl. a. Dilthey (1914c) und Levi (1964). 9 Ich nenne nur einige, auch ohne Anspruch auf Vollständigkeit hinsichtlich der Ausga­ben. Ich möchte nur einen Eindruck von Häufigkeit und Verbreitung vermitteln: Pierre Charron "De la Sagesse", Bordeaux 16011, Paris 16042, Rouen 16183. Paris 16724, eine engl. Ubers. "Of Wisdome: Three Books" 1612j Nicolas Coeffeteau "Tableau des Passions humaines, de leurs causes et de leurs effets" Paris 16201, 16302, 16353, eine engl. Übers. "A Table of Humane Passions, with their Causes and Effects" von Edmond Grimestone. London 1621« Thomas Wright The Passions of the Afinde in Generali", 1601J, 16042,

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Das Interesse am Affektbegriff 9

Die Konjunktur d e r Af fek t l i t e ra tu r f a l l t zusammen m i t e iner t i e f e n gese l l s cha f t ­

l ichen Krise. Montaigne beginnt die Arbei t an seinen »Essais« im J a h r d e r Bar tho­

lomäusnacht . J u s t u s Lipsius e r ö f f n e t sein »De Constantia« ausdrücklich m i t e iner

längeren Beschreibung de r Befreiungskriege in d e n Niederlanden. I n de r Rahmen­

handlung dieses Trak ta t s besuch t Lipsius, d e r Autor» seinen Freund Carolus Lan-

gius i n LUttich. Al s d ieser ihn f r a g t , warum e r au f Reisen gegangen sei, he iß t es :

»Darauff ich ihm von d e r Unruhe im Niderland, d e m vbermuht d e r Befehlichshaber

vnd Kriegsleute, g a r viel vnnd mancherley f r e y heraus vnd m i t warhei t s ag te : vnd

zu l e t z t hinan hengete , d a s dieses die a l ler f ü rnemes t e vnd geheimeste vrsache

meines hinreisens were , o b ich w o l andere gegen andern fürgebe.«1 0

I m For tgang d e r Abhandlung will Langius ihn Uberzeugen, daß e r d a s fa l sche Mi t ­

t e l wähle, u m seine Furch t zu bezwingen. Denn d e r Bürgerkrieg se i wie Hunger ,

Mißernte und Pes t von G o t t gewol l t u n d von ihm gesandt . Dem Übel könne man

n ich t entkommen. Um glücklich zu werden, m ü s s e m a n daher s t a t t des äußeren den inneren Frieden suchen: »Wan d u deinen a f f e c t enders t , s o enders tu auch dein

Vat ter land. Ein Weiser sche tze t s ich al lzei t f ü r e in Frembdling, w o e r auch is t : ein Nar r abe r i s t al lzei t f ü r einen Vertr iebenen zu halten.«11

Diese An twor t verweist deut l ich darauf , daß d a s s t a rke Anschwellen d e r A f f e k t ­

l i t e ra tur eine Reaktion auf die poli t ischen Unruhen dars te l l t . 1 2 Sie zeigt gle ich­zeitig, daß dieses poli t ische Problem in d e r neostoischen Li tera tur metaphysisch verallgemeinert und privat ge lö s t werden so l l .

Dennoch i s t in anderer Hinsicht die Verknüpfung d e r zunächs t n u r privat e r ­

scheinenden Theorie individueller Lebenskunst m i t pol i t ischen Frageste l lungen

wei taus enger . Man f inde t sie in de r Verbindung d e r Selbstbeherrschung m i t den

Fähigkeiten gerechter Regierung. Das kl ingt n o c h in Beaumarchais' 1784 uraufgefUhr ter Komödie »Der tolle Tag

oder Figaros Hochzeit«13 nach. Darin t r i f f t d e r Zuschauer die Hauptpersonen

Marin Cureau de la Chambre "Les Caiactäres des PassionsParis 1. Bd. 1640. 2. Bd. 1645. 3. und 4. Bd. 1659, 5. Bd. 1662. eine engl. Übers. "The Characters of Passions', Bd. 1 London 1650i ders. "L 'Art de Connoistre les Hommes", Amsterdam 1660*, 1669, engl Übers. "The Art How to Know Men" von John Davies, London 1665i ders. "Le Systeme de J'Ame", Paris 1665s Jean Francois Senault "De iVsage des Passions" Peuis 16411, 1675. eine engl. Übers. "The Use

of Passions" von Henry Earl of Monmouth, London 1649. außerdem div. andere engl. Übers.i Edward Reynolds "A Treatise of the Passions and Faculties of the Souie of Man. with several! dignities and corruptions thereunto Belonging". London 1658« Anon. (Walter Charleton) "Natural History of the PassionsLondon 1674. 10 Lipsius (1965) 2t ich zitiere hier die erste deutsche Übersetzung des Lipsius-Zeitgenossen Andreas Viritius von 16012. 11 Lipsius (1965) 126 (De Constantia 11,19) 1 2 Zumindest die stoischen Traktate der ersten Zeit sind eine solche Reaktion. Die späteren, eher aristotelisch-thomistisch argumentierenden wenden sich nicht selten kritisch gegen ihre Vorgänger. Sie gehen oft auch nicht von einer politischen, sondern mehr von einer physiologi­schen Fragestellung aus.

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Einleitung 10

aus dem »Barbier von Sevilla« wieder. Graf Almaviva erscheint a l s die Personifika­t ion, wenn nicht des gerechten Herrschers , s o doch des gu ten u n d tugendhaf ten

Herrn. Bei seiner Heirat mi t Rosine, die e r im »Barbier« nicht zu le t z t durch die

Hilfe seines Bedienten Figaro a u s den Fängen ihres Vormunds Bartholo bef re i t ha t , verzichtet e r freiwillig auf ein feudales Privileg, das ius primae noctis. In einem Akt d e r Tugend wird ein Recht aufgegeben. Oder wie e s Almaviva s e lb s t

ausdrückt , a l s seine Untergebenen seine Tugend preisen wollen: »Die Abschaffung

eines beschämenden Vorrechts i s t n u r die Begleichung einer Schuld gegen d e n An­

stand.« 1 4 Doch de r Trieb destruier t , was die Tugend schuf. Drei Jahre nach Almavivas Hochzeit will nun auch Figaro heiraten. Der Graf , sein

Herr , aber be reu t insgeheim, sein Vorrecht aufgegeben zu haben, und beschließt,

die Braut Suzanne zu verführen. Figaro und Suzanne im Pakt mi t de r Gräfin ver­suchen nun, Almaviva durch mannigfalt ige Intrigen an seinem Vorhaben zu hin­dern. Unter anderem spielen sie ihm vor, daß auch seine Frau einen Verehrer habe. Der Graf, von Begierde und Eifersucht angetrieben, t a p p t in al le ihm g e ­s t e l l t en Fallen. E r überrascht Figaro und dessen Braut im Park, u n d im Glauben,

e s handele sich u m seine Frau und ihren Verehrer, f o r d e r t e r Rechenschaft . Von gekränkter Eitelkeit und Zorn geblendet, f r a g t e r Figaro, immer noch nicht e rken­nend, daß nicht seine Frau, sondern Suzanne vor ihnen s t e h t , wütend: »Und Sie, Her r Kavalier, wollen Sie auf meine Fragen antworten?«, woraufhin ihm dieser

kühl erwidert : »Es bleibt mi r nichts anderes übrig, Euer Gnaden. Sie beherrschen

hier ja alles, außer sich selbst .« 1 8

In diesem le tz ten Satz klingt eine sei t langem bewähr te Vorstel lung de r pol i t i ­

schen Affekt theorie nach. Die Her rschaf t Uber andere legitimiert sich durch die Beherrschung seiner se lbs t . Schon bei Piaton sind die Vielen, das niedere Volk,

das seine eigenen Triebe nicht beherrschen kann, eine Gefahr f ü r die Polls. Der

weise Philosophenkönig muß z u ihrem eigenen Besten Uber sie herrschen, ebenso wie e r seine eigenen Begierden zügelt und weil e r sie zügel t . Bei Seneca können die freien Völker des Nordens, die zu Jähzorn neigen, deren A f f e k t e nicht bildbar

sind, auch nicht herrschen: »...alle diese in Wildheit f re ien Völker -wie sie nach

Ar t von Löwen und Wöl fen dienen nicht können, s o auch nicht herrschen; nicht nämlich haben sie die Kraf t menschlich-bildsamen, sondern wilden und spröden Wesens; niemand aber vermag zu herrschen, außer w e r sich auch beherrschen läßt.« 1 6 Der gerechte Herrscher wird aber von sich se lbs t gezügelt .

Noch in d e m Augenblick, in dem wie bei Beaumarchais d e r Anspruch einer he r r ­

schenden Klasse, hier de r feudalist ischen Aristokratie, d e r Kritik verfäl l t , bleibt die offizielle Begründung dieses Anspruchs intakt . Die Stellung Almavivas wird

1 3 Entstanden ab 1778. 14 Beaumarchais (1981) 125, Figaro 1,10 13 Beaumarchais (1981) 241f. Figaro V,12 16 Seneca (1969ff) I. 176ff

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Das Interesse am Affektbegriff 11

brüchig, gerade weil e r sich dieses Anspruchs n ich t würdig erweisen kann. Oder

wie e s in Figaros berühmtem Monolog heißt:

»Weil Sie ein großer Her r sind, hal ten Sie sich f ü r einen großen Geist... Adel, Reichtum, ein hoher Rang, Würden, das macht s o stolz! W a s haben Sie denn g e ­t an , u m s o viele Vorzüge zu verdienen? Sie machten sich die Mühe, auf die Wel t zu kommen, weiter nichts; im übrigen sind sie ein ganz gewöhnlicher Mensch;

während ich, zum Teufel , ein Kind aus de r obskuren Menge, n u r u m zu leben mehr Witz u n d Verstand (plus de science et de calculs) aufbringen mußte , a l s man

sei t hunder t Jahren auf das Regieren ganz Spaniens und seiner Länder verwandt hat.«1 7

Die Verknüpfung von Affekt theor ie und Politik ze ig t sich aber nicht n u r do r t , w o

die Haltung d e s Herrschers metonymisch f ü r die Verfassung des gesamten Staates e insteht . Die e r s t e umfassendere Untersuchung Uber Wesen und Wirkung einzelner

Af f ek t e i s t die »Rhetorik« von Aristoteles. D o r t n immt sie den überwiegenden

Raum des zweiten Teils ein. E s erscheint auf d e n e r s t en Blick befremdlich, daß

sich solch eine Affektanalyse nicht in de r Psychologie, sondern i n de r Rhetorik

f indet . Dennoch i s t diese Fundstelle von bezeichnender Konsequenz. Ein er folgre i ­

che r Redner wird, w e r nicht n u r g u t zu argumentieren vers teht , sondern auch die

emotionale Disposition seiner Zuhörer berücksichtigt und sie im Zweifelsfal l auch zu seinen Gunsten zu verändern vermag. Ein wichtiger Anlaß, zu dem die rhe tor i ­schen Fähigkeiten geforder t werden, i s t neben d e r Gerichts- u n d de r Festrede

auch die politische Debatte, in d e r die f re ien Bürger die Belange de r Polis beraten.

Diese emotionale Disposition seiner Mitbürger manipulieren zu können bedeute t

daher im Zweifelsfall , die Geschicke des Staates zu seinem eigenen Nutzen lenken zu können. So e rhä l t auch im demokratischen Gemeinwesen die Analyse der

Affekte , vermit tel t Uber ihre rhetorische, eine wichtige politische Funktion.

Schließlich ergibt sich mi t de r beginnenden Neuzelt noch eine weitere Variante,

Tr iebstruktur und Politik zu verknüpfen. Sie i s t nicht m e h r ethisch ode r rhe­

torisch vermit tel t , sondern sozialphilosophisch. Der gleiche gesellschaft l iche

Befund, de r J u s t u s Lipsius zu seiner privatistischen Konzeption veranlaßte, bewog

Thomas Hobbes zu einer ganz anderen Lösung. FUr ihn w a r d e r Bürgerkrieg nicht

got tgewol l tes unveränderliches Schicksal, in seiner sozialen Gewalt vergleichbar mi t den »Naturkatastrophen« Hungersnot und Pest , sondern Ergebnis eines gesellschaft l ichen HandlungsgefUges. Versehen m i t anderen theoret ischen Mitteln,

a l len voran der mechanistischen Philosophie, keim e r bei gleicher poli t ischer Pro­

blemlage zu anderen Schlußfolgerungen. Bürgerkrieg und Staat s ind auf j e ihre

Weise die Summe al ler Handlungen, die die a tomis t isch gedachten Individuen

vollbringen. In Bewegung werden diese einzelnen aber in e r s t e r Linie von ihren

letzt l ich physiologisch gegebenen Trieben gese tz t - Trieben, die von anderen In ­

s tanzen wie der Vernunf t n u r modifiziert, n icht aber im Zaum gehal ten werden

17 Beaumarchais (19S1) 223t, Figaro V.3

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Einleitung 12

können.1 0 Die Affekt theorie bi ldet hier a l so die Schnit ts tel le zwischen Natur-

und Sozialphilosophie. Bei Hobbes' Zeitgenossen Descartes wird ein wei t ausgearbeiteter physiologischer

Apparat noch recht unvermit tel t mi t einigen ethischen Annexen versehen. Von den 212 Paragraphen de r »Passions de l'ime« be fassen sich gerade vier m i t de r ver­

nünf t igen Leitung d e r Affekte , 1 9 E s i s t deutlich, daß Descartes ' Interesse vor

al lem den naturphilosophischen Fragen gewidmet is t . In d e r Ethik schließt e r sich der traditionellen Auffassung an, daß m a n einen durch die Vernunf t gemäßigten

Umgang m i t den Leidenschaften pf legen sol l te . Schon dazu bedarf e r seiner b e ­

rühmten Zwei-Substanzen-Lehre. Die eine Substanz i s t das Körperliche, das auch das Trieb- und Gefühlsleben hervorruft : Leidenschaften sind »Wahrnehmungen

oder Empfindungen ode r Emotionen der Seele, die ihr in besonderer Weise zuge­

hören und die durch die Bewegung de r Lebensgeister veranlaßt, u n t e r s t ü t z t und

vers tärk t werden.«2 0 Leidenschaften sind in Maßen auch nützlich, u m den Kör­p e r auf die Befehle des Willens vorzubereiten. Sie bedürfen aber z u ihrer Leitung

einer zweiten unabhängigen Instanz, damit sie nicht Uber ihr Ziel hinausschießen:

des f re ien Willens, spezieller d e r Vernunft . Für den Monisten Hobbes gibt e s so lch eine Instanz nicht . W o -anders a l s bei

Descartes- al les, auch das Geistige und Soziale, aus einem Prinzip, aus Gestal t , Ausmaß und Bewegung kleiner Materieteilchen, e rk lä r t werden sol l , werden die menschlichen Quasimaschinen ausschließlich angetrieben von ihren L u s t - und Un­lustempfindungen. Diese Empfindungen ents tehen aus einem Wechselspiel de r äußeren Sinneseindrücke und d e r inneren Mechanik. Sie erzeugen n u n ihrerseits die Leidenschaften.

Der Wille i s t zunächst das rein mechanische Produkt im innerpsychischen Kampf der verschiedenen Begierden und Abneigungen. Rationale Überlegungen können

selbständig al lenfal ls dann wirken, wenn sich zwei Triebe, wie e t w a Begehren und Furcht , gegenseitig paralysleren. Der einzelne i s t damit s t ä rker abhängig von den durch die Wahrnehmungen vermit tel ten äußeren Verhältnissen.

Triebgeleitete Handlungen konsti tuieren gesellschaft l iche Verhältnisse, wie ande­rersei ts diese Verhältnisse auf die innere A f f e k t s t r u k t u r des einzelnen zurück­wirken. Äußerliche gesellschaft l iche Widersprüche sind nicht n u r von den Motiven einzelner bedingt, sondern bedingen se lb s t auch die inneren psychischen Gegensät­

ze. Die Affekt theorie vermit te l t daher in de r konsequent mechanistischen Theorie

zwischen Na tu r - und Sozialphilosophie. W a s Thomas Hobbes hier u n t e r anderem im Rückgriff auf die humanistische An­

thropologie von Telesio, Cardano und Juan Luis Vives21 begründet , bi ldet das

1 8 Vgl schon die "Elements of Law" (Hobbes (1689) und (1983)), aber auch den "Leviathan" (.Hobbes (1839ff Works) und (1976)). sowie "De homine" und "De cive" (Hobbes (1839ff Opera)). 1 9 Vgl. die §§ 50. 148, 211 und 212. 20 Descartes (1897ff) XI.349, (1984) 47 (Art. 27).

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Das Interesse am Affektbegriff 13

Fundament f ü r die westeuropäische Sozialphilosophie des 17. und 18 Jahrhunderts .

Dementsprechend prominent sind Affektanalysen in den Untersuchungen engli­

scher, schot t ischer u n d französischer Autoren dieser Zeit. Und dies nicht n u r bei Theoretikern, die in Teilen ganz offensicht l ich a n Hobbes anschließen und ihn umwerten wie Bernard Mandeviiie in seiner »Bienenfabel«

(1705)22, sondern auch bei den Theoretikern, die an seiner Widerlegung arbei te­t en . Die gesamte Moral-sense-Philosophie von Shaftesbury Uber Francis Hutcheson

und David Hume bis zu Adam Smith t e i l t j a m i t Hobbes und gegen die Antike

und das christliche Mit telal ter die Voraussetzung, daß unsere Leidenschaften nicht

n u r die Triebkräfte sind, ohne die kein menschliches Handeln denkbar wäre, son ­dern auch jene Uberzeugung, daß nicht die Vernunf t , sondern n u r eine andere

emotionale Kra f t die sozial schädlichen Folgen d e r egoistischen Af fek t e eindäm­men könne: benevolence und sympathy.2 3 Kein Wunder also, daß auch diese

Autoren eine große Zahl a n Affek tschr i f ten hinterlassen haben, s o e twa Francis

Hutcheson den »Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affec­

tions« (1728) oder David Hume seine vier »Dissertations of Passions« (1757), die

ihrerseits eine separate Ausarbeitung des Mit tel tei ls vom »Treatise of Human

Nature* darstel len. Genau wie in diesem »Treatise«r24 f inden sich auch i n den

anderen schott ischen Untersuchungen z u r Moral- und Sozialphilosophie dieser Zeit

umfangreiche Abschnit te Uber die menschlichen Leidenschaften. Adam Smith f u h r t

zudem in d e r »Theory of Moral Sentiments* (1759) eine eingehende Auseinan­

dersetzung m i t den klassischen Autoren Uber diese Frage. In Frankreich f indet

sich Entsprechendes e twa bei den mechanischen Materialisten, v o r a l lem bei

Claude-Adrien Heivötius.2®

2 1 Vgl. dazu Dilthey (1914c) 422-437. 2 2 Bernard Mandeviiie "The Grumbling Hive: or. Knaves Turn'd HonestLondon 1705, er­weiterte Fassung: "The Fable of The Bees: or. Private Vices Publick Benefits. Containing Several Discourses, to demonstrate. That Human frailties, during the degeneracy of Mankind, may be turn'd to the Advantage of the Civil Society, and made to supply the Place of Moral Virtues. - Lux e Tenebris London 1914, in den folgenden Auflagen jeweils erweitert, außer­dem "The Fable of the Bees. Part II. By the Author of the First. London 1729, vgl. a. Mande­viiie (1980). 2 3 Vgl. Hirschman (1980) 33ff, Rohbeck (1978) 87-152. 2 4 Buch I: "Of the Understanding". Buch II: "Of Passions". Buch III: "Of Morals". 2 0 So z.B.: "Die Begierde ist die Bewegung der Seele, ist sie der Begierden beraubt, stag­niert sie. Man muß begehren, um zu handeln, und handeln, um glücklich zu sein." Helvetius (1976) 396 und: "Nun wird sich aber jeder Mensch, der sich mit dieser Untersuchung befaßt, bald darüber klar, daß allein Leidenschaften Leidenschaften bekämpfen können und daß die Vernunftmenschenf die sie angeblich besiegen, sehr schwache Neigungen als Leidenschaften be­zeichnen, um sich die Ehre des Triumpfs zu verschaffen." Helvetius (1973) 497, sowie allge­meiner: "In der Moral wie in der Physik ist es das Gleichgewicht der entgegengesetzten Kräfte, das die Ruhe erzeugt " Helvetius (1976) 465, vgl. a. Hirschman (1980) 35f. Zill (1984) insbes. 53-71.

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Einleitung 14

Seit dem ausgehenden 18., spä tes tens aber mi t dem beginnenden 19. Jahrhundert verliert die Affekt theor ie ihre zentrale Rolle in de r Philosophie. Kant i s t zwar der e r s t e , von dem wir eine klare terminologische Trennung zwischen »Affekt« und »Leidenschaft« kennen 2 6 , die Sache se lbs t wird aber vor allem in seine Pf l icht­vorlesungen, die »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« (1798), abgedrängt. Wenn Hegel in seiner Geschichtsphilosophie gesagt haben soll, »daß nichts Großes

in d e r Wel t ohne Leidenschaft vollbracht worden is t«2 7 , dann bezeugt das viel­

leicht die hohe Meinung des Autors vor den »partikulären Interessen«, ganz sicher

aber auch die Bedeutungslosigkeit des Affektiven in seiner Theorie. Der A f f e k t im

einzelnen f inde t dor t , wo e s u m den Gang des Wei tgeis tes insgesamt geh t , nur

noch an de r Oberfläche s t a t t . Dies i s t aber keinesfal ls n u r eine Maro t t e des d e u t ­

schen Idealismus, sondern ehe r ein Ergebnis de r Wissenschaftsentwicklung übe r ­

haupt . Mit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnt die Ausdifferenzierung d e r

Psychologie a l s eigener Wissenschaf t .2 8 Gleichzeitig f inde t e t w a in den sozial­

2 6 Das lateinische "affectus". das englische "passion", ebenso das französische "passion" wird in der Philosophie des 16. und 17. Jahrhunderts in einer sehr allgemeinen, undifferenzier­ten Weise gebraucht. Die Begriffe bezeichnen das weite Feld aller nicht-rationalen seelischen Regungen. Daneben sind auch noch die lateinischen Formen "passio" und "perturbatio" in Ge­brauch, werden aber von "affectus" nach und nach verdrängt. Der Begriff beinhaltet damit ne­ben vielem anderen z.B. sowohl habituelle Begierden als auch plötzliche Gemütsbewegungen. Die Bedeutung von "passion" schränkt sich im 18. Jahrhundert auf "starke Leidenschaft" ein. so z.B. bei Hume, Pope und Vico. (Vgl. Lara (1971) 94) Weitere Unterscheidungen werden ver­sucht, setzen sich aber nicht allgemein durch. Die Moral-sense-Philosophie betont besonders den Unterschied zwischen "affection", eine eher passive Empfänglichkeit für Erhabenes und Schönes, und "passion" im Sinne von Gefühl und Leidenschaft. (Vgl. Franke (1981) 132-139.) Bei Kant werden habituelle sinnliche Begierden allgemein als "Neigungen" bezeichnet, die zu Leidenschaften werden, wenn sie durch die Vernunft entweder gar nicht oder zumindest nur schwer beherrschbar sind. An dieser Stelle ist also, was zuvor starke Leidenschaft genannt wur­de. zur Leidenschaft überhaupt geworden. Die Neigung bzw. die Leidenschaft wird zum Be­gehrungsvermögen gerechnet. Affekt hingegen heifit "das Gefühl einer Lust oder Unlust im ge­genwärtigen Zustande, welches im Subjekt die Überlegung (die Vernunftvorstellung, ob man sich ihm überlassen oder weigern solle) nicht aufkommen läßt" (A 203), ist "Überraschung durch Empfindung, wodurch die Fassung des Gemüts (animus sui compos) aufgehoben wird." (A 204). Nach der Definition wird der Unterschied zwischen Affekt und Leidenschaft noch durch ein Gleichnis erläutert: "Der Affekt wirkt wie ein Wasser, was den Damm durchbricht, die Leidenschaft wie ein Strom, der sich in seinem Bette immer tiefer eingräbt. Der Affekt wirkt auf die Gesundheit wie ein Schlagfluß, die Leidenschaft wie eine Schwindsucht, oder Ab­zehrung. - Er ist wie ein Rausch, den man ausschläft, obgleich Kopfweh darauf folgt, die Lei­denschaft aber wie eine Krankheit aus verschlucktem Gift oder Verkrüppelung anzusehen, die einen irmern oder äußern Seelenarzt bedarf, der doch mehrenteils keine radikale sondern fast immer nur palliativ-heilende Mittel zu verschreiben weiß." (A 205) Kant (1977) XII, 580ff. 27 Hegel (1969ff) 38 2 8 "Die neuere philosophische Literatur ist reich an Analysen einzelner Affekt- (Furcht. Freude) und Leidenschaftsphänome (Liebe, Haft), aber die Ausarbeitung allgemeiner Affekt- und Leidenschaftstheorien bleibt der Psychologie überlassen." Lanz (1971) 99.

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Das Interesse am Affektbegriff 15

phi losophischen o d e r d a n n auch d i r ek t soz io logischen U n t e r s u c h u n g e n e in Paradig­

menwechse l s t a t t . D a s mechanis t i sche Model l , d a s d a s Ganze a l s Ergebnis d e r

Akt ionen u n d In te rak t ionen se iner Einzel tei le b e t r a c h t e t , wi rd z u s e h e n d s a l s v e r ­

a l t e t abge tan u n d d u r c h e h e r sys temische , e t w a v o n d e r Biologie e n t l e h n t e M o d e l ­

l e e r s e t z t .

Die Beschäf t igung m i t A f f e k t e n u n d Leidenschaf ten , m i t Emot ionen , Neigungen

u n d S t immungen verschwindet z w a r n i c h t völl ig a u s d e r Phi losophie - in sbesondere

In e inzelnen Richtungen wie d e r a n Kierkegaard anschl ießenden Exis tenzphi losophie

o d e r in d e r Phänomenologie h a b e n s ie n a c h wie v o r ke inen ger ingen S t e l l enwer t - ,

dennoch r ü c k e n sie a u s ih re r schu lübergre i fenden Begründungspos i t ion .

Obwoh l n i c h t z u e r w a r t e n s t e h t , daß d i e A f f e k t t h e o r i e i h r e z e n t r a l e Rolle z u r ü c k ­

gewinnen wi rd , i s t i h r d o c h in d e n l e t z t e n J ah rzehn ten e in ganz n e u e s I n t e r e s s e

e rwachsen . Dieses I n t e r e s s e e n t s t e h t in d e r h i s to r i schen Ref lex ion an t ike r , m i t t e l ­

a l te r l i cher u n d f rühneuze i t l i cher L i t e r a tu r u n d Philosophie. Z w a r widmen s ich T h e o d o r W . Adorno u n d M a x Horkhe imer i n i h r e r »Dialektik

der Aufklärung« n i c h t d e n sys t ema t i s chen A f f e k t a n a l y s e n d e r Tradi t ion; dennoch

s t e h t die a l t e Tugend d e r Besonnenhei t , d e r Se lbs tbeher r schung , be i ihnen i m M i t ­

t e l p u n k t , w e n n auch n u n die K o s t e n d i e se r Tugend in d e n Blick g e n o m m e n w e r ­

den . Dabei w i r d d a s mensch l iche Naturverhä l tn is z u n ä c h s t n a c h d e m Model l soz ia ­

l e r H e r r s c h a f t gedacht : »Der M y t h o s g e h t in die A u f k l ä r u n g Uber u n d die N a t u r in

b l o ß e Objekt iv i tä t . Die Menschen bezahlen d i e Vermehrung i h r e r M a c h t m i t d e r

E n t f r e m d u n g von d e m , w o r ü b e r s ie d ie M a c h t ausüben . Die A u f k l ä r u n g ve rhä l t

s i ch zu d e n Dingen w i e d e r D i k t a t o r z u d e n Menschen . E r k e n n t s ie , i n s o f e r n e r s ie manipul ieren kann . Der M a n n d e r W i s s e n s c h a f t k e n n t d ie Dinge, i n s o f e r n e r

s ie machen kann . Dadurch wi rd ihr A n s i ch F ü r ihn . I n d e r Verwandlung e n t h ü l l t

s i ch d a s W e s e n d e r Dinge i m m e r a l s j e dasse lbe , a l s S u b s t r a t v o n H e r r s c h a f t .

Diese Iden t i t ä t k o n s t i t u i e r t d ie Einhei t d e r Na tu r . «2 9

Beide H e r r s c h a f t s s t r u k t u r e n werden a b e r n i ch t n u r t h e o r e t i s c h ana log geb i lde t , s ie

gehö ren a u c h rea l i t e r z u s a m m e n a l s Tei le e ines Wi rkungsge füges . H e r r s c h a f t Uber

Menschen u n d H e r r s c h a f t ü b e r Natur , be ide w e r d e n ga ran t i e r t d u r c h die H e r r ­

s c h a f t ü b e r die e igene menschl iche N a t u r . 3 0 I m O d y s s e u s - E x k u r s wi rd e x e m ­

pla r i sch da rges t e l l t , w i e d e r Mensch die ze r s tö re r i s chen Na tu rgewa l t en n u r ü b e r ­

winden kann , indem e r zuvor seine e igene N a t u r domes t i z ie r t . Odysseus , d e r

Grundherr , i s t d a s Urbi ld d e s Kommandeur s im Sys t em gese l l s cha f t l i che r A r b e i t s ­

t e i l ung , d a s e s e r l a u b t , d e r ze r s tö re r i s chen K r a f t d e r N a t u r s t andzuha l t en . So

29 A dorno/Hoikheimei (1987) 31 3 0 Siehe auch: "Naturbeherrschung schließt Menschenbeherrschung ein. Jedes Subjekt hat nicht nur an der Unterjochung der äußeren Natur, der menschlichen und der nichtmensch­lichen, teilzunehmen, sondern muß, um das zu leisten, die Natur in sich selbst unterjochen." Horkheimer (1991) 106 und: "Je mehr Apparate wir zur Naturbeherrschung erfinden, desto mehr müssen wir ihnen dienen, wenn wir überleben sollen." Horkheimer (1991) 109

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Einleitung 16

w i d e r s t e h t e r d e n Lockungen d e r Sirene, die die u n g e h e m m t e Hingabe d e r inneren

N a t u r in ih re r Lus t e r fü l lung symbol is ier t , weil e r a m M a s t se ines Sch i f f e s f e s t g e ­

b u n d e n i s t . A u f d iese We l se gebann t , k a n n e r d e m Lustpr inzip z w a r n i c h t f o l g e n ,

dennoch i s t e r d e r einzige, d e r s ich i h m dank se iner V o r s o r g e u n d d e r B e f e h l s ­

g e w a l t Uber die r u d e r n d e M a n n s c h a f t ü b e r h a u p t a u s s e t z e n kann . Seinen U n t e r ­

gebenen h ingegen s ind die O h r e n v e r s t o p f t ; s o b le iben ihnen a u c h die Lockungen

versch lossen ; d e r Tr ieb wird dadurch »verbissen in zusä tz l i che Ans t rengung«

subl imier t .

Die Kos t en d i e se r Zivi l isat ionsleis tung s i n d a b e r f ü r be ide Sei ten, H e r r s c h e r wie

Beherrschte , g roß : »Der Knecht b le ib t u n t e r j o c h t a n Leib u n d Seele , d e r H e r r r e ­

gredier t .« 3 1 Odysseus , f ü r d e n d a s Gehör t e f o l g e n l o s b l e ib t , i s t n i ch t n u r a n

d e n M a s t gebunden , s o n d e r n d u r c h d a s von i h m gep l an t e Ar rangemen t a u c h a n

se ine Rolle a l s Kommandeur , d e s s e n R u f e u m Befre iung a n d e n v e r s t o p f t e n O h r e n

d e r Ruderer u n g e h ö r t abpra l len . Die Ruderer a b e r »reproduzieren d a s Leben d e s

U n t e r d r ü c k e r s in e ins m i t d e m eigenen, u n d j e n e r ve rmag n i ch t m e h r a u s se iner

gese l l scha f t l i chen Rol le he rauszu t re t en . Die Bande, m i t d e n e n e r s i ch u n w i d e r r u f ­

l ich a n die Praxis g e f e s s e l t h a t , h a l t e n zugle ich die Sirenen a u s d e r Praxis f e m :

ih re Lockung wird z u m b loßen Gegens tand d e r Kon templa t ion neu t ra l i s i e r t , z u r

K u n s t . D e r G e f e s s e l t e w o h n t e inem Konze r t bei , r e g l o s l auschend wie s p ä t e r d ie

Konzer tbesucher , u n d se in b e g e i s t e r t e r Ruf n a c h Befre iung ve rha l l t s c h o n a l s

Applaus . S o t r e t e n Kuns tgenuß und Handarbe i t im Abschied von d e r Vorwe l t a u s ­

einander . D a s E p o s e n t h ä l t be r e i t s die r icht ige Theor ie . D a s K u l t u r g u t s t e h t z u r

kommand ie r t en Arbe i t in genaue r Korre la t ion, u n d beide g r ü n d e n im u n e n t r i n n ­

b a r e n Zwang z u r gese l l s cha f t l i chen H e r r s c h a f t ü b e r die Na tu r .« 3 2

D e r z u m E p o s kr i s ta l l i s ie r te Mythos w i r d v o n T h e o d o r W . Adorno u n d Max H o r k ­

he imer a l legor isch g e d e u t e t . E r i s t dami t e ine E t a p p e im d ia lek t i schen Prozeß von

A u f k l ä r u n g u n d Zivilisation, a b e r auch gleichzeit ig e in Sinnbild, i n d e m d ie w e ­

sen t l i chen Z ü g e d e r t r ag i s chen Geschichte vo rweggenommen werden : »Das E p o s

e n t h ä l t be r e i t s d ie r ich t ige Theor ie .« 3 3

Genau d iese r l ang f r i s t i ge Prozeß, in d e m sich d i e Menschen z u m o d e r n e n Subjek­

t e n en twicke l t haben, h a t a u c h Michel Foucau l t in se inen Arbe i t en in t e re s s i e r t . So

charak te r i s i e r t e e r se ine phi losophischen Bemühungen i n d e n l e t z t e n zwanzig J a h ­

r e n se ines Lebens s o g a r e inmal a l s d a s Pro jek t , »eine Gesch ich te d e r verschie­

d e n e n Ver fahren z u e n t w e r f e n , d u r c h d i e in u n s e r e r K u l t u r Menschen zu Sub jek ten

g e m a c h t werden.« Ein A b s c h n i t t in d iesem Pro j ek t w idme te s ich dabei d e r »Art

u n d Weise , i n d e r e in Mensch s ich s e l b e r in e in Subjek t v e r w a n d e l t . «3 4

31 A dorno/Horkheimei (1987) 58 32 Adorno/Horkheimer (1987) 57 33 "Maßnahmen, wie sie auf dem Schiff des Odysseus im Angesicht der Sirenen durchge­führt werden, sind die ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung." Adorno/Horkhei­mer (1987) 57f

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Das Interesse am Affektbegriff 17

In »Sexualität und Wahrheit«, insbesondere in den Bänden II und III3 0 , schreibt

e r eine Geschichte des Gebrauchs der Lüste, de r Begierden und Akte. Dies ähnel t

auf den e r s t en Blick dem Unternehmen von Adorno und Horkheimer. So heißt e s dann auch in Band II von »Sexualität und Wahrheit« Uber die Selbstbeherr­

schungskonzeption de r klassischen griechischen Antike: »...in ihrer vollen und p o ­

sitiven Form i s t sie eine Macht, die m a n in der Macht übe r die anderen Uber sich

selber ausübt .« 3 6 Aber dieser klassische Topos de r ethisch-poli t ischen A f f e k t ­

theorie wird bei Foucauit ganz anders gewendet a l s bei Horkheimer und Adorno.

Foucault n immt das Selbstverständnis d e r griechischen Philosophie beim Wor t ; E r

beschreibt diese Mäßigung der Affek te a l s Form de r Freiheit. In einem se lbs tbe­

wußten und selbstbest immten Umgang des einzelnen m i t seinen Begierden zeigt

sich eine Form de r Souveränität und diese Souveränität i s t »ein konsti tut ives Ele­

m e n t des Glücks und de r gu ten Ordnung de r Polis.«3 7 Umgekehrt kann nur,

wer f r e i i s t , auch d a s Prinzip seiner eigenen Mäßigung best immen; die unfreien Mitglieder de r Polis, die Frauen und die Kinder müssen sich damit begnUgen, den

Anordnungen und Vorschrif ten z u gehorchen, die man ihnen gibt. Man muß die Stre i t f rage nicht entscheiden, ob Foucault in der antiken A f f e k t ­

theorie ein positives Modell f ü r die Gegenwart gesehen h a t . 3 8 Auf jeden Fall h a t e r ein mögliches Selbstverhältnis de r Individuen zu sich, das e r in de r Antike

realisiert fand, beschreiben wollen: die Sorge u m sich, in de r sich der einzelne

durchaus in e in ausgewogenes Verhältnis zu sich se lbs t se tzen kann. Schon allein, daß f ü r Foucault so lch eine Selbstbeziehung denkbar i s t , s e t z t ihn in klaren Gegensatz z u der tragischen Konzeption von Max Horkheimer u n d Theodor W.

Adorno, f ü r die jeder Sieg im Kampf u m Selbstbeherrschung schon immer auch

eine Niederlage is t . Hierin wird deutlich, daß die "Dialektik der Aufklärung"

einerseits und "Sexualität und Wahrheit" andererseits zwei völlig unvereinbare

Naturbegriffe zugrunde liegen. Für Horkheimer u n d Adorno i s t Natur auch eine

34 Foucault (1987a) 243 35 Foucault (1986) II "Der Gebrauch der Lüste", III "Die Sorge um sich". 36 Foucault (1966) II. 106 37 Foucault (1986) II. 105 3 8 Die Art und Weise, wie die Aussagen antiker Autoren gerade in Absetzung von denen des christlichen Mittelalters wiedergegeben werden, legt durchaus nahe, daß Foucault von ihnen eine positve Konzeption erben wollte. In diesem Sinne fragen Hubert L. Dreyfuß und Paul Rabinow Foucault in einem Interview nach der Vorbildfunktion der Antike: "Meinen Sie, daß die Griechen eine verlockende und plausible Alternative bieten?" So gefragt weist Foucault sol­che Intentionen ausdrücklich zurück: "Nein, ich suche nicht nach einer Alternative, man findet nicht die Lösung eines Problems in der Lösung eines anderen Problems, das zu einem anderen Zeitpunkt von anderen Leuten aufgeworfen wurde. Worauf ich hinaus will, ist nicht die Ge­schichte der Lösungen, und aus diesem Grunde akzeptiere ich das Wort 'Alternative' nicht. Ich möchte Genealogie von Problemen, von Problematiken treiben." Foucault (1987b) 268. Dennoch wird Foucaults Untersuchung immer wieder so interpretiert, als habe er aus ihr die normative Grundlage für eine Ethik zu gewinnen gesucht.

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Einleitung 18

unhintergehbare Instanz in uns, eine Instanz, deren drohende Gewalt idyllische

ebenso wie drohende Züge ha t , die kaum zu versöhnen, aber keinesfalls zu u n t e r ­

drücken i s t 3 9 , f ü r Foucault i s t sie vorderhand unbest immt und in den jeweiligen

Praktiken de r Arbeit am Selbst f re i formbar . Sowohl in de r »Dialektik der Aufklärung« a l s auch in »Sexualität und Wahrheit«

wurden philosophische Theorien a l s Ausdruck einer übergreifenden, te i l s auch vor­

bewußten Entwicklung oder St ruktur be t rachte t . Speziell bei Michel Foucault b e ­

zeugen die antiken Texte Denkfiguren, die bes t immte Praktiken zum Ausdruck

bringen oder diese anleiten sollen. Sie s tehen damit gewissermaßen in einem

mentalitätsgeschichtlichen Kontext . Ziel de r folgenden Überlegungen soll e s hingegen sein, philosophische Modeile f ü r

A f f e k t - und Selbstbeherrschungsstrukturen s t ä rke r in ihrer Funktion a l s theore t i ­

sche Mittel zu begreifen. Als solche Mittel lassen sie sich nicht umstands los auf die Vorstellungen, Intentionen oder Mentali täten einer Epoche reduzieren. Zwar gehen solche spezifischen Lebens- und Naturverhältnisse auch in die Theorie ein,

aber in sehr viel vermit tel terer Form. W a s von diesen Verhältnissen formulierbar

wird, hängt eben ab von jenen theoret ischen Mitteln, die s e lb s t eine gewisse

Eigendynamik beinhalten. Zudem gibt e s keine solche ungebrochene Einheit einer historischen Bewußtseins-

lage, wie sie in der »Dialektik der Aufklärung«, aber auch bei Foucault suggeriert

wird. Ein Set theoretischer Mittel s t e h t durchaus im Widerspruch zu anderen,

konst i tuier t sich e r s t in Negation zu ihnen. Die Resul ta te mögen se lb s t wieder in

sich widersprüchlich sein und damit über sich hinaustreiben. Konkurrierende Theo­

rien reagieren aufeinander, kritisieren sich und modifizieren damit ihre Ergebnisse.

Sie beschreiben damit nicht n u r gel tende Praktiken, sondern formulieren auch Lösungsversuche - o f t unzulängliche- f ü r o f f e n e Fragen.

Nehmen wir noch ein anderes Beispiel, u m die Interaktion von Theorien näher e in­

zugrenzen. Albert O. Hirschman skizziert in seinem ausgreifenden Essay »Leiden­

schaften und Interessen« einige bedeutende af fekt theore t i sche Topoi der Frühen

Neuzelt. Ihn beschäf t ig t dabei der anthropologisch-sozialphilosophische Aufbruch

dieser Zeit, allerdings s t e l l t e r ihn In den Zusammenhang »politischer Begründun­

gen des Kapitalismus vor seinem Sieg*40. Mi t dem Niedergang der Idee des

Ruhms, die die Renaissance beherrschte, w a r d e r Platz f ü r ein neues Wertesys tem

f re i geworden. Dieser Platz wurde aber nicht umstands los von de r Erwerbsideolo­gie d e r nun aufstrebenden, bürgerlichen Schichten eingenommen. Vielmehr wandte

man sich zunächst einer Untersuchung des Menschen, »wie e r wirklich is t« , zu. Abstrakte moralische Normsetzung so l l t e zunächst durch eine polit ische Wissen­

s c h a f t e r se tz t werden. Der leitende Gedanke dieser Untersuchungen sei »die Suche

nach einer Möglichkeit, den Zusammenbruch d e r Gesel lschaft zu verhindern«, g e ­

3 9 Siehe dazu u.a. Zill (1990). 4 0 So auch der Untertitel, vgl. Hirschman (1980).

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Das Interesse am Affektbegriff 19

wesen , e in Zusammenbruch» »der w e g e n d e r p rekä ren Bedingungen d e r inneren u n d

äuße ren Ordnung f o r t w ä h r e n d d roh te .« 4 1

So w u r d e n nacheinander verschiedene Mögl ichkei ten in E r w ä g u n g gezogen, wie die

ze r s tö re r i schen T r i ebk rä f t e d e r Menschen z u domes t i z ie ren seien, o b die Leiden­

s c h a f t e n u n t e r d r ü c k t w e r d e n so l len , o b s ie in s t rumen ta l i s i e r t w e r d e n können o d e r

o b s ie l e t z t l i ch n u r d u r c h e ine ande re e n t g e g e n g e s e t z t e Le idenschaf t z u n e u t r a ­

l is ieren s ind. A l s Ergebnis d iese r Suche s i eh t H i r schman d a n n d ie Privilegierung

e ines Tr iebs: I m 18. J ah rhunde r t wi rd die Habgier , im Begri f f d e s I n t e r e s s e s v e r ­

e d e l t , z u r s tabi l i s ierenden K r a f t d e r sozia len Wel t e rk l ä rung . Der Ge lde rwerb i s t

e ine ruh ige Leidenschaf t , d i e zu e ine r umfangre i chen Verne tzung gegense i t iger A b ­

hängigkei ten f ü h r t . A lbe r t O . Hi r schman u n t e r m a u e r t se ine T h e s e d u r c h Belege a u s e inem u m f a n g r e i ­

c h e n Schatz phi losophischer , ökonomischer u n d soz ia lwissenschaf t l i cher Li te ra tur .

Al lerd ings n i m m t e r in se inem Essay die A u t o r e n dabei ge legen t l i ch z u unkr i t i sch

be im W o r t . Die vorgegebene In t en t ion g i l t ihm s c h o n a l s r ea l e s Mot iv d e r H a n d ­

lung . A b e r n i ch t n u r die Au to ren w e r d e n s o von ih rem sozia len u n d spez ie l len

h i s to r i schen K o n t e x t i so l i e r t 4 2 , a u c h die Begr i f f l ichkei t s e l b s t wi rd , wie H i r s c h ­

m a n expl iz i t e inges t eh t , a u s ihrem umgre i f enden theo re t i s chen K o n t e x t h e r a u s g e ­

l ö s t . S o wi rd ü b e r m e h r a l s zwei J a h r h u n d e r t e e ine Sequenz von Begr i f f en v e r ­

f o l g t , ohne ih re E inbe t tung in ihre j e bedeu tungsgebenden K o n t e x t e m i t z u r e f l e k -

t i e r e n . 4 3 Verschiebungen i n d e n Bedeutungsnuancen u n d d ie sys t ema t i s che V e r ­

n e t z u n g d e r Sinngehal te d i e se r Begr i f f e w e r d e n d a m i t vernach läss ig t z u g u n s t e n

d e r angenommenen Beständigkei t d e r in s ie e ingegangenen I n t e n t i o n e n .4 4

41 Hirschman (1980) 138 4 2 Hirschman unterstellt einen Diskussionszusammenhang, der ein beständiges Problem so­zialer Praxis reflektiert. Diese Probiemlage erscheint als im Kern identische, unabhängig davon, ob der Affektkonflikt vor dem Hintergrund der im Bürgerkrieg kulminierenden gesellschaft­lichen Krise des frühen 17. Jahrhunderts stattfindet oder in den geregelten Bahnen einer bür­gerlichen Gesellschaft, wie sie das Großbritannien des ausgehenden 18. Jahrhunderts darstellt. 43 "Bei der Rekonstruktion einer solchen Sequenz miteinander verknüpfter Ideen ist es not­wendig. unterschiedliche Quellen als Belege heranzuziehen, ohne den jeweils damit zusammen­hängenden umfassenderen Denksystemen mehr als oberflächliche Aufmerksamkeit widmen zu können." Hirschman (1980) 13 4 4 Begriffe wie "Vernunft", "Leidenschaft" oder "Interesse" werden behandelt, als hätten sie in edlen untersuchten Theorien die jeweils selbe Bedeutung. Denksysteme unterscheiden sich dann nur in der je verschiedenen Kombination der Begriffe. In der Tat ist es aber von weitrei­chender Bedeutung, ob zum Beispiel Vernunft als zielsetzend oder als lediglich instrumentell angesehen wird. Deutlich wird diese Problematik auch am Begriff des Interesses, der bei Hirschman selbst einen schwankenden Gebrauch erfährt. So ist "Interesse" mal ein "Gattungsbe­griff für jene Leidenschaften, denen eine ausgleichende Funktion zugeschrieben wurde" (36), mal ein von Leidenschaften qualitativ Unterschiedenes, das diesen gegenübergestellt werden kann (z.B. 40), zuweilen ist es auch etwas, das an Leidenschaft und Vernunft teilhat - und zwar an den besseren Eigenschaften dieser beiden Kategorien (52).

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Einleitung 20

Der Versuch, de r im folgenden unternommen werden sol l , u m die Dynamik de r theoret ischen Mittel z u analysieren, will diese Voraussetzungen gerade a l s kons t i ­tu t ive Elemente miteinbeziehen. Im Laufe meiner Beschäftigung m i t philosophi­schen Affekttheorien, besonders aber m i t de r dreigliedrigen Seele bei Piaton, fiel

mir in dieser Hinsicht ein Verfahren auf , das man auf d e n Begriff des Modells

bringen kann. Es erschien mir dann mehr u n d mehr a l s f ruchtbar , Theorie­geschichte a l s Abfolge von Modellen zu untersuchen.

Dabei stieß ich aber zunächst auf eine Schwierigkeit. Zwar f indet man gelegentlich

den Terminus »Modellgeschichte«, meis t bleibt abe r unklar , was genauer darunter

zu verstehen is t . E s w a r a lso zunächst erforderlich, einen präziseren Begriff des

Modells auszuarbeiten. In diesem Zusammenhang erwies e s sich dann weiter a l s

nützlich, einer eng verwandten Übertragungsfigur, nämlich de r Metapher, nachzu­

gehen. Auf die Strukturanalogie beider Phänomene i s t schon ö f t e r hingewiesen

worden. Im Gegensatz aber zum Modell, dem man sich n u r sporadisch und zu

äußers t heterogenen Anlässen gewidmet ha t , i s t d e r Metapher in letzter Zei t s e h r

große Aufmerksamkeit geschenkt worden. Das mag daran liegen, daß die Philoso­

phie unseres Jahrhunderts generell vor allem a n de r Sprache orientiert w a r und

einander ähnliche Phänomene daher vor allem in ihrer sprachlichen Einkleidung zu

Bewußtsein kamen. Welche Gründe man aber auch immer f ü r die Bevorzugung de r

Metapher annimmt, f e s t s t eh t jedenfal ls , daß die Diskussion u m sie sehr f ace t t en ­

reich g e f ü h r t wird und auch intern s t a rk vernetz t i s t . E s lag a l so nahe, einen

Versuch zu unternehmen, die Erkenntnisse, die a n de r Metapher gewonnen worden

sind, f ü r das Modell z u nutzen. Anders gesagt.* Die Konzeption d e r Metapher s o l l ­t e zum Modell f ü r eine Konzeption des Modells werden.

Aus dieser Grundidee erklären sich die drei Kapitel des e r s t en Teils. Das e r s t e f r a g t nach d e n grundlegenden Bestimmungen des Modellbegriffs , zumindest inso­

weit , wie s ie durch e r s t e Annäherung, auch ehe r phänomenologischer Ar t , s ichtbar

werden. Die dabei vorgenommene Klassifizierung e n g t das Untersuchungsgebiet auf die f ü r Philosophiegeschichte im eigentlichen Sinn relevanten theoret ischen Model­

l e ein. Zum zweiten wird in diesem e r s t e n Kapitel schon eine hinreichend große Zahl von ModelImerkmalen festgeschrieben, s o daß ein selbstreferent ie l les Ver­

fahren nicht n u r gerechtfer t ig t , sondern a l le rers t s t a t t h a f t erscheint , s o daß a l so ein anderer Gegenstand a l s Modell f ü r den Untersuchungsbereich »Modell« in Funktion t r e t e n kann.

Im zweiten Kapitel d e s e rs ten Teils -»Was i s t eine Metapher?«- wird dann dieser

Gegenstand, der zum Vorbild d e s eigentlich interessierenden Begriffs werden soll ,

näher vorgestel l t . Zunächst i s t dabei seine Eignung f ü r diesen Zweck insofern zu

zeigen, als seine historische Entwicklung kurz skizziert werden muß: Denn e r s t in

einem länger währenden Umwertungsprozeß näher te sich die Konzeption d e r Meta ­

phe r immer mehr dem des Modells an; sie wird e r s t im 20. Jahrhundert z u m k o ­

gnitiven Ins t rument und damit dem Modell vergleichbar.

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Das Interesse am Affektbegriff 21

Das Stadium, das diese Entwicklung n u n aber erreicht h a t , i s t keinesfal ls durch

eine homogene Theorie gekennzeichnet. Vielmehr i s t de r Zus tand d e r gegenwärt i­gen Metaphernforschung durch eine Plural i tät verschiedener Positionen charak­

terisierbar, Positionen, die sich teilweise aus ex t rem differierenden Interessen erklären. E s war a l so nötig, in diese Diskussion ein Stiick weit s e lb s t einzugrei­

fen . Die verschiedenen Ansätze werden allerdings immer m i t Blick auf das u n t e r ­s t e l l t e Ziel, nämlich die Metapher f t i r eine Theorie des Modells f ruch tba r zu m a ­chen, gesichtet und die dabei auf t re tenden Probleme fa l l s nötig näher untersucht .

Ich habe in diesem Zusammenhang durchaus auch den Versuch unternommen, Ele­men te aus Theorien, die als ganze nicht kompatibel erscheinen, auf das Modell zu transferieren. So f inden sich Überlegungen zu Hans Blumenberg dann auch neben einer ausführlichen Erörterung der angelsächsischen Interaktionstheorie, die sich

vor allem m i t den Namen Ivor Armstrong Richards und Max Black verbindet. Im Zentrum des dr i t ten Kapitels wird dann schließlich die angekündigte »Modell­

übertragung« von der sprachlichen Metapher auf das theoret ische Modell s tehen. Die Ergebnisse de r Übertragung zeigen sich im e r s t en Abschnit t »Metapher a l s

Modell«. Gleichzeitig müssen aber nicht n u r die Ähnlichkeiten, sondern auch die Differenzen zwischen Metaphern und Modellen im Auge behal ten werden. Der wichtigste Unterschied erscheint dann im zweiten Abschnit t des d r i t t en Kapitels -»Übertragung und Verifikation«- deutlicher. Denn beide Phänomene, Metapher und Modell, kann man zwar a l s kreative Verfahren, a l s Methoden, neue Hypothesen zu formulieren, bezeichnen; das Modell bedarf aber im Unterschied z u seinem rein sprachlichen Pendant einer separaten, regulierten Verifikation.

Im abschließenden Abschnit t des e r s t e n Teils wird u n t e r dem Titel »Modell -Metapher - Gleichnis« noch einmal explizit das Verhältnis der beiden untersuchten Gegenstände zu einem dr i t ten Phänomen, das schon während de r Untersuchung immer wieder angeklungen is t , thematisch: das Verhältnis von Metapher u n d Mo­dell zum Vergleich oder zum Gleichnis. Diese abschließende Kontrast ierung f o l g t abe r keineswegs einem verselbständigten Systemzwang, de r n u r aus purer Orden t ­lichkeit al le wichtigen Analogiefiguren ins rechte Verhältnis zueinander gese tz t haben möchte. Sie i s t vielmehr f ü r die konkreten philosophiehistorischen Unte r su ­chungen se lb s t von eminenter Bedeutung. Während die Charakterist ika de r Meta ­phe r hier vor allem f ü r die Konsti tut ion des Begriffs eines Modells von Interesse sind, grenzt sich die konkrete Modell geschickte häufig von de r s ie begleitenden Reihe von Gleichnissen ab.

Dies wird in der Platonischen Affekt theor ie besonders deutlich. Denn a n d e r Seite seines Seelenmodells s t e h t d a s ebenso sprechende wie einflußreiche Rossegleich-

nis. E s b o t sich daher an, den Autor, von dem der Gedanke seinen Ausgang g e ­

nommen ha t , auch in den Mit te lpunkt de r inhaltlichen Untersuchungen zu stel len. W a s in den methodisch-theoretischen Trockenübungen d e s e r s t en Teils entwickelt

worden is t , sol l sich nun in konkreten philosophiegeschichtlichen Untersuchungen

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Einleitung 22

a l s b rauchba r e rweisen . Diese h i s to r i schen Analysen haben z u m e inen die Funkt ion ,

d ie Mode l lüber t ragung von d e r Me taphe r a u f d a s Model l s o w e i t wie mögl ich zu

»verifizieren«, spr ich: e iner e r s t e n Bewährungsprobe z u un te rz iehen . Z u m ande ren

w i r d s ich in d iesem inhal t l ichen Teil d a s Konzep t e iner »Model lgeschichte« n o c h

w e i t e r präzis ieren m ü s s e n .

Dami t d e r U m f a n g d iese r Über legungen a b e r e in e r t r äg l i ches MaB n i c h t übe r s t e ig t ,

so l l diese Bewährung u n d Präzisierung s ich a u f e i n k la s s i sches Beispiel k o n ­

zent r ie ren . S o h a t d a n n d e r zwe i t e Teil d iese r Arbei t , »Phi losophische A f f e k t ­

theor ien«, eben fa l l s d r e i Kapitel . Im e r s t e n wird d a s inhal t l iche Problem, v o n d e m

die phi losophischen A f f e k t t h e o r i e n ihren A u s g a n g s p u n k t g e n o m m e n haben» e x ­

pon ie r t . Diese Expos i t ion i s t v o r a l l em m i t d e n Namen Sokra t e s u n d Euripides

verbunden. Sowohl die Über l i e fe rungs lage a l s a u c h d e r t h e o r e t i s c h e S t a t u s , d e n

die W e r k e d e r be iden A u t o r e n haben , l a s s e n e s a l le rd ings n i c h t zu , a n d iese r S t e l ­

l e i n m e h r a l s provisor ischer F o r m von Model igesch ich te z u sp rechen . Dennoch i s t

d a s e r s t e Seelenmodel l , d a s a u c h auf f ü r u n s n o c h e rs ich t l iche W e i s e a u s g e a r ­

b e i t e t i s t , näml ich d a s Platonische, n i c h t z u vers tehen , o h n e d i e vorausgegangene

Problemlage, auf die e s a n t w o r t e t .

I m zwei ten Kapitel d e s phi losophiegeschicht l ichen Tei ls w e r d e n d a n n die S t r u k t u r

u n d die Kons t i tu t ion d ieses Mode l l s genaue r u n t e r s u c h t u n d von d e n m e t a p h o r i ­

s c h e n beziehungsweise gle ichnisar t igen Einkleidungen abgegrenz t .

Hieran sch l ieß t s ich d a n n im d r i t t e n Kapitel e i ne Analyse d e r Ar i s to te l i schen

A f f e k t t h e o r i e an. Sinn d ieses Kapi te ls i s t e s v o r a l l em zu zeigen, d a ß Mode l l e als

Modelle Kont inu i tä t u n d Geschichte haben . D a s he iß t k o n k r e t , d a ß d a s P l a t o ­

nische, d a s »triadische« Model l e ine Kons tanz a u c h i n ve rände r t en Theor ie ­

zusammenhängen h a t . Daher wi rd im e r s t e n Abschn i t t d i e ses Kapi te l s z u r e k o n ­

s t ru i e r en sein, d a ß a u c h d e r Ar i s to te l i schen A f f e k t t h e o r i e d a s t r i ad i sche Model l

z u g r u n d e l i eg t , e in U m s t a n d , d e r v o n d e r n e u e r e n Ar i s to t e l e s -L i t e r a tu r m e i s t

ignor ier t wi rd .

Mode l le a b e r , s o 1st d e r Gedanke wei te r , de te rmin ie ren d e n g röße ren Theor ie ­

zusammenhang , in d e m s ie s t e h e n , n i ch t vo l l s tänd ig . A n d e r s g e s a g t : Sie h a b e n e in

M o m e n t , d a s d e n Z u s t a n d i h r e r u r sprüngl ichen V e r f a s s u n g übe r s t e ig t . Sie b e ­

inha l t en z u n ä c h s t unen twicke l t e Möglichkei ten, d i e ke ineswegs i m m e r n u r i n eine

Richtung weisen . D a h e r w a r e s A r i s t o t e l e s mögl ich, t r o t z d e r g rundsä t z l i chen M o -

de l lkons tanz e ine andere , viel d i f f iz i le re Theor ie a l s P la ton zu en twicke ln .

So ve r fo lgen d iese Über legungen e in d o p p e l t e s Ziel: E inerse i t s s o l l e n p h i l o s o ­

phische A f f e k t t h e o r i e n u n t e r e iner model lgeschich t l ichen Perspekt ive b e t r a c h t e t

werden , andere rse i t s so l l e ine Konzept ion t h e o r e t i s c h e r Model le a m Gegens tand

d e r A f f e k t t h e o r i e mi t en twicke l t werden . E n t g e g e n d e r u r sp rüng l i chen In t en t i on h a t

d iese Arbei t d a h e r zwe i g le ichberecht ig te u n d ähnl ich umfangre i che Teile: e inen

me thod i schen und e inen mater ia len .

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Das Interesse am Affektbegriff 23

D a d ie me thod i schen Über legungen a b e r Uber d e n k o n k r e t e n Gegens tand , v o n d e m

s ie ausgingen, d ie Geschichte v o n Af fek t theo r i en , h inausweisen u n d s ich - w i e ich

h o f f e - f ü r theor iegeschicht l iche Un te r suchungen generel l a l s b r a u c h b a r e rwe i sen

k ö n n t e n , s che in t m i r ih re Ausführ l i chke i t g e r e c h t f e r t i g t . Andere r se i t s s ind die

h i s to r i schen Studien, a u f die d a s t h e o r e t i s c h e Ergebnis d a n n b e z o g e n wird, kein

bel iebiges Beispiel u n t e r mögl ichen anderen . Denn ge rade weil e ine Theor ie d e r

A f f e k t e l ange Zei t im Schn i t t punk t verschieden a u s g e r i c h t e t e r Theor ien u n d Bere i ­

c h e s t a n d , wi rd s ich d e r Mechanismus v o n Theoriebi ldung a n ihnen mögl icherweise

b e s o n d e r s deut l ich , a b e r auch a u f b e s o n d e r s d i f f e renz ie r t e W e i s e zeigen.

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(A)

MODELLGESCHICHTE

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( t ) W A S IST EIN MODELL?

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(1.1) GEGENSTANDLICHE MODELLE

»Modell« 1st e in e b e n s o g e r n geb rauch t e r wie vie ldeut iger w i s senscha f t l i che r T e r ­

minus . Auch »Modellgeschichte« f i n d e t s i ch in l e t z t e r Ze i t häuf iger . Dennoch

sche in t s ich d e r Ausdruck n o c h n ich t a l s f e s t e r ph i losophischer Begriff e t ab l i e r t

z u haben. E r h a t d i e Schwelle des terminologischen Bewußtse ins b i s l ang n i ch t

übe r sch r i t t en u n d b e f i n d e t s i ch n o c h in d e n Vorz immern d e s Al l t agsvers tandes . So

wi rd m a n beispie lsweise e in S t i chwor t »Model lgeschichte« im »Historischen

Wörterbuch der Philosophie« vergebl ich suchen . D a f ü r f i n d e t s i ch im Art ikel

»Begri f fsgeschichte« d e r Hinweis, daß s e l b s t e ine Theor ie d i e se s Begr i f f s n o c h

Desidera t se i u n d d a h e r a u c h seine Abgrenzung z u u n d se ine Ver f loch tenhe i t m i t

Bereichen wie d e r Metaphoro log ie o d e r d e r T o p o s - u n d Mode l l fo r schung u n k l a r

bleibe. 1

E r s t r e c h t beda r f »Modellgeschichte« u n d dami t a u c h d e r Begriff d e s Mode l l s

s e l b s t d e r Klärung. 2 N ä h e r t m a n s ich d iesem Ausdruck z u n ä c h s t ganz a l l ­

gemein v o n se ine r umgangssprach l ichen Bedeutung h e r - u n d n i ch t a n d e r s wi rd e r ,

wie ge sag t , o f t a u c h in wissenschaf t l i chen K o n t e x t e n ve rwende t - , s o m e i n t e r e t ­

w a Mus te r , E n t w u r f o d e r Vorbi ld. Diese Bedeutung w u r z e l t s c h o n im la te in ischen

Ur sp rung d e s W o r t e s , modu lus : Maß, M a ß s t a b .3 A l s s o l c h e in Vorbi ld u n d

Maß ze ig t d a s Model l e ine b re i t e P a l e t t e v o n Erscheinungsmögl ichkei ten , z.B. d a s

Model l i n d e r Malerei - i m Sinne v o n » f ü r e in Bild Model l s t e h e n « - o d e r d a s m a ß ­

s t a b g e t r e u e Model l e ines r ea l en Gegens tandes .

1 »Eine Theorie der Begriffsgeschichte ist zur Zeit noch Desiderat. Sie hätte die einzelnen begriffsgeschichfliehen Standpunkte kritisch zu analysieren und aufzuzeigen, inwiefern reine Wortgeschichte, umgreifende Terminologiegeschichte, definitorische und hermeneu tische Begriffs-geschichte und allgemeine Begriffsbedeutungsgeschichte strukturelle Momente einer umfassen­den philosophischen Begriffsgeschichte darstellen. Sie müßte darüber hinaus den Zusammen­hang erhellen und die Verflochtenheit aufdecken von Begriffsgeschichte und Problem-, Ideen-, Sachgeschichte, Metaphorologie, Topos- und Modellforschung, Denkformenlehre und Sprachwis­senschaft.* H.GMaier, in: Ritter/Gründer 1,789 2 So klagte Max Jammer etwa: "Das Wort Modell' wird in so zahlreich verschiedenen Be­deutungsnuancen gebraucht, daß es fast eine Sache und ihr genaues Gegenteil bedeuten kann: es ist ein Vorbild, nach dem etwas gestaltet' und eine Kopie von etwas, das schon fertiggestellt ist oder existiert'. Für einige ist es eine mathematische Konstruktion, während andere solche Identifizierung kategorisch ablehnen. Die Ursache dieser Unstimmigkeiten ist mit der eigentüm­lichen etymologischen Geschichte des Wortes verknüpft. Als terminus technicus in dem moder­nen wissenschaftlichen Sinne wurde es nicht vor der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ge­braucht, während es doch im Handwerk, in der Kunst und Architektur beträchtlich älter ist." Jammer (1965) 167 3 Sprachgeschichtlich ist zunächst der Ausdruck »Model« vom lateinischen »modulus« (alt­hochdeutsch »modul«. mittelhochdeutsch «model«) entlehnt worden. Im 16. Jahrhundert wurde er durch das Wort »Modell« verdrängt. Das neu entlehnte »Modell« kommt vom italienischen «modello«. das selbst wieder vom lateinischen »modulus« abstammt. Vgl. Kluge (1975) 463 und Grimm (1885) 2439. Einige sprachgeschichtliche Hinweise auch bei Müller (1983) 23f.

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(1) Was ist ein Modell"? 26

W e n n m a n z u n ä c h s t eine g a n z a l lgemeine e r s t e Annäherung a n d iesen Begriff v e r ­

s u c h e n will , k a n n e s s ich e r s t e n s a l s nü tz l i ch e rweisen , s o l c h e a l l t agssprach l ichen

Bedeutungsvar ianten z u s a m m e l n u n d n ä h e r z u b e t r a c h t e n . Z u m zwei t en s o l l e n

h ie r d iverse m e h r o d e r weniger zu fä l l ig zusammenge t r agenen Funds tücke a u s d e r

(sozia l - )wissenschaf t l ichen Li te ra tur m i t he rangezogen werden . M a n begegne t d o r t

s e h r h ä u f i g e iner b e w u ß t e n - w e n n auch wenig p räz i s i e r t en- Verwendung d e s

Begr i f f s »Modell«. Dennoch l ä ß t s ich a u c h h ie ran die e ine o d e r andere n ä h e r e

Bes t immung ab lesen . Schließlich k ö n n e n d r i t t e n s einige wen ige t h e o r e t i s c h e U n t e r ­

suchungen zu d iesem Thema z u H i l f e g e n o m m e n werden . V o r a l l e m Max Blacks

k u r z e r u n d p r ä g n a n t e r Art ikel »Models and Archetypes«4 s t e l l t verschiedene

s e h r nü tz l iche Voror ient ie rungen be re i t .

F ü r e inen e r s t e n Überbl ick b i e t e t s ich d e r Art ikel »Modell« d e r Brockhaus -

Enzyklopädie a n . 5 I n d e r 1986 begonnenen 19. A u f l a g e verzeichnet s ie s i eben

Bedeutungen d e s Ausdrucks , wobei a n e r s t e r S te l l e n u r die a l lgemeine E r l äu t e rung

»Mus te r , E n t w u r f , z.B. i n d e r Baukuns t , s iehe Arch i tek tu rmode l l ; Vorbild, Bei­

spiel« s t e h t . Sodann behande l t s ie d a s Model l in d e r Logik u n d Mathemat ik , in

Malerei u n d Bi ldhauerkuns t , in d e r Mode, in d e n Na tu rwi s senscha f t en , d e r Technik u n d schl ießl ich i n d e n W i r t s c h a f t s w i s s e n s c h a f t e n .

Beginnt m a n m i t d e m sinnl ich a m le i ch tes t en e r f a h r b a r e n , d e m Model l in d e r Bil­

d e n d e n Kuns t , s o l i e s t m a n , e s se i d o r t z u n ä c h s t e in »Naturgegens tand , b e s o n d e r s

d e r M e n s c h (aber auch Tie r o d e r Pf lanze) , d e r a l s Vorbi ld küns t l e r i s che r G e s t a l ­

t u n g dient .« 6 I m e in f achs t en Fall , auf d e n h ie r angesp ie l t wird , wird a l s o die

Erscheinung e ines Originals , d e s Mode l l s , in e i n anderes Medium Ubert ragen. Eine

Pe r son s i t z t be ispie lsweise f ü r i h r e igenes P o r t r ä t Model l . Dieser e in fache Fall

kompl iz ier t s i ch a b e r s e h r schnel l in zweierlei Hinsicht .

Z u m e inen l ä ß t s ich näml ich die F rage s te l l en , w o f ü r e in Model l e igent l ich Model l

s t e h e . I m Fall d e s P o r t r ä t s s i t z t d e r P o r t r ä t i e r t e f ü r e i n Abbild von s ich s e l b s t

Model l , e in e inze lner a l s o f ü r e ine b e s t i m m t e Dars t e l lung . W a s a b e r s t e l l t d a s

Akt -Mode l l in d e r Zeichenklasse e iner Kuns takademie da r? E s z e i g t s ich n ich t

s e l b s t a l s Person , s o n d e r n f u n g i e r t a l s Vorbild, a n d e m Ana tomies tud ien be t r i eben

w e r d e n können . E s in t e res s i e r t a l s o n ich t a l s Individuum, s o n d e r n a l s Rep rä sen t a ­

t i o n b e s t i m m t e r E igenschaf ten , d ie e inem Menschen a l s Menschen , a l s V e r t r e t e r

e ines Allgemeinen, zukommen.

Auch Repräsenta t ionen a u f anderen S t u f e n d e r Al lgemeinhei t s ind mögl ich . So

f i n d e t s ich z u m Beispiel i n e inem Überb l ickswerk z u r ho l länd i schen Malere i d e s

17. J ah rhunde r t s fo lgende Aussage: »Die Figuren in O s t a d e s Gemälden s ind g e ­

4 Vgl. Black (1962) 219-243. s Vgl. Blockhaus (1986ff) 19. Auflage, Bd. 14, 706f; gelegentlich greife ich auch auf die 17. Auflage von 1966ff. die an einigen Stellen ausführlicher ist, zurück. 6 Brockhaus (i986ff) Bd 14, 706» alle folgenden Zitate stammen, wenn nicht anders ver­merkt. von dort.

Page 29: Meßkünstler and Rossebiiidiger · meines hinreisens were, ob ich wol andere gegen andern fürgebe.«10 Im Fortgang der Abhandlung will Langius ihn Uberzeugen, daß er das falsche

(1.1) Gegenständliche Modelle 27

wohnl ich a l le d e r s e l b e Typus. De r Me i s t e r w a r o f f e n b a r m e h r ein d e n Tä t igke i ten

se iner Model le a l s a n ih re r Individuali tät in teress ier t . . .« 7 D e r A u t o r Bob Haak

b r i n g t dami t impl iz i t z u m Ausdruck , d a ß Mode l l e e n t w e d e r f ü r e ine Abbi ldung v o n

s ich s e l b s t Vorbi ld se in können o d e r a u c h f l i r die Dars t e l lung e ines Typus , e t w a

f ü r d ie e ine r Be ru f sg ruppe wie h ier im Fal l d e s Haa r l emer Genremale r s Adriaen

van Os t ade . Sie v e r t r e t e n beispielsweise e inen Bauern, e inen Alch imis ten o d e r

e inen Maler . (Abb. 3) I ch sch lage vor, d e n e r s t e n Fall »Individualmodell«, d e n

zwei ten »Typenmodell« zu nennen u n d be ide u n t e r d e m Oberbeg r i f f »natür l iches

Modell« zusammenzufas sen .

A l s Repräsen ta t ion e ines Allgemeinen w a n d e l n s i ch a b e r d i e Bedingungen, u n t e r

d e r eine Pe r son a l s Model l w i rk t . A r t h u r C . D a n t o w e i s t z u m Beispiel darauf hin ,

d a ß i n d iesem Fal l d ie Iden t i t ä t d e s Mode l l s a l s Pe r son z u m Verschwinden g e ­

b r a c h t werde .

Im Idealfall soll das Modell durchsichtig sein, und es wird von uns erwartet, daß wir weniger das Modell wahrnehmen als das. wofür sie oder er ein Modell ist, obwohl es natürlich das Modell ist, das gemalt, photographiert usw. wird. Wenn das Modell für dieses Verschwinden der Identität eine allzu vertraute Figur ist, dann ist es schlecht gewählt: Elizabeth Taylor, Jackie Kennedy oder Richard Nixon würden schlechte Modelle abgeben, d a sie eine zu starke Identität haben, die nicht ohne weiteres verschwindet.®

D a n t o s c h r ä n k t i n se inem Sprachgebrauch d i e Bedeutung v o n Model l s o g a r auf die

Repräsenta t ion b e s t i m m t e r E igenschaf ten , e ines Al lgemeinen o d e r A b s t r a k t e n , ein.

W a s a b e r mein t , m a n s o l l e weniger d a s Model l wah rnehmen a l s d a s , wofür e s

Model l sei? Ein Model l i s t d o c h z u n ä c h s t Mode l l f ü r d a s , w a s n a c h i h m v e r f e r t i g t

wi rd : ein Bild, e ine Photographie , e ine Sku lp tu r . A b e r D a n t o m e i n t m i t d e m »für«

e indeut ig die A b s t r a k t i o n o d e r d ie Al lgemeinhei t , d ie e s d a r s t e l l t . Das Model l

ze ig t dami t e ine e t w a s komplexe re S t r u k t u r , a l s m a n auf d e n e r s t e n Blick a n z u ­

n e h m e n geneig t i s t .

Z u n ä c h s t e inmal : Nixon i s t Model l f ü r e in P o r t r ä t v o n sich; e r i s t d a n n a b e r n i ch t

Mode!! f ü r e inen S taa t smann , obgle ich e r a u c h als Model l e inen S t a a t s m a n n

rep räsen t i e ren kann . Ande r s ge sag t : Eine P e r s o n 1st p e r s e n o c h ke in Model l . E r s t

w e n n sie z u m Vorbi ld f ü r eine Dar s t e l l ung wird , i s t s ie a u c h Mode l l . D a s impl i ­

z i e r t zweierlei: Erstens i s t »Modell« a l s o e in relationaler Begriff. E in Individuum

wi rd a b e r zweitens n u r z u m Model l , i ndem eine Bedeutungsebene a n ihm selek­

tiert wird. S t e h t e s a l s Individuum o d e r a l s Repräsen ta t ion v o n Al lgemeinem

Model l? U n d w e n n f ü r e in Allgemeines o d e r A b s t r a k t e s - f ü r we l ches?

Zumindes t Typenmodel le haben d a m i t e ine d o p p e l t e Referenz : e ine a u f d ie A l lge ­

meinhei t , die a n ihnen se lek t i e r t wird u n d die s ie repräsen t ie ren , d ie andere auf

i h r Nachbild. Sagen wir: Sie s ind Model l von e t w a s für e t w a s .

7 Haak (1984) 389 0 Danto (1991) 256

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O l Was ist ein Modell 28

Abb. 3 Adriaen van Ostade: Der Maler in seiner Werkstatt

1663, Öl auf Holz, 38 x 35,5 cm Dresden, Staatliche Kunstsammlungen, Gemäldegalerie

Page 31: Meßkünstler and Rossebiiidiger · meines hinreisens were, ob ich wol andere gegen andern fürgebe.«10 Im Fortgang der Abhandlung will Langius ihn Uberzeugen, daß er das falsche

(1.1) Gegenständliche Modelle 29

Die zwei te Komplikat ion, d ie s i c h a u s d e r Brockhaus-Def in i t ion d e s Mode l l s in d e r

Bildenden K u n s t e rg ib t , b e t r i f f t d e n darin e n t h a l t e n e n Na tu rbeg r i f f . De r Ar t ike l

b e t o n t , daß e s s i ch be im Model l u m e inen Na tu rgegens t and hande le , u n d m e i n t

dami t wohl in e r s t e r Linie, d a ß e s dabei u m e t w a s Vorge fundenes gehe: »Malen

n a c h d e r Natur«. Das W e r k , d a s he iß t d a s Bild, a h m t d a s Aussehen d e s v o r g e f u n ­

denen Originals nach . Gerade in d e r Bi ldhauerkunst a b e r i s t d a s Model l o f t s e l b s t Produzier tes , t r i t t

a l s o zwischen Original u n d Abbi ld . So he iß t e s d e n n a u c h a l s e ine zwei te Bedeu­

tungsva r i an te im Abschn i t t »Modell 3: Malerei u n d Bi ldhauerkunst«:

... in der Bildhauerkunst auch ein stereometrisch genaues Vorbild des endgültigen Werkes. Es wird aus bildsamem Stoff (Ton. Wachs) mit freier Hand oder Model­lierhölzern und Schlingen hergestellt (modelliert).

Diesen Model len wird o f t s e l b s t n o c h einmal eine M o d e l l a r t ge r ingere r Präzision

vorgescha l te t : d a s Bozzet to , e ine e r s t e p l a s t i s che E n t w u r f s s k i z z e a u s Ton, W a c h s ,

Ho lz o d e r e inem anderen le ich t b i ldsamen Mater ia l . (Abb. 4 ) 9 Solche Reihen

s ich i m m e r s t ä r k e r konkre t i s ie render Model le s ind f ü r E n t w u r f s p r o z e s s e genere l l

typ isch . 1 0

A b e r a u c h die Malerei bed ien t s i ch handwerkl ich v e r f e r t i g t e r Model le . I n Adriaen

van O s t a d e s Genrebild »Der Ma le r in se ine r W e r k s t a t t « v o n 1663 z u m Beispiel

k a n n m a n im Mi t t e lg rund r e c h t s e ine hö l ze rne Gl iederpuppe e rkennen . (Abb. 3)

Solche Model lmännchen w e r d e n s e i t d e m 15. J a h r h u n d e r t a l s M i t t e l f ü r P r o p o r ­

t i o n s - , Bewegungs- u n d Kompos i t ionss tud ien b e n u t z t . S e l b s t v e r f e r t i g t e P roduk t e

übernehmen die S te l le lebendiger Menschen . Dabei wird i m übr igen d e r Se lek t ions ­

c h a r a k t e r v o n Model len b e s o n d e r s deut l ich . Die Gl iedermännchen abs t r ah i e r en v o n

a l l en Detai ls u n d repräsen t i e ren n u r die a l lgemeinen Propor t ionen d e r Körper te i le .

M a n m a g n u n einwenden, daß s o l c h e Model le z w a r n i c h t vo rge funden , s o n d e r n

p roduz ie r t seien, a b e r dennoch auf e inen Na tu rgegens t and verweisen, d e r s e l b s t

f ü r d a s P roduk t Model l g e s t a n d e n habe . Gerade aber , w e n n m a n die h i s to r i sche

Dimension d e s Vorgangs h inzunimmt , ze ig t s ich d ie Prob lemat ik verwickel ter .

Diderot schre ib t e t w a im Art ike l »Imitation« d e r Encyclopödiex

9 Vgl. dazu Keller/Reß (1948). 1 0 So wird die Arbeit des Designers etwa wie folgt beschrieben: "Was man sich unter dem Designprozeß gewöhnlich vorstellt, ist einfach eine Arbeitsfolge von immer konkreter, immer be­stimmter werdenden Modellen. Die Tätigkeit des Entwerfens und das Arbeiten mit Modellen sind in der Praxis ein und dasselbe. Modelle entwickeln schematisch oder abbildhaft den zu entwarfenden Gegenstand, das Designobjekt, in verschiedenen Darstellungsphasen, von der ein­fachen Modellzeichnungs-Skizze bis hin zum Prototyp. Das Modell ist also gegenstandsorientiertt der Arbeitsprozeß führt etwa von einer Zeichnung über ein Gipsmodell oder ein Modell aus an­deren Materialien hin zum Endmodell. Vermöge des Modells schauen wir gleichsam schon zu Beginn der Gestaltungsarbeit von außen auf das künftige Objekt." van den Boom (1988) 13

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(LH Was ist ein Modell 30

Abb. 4: Bozzetti oben: Büßende Magdalena (1. Hälfte 18. Jh., Brünn)

unten: Ferdinand Dietz: Athena als Beschützerin der Künste (1765, Nürnberg / 1765-68, Veitshöchheim)

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(1.1) Gegenständliche Modelle 31

Die Kunst der Nachahmung in irgendeiner beliebigen Gattung hat die Kindheit, ihren Zustand der Vollkommenheit und ihren Zeitpunkt des Verfalls. Diejenigen. die die Kunst schufen, hatten kein anderes Modell (modele) als die Natur. Die­jenigen, die sie vervollkommneten, waren -streng genommen- nur die Nachahmer der ersten...11

Den e r s t e n k ä m e die Or ig inal i tä t z u , d e n zwei ten d a s Verd iens t , d a s Er re ich te v e r ­

vo l lkommnet zu haben . Die Agen ten d e r Vervol lkommnung or ien t ie ren s i ch a b e r

n i ch t m e h r u n m i t t e l b a r a n d e r Na tu r , s o n d e r n a n d e r vorhergehenden Kuns t , e t w a s

s e l b s t s c h o n Produzier tes . Die Perfekt ionierung ve rwe i s t au f d ie N a t u r n u r d u r c h

e ine Vermi t t lung , gebrochen d u r c h e r n e u t e Selekt ion u n d Kombinat ion:

Die gewöhnliche Natur war das erste Modell der Kunst. Der Erfolg der Nach­ahmung einer weniger gewöhnlichen Natur lief) den Vorteil der Auswahl empfin­den, und die sorgfältigste Auswahl führte zu der Notwendigkeit zu verschönern oder in einem einzigen Gegenstand diejenigen Schönheiten zu vereinen, die die Natur nur in zahlreichen Gegenständen verstreut zu zeigen pflegt. Wie aber stell­te man die Einheit zwischen so vielen Teilen her, die von verschiedenen Modellen stammen? Das war das Werk der Zeit.12

Das W e r k d e r Zei t u n d e ine r K e t t e k u n s t i m m a n e n t e r Nachahmungen. Die Model le

d e r Vervol ikommner w a r e n Produkte , d ie a l s Nachbi lder s e l b s t s c h o n Kombinat io­

n e n verschiedener Vorbi ider se in konn ten . Bevor e i n Gegens tand a l s Model ! z u m

Vorbild wi rd , i s t e s s e l b s t Nachbild e ines ande ren Vorbi lds . Anders : I n d e r

h i s to r i schen K e t t e d e r K u n s t w e r k e w e r d e n Nachbi lder j e s e l b s t z u Vorbi ldern.

I n e iner f r ü h e r e n A u f l a g e verzeichnet d e r Brockhaus übr igens i m A b s c h n i t t

»Model! (Kunst)« neben d e r Malerei u n d d e r Bi ldhauerkuns t a l s d r i t t e n Teilbereich

n o c h die Arch i tek tur . U b e r sie he iß t e s a l le rd ings d o r t n u r lapidar: »In d e r Bau­

k u n s t s t e l l t d a s Model l d a s g e p l a n t e Bauwerk in k le inem M a ß s t a b d a r (siehe:

Archi tekturmodel l ) .«1 3

U n t e r d e m S t i chwor t »Archi tekturmodei i« f i n d e t s i ch e ine k u r z e Geschich te d ie se r

M o d e l l f o r m 1 4 , i n d e r e s u n t e r ande rem he iß t , d a ß s o l c h e i n Arch i tek turmodel l

d e m Zweck gedient habe , d ie G e s t a l t d e s Baus im g a n z e n v o r z u f o r m e n u n d se ine

Körper l ichkei t v o r Augen z u s t e l l e n . Die ge rade m i t d e r Renaissance a u f k o m m e n d e

Forderung, e in Bauwerk habe e ine s innenfä l l ige Einhei t aufzuweisen , habe s i ch n u r

m i t H i l f e v o n Model len verwirklichen l a s sen . I n s o f e r n g i b t e s h i e r keinen U n t e r ­

schied z u m Model lgebrauch e t w a d e s Bildhauers.

Al lerdings he iß t e s d a n n i m wei te ren , d a ß viele d e r e r h a l t e n e n ArchJ tek turmodel le

a u c h m e h r o d e r minder g e t r e u e Nachbi ldungen vo l l ende te r Bau ten seien, k o n s t r u ­

11 Diderot (1984a) 1,498 12 Diderot (1984a) 11.575 13 Brockhaus (1966ff) 678 1 4 Detaillierteres aus der Geschichte der Architekturmodelle: Benndorf (1902). Briggs (1929), Burckhardt (1932) 76-80, Heydenreich (1937), Mosser (1981), Reuther (1981), Schönberger (1988).

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C D Was ist ein Modell? 32

i e r t f ü r Lehrzwecke o d e r a l s Sammlungsgegens tand . Die n e u e s t e A u f l a g e b e h a n d e l t

d a s S t i chwor t knapper , b r i n g t a b e r d ie Ambivalenz d e s Arch i t ek tu rmode l l s a u f d e n

Punk t : »Man un t e r sche ide t Arch i tek turmodel le , d ie a l s E n t w u r f s m o d e l i e z u r

Veranschaul ichung e ines gep lan ten Baus dienen, u n d Model le , d ie n a c h g e b a u t e n

Arch i tek tu ren z u r Kon t ro l l e d e s W e r k s o d e r f ü r se ine h i s to r i s che Über l ie fe rung

ange fe r t i g t werden.« 1®

Gerade m i t d e r l e t z t e n Funkt ion d e s Arch i t ek tu rmode l l s h a t m a n d e n Bereich

Bildender K u n s t ve r lassen . E s g e h t n u n v ie lmehr u m eine F o r m d e s Mode l l s , d ie

u n t e r d e m St ichwor t »Technik« abgehande l t wird u n d die m a n a u c h a l s maßstab­

getreues Modell bezeichnen kann . Diese Model le s ind

in verkleinertem, natürlichem oder vergrößertem Maßstab ausgeführte räumliche Abbilder eines technischen Entwurfs oder Erzeugnisses zur anschaulichen Darstel­lung. zu Lehrzwecken, als Spielzeug (kleine Modelle von Eisenbahnen, Autos, Schiffen. Flugzeugen u.a.) oder als wissenschaftliche Versuchsobjekte in Modell­versuchen.

Auch diese Def ini t ion s p r i c h t a l s o z u n ä c h s t wieder d e n Selektionscheu-akter v o n

Model len a n , h i e r h ins icht l ich ih re r Größe: »in verk le iner tem, na tü r l i chem o d e r

ve rg röße r t em Maßstab. . .« . Dann a b e r beze ichne t s i e d a s Model l e indeut ig a l s

räumliches 4̂£>—bild.

Bisher w a r d a s Model l a l s Vör-bild b e s t i m m t . Dieses Vorbi ld k o n n t e a l s Gegen­

s t a n d z w a r s e l b s t Abbi ld andere r O b j e k t e sein, a b e r d i e s e r Nachbi ldcharakter b e ­

t r a f n u r se ine Gegenständl ichkei t u n d seine Genese; m i t d e m Begriff »Modell« w a r

jedoch z u n ä c h s t se in Vorbi ldcharak ter bezeichnet . Bei d e n m a ß s t a b g e t r e u e n M o d e l ­

l e n f i n d e t n u n n i ch t n u r e in Wechse l i m Gebrauch d e s O b j e k t s , s o n d e r n a u c h i m

Begriff d e s Mode l l s s e l b s t s t a t t .

Schließlich g i b t d e r Brockhaus n o c h e inen Überbl ick ü b e r d ie mögl ichen F u n k ­

t i onen e ines Model l s : »... z u r anschaul ichen Dar s t e l l ung , z u Lehrzwecken, a l s

Spielzeug (...) o d e r a l s w i s senscha f t l i che Versuchsobjekte . . .« Daß d a s anschaul iche

Deu'steilen a n e r s t e r S t e l l e g e n a n n t wird, i s t ke in Z u f a l l . Denn i m Grunde i s t e s

n i ch t einmal e in Zweck , d e r g le ichberecht ig t neben ande ren Zwecken s t e h t , s o n ­

d e r n d ie Grundlage d e r übr igen Funkt ionen. Mode l l e s ind Repräsentationen e ines

Allgemeinen, e ines A b s t r a k t e n o d e r sch l i ch t e ines anderen . Weil s ie z u n ä c h s t

etnschaulich da r s t e l l en , k ö n n e n s ie ihre k o n k r e t e n Funk t ionen e inze ln wahrnehmen .

Diese k o n k r e t e n Funkt ionen, d ie d e r Brockhaus u n t e r d e m S t i chwor t »Modell«

e rwähn t , wiederholen a u f a l lgemeiner Ebene im wesen t l i chen , w a s a u c h d e n Archi ­

t e k t u r m o d e l l e n zugeschr ieben wird .

M a n k a n n n u n f ü r m a ß s t a b g e t r e u e Model le v o r edlem s e c h s Funk t ionsa r t en f e s t ­

ha l t en . 1 6 Die h i s to r i s ch ä l t e s t e i s t wahrscheinl ich ihre kultische Funkt ion .

10 Blockhaus (1986ff) Bd. I. 83 1 6 Für einzelne Unterarten des maßstabgetreuen Modells oder gegliedert nach bestimmten Detailaspekten lassen sich natürlich auch differenziertere Unterteilungen der Modellverwendung

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CI.I) Gegenständliche Modelle 33

Im allgemeinen waren die ersten Modelle Konkretisierungen von Ideen oder Handlungen, die für die primitiven Religionen bedeutungsvoll waren oder die ihren Sinn aus traditionellen Mythen erhielten. Eines der bekanntesten Beispiele aus dem Alten Ägypten ist das sogenannte Totenschiff, das mit den Toten begra­ben wurde, um ihren Seelen das Überqueren des Nils zu erleichtern.17

Hierhe r gehören a u c h die Vot iv- u n d S t i f t e rmode l l e . Vot ivgaben w e r d e n v o n d e n

Gläubigen a n heiligen S t ä t t e n , b e s o n d e r s a n W a l l f a h r t s o r t e n , d i e f ü r d ie Präsenz

wunde r t ä t i ge r S t a t u e n o d e r Bilder bekann t s ind , n iedergelegt , u m die Hei l igen u m

H i l f e anzuf lehen . Die k o n k r e t e Bi t te wird z w a r m e i s t au f k le inen Bi ld ta fe ln d a r g e ­

s t e l l t u n d s o d e m Ange f l eh t en übe rmi t t e l t ; zuwei len bed ien t m a n s ich a b e r a u c h

p la s t i s che r Model le . Sol l beispie lsweise e in v e r l e t z t e s Glied o d e r e in e r k r a n k t e s

O r g a n gehe i l t werden , wird e in Model ! d e s b e t r e f f e n d e n Körper te i l s in W a c h s

o d e r Si lber h e r g e s t e l l t u n d a m W a l l f a h r t s o r t deponie r t (Abb. 5) .1 6

finden. So schreibt z.B. Heydenreich über die Funktionen des Architekturmodells: "Das Archi­tekturmodell ist von jeher zu verschiedensten Zwecken verwendet worden» systematisch sind vor allem zu unterscheiden: a) die eigentlichen Entwurfsmodelle (Gesamt- und Teilmodelle), herge­stellt zur Veranschaulichung eines geplanten Baus oder Bauteils: - b) Modelle nach gebauten Architekturen mif sehr untersciu'ed/icher Bedeutung, nämlich: 1. Kontrollmodelle, in Bauhütten oder ArchitektenWerkstätten von einem bestehenden Bauwerk oder Werkteil nachgefertigte Mo­delle, die als Mittel zur Veranschaulichung der Konstruktion (z.B. für spätere Reparaturen oder Bauerweiterungen) dienent 2. Lehrmodelle, eine Abart der Kontrollmodelle, hergestellt als Mustertypen zu vorwiegend didaktischen Zwecken in technisch-konstruktiver oder formal-ktlnst-lerischer Hinsichti 3. Erinnerungsmodelle von zum Abbruch bestimmten Bauten/ 4. Stadtmodelle, eine Sonderform des Architekturmodells: plastische Stadtpläne, die oft fortifikatorisch-strategi-sehen Zwecken dienen (...)t 5. Votiv- und Stiftermodelle, mehr oder minder getreue Nachbildun­gen von gebauten Architekturen, vorwiegend Sakralbauten, die als Votivgeschenke dargebracht oder als Attribute dem Bilde entweder des Stifters oder des hl. Schutzpatrons beigegeben wer­den (meist in der Hand gehalten)> - c) Idealmodelle (Phantasiemodelle), die in der profanen und sakralen Kunst vorkommen, z.B. in der Form von Tabernakeln und Baldachinen, als Kult­gerät (Ziborien, Monstranzen, Reliquiare) oder als reine Phantasiebildungen des Kunstgewer­bes. " Heydenreich (1937) 921f 17 Jammer (1965) 167 18 "Votive objects need not necessarily be pictures or sculptures, or painted glass, or ear­thenware medallions. Anyone who has even the slightest aquaintance with the phenomenon will be familiar with the small metal limbs, digits, breasts, eyes, ears, noses, and mouths that se/ve as votive objects - not only in the great votive places of the earth (where they are often as prominent as any other form) but also at more modest shrines and chapels, and even in front of any makeshift shrine, say the picture of the Virgin with a candle before it (...). These are mediators of thanks too. thanks for the preservation of the part of the body concerned. Wax is also popular as the medium for making ex-votos of parts of the body, or of infants saved in childbirtht it has the additional advantage of actually looking rather like flesh - especially if tinted(...)." Freedberg (1989) 157

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Was ist ein Modell

Abb. 5: Kultische Modelle: Sala dos Milagros

Nosse Senhor do Bonfim, Salvador, Bahia, Brazil (1971)

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C1.0 Gegenständliche Modelle 35

Schließlich ließ s ich d e r S t i f t e r e ine r Kirche ge legent l ich m i t d e m Model l se iner

S t i f t u n g da r s t e l l en , u m s o seine Handlung anschaul ich zu dokument i e ren u n d z u

über l ie fe rn .1 9 F ü r d iese Model le i s t bezeichnend, daß s ie »gleichsam ' symbol i ­

s c h e Formen ' v o n Arch i t ek tu ren« 2 0 s ind. D a h e r m u ß in ih rem Fall d ie Ähnl ich­

k e i t zwischen Vorbi ld u n d Nachbild Im Gegensa tz zu anderen F o r m e n d e s Mode l l ­

gebrauchs n u r s e h r ger ing sein.2 1

Model l e können zwei tens v o n dekorativem C h a r a k t e r sein . A l s so lche schmücken

s i e z u m Beispiel d ie f ü r s t l i c h e n K u n s t - u n d W u n d e r k a m m e r n d e r f r ü h e n Neuzei t .

(Abb. 6a u n d b )2 2

D r i t t e n s dienen Model le dazu, d ie unterschied l ichen Vor s t e l l ungen d e r versch ie ­

d e n e n a n e inem Produkt ionsprozeß be te i l i g t en Par te ien z u ve rmi t t e ln . Sie haben

a l s o kommunikative Funkt ionen. Das ze ig t s i ch b e s o n d e r s deu t l i ch a n A r c h i t e k t u r ­

m o d e l l e n (Abb. 7); z u n ä c h s t e t w a in d e r W e t t b e w e r b s p h a s e , während d e r versch ie ­

d e n e Arch i tek ten ihre E n t w ü r f e d e m Bauherrn u n d d e r Öf fen t l i chke i t vo r s t e l l en .

1 9 Für christliche Stiftermodelle: "Das älteste mir bekannte Beispiel ist die (restaurierte) Fi­gur des Papstes Felix IV (526-530), der in den Mosaiken von San Cosma e Damiano als Stifter mit der Kirche dargestellt istt etwas später der Bischof Ecclesius in S. Vitale zu Ravenna und

der Bischof Ecfrasius (524-556) in Parenzo, welche beide die Modelle ihrer Kirchen dem Hei­land darbringen, (...). Auch fehlt es nicht an Anzeichen, dass es schon im Altertum derartige Stifterdarstellungen gab, so dass sich eine Continuität der Kunstübung auch hierin herausstellt." Benndorf (1902) 178f 20 Heydenreich (1937) 933. Vgl a. Benndorf (1902) 182: "Mochten Modelle für die Entste­hung des Stiftermotivs, wie immerhin wahrscheinlich bleibt, den Anstoß gegeben haben, so ent­wickelte sich jedenfalls in der Fortverwertung des Motivs ein allgemeiner symbolischer Sprach­gebrauch, in dem der ursprüngliche Sinn allmählich zurücktrat oder ganz verloren gieng." 2 1 Zu mittelalterlichen Architekturmodellen heißt es z.B.: "Das Stiftermodell erhält mehr und mehr die annähernde Gestalt des gestifteten Baus (...), ohne aber immer ein Abbild des konkre­ten Entwurfsmodells sein zu sollen, vielmehr ist der Modellwert historisch meist gering und da­her -von möglichen seltenen Ausnahmen abgesehen- vor zu weitgehenden Rückschlüssen auf die Urgestalt eines Bauwerks aus der Form des Stiftermodells zu warnen." Heydenreich (1937) 934 Man kann wohl generell sagen, daß es sich bei kultischen Modellen um eine Extremform han­delt, da der Ähnlichkeitsaspekt in ihnen zugunsten einer Bezeichnungsfunktion sehr weit zu­rücktreten kann, obwohl man auch hier natürlich nicht ganz ohne Nachahmungselemente aus­kommt. Dennoch heifit das nicht, daS Modelle in anderen Funktionen nun zwangsläufig einen hohen Grad von Ähnlichkeit aufweisen müssen. Selbst zu Forschungszwecken kann sie sich zum Beispiel auf wenige Merkmale beschränken. Gernot Wendler erwähnt hier das Beispiel von Fischattrappen, mit deren Hilfe man herausfinden wollte, an welchen Kennzeichen frisch ge­schlüpfte Fische ihre Eltern erkennen. "Dabei entfernen sich die Modelle freilich oft weit vom Original und können ihm für unser menschliches Urteil völlig unähnlich werden." Wendler (1965) 287 2 2 Zu Kunst- und Wunderkammern generell vgl. immer noch Schlosser (1923)s jetzt auch Bredekamp (1993). Die Exponate in den Wunderkammern lassen sich allerdings nicht immer allein unter ihrem dekorativen Aspekt betrachten. Vor allem Bredekamp betont, dafl sie oft ge­radezu das Laboratorium wissenschaftlicher Erkenntnisse sind.

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o n Was ist ein Modell 36

Abb. 6a: Schau-Modelle Jean Courtonne: Das Physik-Kabinett Bonnier de la Mossons,

Tuschzeichnung im Album, Bibliotheque dArt J. Doucet (zu sehen sind u.a. Modelle von Kränen und ein Fassadenmodell des Louvre)

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o n Was ist ein Modell 37

Abb. 6b: Schau-Modelle Jean Courtonne: Das Physik-Kabinett Bonnier de la Mossons,

Tuschzeichnung im Album, Bibliotheque de'Art J. Doucet (zu sehen sind u.a. Kirchen-, Palais- und Festungsmodelle)

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(LH Was ist ein Modell 38

Geiicncanfidirc.

Abb. 7: Architekturmodell Pavia, Modell des Doms, um 1500

oben: Gesamtansicht, unten: Innenansicht

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(1.1) Gegenständliche Modelle 39

Den im Lesen t echn i sche r Pläne wenig g e ü b t e n Laien wi rd d a m i t e inerse i t s e in

Mi t t e l d e r Entsche idung a n d ie H a n d gegeben, ande re r se i t s können s ie d a r a n ih re

Änderungswünsche e r l äu t e rn . Schließlich k ö n n e n d ie se Mode l l e d a n n a u c h zwi ­

s c h e n d e m p lanenden Arch i t ek ten u n d d e n a u s f ü h r e n d e n Handwerke rn ve rmi t t e ln .

Brunel leschis Model le d e s D o m s v o n Florenz s i che r t en z u m Beispiel d ie U m s e t ­

zung se iner Ideen a u c h Uber se inen T o d h i n a u s . 2 3 Gerade in d e r Ause inan­

de r se t zung m i t d e m Bauher rn o d e r d e n N u t z e r n wi rd e ine Idee, e in Pro jek t a u c h

s c h o n a m Model l e n t w i c k e l t . 2 4

V o n d e r kommunikat iven Funkt ion d e r Model le i s t v ie r t ens ihre didaktische n i ch t

w e i t e n t f e r n t . Abbi lder i m kleinen M a ß s t a b f u n g i e r e n a l s Vorbi lder im Lehrbet r ieb

z u m Beispiel v o n Bauhü t t en , a b e r a u c h in anderen Bereichen: ana tomische Mode l l e

im Schulunter r ich t , G loben in d e r Geographie, Mode l l e d e s DNS-Moleküls in d e r

Mikrobiologie (Abb. 8) , A tommode l l e in d e r Physik.

Das l e t z t e Beispiel h a t a l lerdings e ine Besonderhei t . Genaugenommen s ind A t o m ­

mode l l e Vors te l lungsmode l l e . Sie veranschaul ichen e t w a s , d a s in d ie se r F o r m

ü b e r h a u p t n i ch t ex i s t i e r t . Diese Veranschaul ichungsmodel le h a b e n d a h e r f ü n f t e n s

e h e r eine psychologisch-heuristische Funktion.

Sechs tens k a n n m a n schl ießl ich e ine genuin kognitive Dimension a n m a ß s t a b -

g e t r e u e n Model len f e s t h a l t e n . Dies ze ig t s i c h i n A n s ä t z e n s c h o n in a l l en E n t ­

w u r f s p h a s e n e ine r j e d e n handwerkl ichen Tät igkei t . Besonders deu t l i ch wird d iese r

A s p e k t a b e r im wissenschaf t l i chen Bereich. D e r Brockhaus de f in ie r t f ü r »Modell

(Naturwissenschaf ten)«:

...ein Abbild der Natur unter Hervorhebung für wesentlich erachteter Eigenschaf­ten und Außerachtlassen als nebensächlich angesehener Aspekte. Ein Modell in diesem Sinn ist ein Mittel zur Beschreibung der erfahrenen Realität, zur Bildung von Begriffen der Wirklichkeit und Grundlage von Voraussagen Uber künftiges Verhalten des erfaßten Erfahrungsbereichs.

Auch h ier w e r d e n a l s o z u n ä c h s t wieder d e r Abbildcharakter d e s Model l s , d ie

E igenscha f t selektiver Da r s t e l l ung (Hervorhebung, Außerach t lassen) sowie seine

Zweckgebundenhei t u n d se in Mittelcharakter he rvorgehoben: E s d ien t dazu , d ie e r ­

f a h r e n e Real i tä t zu beschreiben, zu i h r p a s s e n d e Begriffe zu bilden u n d schl ießl ich

d a s Verha l t en d iese r Wirkl ichkei t i n we i te ren S i tua t ionen vorherzusagen.

Die Angemessenhei t a n diese Real i tä t , s o he iß t e s we i te r , se i d u r c h d e n E r f o l g

d e s Model ls , a l s o d ie Mögl ichkei t m i t ihm z u t r e f f e n d e Voraussagen z u machen ,

gewähr le i s t e t u n d auße rdem d u r c h d e n Grad d e r Kons i s tenz , d e n e s in se inen Be­

schre ibungen er re icht : »e s i s t u m s o mäch t ige r , j e g r ö ß e r d e r v o n ihm besch r i e ­

b e n e Er fahrungsbere ich is t .«

2 3 Vgl. die Rolle von Modellen für den Bau des Florentiner Doms (sowohl in der Wettbe­werbs- und Planungs- als auch in der Ausführungsphase): Briggs (1929) 179f. 2 4 Für den Bereich des Designs vgl. dazu auch Stephan (1993).

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Was ist ein Modell

Abb. 8: Modell eines DNS-Moleküls, vorgeführt von dem Genetiker K. Mather

Photo: BBC, nach: Bernal (1978) III, 844

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(1.1) Gegenständliche Modelle 41

Während bei den bisher betrachteten maßstabgetreuen Modellen der Blick immer nur auf statisch-räumliche Beispiele gerichtet war, schieben sich nun die dynamischen Varianten, Bewegungsmodelle (Abb. 9), stärker in den Vordergrund.

Schließlich kommt sogar der Zusammenhang des Model ls mit dem Experiment2 5

und der in ihm erscheinenden Wechselwirkung von Hypothesenbildung und Ver­

suchslauf in den Blick:

Modelle entstehen aus der innigen Wechselwirkung zwischen Hypothesenbildung und Beobachtung oder, in den exakten Naturwissenschaften, messendem Experi­ment...

Aufgrund einer Hypothese wird a l so ein Versuchsobjekt hergestel l t , ein Modell

des ursprünglichen Untersuchungsbereichs. Diese Versuchsobjekte simulieren nun

die Wirklichkeit, die s i e repräsentieren. S o können am Modell best immte Verhal­

tensweisen seines Originals abgelesen werden; die Hypothesen werden bestät igt

oder widerlegt. Dennoch s t e l l t s ich das Verhältnis v o n Modell und der durch e s

repräsentierten Wirklichkeit keineswegs ganz problemlos dar.

Modellversuche sollen das physikalische und technische Verhalten des dargestell­ten Gebildes aufklären; so z.B. die Messung der Luftkräfte an einem Flugzeug­modell im Windkanal oder des Widerstandes eines Schiffes im Wasser bei einem Schleppversuchj oder z.B. Untersuchung elastischer Spannungen in technischen Werkstücken unter Benutzung durchsichtiger Modelle. Die Übertragung der am Modell gewonnenen Ergebnisse auf die Wirklichkeit erfordert jedoch nicht nur die geometrische Ähnlichkeit des Modells mit dem Vorbild, sondern auch eine Umrechnung der gemessenen Gröfien nach gewissen Modellregeln..26

Bei der Interpretation eines Modells bedarf e s a l so best immter Korrelationsregeln

oder Interpretationskonventionen.

Unter Umständen werden Modelle aufgrund der Ergebnisse ihres Versuchslaufs

verändert oder ersetzt:

Sie müssen immer wieder der Erfahrung angepaßt und. sofern das in einer konsi­stenten Weise nicht möglich ist, verworfen und durch neue Modelle ersetzt wer­den. Wesentliche Prozesse sind dabei die erkenntnistheoretische Kritik der ver­wendeten Begriffe und, falls erforderlich, deren Umdeutung oder Neubildung. Eine Modellvorstellung fußt i.d.R. auf früherer Erkenntnis, wird im Bedarfsfall durch Postulate erweitert und mündet idealerweise in einer umfassenden Theorie. Ein bekanntes Beispiel aus der Physik ist die Entwicklung des Atom-Modells.

2 5 Max Black zum Beispiel definiert den Begriff des "maßstabgetreuen Modells« (>scale mo­dele) ausdrücklich so umfangreich. Er umfasse jede Ähnlichkeit materieller Objekte, Systeme oder Prozesse, ob in der Wirklichkeit oder in der Vorstellung, die ihre jeweiligen Proportionen bewahren. Das schließt solche Experimente ein, in denen chemische oder biologische Prozesse künstlich verlangsamt werden (»slow-motion-Experimente«), und auch solche, in denen ein Ver­such gemacht wird, soziale Prozesse im kleinen nachzuahmen." Black (1962) 220 26 Brockhaus (1966ff) 678f

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o n Was ist ein Modell 42

Abb. 9: Kinematische Modelle entworfen in: Franz Reuleaux »Atlas zur theoretischen Kinematik« (1875)

oben: Doppelte Punktverzahnung zwischen einem dreizähnigen zykloidverzahnten Rad und einer Zahnstange; unten: Kegelförmige Reibräder mit zwei Hohlkegeln und einer Planscheibe

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C I . I ) Gegenständliche Modelle 4 3

Gerade an der letzten Passage zeigt sich aber, daß »Modell« nicht nur eine an­schauliche Repräsentation theoretischer Hypothesen meinen kann, sondern unter Umständen se lbst in theoretischer Form erscheint. Solche theoretischen Modelle werfen aber Probleme und Fragen ganz eigener Art auf. Theoretische Modelle unterscheiden sich von gegenständlichen in stärkerem Maße als diese sich jeweils untereinander. Sie müssen daher separat behandelt werden.

Doch bevor zu den theoretischen Modellen übergegangen werden kann, müssen noch zwei weitere Arten des gegenständlichen Modells untersucht werden. Zuerst ist eine Form zu nennen, die Max Black als Analogmodell bezeichnet hat.2 7

Bisher wurden natürliche und maßstabgetreue Modelle betrachtet. Die sogenannten Analogmodelle unterscheiden sich nun von den beiden anderen Arten des Modells durch einen höheren Grad an Abstraktion. Sie zeichnen sich durch einen Wechsel des Darstellungsmediums aus; s o wenn mein zum Beispiel hydraulische Modelle konstruiert, um das Verhalten ökonomischer Systeme symbolisch zu re­präsentieren. Es kommt nicht auf größtmögliche Ähnlichkeit, sondern vielmehr auf die Identität der Struktur an. Deis Hauptprinzip der Analogmodelle i s t also Iso­

morphic.20 »Die Identität der Struktur«, schreibt Black, »verträgt sich nun mit der größten Beuidbreite des Inhalts - die Möglichkeiten, Analogmodelle zu kon­struieren, sind daher endlos.«29 Allerdings wächst durch diesen höheren Grad ein Abstraktheit, der großen Differenz zwischen Modell und Referenzbereich, auch die Gefahr der Fehlinterpretation. »Analogmodelle liefern plausible Hypothesen, keine Beweise.«30

Der Begriff des Analogmodells verweist auch auf die terminologische Differen­zierung zwischen »Ähnlichkeit« und »Analogie«. »Ähnlichkeit« bezieht sich in die­ser Unterscheidung auf Eigenschaften, »Anedogie« auf Relationen.31 Allerdings hat sich diese Differenzierung nicht konsequent durchgesetzt. Ähnlichkeit wird - im Sinne eines übergreifenden Terminus- o f t auch auf Phänomene mit gleicher Struk­tur eingewendet. Auch im speziellen Fall der Analogmodelle halte ich den Begriff

27 Black (1962) 222f 28 Black (1962) 222. 29 Black (1962) 223 30 Black (1962) 223 3 1 So erwähnt Max Black selbst z.B. im Zusammenhang mit der Metapher diese Unterschei­dung. die von Richard Whateley gemacht wurde: "Er (Whateley) fährt fort einen Unterschied zu machen zwischen 'Ähnlichkeit, ganz streng verstanden. dJi. direkte Ähnlichkeit zwischen den fraglichen Objekten selbst (wie wenn wir von tischebener Landschaft sprechen oder großen Wellen mit Bergen vergleichen)' und 'Analogie als Ähnlichkeit von Verhältnissen -einer Simi-larität der Relationen, in denen sie zu bestimmten anderen Objekten stehent wenn man z.B. vom Licht der Vernunft oder von Enthüllung spricht, oder einen verwundeten und gefangenen Krieger mit einem gestrandeten Schiff vergleicht/ " Black (J983a) 66 mit Zitaten aus Pichard Whateley: "Elements of Rhetoric" 1846, S. 280. Vgl. auch Ricoeur 0986) 147. Ortony (1979b) 187f. Kluxen/Schwarz/Remane (1971). Thiel (1980).

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C D Was ist ein Modell? 4 4

für unglücklich gewählt. Denn Analogieverhältnisse im strengen Sinne sind bei an­deren Modelltypen ebenfalls von großer Bedeutung, s o teilweise schon bei maß­stabgetreuen Modellen (Welche Ähnlichkeit hätte ein Globus mit dem Planeten Erde?), aber vor allem bei theoretischen Modellen. Ich schlage daher vor, gegen­ständliche Modelle, deren Ähnlichkeit mit dem Referenzobjekt auf einer Uberein­stimmung in der abstrakten Struktur beruht, als isomorphe Modelle zu bezeich­nen.3 2

Schließlich soll noch eine Art des gegenständlichen Modells erwähnt werden, die sich fundamental von den drei bisher betrachteten unterscheidet. Dazu noch ein­mal der Brockhaus. Unter »4) Mode« heißt es:

...als Einzelstück angefertigtes Kleidungsstücks kann abgewandelt als Vorlage für die serienweise Herstellung (Konfektion) dienen.

In dieser kurzen Definition finden sich zwei Bedeutungsvarianten des Ausdrucks »Modell«. Im zweiten Teil (»Vorlage für die serienweise Herstellung«) meint e s soviel wie »Prototyp«. Als Prototyp unterscheidet e s sich aber nicht von anderen maßstabgetreuen Modellen. Ausgezeichnet i s t er nur durch den hohen Grad an Ähnlichkeit mit den einzelnen Produkten, die ihm nachgebildet werden. Das Modellkleid kann aber auch -darauf weist der erste Teil der Definition hin­ein Einzelstück sein. Dann ergibt sich die paradoxe Situation, daß die zweipolige Struktur, die das Modell in allen vorangegangenen Beispielen ausgezeichnet hat, in sich zusammenfällt. Bis jetzt korrespondierte einem Original notwendig immer eine Nachahmung, wobei o f fen bleiben kann, ob das Modell im je einzelnen Fall

das nachzuahmende Original oder seine ausgeführte Abbildung meint. Das Modell­kleid als Unikat steht aber für sich, der Ubertragungsprozeß i s t ihm genommen. Eine ähnliche Verwendungsweise des Begriffs findet man zum Beispiel bei Auto­modellen. Jedes einzelne Exemplar etwa des berühmten Ford »Modell T« i s t ein Ford »Modell T«, als wäre vom Prototypen nicht nur die Struktur und Funktions­weise, sondern auch sein Modellcharakter übertragen worden. Zwischen allen Exemplaren dieses Fahrzeugtyps herrscht -zumindest im Prinzip- eine größtmög­liche Ähnlichkeit; jedes Exemplar kann für jedes beliebige andere einstehen; jedes kann jedes andere jederzeit in gleicher Hinsicht potentiell repräsentieren, und keines repräsentiert in actu von sich aus, solange e s nicht durch einen Willkürakt,

3 2 Durch ihren höheren Abstraktionsgrad haben die isomorphen Modelle schon viele Ähn­lichkeiten mit den isomorphen Modellen. Sie heben sich damit stärker von den anderen Arten des gegenständlichen Modells ab. Man könnte die Modelltypen -wie Black es tut- mit gleichem Recht auch nach ihren Abstraktionsgraden: D maßstabgetreue Modelle. 2) isomorphe Modelle, 3) theoretische Modelle einteilen, ich ziehe es aber vor. die isomorphen Modelle als Untergrup­pe der gegenständlichen Modelle zu behandeln, da sie selbst noch materiell konstruiert werden müssen und dadurch anderen Verifikationsbedingungen unterliegen als die theoretischen Model­le. Denn besonders in ihrem Grad von "Willkürlichkeit" bei der Konstruktion unterscheiden sich theoretische Modelle fundamental von allen Formen des gegenständlichen Modells.

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C I . I ) Gegenständliche Modelle 4 5

in dem ein einzelner Wagen dazu ausersehen wird, den Typ schlechthin zu repräsentieren, herausgehoben wird. Falls aber ein Exemplar solcherart heraus­gehoben wird, repräsentiert e s den Typus nicht im Sinne eines Modells, sondern als Beispiel. Im Unterschied zum Modell i s t das Beispiel eine nachgeordnete Dar­stellung des Allgemeinen in einem Besonderen, etwas, das einen allgemeinen oder abstrakten Tatbestand veranschaulicht.33

Dennoch spricht man weiterhin vom »Modell T«. Es i s t der Typus selbst, der als Modell bezeichnet wird. Der ursprüngliche tlbertragungsvorgang, für den ein Pro­totyp als Modell diente, i s t längst erloschen, der Begriff aber erhalten geblieben. Sprachlich könnte man die Entstehung dieser Bedeutung als doppelte Synekdoche zu erklären versuchen. Der Begriff i s t zunächst vom Original, vom »Stammvater«, auf die ganze Gattung und von dort wieder auf jedes einzelne Exemplar Ubertra­gen worden. Dennoch: Handelt e s sich hier lediglich um eine Polysemie, oder ist auch diese Variante des Modellbegriffs noch produktiv in ein übergeordnetes Kon­zept einzubeziehen? Auf diese Frage kann erst im weiteren Verlauf der Unter­suchung eine Antwort gegeben werden. Sieht man nun von dieser Sonderform des Begriffs ab, s o haben sich im wesent­lichen drei markante Ausprägungen des gegenständlichen Modells ergeben: das natürliche, das maßstabgetreue und das isomorphe. Für alle drei hatten sich nun eine Reihe gemeinsamer Merkmale gezeigt. Bevor diese Merkmale aber überblicksartig zusammengestellt werden können, muß ein zentraler, in sich widersprüchlich erscheinender Aspekt des Modells näher untersucht werden. Denn der Modellbegriff scheint in seinen verschiedenen Ausprägungen ein geradezu un­vereinbares Eigenschaftspaar aufzuweisen: Einerseits wurde das Modell als Vor­bild, andererseits als Nachbild verstanden. Dieser Widerspruch läßt sich jedoch auflösen. Einen Hinweis gibt dafür die weit verbreitete Formulierung vom »Modell und seinem Original«. So schreibt Max Black zum Beispiel: »Wenn wir ein maßstabgetreues Modell herstellen, versuchen wir (...), e s durch die Reproduktion einiger Merkmale (...) dem Original ähnlich zu machen.« Oder auch: Der Zweck des Modellbaus sei es , »ausgewählte Merkmale des 'Originals'« in einer gut handhabbaren und zugänglichen Verkörperung zu re­produzieren.34

Die Verwendung des Begriffs »Modell« in Kontrast zu dem des Originals fixiert aber eine einseitige Dominanz, die nur solange plausibel erscheint, wie man sich auf das maßstabgetreue Modell beschränkt. Schon bei anderen gegenständlichen Modellen -und, wie sich erweisen wird, erst recht bei nicht-gegenständlichen-

3 3 Der Begriff des Beispiels muß später noch präzisiert werden. Vgl. dazu auch Buck (1971), Peirce (1983) 64ff, Rohbeck (1985). und entsprechend bei Nelson Goodman das Phäno­men der Exemplifikation: Goodman (1973) 52-67, (1976) 62-77, Goodman/Elgin (1989) 35-40, 55-64. 96-106. 34 Black (1962) 220f

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(1) Was ist ein Modell? 46

gerät man mit dieser Unterscheidung in Schwierigkeiten.35 Denn das Original ist in dieser Gegenüberstellung ein unverändert Vorausgesetztes, an dem sich das Modell orientiert. Diese Charakterisierung paßt aber nur auf die Formen des Modells, in denen e s als Nachbild erscheint. Überall dort, w o das Modell hingegen als Vorbild fungiert, fäl l t die Differenz in sich zusammen. So läßt sich zum Beispiel in der Malerei gar kein Original mehr angeben, für das das Modell ein Modell sein könnte - nicht für das Indivi-dual-Modell, e s sei denn, man sagt, jemand säße für sich selbst Modell und wol l ­t e somit eine Art modelltheoretische Ich-Spaltung einführen, auch nicht für das Typen-Modell, e s sei denn man kehrt zum Konzept der Platonischen Ideen zurück. Noch weniger kann natürlich das nach dem Modell geschaffene Bild als Original bezeichnet werden. Sollte man nun daraus den Schluß ziehen, daß sich hinter dem Ausdruck »Modell« eigentlich zwei verschiedene Begriffe verstecken, zum einen der des Modells im Sinne von »Vorbild«, zum anderen im Sinne von »Nachbild«? Ich denke, das wäre eine Ubereilte Konsequenz, denn beide Phänomene lassen sich nach derselben Struktur beschreiben. Das wesentliche an der ModelIbeziehung is t meines Erach­tens ein Ubertragungsvorgang. Ein bestimmtes Ensemble von Eigenschaften wird aus einem Bereich a, dem Modell, in einen zweiten Bereich b übertragen. Das

Modell im Sinne des Vorbilds ist gewissermaßen das Original. Beim natürlichen Modell i s t das ohne weiteres deutlich. Die Person, das Objekt, die Szenerie i s t das Gegebene, das nachgeahmt wird. Das Original i s t das Vor-Bild, von dem einige Züge im Nach-Bild reproduziert werden. Aber auch das maßstabgetreue Modell -nehmen wir als Beispiel einen Globus- i s t als Modell ein Vorbild, mit dessen Hilfe wir gewisse Rückschlüsse auf Gestalt und Struktur der Erde ziehen. Da die Erdkugel als ganze für uns nicht unmittelbar sinnlich erfahr­bar ist , brauchen wir ein Vorbild, an dem wir etwa den Umriß und die Lage ein­zelner Länder, Kontinente und Ozeane ablesen. Solche Erkenntisse projizieren wir dann auf die reale Erdoberfläche. Dieser Übertragung is t ein anderer, der Struktur nach aber gleichartiger tlber-tragungsprozeß vorausgegangen. Denn der Globus wurde nach dem Vorbild der realen Erdgestalt angefertigt, wobei man hier davon absehen kann, welche theore­tischen und praktischen Vermittlungsschritte von dem anschaulich nicht »global« erfahrbaren Original zu der gut zugänglichen Imitation führten. Ähnliches gilt für andere maßstabgetreue Modelle, wie zum Beispiel kleine aus Plastikelementen zu­sammengesetzte Flugzeugimitationen. Wenn ein maßstabgetreues Modell als Nachbild bezeichnet wird, Überschneiden sich demnach zwei verschiedene, aber strukturanaloge Prozesse. Im ersten stand

3 5 Auch Black will die am mafistabgetreuen Modell gewonnenen Kennzeichen auf andere Modellformen übertragen! vgl. Black (1962) 222 (Vergleich mit Analogmodellen) und 230 (Ver­gleich mit theoretischen Modellen).

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Ci.1) Gegenständliche Modelle 4 7

für die Produktion der verkleinerten Flugzeugimitation oder des Globus (Nachbild) ein reales Flugzeug bzw. die wirkliche Erdkugel (Vorbild) Modell. Die dabei ent­standene Nachbildung wird nun zweitens selbst zum Modell, wenn der erste Übertragungsvorgang längst abgeschlossen 1st und das Produkt zum Ausgangs­punkt eines zweiten Prozesses wird. In diesem zweiten Prozeß i s t das Miniatur­flugzeug das Vorbild, ein Muster, mit dessen Hilfe man beispielsweise Flugzeuge des fraglichen Typs wiedererkennen kann. Kommen wir nun noch einmal auf natürliche Modelle zurück. Im Gegensatz zu maßstabgetreuen Modeilen weisen sie keine solche Verschränkung zweier struk­turanaloger Prozesse auf. Bei ihnen findet nur eine klare Übertragung statt: vom natürlichen Modell auf das Bild. Dennoch i s t zumindest auch das Typenmodell eine bewußt gesetzte Konstruktion, die auf etwas Vorausgesetztes verweist. Van Ostades Auswahl einer Person, die als Modell für seine Maler-Darstellung fun­gieren sollte, war geleitet von einer bestimmten Vorstellung, wie solch ein Maler auszusehen habe. 36

Im Modell überschneiden sich also zwei Verweisungsprozesse: zum einen die Übertragung, zum anderen die Repräsentation, die der Übertragung notwendig vor­ausgeht. Das Modell i s t die Einheit dieser beiden Referenzen. Es wird als Vorbild gesetzt, muß dazu aber ein anderes, das e s repräsentiert, voraussetzen.

Folgende Kennzeichen des Modellbegriffs lassen sich nun festhalten3 7: 1) Zunächst einmal i s t ein Modell relational. Es fungiert als ein Pol einer Modell-beziehung. Es verweist immer auf einen anderen Pol, etwas, für das e s Modell steht. Damit i s t ein Gegenstand als Modell von einem Gegenstand als dem reinen Ding, das dem Modell zugrundeliegt, zu unterscheiden: ein Modell von seinem Trägerobjekt. Eine Person oder ein Gegenstand ist zunächst einmal nur eine Per­son oder ein Gegenstand. Erst indem sich diese Person zum Beispiel für ein Por­trät bereitstellt und sich somit auf etwas anderes bezieht, wird sie zum Modell. Maßstabgetreue Modelle bestehen in der Regel nicht als reine Objekte, bevor sie in eine Modellbeziehung treten, sondern werden schon als Modell produziert. Den­noch ist an ihnen immer das Trägerobjekt und ein Modell, das sich durch seinen Verweischarakter konstituiert, zu unterscheiden.

2) Die Modellbeziehung i s t ein Ubertragungsvorgang> das Modell fungiert darin als Vorbild.

3 6 Wie diese Vorstellung selbst zustande kommt, ist allerdings noch einmal ein weiteres Problem. 3 7 Meine Merkmalliste deckt sich weitgehend mit derjenigen, die Black für maßstabgetreue Modelle aufstellt. Reihenfolge und Formulierung weichen aber aus Gründen, die sich aus der Sache ergeben, ab. Vgl. Black (1962) 220f. Vorstudien dazu bei Hutten (1954).

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C D Was ist ein Modell? 48

3) Modelle sind Repräsentationen eines Objekts, einer Struktur oder eines Prozes­ses; an ihnen können bestimmte Eigenschaften oder Verhaltensweisen abgelesen werden. Das Repräsentierte i s t nicht deckungsgleich mit dem zweiten Pol des Ubertragungsprozesses. Das Aktmodeil repräsentiert bestimmte allgemeine Strukturen des menschlichen Körperbaus.38 Das Architekturmodell zeigt stellvertretend für das geplante Bauwerk dessen wesentliche Züge. Naturwissenschaftliche oder technische Modell­versuche simulieren das Verhalten eines durch sie dargestellten Untersuchungs­gegenstandes.

Gelegentlich können allerdings das Repräsentierte und der zweite Pol des Uber-tragungsvorgangs zusammenfallen, s o etwa bei Miniaturnachbauten von bereits existierenden Flugzeugen oder Schiffen.

4) Die Bedingung, die den Ubertragungsvorgang erst ermöglicht, i s t meist die Be­ziehung auf ein Vorausgesetztes, das nicht selten selbst ein Nachbild ist. Man kann Modelle also versuchsweise als Einheit von Nachbild und VorbilcPQ oder -damit auch natürliche Modelle miteinbezogen werden können- präziser als Einheit

von Vorausgesetztem und Gesetztem bezeichnen.

5) Die Verwendung des Modells beruht auf einer Selektion. Das heißt, daß immer nur einige Merkmale des Trägerobjekts in das Modell eingehen und s o für die Modellbeziehung relevant werden. Zwischen den Merkmalsmengen der beiden Pole dieser Beziehung i s t also immer auch eine bestimmte Differenz konstitutiv. Maß­stabgetreue Modelle repräsentieren zum Beispiel meist nur Farbe und Form, igno­rieren dabei die Größe und o f t auch das Material. Ein und dasselbe Trägerobjekt kann dementsprechend zur Grundlage verschiedener Modelle werden. Ein Mensch kann etwa als natürliches Modell für ein Tafelbild oder eine Photographie seine Silhouette, seine Proportionen und seine Farbe repräsentieren, als natürliches Modell für eine Skulptur hingegen seine dreidimen­sionale Gestalt. In beiden Fällen i s t e s möglich, eiber nicht notwendig, daß e s zu­dem auch seine Größe darstellt.

6) Grundlage der Modellbeziehung i s t die Ähnlichkeit der beiden aufeinander be­zogenen Objekte, Strukturen oder Prozesse. Gewisse Merkmale des Modells und seines Bezugsobjekts werden als identisch vorausgesetzt oder als solche her­

3 8 Schwierigkeiten mag hier das Individual-Modell bereiten, die Person, die für ein Porträt Modell sitzt. Es repräsentiert gewissermaßen sich selbst. 3 9 Damit ist die Einheit von zwei Aspekten eines Gegenstandes gemeint. Denn in der ersten Übertragung erscheint dieses Objekt als Nachbild, in der zweiten als Vorbild. Diese Einheit ist nicht zu verwechseln mit der Modelljbezie/7iing. d.h. einem Übertragungsvorgang selbst, in dem Vorbild und Nachbild zwei Pole bilden und auf zwei verschiedene Gegenstände verteilt sind.

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( l . o Gegenständliche Modelle 4 9

gestellt. Eine Statue ahmt ihr natürliches Modeil nach, sie wird ihm nachgebildet. Das maßstabgetreue Modeil soll eine ähnliche Erscheinung, das isomorphe Modell eine ähnliche Strukur wie ihre jeweiligen Zielobjekte aufweisen. So kann man auch im Peirceschen Sinne von der Ikonizität von Modellen sprechen, obwohl dies bei isomorphen Modellen nur im abstrakten Sinne der Fall i s t . 4 0

7) Der Gebrauch eines Modells se tz t gewisse Interpretationskonventionen voraus. Um ein Modell korrekt zu verwenden, d.h., um eine erfolgreiche Übertragung g e ­wisser Merkmale und Strukturen von einem Ausgangs- auf ein Zielobjekt vorneh­men zu können, bedarf e s eines speziellen Vorwissens. Darin unterscheidet sich das Modell übrigens nicht von anderen Repräsentationsformen. Man muß immer wissen, was repräsentiert wird, muß Konventionen beherrschen, »wie zu lesen sei«. Dieses Vorwissen leitet uns zunächst dazu an, das genaue Verhältnis der identi­schen zu den dlfferenten Aspekten des Modells zu erkennen, die ähnlichen zu be­tonen und die abweichenden zu ignorieren.

Darüber hinaus legt e s fes t , welche Bestandteile des Modells auf welche Elemente der Nachahmung zu beziehen sind. Dies i s t besonders bei isomorphen Modellen von eminenter Bedeutung. Aber auch »maßstabgetreue« Modellversuche benötigen zu ihrer erfolgreichen Interpretation gewisse Korrelationsregeln (wie etwa bei der erwähnten Messung der Luftkräfte in einem Flugzeugmodell im Windkanal).

8) Die Modeilbeziehung i s t asymmetrisch und intransitiv. Ähnlichkeit ist zunächst einmal eine symmetrische Beziehung: Wenn ein Ding a einem Gegenstand b ähnlich sieht, s o ähnelt b ebensosehr a. Obwohl aber Ähn­lichkeit eine bedeutende Rolle bei der Funktion von Modellen spielt, sind Modell­beziehungen selbst nicht symmetrisch. Diesen Charakterzug teilen sie mit ikoni­schen Repräsentationen überhaupt, zum Beispiel mit Bildern, Skulpturen, Nach­ahmungen aller Art.41 Bei Bildern und Nachahmungen i s t das ohne weiteres deutlich: Bilder bilden ihr Original ab, die Originale sind Vor-»Bilder« nur im übertragenen Sinne; sie repräsentieren nie ihr Bild. Nachahmungen ahmen das Ori­ginal nach und nicht umgekehrt. Ließe sich nun entsprechendes nicht auch von Modellen sagen? Die Modellbezie­hung ist ein gerichteter Ubertragungsprozeß. Obwohl nur die ähnlichen Merkmale übertragen werden, scheint dennoch die Umkehrung des Prozesses nicht direkt auf die ursprüngliche Übertragung abbildbar zu sein. So stehen etwa der Globus und die reale Erdkugel jeweils füreinander, aber in je unterschiedlicher Art und Funk­

4 0 Vgl. Black (1962) 221: >In Peirce's terminology, the model is an icon, laterally embo­dying the features of interest in the original. It says, as it were: This is how the original is.'* Peirce selbst unterscheidet drei verschiedene Arten der Ikonizität: Bilder. Diagramme und Bei­spiele, vgl. Peirce (1986) 435f und ausführlicher Peirce (1983) 64ff. 4 1 Vgl. Goodman (1976) 3ff, Danto (1991) 108f

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CO Was ist ein Modell? 50

tion. Es steht zu vermuten, daß das für jeden Prozeß vorauszusetzende Wissen, der Set an Interpretationsregein, der zum Beispiel in den Ubertragungsvorgang eingeht, uns am jeweiligen Trägerobjekt unterschiedliche Merkmale selektieren läßt. Dieses Charakteristikum bedarf jedoch noch der weiteren Klärung. Bis die theoretischen Mittel dazu bereitstehen, soll auch dieser Punkt nur als provisori­sches Merkmal festgehalten werden.

9) Das Modell ist unter anderem als »kognitives Instrument« bezeichnet worden. Aligemeiner formuliert: Es i s t ein Mittel, um bestimmte Zwecke zu verwirklichen. »Das maßstabgetreue Modell«, schreibt Max Black zum Beispiel, »ist entworfen worden, um bestimmten Zwecken zu dienen, ein Mittel für bestimmte Ziele.«42

Wie wir gesehen haben, ist seine funktionale Bandbreite recht groß: Sie umfaßt kultische, dekorative, kommunikative, didaktische, psychologisch-heuristische und kognitive Zwecke. Der Mittelcharakter des Modells wird zwar o f t betont, erschöpft sich dann aber in solch einer Aufzählung möglicher Zwecke oder bleibt sogar völlig ohne Konse­quenzen. Liest man diese Charakterisierung aber vor dem Hintergrund einer ela-borierten Theorie des Mittels, könnte sie erheblich folgenreicher s e i n 4 3 Auch dazu bedarf e s aber zunächst noch einiger anderer Vorklärungen.

42 Black C1962) 220 4 3 Siehe dazu etwa Ruben/Warnke (1979)i Dameiow/Furth/Lef&vre (1983), Rohbeck (1990)) Rohbeck (1993). speziell zum Thema Modell als Mittel: Rohbeck (1986) 121f.

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(1.2) THEORETISCHE MODELLE

Im Bereich der theoretischen Modelle vergrößert sich die Vieldeutigkeit des Modellbegriffs noch einmal um einige Varianten. Nehmen wir dazu ein Beispiel aus der Soziologie. Ein Autor, der sehr häufig den Begriff »Modell« benutzt, i s t Nor­bert Elias. Er meint damit eindeutig theoretische Modelle. Darüber hinaus schillert sein Gebrauch dieses Begriffs aber in verschiedenen Nuancen. So heißt e s zum Beispiel in einer Passage über die Bedeutung soziologischer Theorien:

Theorien ähneln in gewisser Weise einer Landkarte.

und im Fortgang dann:

Theoretische Modelle zeigen wie Landkarten die bisher bekannten Zusammenhän­ge der Ereignisse. Wie Landkarten unbekannter Gegenden zeigen sie dort, wo man die Zusammenhänge noch nicht kennt, weiße Flächen. Wie Landkarten kön­nen sie im Zuge weiterer Unterscheidungen als falsch erwiesen und korrigiert werden. Vielleicht sollte man hinzufügen, daß man sich soziologische Modelle zum Unterschied von Landkarten als Modelle in Zeit und Raum, also als vierdimen-sionale Modelle vorstellen muß.44

Der Gegenstand, von dem Elias hier spricht, wird mit einer Landkarte verglichen. Diesen Gegenstand se lbst bezeichnet er zunächst mit »Theorie«, dann mit »theore­tisches Modell« und schließlich nur als »soziologisches Modell«. »Theorie« und »Modell« werden also im Grunde synonym gebraucht. Das geschieht nicht nur bei Elias häufig, sondern findet sich auch bei vielen anderen Autoren. 4 6

Gelegentlich scheint »Modell« aber auch etwas Unspezifischeres zu meinen, ganz allgemein eine Beschreibung bestimmter Sachverhalte, einen Versuch, gewisse Gegenstände zu erfassen. So verdeutlicht Norbert Ellas zum Beispiel in »Was ist

Soziologie?« die Bedeutung von Machtbalancen im speziellen und die Struktur der Gesellschaft im edlgemeinen an Spielmodellen. Interaktionen, die in bestimmten Spielen wie Schach, Skat, Fußball oder Tennis hervortreten, repräsentieren in nuce soziale Prozesse überhaupt. 46 Er unterscheidet se lbst diese Art von Modell als »Lehrmodell« von »theoretischen Modellen im herkömmlichen Sinne des Wortes«, weil sie vor allem dazu dienen, »die Umorientierung des Vorstellungsvermögens zu erleichtern.«47

44 Elias (1970) 177, Hervorhebungen von mir. 4 3 Vgl. z.B. Elias (1970) 16. 18. 40f, 53f. (1983) 17f. 235.428 u.ö. An manchen Stellen könn­te »Modell« als verwissenschaftlichte Form von Theorie gelesen werden. z.B. (1970) 40fi ein solcher spezifischer Gebrauch läßt sich aber nicht durchgängig herausarbeiten. 4 0 Vgl. Elias (1970) 75 -109. 47 Elias (1970) 96. Ahnliches gilt aber auch für Formationen, die nicht als Lehrmodelle zu bezeichnen sind, so wenn Elias z.B. Max Webers »Idealtypen« als Modelle bezeichnet: "Modelle des Beamtentums, der Stadt, des Staates oder der kapitalistischen Gesellschaft..." Elias (1983) 28

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C D Was ist ein Modell? 52

Bei beiden Formen des begrifflichen Modells schwingen aber einige Nuancen mit, die etwa beim gewöhnlichen Gebrauch des Begriffs »Theorie« nicht deutlich wer­den, jedoch eine starke Verwandtschaft mit den Eigenschaften gegenständlicher Modelle aufweisen, s o wenn immer wieder ihr tentativer Charakter betont wird. Mit Hilfe von Modellen arbeiten i s t »eine Art von Gedankenexperiment«, sie e ig­nen sich dazu, Begriffe »auf die Probe zu stellen«.4® Dazu vereinfachen sie, re­präsentieren s o selektiv bestimmte Züge, auf die e s im Spezialfall a n k o m m t 4 9

Schon durch den Begriff des Experiments rückt auch der prozeßhafte Charakter des Modells weiter in den Vordergrund. Dieser Aspekt verstärkt sich, w o der Ter­minus in der Bedeutung von »Vorbild«, »allgemeines Erklärungsmuster« benutzt wird. So heißt e s etwa in der Einleitung zu »Die höfische Gesellschaft« über die allgemeine Funktion jener speziellen Untersuchung, die Elias in dieser Studie Uber

die Soziologie des französischen Königtums und der höfischen Aristokratie im Zeitalter des Absolutismus anstellt:

Die Untersuchungen, die folgen, beschäftigen sich eingehend nur mit der höfi­schen Gesellschaft einer ganz bestimmten Epoche. Aber die soziologische Untersu­chung von gesellschaftlichen Formationen dieser bestimmten Epoche ware bedeu­tungslos, wenn man nicht im Auge behielte, daß höfische Gesellschaften während einer langen Phase der Gesellschaftsentwicklung in vielen Staatsgesellschaften zu finden sind, und daß die Aufgabe der soziologischen Untersuchung einer ein­zelnen höfischen Gesellschaft die der Entwicklung von Modellen mit einschließt, die Vergleiche zwischen verschiedenen höfischen Gesellschaften ermöglichen.00

In einer anderen Studie untersucht Norbert Elias zusammen mit seinem Kollegen John L. Scotson die Beziehungen verschiedener Gruppen einer englischen Indu-strieansiedlung. Die länger am Ort wohnende Gruppe hat edle Privilegien einer etablierten Schicht, während die Bewohner einer Neubausiedlung als Außenseiter behandelt werden. Über die Vor- und Nachteile dieser Untersuchung heißt es:

Wer Aspekte einer universalen Figuration im Rahmen einer Gemeinde von weni­gen tausend Einwohnern erforscht, muß einige offensichtliche Beschränkungen in

48 Elias (1970) 76 und (1983) 315 4 9 über die Spielmodelle heißt es: "'Die Modelle demonstrieren diesen Tatbestand in einer vereinfachten Form." Elias (1970) 77i und: "Auch diese Modelle sind vereinfachende Gedan­kenexperimente, mit deren Hilfe es möglich ist, den Prozeßcharakter von Beziehungen interde-pendenter Menschen aufzuzeigen." Elias (1970) 83 00 Elias (1983) 12. An anderer Stelle heißt es über Erfahrungsprozesse generell: "Menschen modellieren in Gedanken zunächst einmal alle ihre Erfahrungen nach den Erfahrungen, die sie unter sich selbst in ihren Gruppen machen. Es dauerte sehr lange, es bedurfte einer kumulati­ven und kampfreichen Anstrengung vieler Generationen, ehe Menschen den schwierigen Gedan­ken zu fassen vermochten, daß die Modelle des Denkens, die sie Über ihre eigenen Absichten. Pläne. Handlungen und Zwecke entwickelten, als Mittel der Erkenntnis ebenso wie als Werk­zeug der Manipulation von Ereigniszusammenhängen nicht immer recht geeignet waren." Elias (1970) 57f, Hervorhebungen von mir. Es geht mir nicht um Elias' generelle Vorstellung des Er­kenntnisprozesses, sondern nur um den Gebrauch von »Modell« und »modellieren«.

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(1.2) Theoretische Modelle 53

Kauf nehmen. Aber die Begrenzung hat zugleich ihre Vorteile. An einer kleinen Gesellschaftseinheit lassen sich Probleme, die auch in vielen umfangreicheren und differenzierteren Einheiten vorkommen, bis ins einzelne, gleichsam mikrosko­pisch studieren. Man kann ein kleinformatiges Erklärungsmodell der Figuration. die man für universal hält, aufbauen - ein Modell, das dann durch die Unter­suchung von analogen Beziehungen größeren Maßstabs überprüft, erweitert und notfalls revidiert werden kann, in diesem Sinne dient das Modell einer Etablier­ten-Außensei ter-Figuration, das sich bei der Untersuchung einer kleinen Gemeinde wie Winston Parva ergab, als eine Art »empirisches Paradigma«. Wenn man es als Schablone an neue, komplexere Figurationen des gleichen Typs anlegt, ge­winnt man ein besseres Verständnis der StruktureigentUmlichkeiten. die sie alle miteinander gemein haben, und der Gründe, warum sie unter verschiedenen Be­dingungen verschieden funktionieren und sich entwickeln.®1

Modell, Schablone, Paradigma: Ein Erklärungsmuster, in diesem Fall das Verhältnis von Etablierten und Außenseitern in der englischen Industrieansiedlung, wird auf andere Gegenstandsbereiche Ubertragen und dadurch »überprüft, erweitert und notfalls revidiert.« Getreu dieser Maxime überträgt Elias dann auch die in Winston Parva gewonnenen Erkenntnisse auf andere Etablierte-Außenseiter-Bezie-hungen: auf das Verhältnis von Weißen und Farbigen in den Südstaaten der USA, auf das indische Kastensystem, auf die Buraku, eine Gruppe der japanischen Ge­sellschaft mit extrem niedrigem sozialen Status.5 2

Er betont dabei ausdrücklich, daß empirische Fallstudien dieser Art für Soziologen die gleiche Bedeutung hätten wie für die Physiker ihre Experimente.53 Bei näherer Betrachtung bleibt aber unklar, worin das Modell besteht, ob e s diese Fallstudie selbst i s t oder eine aus ihr entwickelte Abstraktion. Elias' Wortwahl scheint nahezulegen, daß er für die zweite Alternative optieren würde. Was »Modellgebrauch« genannt wird, wäre dann eine Form von Verallgemeinerung, von theoretischer Abstraktion.

Man kann die Beschreibung von Norbert Elias aber auch als echte Modellüber­tragung verstehen. Dabei wird die theoretische Struktur, die an einem Untersu­chungsgegenstand gewonnen worden ist, als Vorbild für die theoretische Struktur eines anderen Untersuchungsbereichs benutzt. Der Physiker Clerk Maxwell be­schrieb etwa die Beschaffenheit elektrischer Felder mit Hilfe der Eigenschaften einer imaginären, nicht komprimierbaren Flüssigkeit.5 4 Beispiele dieser Art f in­den sich in allen Wissenschaften: Physikalische Konzepte sind in die Biologie übertragen worden0 6 , biologische in die Soziologie®6, mechanische und biolo­

51 Elias/Scotson (1990) 9f, Hervorhebungen von mir. 6 2 Vgl. Elias/Scotson (1990) 7-56. 291- 314 und implizit auch auf Deutsche und Juden, deutsche Aristokratie und deutsches Bürgertum im 19. Jahrhundert, vgl. Elias (1989). 63 Elias/Scotson (1990) 293 5 4 So das Beispiel von Max Black, vgl. Black (1962) 226ff. 56 "Man wird nicht sehr irren, den Anfang theoretischer Modellkonstruktionen in der Biolo­gie bei den sogenannten Iatromechanikern des 17. Jahrhunderts anzusetzen. Dies war eine Schu­le von Ärzten, die versuchten, die Funktion der Muskeln und Knochen, die Blutbewegung und ähnliche Erscheinungen aus mechanischen Prinzipien zu erklären. (...) Der Hinweis auf eine

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Cl) Was ist ein Modell? 54

gische in die Geschichtstheorie®7. Im Bereich der Sozial Wissenschaften hat eine der folgenreichsten Modellübertragungen der le tzten Zeit Anleihen bei der Lingui­

st ik -genauer: bei der Phonoiogie- gemacht. Claude L6vi-Strauss schrieb 1945 in

einem Aufsatz Uber »Die Strukturanalyse in der Sprachwissenschaft und in der

Anthropologie«®8, die Phonoiogie müsse für die Sozialwissenschaften die gleiche

Rolle des Erneuerers spielen wie die Kernphysik für die Gesamtheit der exakten

Wissenschaften. Mit der Phonoiogie eröf fneten s ich neue Perspektiven:

Es handelt sich nicht mehr nur um eine gelegentliche Zusammenarbeit, bei der die auf ihrem Spezialgebiet arbeitenden Sprachforscher und Soziologen sich von Zeit zu Zeit zuwerfen, was sie finden und was den anderen interessieren könnte. Bei der Erforschung der Verwandtschaftsprobleme (und zweifellos auch bei der Untersuchung anderer Probleme) sieht sich der Soziologe in einer Situation, die formal der des phonologischen Sprachforschers ähnelt: wie die Phoneme sind die Verwandtschaftsbezeichnungen Bedeutungselemente, wie diese bekommen sie ihre Bedeutung nur unter der Bedingung, daß sie sich in Systeme eingliedern! die »Verwandtschaftssysteme« werden wie die »phonologischen Systeme« durch den Geist auf der Stufe des unbewußten Denkens gebildet; schließlich läßt die Wie­derholung von Verwandtschaftsformen. Heiratsregeln und gleichermaßen vorge­schriebenen Verhaltensweisen bei bestimmten Verwandtschaftstypen usw. in weit auseinanderliegenden Gebieten und sehr unterschiedlichen Gesellschaften vermu­ten, daß die beobachteten Phänomene sich in dem einen wie in dem anderen Falle aus dem Spiel allgemeiner, aber verborgener Gesetze ergeben. Das Problem läßt sich also folgendermaßen formulieren: die Verwandtschaftserscheinungen sind in einer anderen Ordnung der Wirklichkeit Phänome vom gleichen Typus wie die

große, den Beginn der modernen Physiologie anzeigende Leistung genügt, diese Bestrebungen zu rechtfertigen. Dies war die Entdeckung des Blutkreislaufs durch Harvey, die aus theoretischen Modellvorstellungen nach Art der Iatromechaniker hervorgegangen ist. Diese haben ein Grund­thema angeschlagen, das in der Folge vielfach variiert wurde. Das Herz als Pumpe, die Bewe­gung der Gliedmaßen als Hebelkonstruktion, das Auge als Kamera, das Gehirn als Telephon­zentrale - dies sind alles Modelle der gleichen Art, nämlich Anwendung physikalischer Prinzi­pien auf biologische Erscheinungen." Bertalanffy (1965) 292 5 6 Zur Soziologie im 19. Jahrhundert: "Der Zweifel an der Handlungslehre, mit der bisher versucht worden war. die Eigengesetzlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zu interpretieren, führt aber nicht nur zur Rezeption der französischen Naturphilosophie des 18. Jahrhunderts, son­dern auch zur Übernahme von theoretischen Modellen, die sich in anderen Wissenschaften. ins­besondere der Biologie, bewährt hatten. Die Übernahme biologischer Analogien zur Erklärung gesellschaftlicher Vorgänge ist keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, schon in der An tike gibt es Beispiele für sie. Die Lehre vom corpus mysticum der christlichen Kirche hatte diese Analo­gie im Bewußtsein lebendig erhaltent Rousseau, ein im Grunde religöser Denker, hatte auf sie zurückgegriffen, um das Ideal der totalen Integration zu erklären, nach dem er strebte. Nach Rousseau und aufbauend auf ihn hat dann Bonald, eine wichtige Quelle für Comte und Dürk­heim, organizistische Vorstellungen verwendet. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert hat­te Lamarck (1744-1829) den Fortschrittsgedanken der Aufklärung auf die biologischen Grund lagen des Lebens übertragen. Und Herbert Spencer (1820-1903) ist es gewesen, der den biologi­schen Entwicklungsgedanken, den Lamarck entwickelt hatte, erneut in das Gebiet der Soziolo­gie einführt." Jonas (1981) 256 5 7 Vgl. Rohbeck (1987) passim, insbes. 31-72. 8 8 Später als ein Teil aus »Strukturale Anthropologie« erneut veröffentlicht. Vgl. Ltvi-Strauss (1967) 43-67.

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Theoretische Modelle 55

sprachlichen. Kann der Soziologe, wenn er hinsichtlich der Form (wenn nicht gar des Inhalts) eine von der Phonoiogie eingeführte Methode analog verwendet, in seiner Wissenschaft einen Fortschritt erzielen, der dem in den Sprachwissenschaf­ten erzielten analog ist?®9

Im großen und ganzen lassen sich zwei wesentlich verschiedene Verwendungs­weisen des Begriffs »Modell« im Sinne eines theoretischen Modells auffinden. Zum einen wird er synonym mit »Theorie« gebraucht. In einer besonderen Spielart dieser Bedeutungsvariante meint er auch eine provisorische, experimentelle Theorie

als Vorform eines ausgereiften Erklärungsmusters. Zum anderen verstehen Elias und viele andere Autoren »Modell« als Vorbild in

einem Übertragungsprozeß. Das Modell ist darin die Grundlage einer Analogie­bildung.60

Diese zweite Bedeutung des Begriffs entspricht der Funktionsweise gegenständ­licher Modelle. Sie i s t e s auch, die im weiteren für das Konzept einer Modellge­schichte von Interesse ist. Nur in dieser Form und nicht als bloßes Synonym für Theorie wird der Begriff zu einem kognitiven Instrument eigener Art.

Allerdings finden sich die beiden Bedeutungsvarianten o f t auf unklare Weise mit­einander vermengt. So wird etwa von manchen Autoren behauptet, daß eine Theo­rie die Realität »abbilde«. Das i s t im besten Falle uneigentlich gemeint und bedeu­te t dann eine inflationäre Ausdehnung des Modellbegriffs.61

Der Gegenstandsbezug von Modellen ist jedoch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Theoretische Modelle erscheinen -wie der Name schon sagt- nur als Theorie. »Theorie« i s t in diesem Fall kein anderer Ausdruck für »Modell«, Theorie i s t viel­

59 L4vi-Strauss (1967) 46f. L6vi-Strauss probiematisiert solch ein Vorgehen in diesem Auf­satz allerdings auch und warnt dabei vor einer "zu wörtlichen Befolgung der Methode". Vgl. S. 48ff. 6 0 Auch in den Naturwissenschaften, zum Beispiel in der Physik, ist dieser mehrdeutige Gebrauch des Begriffs "(theoretisches) Modell" zu finden. So unterscheidet Friedrich Hund zwischen Modell als Denkschema, als Vereinfachung, als Vorstufe und als Analogie. 'Im ganzen sind die Hauptbedeutungen etwa: (1) Modell als Denkschema, das einen großen Ausschnitt der Wirklichkeit mit Erfolg zu be­schreiben gestattet. (2) Modell eines speziellen Dinges oder Ablaufes (dessen Gesetze im Prinzip bekannt sind, aber im speziellen Fall zu sehr komplizierten Beschreibungen führen würden) unter Vereinfachung durch Weglassen von Nichttypischem. (3) Modell als Vorstufe einer noch nicht voll ausgebauten Theorie. (4) Modell in Form einer Analogie, um vielleicht ungewohnte Begriffe durch (mehr oder weniger vollkommene) Abbildung auf geläufige Begriffe zu verdeutlichen." Hund (1965) 175 Als fünftes führt er noch das Modell einer "Pseudophysik" auf. d.h. ein Denkschema, das sich aus heuristischen Gründen auf eine abgeänderte Wirklichkeit bezieht. 6 1 Z.B. bei Stachowiak (1965). (1983b) und öfter; hier wird der Gebrauch des Begriffs »Modell« so inflationär, daß er schließlich schlechthin jede Repräsentation erfaßt und damit ohne jede Trennschärfe bleibt.

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(1) Was ist ein Modell? 56

mehr die Grundlage, das spezifische Medium der Modellfunktion. Für theoretische Modelle entspricht die Theorie dem Trägerobjekt bei gegenständlichen Modellen. Und als solch ein »theoretisches Trägerobjekt« bezieht sie sich natürlich auf ihren jeweiligen Gegenstandsbereich. So bezieht sich Norbert Elias' und John L. Scotsons Theorie über ein bestimmtes Verhältnis von Etablierten und Außenseitern auf die Situation der englischen Indu-strieansiedlung Winston Parva. Der in diesem Untersuchungsbereich gewonnene Erklärungsansatz dient Elias dann als Vorbild, nach dem er eine Theorie über die Rassenbeziehungen der amerikanischen Südstaaten konstruiert. Wie schon bei den gegenständlichen geht also auch bei theoretischen Modellen dem eigentlichen Ubertragungsvorgang eine Repäsentationsbeziehung voraus. Das Typenmodell i s t ein Modell von etwas für etwas. Genau diese doppelte Referenz findet sich auch beim theoretischen Modell. Während aber bei gegenständlichen Modellen das Endergebnis des Ubertragungsprozesses, die Nachbildung, für sich steht, verweist die Zieltheorie bei theoretischen Modellen noch einmal auf einen eigenen Untersuchungsgegenstand.

Wie das gegenständliche i s t auch das theoretische Modell Vorbild in einem über-tragungsprozeß und beruht auf einer bestimmten Einheit von Vorausgesetztem und Gesetztem. Ohne dies im einzelnen ausführen zu müssen, wird nun wohl deutlich, daß auch die anderen Merkmale gegenständlicher Modelle auf theoretische zutref­fen: ihre Relationalität, ihr Repräsentationscharakter, die Selektivität, Ähnlichkeit (der Begriffsstruktur), die Notwendigkeit bestimmter Interpretationskonventionen, die Asymmetrie und ihr Mittelcharakter.

Wenden wir uns aber dem Übertragungsvorgang se lbst noch einmal genauer zu. Max Black unterscheidet fünf Bedingungen für den Gebrauch theoretischer Model­le . 6 2

1) Es gibt ein ursprüngliches Untersuchungsgebiet, in dem zumindest einige weni­ge Tatsachen und/oder Regelmäßigkeiten bekannt sind. 2) Es besteht eine Notwendigkeit, diese bekannten Phänomene zu erklären. 3) Diese Phänomene werden nun anhand eines unproblematischeren, weil klarer organisierten zweiten Bereichs, eines Modells, beschrieben. Entscheidend i s t dabei, daß die beschriebenen Eigenschaften des Modells nicht unbedingt besser zu sehen

sein müssen - e s geht hier nicht um irgendeine Form der Visualisierung, der Bild­lichkeit; entscheidend i s t nur, daß die fraglichen Eigenschaften und Verhaltens­weisen in der Modellsphäre besser vertraut sind, sei es , weil die Theorie schon besser durchkonstruiert ist, sei es , weil s ie sich praktisch bereits bewährt hat. 4) Zudem gibt e s explizit oder implizit bestimmte Korrelationsregeln, die eine Übertragung erlauben. 5) Schließlich muß eine separate Überprüfung der Ergebnisse erfolgen.

6 2 Vgl Black (1962) 230

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(1.2) Theoretische Modelle 57

Gegenständliche Modelle müssen noch real konstruiert werden, auch wenn sich das Erkenntnisinteresse an ihnen wie bei isomorphen Modellen nur auf die Struk­turanalogie beschränkt. Sie unterliegen damit immer auch den Beschränkungen und Korrekturen des verwendeten Materials. Theoretische Modelle haben demgegenüber den Vorteil ihr Substrat nicht in Raum und Zeit konstruieren zu müssen. Das Modell i s t lediglich eine Beschreibung. Einige Autoren gehen soweit zu behaupten, daß das Wesentliche an dieser Metho­de darin bestehe, auf eine gewisse Weise über den Gegenstand zu reden. Zu­mindest aber hat der Selektionsaspekt bei theoretischen Modellen einen höheren Grad an Willkürlichkeit: Eine bloße Beschreibung erlaubt, irrelevante oder sogar störende Elemente zu ignorieren. Damit unterliegen die Ergebnisse einer Modellübertragung kaum noch unmittelbar korrigierenden Kontrollen. Selbst die elementare Forderung nach innerer Stimmig­keit, meint Black etwa, könne zur Not außer eicht gelassen werden. Dementspre­chend ist bei theoretischen Modellen die Gefahr von Fehlinterpretationen größer als bei gegenständlichen; das Verifikationsverfahren hat daher auch eine ungleich größere Bedeutung.

Nicht zuletzt wegen dieser Willkürlichkeit beim tibertragungsprozeß war der Mo­dellgebrauch oder der Analogieschluß lange Zeit als unwissenschaftlich in Verruf. Streng wissenschaftliche Theoriebildung hatte sich auf klare Erfahrungstatsachen zu gründen und ansonsten deduktiv und mathematisch vorzugehen. Modellen wird dann allenfalls eine didaktische Funktion zugestanden, eine der Sache im strikten Sinne äußerlich bleibende Hilfestellung. So wenn in populärwissenschaftlichen Vorträgen der neueste Stand physikalischer Theorie, der einem mathematisch kaum vorgebildeten Publikum nicht zu vermitteln wäre, anhand von Atommodellen dar­gestel l t wird.

Im Laufe dieses Jahrhunderts haben sich aber die Stimmen vermehrt, die auf die unverzichtbare kognitive Funktion von theoretischen Modellen hinweisen.63 Rom Harre hat zum Beispiel geltend gemacht, daß alle methodischen Verfahren, die auf Modellübertragungen verzichten wollen, entweder zu keiner erklärungsmächtigen Theorie führen oder sich eines zum Teil metaphorischen Wortschatzes bedienen. In diesen Formulierungen sind dann doch gewisse Modellvorstellungen versteckt. 6 4

Auch Max Black verteidigt den Gebrauch von Modellen als rationale Forschungs­methode eigenen Rechts mit eigenen Richtlinien und eigenen Prinzipien. Er ver­wahrt sich damit ausdrücklich nicht nur gegen die Reduzierung des Modells auf den didaktischen Bereich, sondern auch gegen eine psychologisierende Interpreta­tion der Modellmethode. Denn folgte man der psychologischen Interpretation, wä­re das Modell zwar auch ein Hilfsmittel der Forschung, aber eines, das der Sache

6 3 Vgl. hierzu vor allem die Beiträge von Mary Hesse. 64 Harr* (1959)

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CD Was ist ein Modell? 58

äußerlich bliebe. Eine derart vollzogene Entdeckung könnte zwar den Weg weisen, müßte dann aber noch einmal streng wissenschaftlich nachvollzogen werden. Für Black ist aber der Modellgebrauch im eigentlichen Sinne wissenschaftlich, weil er auf einer rationalen Grundlage aufruhe. Denn erfolgreiche Modellvorstellungen müßten strukturanalog zum neuen Untersuchungsbereich sein.

Indem wir die Sprache, in der das Modell beschrieben wird, so weit strecken, dafi sie in den neuen Bereich pafit, setzen wir unsere Hoffnungen in die Existenz einer gemeinsamen Struktur in beiden Feldern. Wenn sich diese Hoffnung erfüllt. so gibt es einen objektiven Grund für den Analogietransfer.60

Daher bezeichnet Black genuin wissenschaftliche Modelle auch mit einem von Ivor Armstrong Richards entliehenen Ausdruck als »spekulative Werkzeuge«.66

Dennoch gelingt e s Black nicht, die psychologische Auffassung des Modells von der spekulativen präzise abzugrenzen. In beiden Fällen dient der Modellgebrauch als heuristisches Mittel, um zu einem Ergebnis zu kommen, das in einem zweiten Schritt auf seine Brauchbarkeit hin überprüft werden muß. Schon die Unter­scheidung von »psychologisch« oder »forschungslogisch« scheint angesichts der Modellmethode zu verschwimmen. Zumindest kann man einen gewissen Konsens unter den Befürwortern der Modell­methode festhalten. Paul Ricoeur hat ihn folgendermaßen formuliert:

Das Modell gehört nicht zur Logik der Beweisführung, sondern zur Logik der Ent­deckung. Dabei reduziert sich diese Logik der Entdeckung aber nicht auf eine Psychologie der Erfindung ohne eigentlich erkenntnistheoretisches Interesse, son­dern sie enthält einen kognitiven Prozeß, eine rationale Methode, die ihre eigenen Normen und Prinzipien ha t . 6 7

60 Black (1962) 238 66 Black (1962) 237, bezieht sich auf: I.A. Richards: »Speculative Instruments«, London 1955. 67 Ricoeur (1986) 228

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(1.3) FORMALE MODELLE UND ARCHETYPEN

Von den theoretischen Modellen sind allerdings zwei Modellformen zu unterschei­den, die entweder nahe verwandt sind oder doch zumindest als verwandt er­scheinen. Sehr häufig wird der Begriff des Modells in einer Weise verwendet, wie er sich in folgendem Beispiel -noch einmal aus dem Brockhaus- findet: »7) Wirtschafts­wissenschaften: vereinfachtes Abbild des tatsächlichen Wirtschaftsablaufs, zum Teil in mathematischer Formulierung.«68 Und in dem entsprechenden Artikel der siebzehnten Auflage liest man:

In der Sozialforschung sind Modelle Analogien, durch die das beobachtbare Phä­nomen (der »Prototyp«) mit den Bestimmungen und den Umformungsregeln eines mathematischen Kalküls verbunden wird. Dies geschieht durch eine Reihe von Zuordnungsvorschriften. deren Gesamtheit man als »Korrelator« bezeichnet...69

Die Rede i s t von mathematischen oder besser formalen Modellen70 , denen auch der größte Teil der Literatur gewidmet ist .7 1 In mathematischen Modellen wird ein bestimmter Untersuchungsgegenstand drastisch vereinfacht und auf formale Strukturen reduziert.72 Insofern ähneln sie isomorphen Modellen. Sie sind aber -anders als man zunächst vermuten könnte- nicht mit theoretischen Modellen vergleichbar. Denn aus dem Gebrauch mathematischer Modelle entspringen keine neuen Theorien Uber einen Gegenstand. Was sie allerdings leisten können, i s t Konsequenzen zu ziehen aus den ursprüng­lichen empirischen Annahmen. Sie versuchen nicht, kausale Erklärungen zu geben; diese müssen vielmehr immer schon in ihnen enthalten sein. So bemerkt Renate Mayntz etwa zu Sinn und Unsinn formaler Modelle in den Sozial Wissenschaften:

Modellkonstruktion ist immer nur ein Hilfsmittel bei der Theoriebildung und übt seine Funktion erst in einer relativ späten Phase des Prozesses aus. Das Wichtig­ste, was ein Modell enthält, sind die Annahmen über die Abhängigkeiten zwi­schen Variablen und deren Bestimmung durch Parameter. Diese Annahmen müs­sen der Formalisierung vorausgehen. Die entscheidende theoretische Leistung liegt also vor der Modellkonstruktion. Was sie dem hinzufügen kann, ist Übersichtlich­keit, Raffung. Präzisierung und Verdeutlichung bislang unerkannter Implikationen und Konsequenzen 7 3

68 Brockhaus (I986ff) Bd. 14. 706 69 Brockhaus (1966ff) Bd. 12. 679 7 0 Nicht zu verwechseln mit den im eigentlichen Sinne mathematischen oder auch logischen Modellen (vgl. Brockhaus 1986ff, Abschnitt 2. des Stichworts »Modell«), die hier aus Gründen mangelnder Kompetenz überhaupt nicht berücksichtigt werden. 7 1 Siehe z.B. Mayntz (1967) und ihre Literaturliste. 72 »Modellkonstruktion will (...) empirische Beobachtungen oder verbale Theorie in symbo­lischer Sprache formulieren, sei es die Sprache eines Zweiges der Mathematik oder der Code einer Programmiersprache für elektronische Datenverarbeitungsanlagen.< Mayntz (1967) 11. Siehe dazu auch Black (1962) 223ff 73 Mayntz (1967) 30. Siehe auch Black (1962) 225: >Especially important is it to remember

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(1) Was ist ein Modell? 60

Während formalisierte Modelle also bei der Frage nach dem kreativen Potential des Modellgebrauchs nicht weiterhelfen, gibt die letzte Art, die Max Black »Archetypen« genannt hat, einige wichtige Fingerzeige. Archetypen sind ein »syste­matisches Repertoire von Ideen«, »Mittel, mit denen ein gegebener Denker durch analogische Ausdehnung einige Gebiete beschreibt, auf die sich diese Ideen nicht unmittelbar und buchstäblich anwenden lassen.« 7 4 Archetypen sind also per Analogie benutzte Begriffssysteme, die explizit ausgewiesen sein können, aber nicht müssen. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von den gewöhnlichen Modellen, bei denen die Übertragung ein reguliertes Verfahren darstellt. Archety­

pen sind also gewissermaßen unterirdische Modelle. Sie sind daher nicht be­schränkt auf wissenschaftliche Kontexte, sondern erstrecken sich auf jede mögli­che Art der Welterklärung. Sie entsprechen dem, was Stephen C. Pepper z.B. »Wurzelmetaphern« genannt hat . 7 5 Damit i s t aber eine strukturelle Verwandt­schaft angesprochen, die für alle Formen des Modells schon öfters hervorgehoben worden ist. E.H. Hutten schreibt z.B. : »Gewöhnlich rekurrieren wir, wenn unsere Worte versagen, auf Analogien und Metaphern. Das Modell fungiert als eine all­gemeinere Art der Metapher,«76 Auch andere Autoren haben verschiedentlich darauf hingewiesen, daß zwischen Modellen und Metaphern viele Gemeinsamkeiten bestehen.7 7

Es bietet sich nun aus mehreren Gründen an, zur Klärung des Modellbegriffs einen Umweg über die Theorie der Metapher einzuschlagen. Zum einen i s t die Funktionsweise von Metaphern schon sehr viel besser beschrieben worden als die von Modellen. Wayne C. Booth hat 1978 scherzhaft bemerkt, wir hätten bald wohl mehr Metaphoriker als Metaphysiker. »Ich habe die Entwicklung in der Tat mit meinem Taschenrechner bis ins Jahr 2039 extrapoliert, zu diesem Zeitpunkt wird e s mehr Metaphernforscher als Menschen geben.«78 Daß sich diese Prophe­zeiung leicht erfüllen könnte, zeigen die drei großen Bibliographien zur Metapher, aus denen das exponentielle Wachstum dieses Forschungszweiges problemlos ablesbar i s t . 7 9

Zum anderen hat sich auch schon in einigen älteren Untersuchungen der Modell­methode eine Anlehnung an die Metaphernforschung als fruchtbar erwiesen.80

that the mathematical treatment furnishes no explanations. Mathematics can be expected to do no more than draw consequences from the original empirical assumptions.< 74 Black (1962) 241 7 8 Vgl. Pepper (1972). Black (1962) 239f 76 Hutten (1954) 289 77 Black (1962) 236( Black (1983b) 396i Ricoeur (1986) 227f. Elias etwa -um unseren Bei­spielfall noch einmal aufzunehmen- benutzt »Metapher« gelegentlich synonym mit »Modell«, vgl. Elias (1983) 348f, 362ff. 78 Booth (1978) 49 7 9 Vgl. Shibles (1971), van Noppen et al. (1985), van Noppen/Hols (1990) 8 0 Vgl. z.B. Hesse (1966)

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(1.3) Formale Modelle und Archetypen 61

Schließlich wird das Modellverfahren nicht nur durch Anleihen bei der Metapher zu präzisieren sein, sondern auch durch Abgrenzung von ihr. Ebenso muß e s auch von verwandten Phänomenen wie Vergleich, Gleichnis und Allegorie unterschieden werden.