Melanie Wald «Sic ludit in orbe terrarum aeterna Dei sapientia» – Harmonie als Utopie. Untersuchungen zur Musurgia universalis von Athanasius Kircher 2005.pdf

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  • 7/24/2019 Melanie Wald Sic ludit in orbe terrarum aeterna Dei sapientia Harmonie als Utopie. Untersuchungen zur Musur

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    Sic ludit in orbe terrarum aeterna Dei sapientia

    Harmonie als Utopie.

    Untersuchungen zur Musurgia universalisvon Athanasius Kircher

    Abhandlung

    zur Erlangung der Doktorwrde

    der Philosophischen Fakultt

    der Universitt Zrich

    vorgelegt von

    Melanie Wald

    aus

    Schwerin (Deutschland)

    Angenommen auf Antrag

    von Herrn Prof. Dr. Laurenz Ltteken und

    Prof. Dr. Hans Joachim Hinrichsen

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    Vorbemerkung_______________________________________________________4

    1 Der bewegli che Rahmen der E rkenntn is Annherungen an die Musurgia

    un iversali s _________________________________________________________ 7

    1 Omnia in omnibus ____________________________________________ 8

    2 Das widersprchliche Jahrhundert _____________________________ 13

    3 Doctorum hujus seculi Phoenix ________________________________ 23

    Ein Universalgelehrter ___________________________________________ 24

    Ein Jesuit _____________________________________________________ 26

    Ein Deutscher in Rom ___________________________________________ 30

    Netzwerke ____________________________________________________ 35

    Kircher ein Prototyp? __________________________________________ 41

    2 Der Dialog der Bcher Text und I ntertextual i tt der M usurgia___________ 43

    1 Textlichkeit und Textgenese ___________________________________ 44

    2 Gattung ____________________________________________________ 48

    Enzyklopdismus _______________________________________________ 52

    3 Adressierung________________________________________________ 60

    4 Soliloquien _________________________________________________ 65

    5 Die Musurgia ein Monochord_________________________________ 76

    Zahlenspiele___________________________________________________ 76

    Sectio operis___________________________________________________ 83

    6 Die Rhetorik der Untergliederung ______________________________ 90

    7 Bilder des Wissens Illustrationen, Embleme und Notenbeispiele____ 98

    3 Der Gr if f nach Welt und H immel Musik-Wissenschaft________________ 111

    1 Philosophia naturalis, more geometrico_________________________ 114

    Wissenserwerb experientia vs. experimentum ____________________ 125

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    2 Magia naturalis ____________________________________________ 134

    3 Scientia universalis__________________________________________ 149Biographik der Universalwissenschaft____________________________ 154

    4 Musicae tam theor icae quam practicae scientiae Vom spekulativen Sinn des

    Musik-M achens___________________________________________________ 170

    1 Musik-Lehre _______________________________________________ 171

    Arca musarithmica und musurgica ________________________________ 176

    2 Kirchers musikalisches Ideal _________________________________ 185

    Musikgeschichte: Deskription als Prskription _______________________ 209

    3 Discors concordia concors discordia __________________________ 218

    5 Postludien______________________________________________________ 225

    1 Einblick: Musurgia? ________________________________________ 226

    2 Ausblick: Kirchers spte Erben? ______________________________ 229

    Anhang _________________________________________________________ 240

    Abbildungen ___________________________________________________ 241

    Sigelverzeichnis ________________________________________________ 257

    Primrtexte____________________________________________________ 258

    Sekundrliteratur_______________________________________________ 262

    Lebenslauf_____________________________________________________ 269

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    Vorbemerkung

    Im Grunde bedarf es keiner Rechtfertigung fr eine monographische Beschftigung

    mit der 1650 in Rom erschienenen Musurgia universalis des deutschen Jesuiten und

    Universalwissenschaftlers Athanasius Kircher (16021680). Verweist allein schon

    ihr massiger und vergleichsloser Umfang von zwei Foliobnden mit zusammen um

    die 1200 Seiten auf ihre intendierte Gewichtigkeit, so macht sie vor allem aber die

    eng mit den zwei Zentren der damaligen katholischen Macht (Rom und Wien) ver-

    quickte Entstehung in inniger Anbindung an das damalige rmische Musikleben zueinem hchst beredten Zeugnis der spezifisch katholischen Musikkultur des 17. Jahr-

    hunderts. Als ein solches hat das Werk durchaus bereits Beachtung gefunden: Ulf

    Scharlau widmete ihm in den sechziger Jahren eine erste Gesamtdarstellung und gab

    ein mit Vorwort und modernem Register versehenes Faksimile heraus, das weitere

    Forschungen entschieden erleichterte. Aufstze und Tagungsbeitrge verschiedener

    Autoren schlossen sich an. Alle blieben aber auf im engen Sinne musikwissenschaft-

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    lich relevante Details beschrnkt und nahmen Kirchers Musurgia damit hauptsch-

    lich als einen Quellentext wahr, der auf die aus anderen Debatten und Zusammen-

    hngen heraus an das 17. Jahrhundert gestellten Fragen antworten sollte. Ihr Eigent-

    liches erschloss sich daraus nicht, da die Musurgia, um eine erste wichtige These

    dieser Arbeit anzudeuten, in einen viel weiteren Kontext als den des professionellen

    Musikschrifttums gestellt ist. Um den erschlieen zu knnen, bedurfte es allerdings

    der modernen, vor allem in den neunziger Jahren zu fruchtbaren Ergebnissen vorsto-

    enden Forschungen der Philosophie-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte zur Fr-

    hen Neuzeit, in die wichtige Untersuchungen zu Kircher eingebettet waren. Diese

    fhrten in erster Linie zu der Erkenntnis, dass der universalwissenschaftliche Ansatz

    Kirchers mehr ist als nur ein eitles oder verkaufsfrderndes Etikett, nmlich der

    Schlssel zu all seiner wissenschaftlichen Ttigkeit. Eine rein intradisziplinre He-

    rangehensweise an seine Werke verbietet sich seitdem schlicht.

    Von dieser methodischen conditio sine qua non sind Aufbau und Fragestellun-

    gen der folgenden Arbeit zutiefst durchdrungen. Die Vorgehensweise ist dennoch

    ber weite Strecken in einem vielleicht irritierenden Mae textimmanent, da eine

    auch nur grobe Kenntnis des Textes nicht vorausgesetzt werden kann. So entwickeln

    sich die Argumentationen gleichsam konzentrisch um die ausgewhlten Originalpas-

    sagen herum, um vom werkspezifischen Kontext auf den Zusammenhang mit Kir-

    chers brigem uvre zu blenden und von da aus weiterzugehen zu relevanten Koor-

    dinaten des jesuitischen auch eine von der Musikwissenschaft im Grunde noch nie,

    von der sonstigen Kircherforschung wenigstens teilweise in den Blick genommene,

    dabei extrem wichtige Determinante von Kirchers Wirken , rmischen und musik-

    wie wissenschaftsgeschichtlichen Umfelds.Die enorme Vielschichtigkeit der Musurgiawiderstrebt zudem hufig einer aus-

    schlielich linearen Vorgehensweise. Daher sind in den Flietext bei passender Ge-

    legenheit immer wieder Exkurse, kenntlich gemacht durch eine andere Type, einge-

    schoben, die sich einem wichtigen, ber den musikalischen Kontext besonders dezi-

    diert hinausweisenden Motiv widmen, also durch eine intensive Detailarbeit Exem-

    plarisches aufzuzeigen versuchen.

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    Die Abfolge der Hauptkapitel spiegelt zum einen die von Kircher immer wieder

    betonte Verbindung und Vershnung der Musurgiavon Theorie (Kapitel 3) und Pra-

    xis (Kapitel 4) und soll zum anderen eine dreistufige Annherung an Kirchers welt-

    anschaulichen Hintergrund, die Vorraussetzungen seines Denkens und sein Lebens-

    umfeld bieten (Kapitel 1) sowie die textlichen und philologischen Komponenten die-

    ses Werkes, bei dem Form und Inhalt in beinahe unauflslicher Weise miteinander

    verzahnt sind, erhellen (Kapitel 2). Ganz am Ende soll dann zum einen in resmie-

    render Form der Kern der Musurgianoch einmal ganz dezidiert bestimmt werden,

    ehe schlielich die Werk- und Epochenimmanenz mit der Frage nach einer wirklich

    einflussreichen Rezeption der Kircherschen und allgemein frhneuzeitlichen Musik-

    anschauung aufgegeben wird.

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    Der bewegliche Rahmen der Erkenntnis

    Annherungen an die Musurgia universalis

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    1 Omnia in omnibus

    Mundus quoque perfecta Dei similitudo.(Athanasius Kircher, MU B, S. 366)

    Die wahrnehmbare Welt, der Kosmos, in dem wir Menschen leben, ist ein Abbild der

    Transzendenz, die vereinzelnde Aktualisierung allgemeiner Ideen, mehrdimensional

    zudem durch eine Vielzahl hierarchisierter Abstufungen im hnlichkeitsgrad. Mi-

    krokosmen schachteln sich in immer wieder anders zur Sinnflligkeit entfalteter Mi-

    mesis in Makrokosmen ein. hnlichkeiten verweben alles mit allem. Dieses bunteHeer, die berauschende Flle des Geschaffenen wirkt nur auf die Sinne verwirrend,

    divers und widersprchlich. Dem Zugriff der Ratio indes entbirgt sich mit Notwen-

    digkeit das alles vereinende Band in den Himmel: die vernnftige, die proportionale

    denn nicht grundlos werden Vernunft und proportioniertes Verhltnis durch ratio

    mit demselben Wort bezeichnet Ordnung. Sie durchzieht, ja konstituiert dermaen

    die Tiefenstruktur aller diesseitigen Phnomene, dass alles immer auch als Bezug auf

    etwas anderes verstanden werden muss. Abbilder deuten auf Abbilder, doch alle wei-sen sie in letzter, eigentlicher Konsequenz immer nur in eine Richtung: nach oben,

    auf einen Referenzpunkt: Gott und seine Heerscharen, den Mundus archetypus.1

    Diesen Gedanken den aufs Wesentlichste verdichteten Zugriff Athanasius

    Kirchers auf die Welt hatten sptestens die Neuplatoniker formuliert, und die ihnen

    in mancher Hinsicht verpflichteten hermetischen Urschriften entfalteten ihn weiter.

    Doch das sptantik-heidnische Verhltnis zur Welt war grundstzlich gebrochen, da

    sie das kontingente und kontaminierte Werk einer niederen Gottheit, des nicht mehrvollstndig am Guten beteiligten Demiurgen war. Lebensekel, wie ihn am krassesten

    wohl Plotin vorstellte, der aus Scham darber, einen Krper zu haben, kaum a und

    nicht einmal seinen engsten Schlern aus seinem Leben erzhlen wollte, Pessimis-

    mus, Angst vor bsen Geistern und der stndige Versuch, mit Hilfe theurgischer,

    1 MU B, S. 393.

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    magischer und philosophischer bungen dem Stofflichen zu entrinnen, waren die

    Folgen einer solchen Weltsicht.

    Dem stlpten Denker wie Philon von Alexandrien, Augustinus und Philoponos

    den jdisch-christlichen Glauben ber: berzeugt von der grundstzlichen Richtig-

    keit des platonischen Denkens, identifizierten sie dessen ontologisch hchste Wesen-

    heit, die Idee des Einen und Guten, mit ihrem Gott, dem Schpfer von Himmel (also

    der transzendenten Welt) und Erde (dem wahrnehmbaren Kosmos).2Das Band zwi-

    schen beiden wurde damit unauflslich, die Achtung und Bewunderung der Welt

    eine Selbstverstndlichkeit und Glaubenspflicht, war doch alles bis ins Kleinste und

    auch Hsslichste von Gott erdacht und erschaffen. Zwar stand auch hier das Materi-

    elle unendlich weit unter dem Transzendenten, doch war es nicht mehr das Entge-

    gengesetzte, das Bse, sondern eine Abstufung und Verdnnung, die einen letzten

    Funken Gttlichkeit nie verlor: Gott und der Welt kommen dieselben Prdikate zu,

    nur im Falle der Welt in kontingenter, ungleich abgeschwchterer Weise.3Und vor

    allem: Ein Wideraufstieg des Menschen, der Gotteshnlichkeit und -ferne in seinem

    Wesen vereint, war systemimmanent, da jedes Ding, richtig verstanden, zu einer

    Sprosse auf der Leiter zurck zu Gott werden konnte. Gott und die Welt strecken

    gleichsam bestndig die Arme nacheinander aus. Zwar finden sich auch im Christen-

    tum Beispiele fr einen Weltekel. Doch nicht umsonst gelangten etwa die ihn beson-

    ders krass reprsentierenden Bettelorden im 13. und 14. Jahrhundert wegen genau

    dieses Weltekels deutlich in den Ruch der Ketzerei.

    Solchermaen umgewidmet wurde diese von der Antike ererbte und nun dem

    eigenen religisen Fundament anverwandelte Idee fr Jahrhunderte die zentrale

    Denkfigur des europisch-christlichen Kulturraums und hatte in der paulinisch-augustinischen PrgungOmnia in omnibus4 frh einen hchst wirkmchtigen Aus-

    2 Vgl. hierzu etwa Augustinus, DeGen I, 9, S. 13.3 Schmidt-Biggemann 1995, S. 7.4 Paulus schreibt in I Kor. 15, 28 ber das Verhltnis der geschaffenen Dinge zu Gott: subiecta

    fuerint illi omnia [], ut sit Deus omnia in omnibus (Ihm sind alle Dinge untertan, so dass Gottalles in allen ist.) und in Eph. 1, 23 ber Christus, der die Kirche wie seinen Leib ausflle: quiomnia in omnibus adimpletur (der alles in allen ausfllt). Augustinus greift diese Formel einmal

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    druck gefunden. Den keineswegs metaphorischen, sondern ontologisch tatschlichen5

    Zusammenhang zwischen Vorbild und Abbild, Himmel, Welt und dem besonderen

    Mikrokosmos im Menschen hat wohl erst die Aufklrung des 18. Jahrhunderts end-

    gltig zerschlagen und geleugnet. In den Jahrhunderten zuvor ist er jedoch ein unwi-

    dersprochenes Faktum, das in weit mehr als nur theologischen und dort besonders in

    den liturgischen Zusammenhngen wirkt. Auch und gerade das wissenschaftliche

    System ist in diesen Rahmen gespannt.

    Die Frhe Neuzeit akzentuiert diese seit der Sptantike valenten Tendenzen6

    mit erneuerter Emphase und umfasst sie in dem vom Florentiner Neuplatoniker Ago-

    stino Steucho begrifflich geprgten Sachzusammenhang der Philosophia perennis.7

    Der Urtrieb des Menschen nach Wissen richtet sich ihm zufolge darauf, das Adam

    von Gott mitgegebene und im Sndenfall verwirkte Urwissen, die ursprngliche sa-

    pientiawiederzugewinnen, welche sich auf die magnitudo, divinitas arcanaque sub-

    limia8Gottes bezog. Das Wissen wird hier also als direkt und ausschlielich theolo-

    gisch verstanden. Die nach oben leitenden Erkenntnisinhalte sind noch immer die

    Ideen, Essentien [als eine] medicina mentis et corporis, da die ideale und heile

    Natur nur im Intelligiblen zu finden ist.9 Die konkreten wissenschaftlichen Bem-

    hungen richten sich dennoch zuerst auf die stoffliche Welt, der man durchaus empi-

    risch beizukommen versucht. Daneben gilt die Annahme von einer scientia prisca,

    in einem ebenfalls theologisch-trinitarischen Zusammenhang auf, nmlich in De Trinitate IX, V 8:At in illis tribus [mente, amore, scientia] cum se nouit mens et amat se, manet trinitas, mens,amor, notitia; et nulla commixtione confunditur quamuis et singula sint in se ipsis et inuicem totain totis, siue singula in binis siue bina in singulis, itaque omnia in omnibus (Aber in jenen drei

    Dingen dem Geist, der Liebe und dem Wissen bleiben, sofern der Geist sie kennt und liebt, dieTrinitt, der Geist, die Liebe und die Erkenntnis und sie verwirren sich nicht, wenn jedes einzelneauch in sich selbst ist und umgekehrt alle in allen, oder eines in den anderen zweien und die zweiim einen, also alle in allen.), verwendet sie aber auch fr die Vermischungspotenz der Elemente:elementa omnia in omnibus inesse (alle Elemente sind in allen Dingen vorhanden, DeGen III, 4,S. 67). Die Idee einer strukturellen hnlichkeit zwischen Transzendenz und stofflicher Welt er-gibt sich hier ganz klar. Vgl. zu diesem Komplex auch Ohly 1999, S. 45-51.

    5 Ohly 1999, S. 83f. und 118.6 Vgl. Schmidt-Biggemann 1995, S. 1.7 Steucho 1540.8 Steucho 1540, cap. II, S. 6.9 Schmidt-Biggemann 1995, S. 7.

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    die in Ergnzung zur gttlichen Offenbarung das allen Menschen, auch Heiden, ber

    ihre Vernunft offen stehende Wissen in Mathematik, Ethik und Metaphysik um-

    fasst. 10Die Philosophia perennis drngt also mit Notwendigkeit zu einer universal-

    wissenschaftlichen Einkleidung: Kein Ding darf bersehen werden, wenn es heit,

    das verlorene Wissen ber Gott wiederzufinden, da jedes von seinem Schpfer

    spricht. Ein Denken auf der Spur der Signaturen, 11wiederholtes Durchbrechen der

    engen Fachgrenzen, topische statt alphabetische Sachordnungen, die Bevorzugung

    esoterischer berlieferungen gegenber exoterischen, 12 ein steter Zug ins Transzen-

    dente, und die Vorliebe fr Wunderbares, Geheimnisvolles und das so genannte Ma-

    gische sind folglich Charakteristika frhneuzeitlicher Wissenschaft.

    Damit entspricht das, was heute den Zugang zu solchen Texten hufig ver-

    sperrt, offensichtlich genau dem, was sie erst in ihrem Eigentlichen aufzuschlieen

    vermag. Denn mehr und mehr ist sich die Kulturgeschichte bewusst geworden, dass

    gerade in diesen Skandala die Schlssel fr ein angemesseneres Verstndnis der Fr-

    hen Neuzeit zu suchen sind, provoziert doch dieses besonders Fremde ein besonders

    vehementes Warum?.13

    Wenn die folgenden Untersuchungen der 1650 also in einem der alle fnf-

    undzwanzig Jahre von der katholischen Kirche gefeierten Heiligen Jahre erschie-

    nenen Musurgia universalis des in Rom lebenden deutschen Jesuiten Kircher ge-

    widmet sein sollen, dann unter genau diesen Auspizien. Das Werk kommt einem

    solchen Vorhaben in mehrerer Hinsicht entgegen: Die ausgeprgte Bewunderung,

    mit der die Zeitgenossen Kircher und vor allem seinem uvre begegneten, sowie

    sein prominentes Verwobensein in die damals aktuellen Debatten bieten ausreichen-

    10 Schmidt-Biggemann 1995, S. 11. Zu Kircher als dem Hauptpromotor dieses Denkens im 17. Jahr-

    hundert vgl. Gouk 1999, S. 103.11 Zum spezifischen Verstndnis der Signaturenlehre als Bezge nur zwischen Dingen, ohne einen

    expliziten Verweis auf Transzendentes vgl. Ohly 1999. Foucault 2003 fasst unter diesen Begriffauch die Verweise der Dinge auf Gott, und in diesem Zusammenhang als dem fr Kircher zutref-fenden soll der Begriff im Folgenden verwandt werden.

    12 Godwin 1994, S. 15.

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    de Wahrscheinlichkeit dafr, dass die Beschftigung mit ihm Paradigma tisches fr

    das gesamte 17. Jahrhundert zu Tage frdern kann. Auerdem macht das in derMu-

    surgiazur Anwendung gebrachte Musikverstndnis sie sowohl fr die Musikwissen-

    schaft als auch fr die Wissenschafts- und Kulturgeschichte allgemein zu einem

    Werk von zentraler Bedeutung. Ihre auffallenden, unbequemen Eigenheiten wie die

    scheinbar disparat-willkrliche Stoffflle vom singenden Faultier bis zur Weltenor-

    gel, das irritierende Nebeneinander von auf Exaktheit bedachter Empirie und Wun-

    derglauben, die Verankerung musiktheoretischer Probleme in universalwissenschaft-

    lichen Zusammenhngen lassen erkennen, dass Kircher klar das eben beschriebene

    hermetisch-neuplatonische Weltbild vertritt.14Nimmt man diese Befunde ernst und

    flchtet sich nicht im Vorhinein in die Untersuchung unbedenklicher Details, rufen

    sie zudem eben eines dieser lauten Warum? (Warum schrieb Kircher solch ein

    Buch ber Musik? Warum schrieb er berhaupt?) und andere entscheidende Fragen

    hervor. Unter ihnen sollen diejenigen nach dem Zusammenhang von Musik und Uni-

    versalwissenschaft und nach der Realisierung der von Kircher angestrebten Verknp-

    fung von Theorie und Praxis die zwei Brennpunkte dieser Betrachtungen sein, aus

    denen sich alles Weitere ergibt: Was etwa prdestinierte die Musik fr die hervorste-

    chende Rolle, die Kircher und einige andere seiner Zeitgenossen ihr im Zirkel der

    damals betriebenen Wissenschaften zuteilten? Was berhaupt will man mit Wissen-

    schaft, mit der auf diesem Wege generierten Erkenntnis erreichen? Wozu der horror

    oblivionis, den Kircher so dringlich immer wieder bekennt? Wie stellt sich die al-

    lenthalben von ihm beschworene Rckkoppelbarkeit eines derartigen Musikdenkens

    13 Als Beispiele im Rahmen der fr das Folgende relevanten Forschung seien besonders Leinkauf1993, Eco 1993, Dear 1995 und Ohly 1999 erwhnt, deren Herangehensweise ich mich sehr ver-pflichtet wei.

    14 So auch Eco 1993, S. 200. Wenn hermetisch, platonisch und neuplatonisch im Folgendensynonym gebraucht werden, um den weltanschaulichen Hintergrund der Frhen Neuzeit zu benen-nen, dann rekurriert das auf eine entsprechende Konzeption Ficinos. Die klare Beziehung, die erzwischen den hermetischen Texten, der platonischen und neuplatonischen Philosophie und letzt-lich sogar dem Christentum herstellt, gibt dem Antikenbezug der Renaissanceplatoniker eine deut-lich andere Qualitt gegenber demjenigen des Mittelalters. Vgl. dazu Mitchell 1994, S. 45ff.

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    an die Musik-Praxis seiner Zeit dar? Und wo liegt die Relevanz einer solchen Schrift

    ber die Musik auerhalb der klar umrissenen Debatten des Musikschrifttums?

    Aber es gilt in Anlehnung an die oben skizzierten Zusammenhnge auch enge-

    re Probleme der Interpretation zu bedenken. Denn entwirft Kircher nicht im Mi-

    krokosmos seines uvres selbst ein Schpfer mit der Musurgiaebenfalls ein Ab-

    bild, nmlich das der Musik in ihrer Gesamtheit? Und wenn es das Spezifikum eines

    Abbildes ist, in Identitt von Form und Verweisfunktion rational entschlsselbar auf

    sein Vorbild hinzuweisen,15 muss das dann nicht Konsequenzen fr die Lektre

    heute wie damals zeitigen? Man darf also, dies eine der grundlegenden hier durch-

    gefhrten Thesen, dieMusurgianicht als einen Steinbruch musikrelevanten Wissens,

    als einen nur in seinen faktischen Aussagen wichtigen Traktat nehmen, sondern als

    einen Text im emphatischen Sinne. Ein philologischer Zugang, der bereits die Struk-

    turen, das formale Gerst sowie Argumentationsstrategien, Gattungstraditionen und

    den intertextuellen Dialog auf Bedeutung und Verweis befragt, scheint damit eben-

    falls unerlsslich.

    2 Das widersprchliche Jahrhundert

    Wie die Musurgia erst vor dem Hintergrund ihrer ideengeschichtlichen Vorausset-

    zungen eine historisierbare Perspektive gewinnt, so fgt sie sich zudem in den Rah-

    men des 17. Jahrhunderts ein, dieser damals wie heute wissenschaftsideologisch so

    aufgeladenen Zeit. Denn der momentan fr diese Zeitspanne geltenden communis

    15 In der Praefatio I, S. [XVII] schreibt Kircher: Decupartitum itaque Opus occepimus, in quatamquam in decachordo quodam eutactico exhibemus, hoc prasens ex Consonis et Dissonisconstitutum tandem emersit Organum, in Registrorum ordinibus mirandum. (Ich habe das Werkzehnteilig angelegt, und lege in ihm alles gleichsam wie in einem wohlgeordneten Dekachord dar.Daraus entstand die vorliegende Orgel aus Konsonanzen und Dissonanzen, zu bewundern in derOrdnung ihrer Register.) Vergleichbares motivierte ihn auch beim Aufbau des Vorgngerwerkes,derArs magna lucis et umbrae.In der Praefatio S. [II] wird die Einteilung des Werkes in zehn B-cher wie folgt begrndet: Die Bcher entsprechen den zehn Strahlen der Zephirot (das sind dieNamen und zugleich Emanationen Gottes in der Kabbala), whrend das Werk als Ganzes denmundus lucis et umbrae widerspiegele. Die Vorstellung, dass ein Buch somit mikrokosmischseinen makrokosmischen Gegenstand abbilden kann, ist hier evident.

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    opinio liegt es offenbar vllig fern, Kircher als typischen Exponenten seines Jahr-

    hunderts zu bezeichnen. Die jngste Monographie etwa, die eine Phnomenologie

    und geistesgeschichtliche Gesamtaufarbeitung des 17. Jahrhunderts anstrebt, erwhnt

    Kircher ungeachtet langer Abschnitte zu Enzyklopdik und Universalwissenschaft

    mit keinem Wort.16Ist Kircher also doch eher ein Mann der Renaissance,17verstrickt

    in ein beraltertes dogmatisches Weltbild und damit ohne Aussagekraft fr, fremd in

    seiner eigenen Zeit? Setzt sich das wirkliche Charakterbild dieser Epoche nicht viel

    eher aus weit in die Zukunft weisenden Anstrengungen zur berwindung der nun als

    fr jeden Fortschritt hinderlich beurteilten Tradition zusammen, wie sie sich etwa in

    folgender Invektive ausdrcken?

    Atque quae tradita et recepta sunt ad hunc fere modum se habent: quoad operasterilia, quaestionum plena; incrementis suis tarda et languida; perfectionem intoto simulantia, sed per partes male impleta Qui autem et ipsi experiri et sescientiis addere earumque fines proferre statuerunt, nec illi a receptis prorsusdesciscere ausi sunt, nec fontes rerum petere. Verum se magnum quiddam con-sequutos putant si aliquid ex proprio inserant et adjiciant Verum dum opi-nionibus et moribus consulitur, mediocritates istae laudatae in magnum scientia-rum detrimentum cedunt. Vix enim datur authores simul et admirari et superare

    Itaque hujusmodi homines emendant nonnulla sed parum promovent, et pro-ficiunt in melius non in majus Nemo autem reperitur, qui in rebus ipsis etexperientia moram fecerit legitimam. Atque nonnulli rursus qui experientiaeundis se commisere et fere mechanici facti sunt, tamen in ipsa experientia erra-ticum quandam inquisitionem ex-ercent Nemo enim rei alicujus naturam inipsa re recte aut foeliciter perscrutatur Quare, ut quae dicta sunt complecta-mus, non videtur hominibus aut aliena fides aut industria propria circa scientiashactenus foeliciter illuxisse.18

    (Was bis heute berliefert und akzeptiert wurde, ist ungefhr so einzuschtzen:

    nutzlos die Werke, die ungelsten Probleme zahlreich; Fortschritte erfolgenhchstens zh und langsam, im Ganzen wird Vollkommenheit geheuchelt, aberdas Einzelne ist schlecht ausgefhrt Jene aber, die beschlossen, selbst zu ex-

    perimentieren, sich den Wissenschaften zu widmen und ihre Grenzen zu erwei-tern, wagten weder, grundstzlich von dem allgemein Anerkannten abzuwei-chen, noch die Ursprnge der Dinge zu suchen. Ja, sie glaubten gar, schon et-

    16 Schneider 2004.17 Godwin 1994, so auch noch Clark/Rehding 2001, S. 4.18 Bacon 1620, S. 127ff.

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    was Bedeutendes erreicht zu haben, wenn sie nur irgendetwas Eigenes einfgenoder hinzusetzen konnten Aber solange man sich nur auf Meinungen und

    berkommenes verlsst, verursachen die gepriesenen Mittelmigkeiten einengroen Schaden fr die Wissenschaften. Denn man kann wissenschaftliche Au-toritten nicht zugleich bewundern und berwinden Daher haben Wissen-schaftler dieser Art zwar einiges verbessert, aber nichts wirklich vorangebracht Niemanden gibt es, der sich gebhrend mit den Dingen selbst und der Erfah-rung beschftigt htte. Einige dagegen, die sich den Wellen der Erfahrung ber-lieen und beinahe zu Mechanikern wurden, gerieten beim Experimentierendoch auf einen Irrweg Denn niemand hat Erfolg, wenn er die Natur einesDinges in dem Ding selber sucht Daher um das Gesagte zusammenzufas-sen scheint weder das Vertrauen in andere noch die eigene Anstrengung dieMenschen bislang in den Wissenschaften ausreichend erleuchtet zu haben.)

    Der hier die wissenschaftlichen Bemhungen ganzer Jahrhunderte so leichtweg vom

    imaginren Tisch wahrer Erkenntnis wischt, ist Francis Bacon neben Galilei, Kep-

    ler, Descartes und Newton einer der Sulenheiligen der Neuzeit. Die Methodik, die

    er in seiner heute nur noch unter einem ihrer Untertitel als Novum organumbekann-

    ten Instauratio magna von 1620 angreift, ist nicht nur eindeutig die im weitesten

    Sinne scholastische, sondern war zudem mit einiger Konsequenz auch aus dem oben

    beschriebenen sptantik-mittelalterlichen Zugriff auf die Welt hervorgegangen: Ein-

    gebettet in einen nicht infrage gestellten dogmatischen Erklrungszusammenhang

    schriftlich fixiert von den heidnischen und frhchristlichen Autoritten, angeordnet

    um eine an Aristoteles (und das sptantike, oft platonisierende Kommentarwerk zu

    ihm) angelehnte Philosophie breitester Zustndigkeit , war das Erkenntnisinteresse

    nur bedingt auf Entdeckung und Erfindung, also die originelle Eigenleistung eines

    Individuums ausgerichtet. Schlielich glaubte man das Erlsungswissen vollstndig

    in der Bibel enthalten und von den Kirchenvtern inspiratorisch ausgelegt, das

    Weltwissen hingegen ebenfalls vollstndig und entzifferbar in der Welt selber jedem

    Sehenden offen vor Augen liegend. Wie man sich also auf autoritre Schriften sttz-

    te, las man zugleich auch im Buch der Natur. Alltgliche experientia, Naturbeobach-

    tung und der wahrnehmende Nachvollzug von postulierten Sachverhalten waren

    folglich dem Mittelalter (und hier besonders dem in mancher Hinsicht dem 17. gar

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    nicht so unhnlichen 13. Jahrhundert) 19wie der Frhen Neuzeit lngst bekannte Me-

    thoden.20Doch Bcher musste man interpretieren: Eine Hermeneutik des mehrfachen

    Schriftsinns, des Verweisens auf Niederes und Hchstes war subtil ausgearbeitet und

    selbstverstndlich. Und hier fungierte dann das hermetische Weltverstndnis als eine

    Brille, ein Filter, der dieselbe Hermeneutik auch bei der wissenschaftlichen Interpre-

    tation der Natur anwandte. Offenbarte oder autoritativ beglaubigte Prmissen galten

    weit mehr als Wahrnehmungen der allzu oft trgerischen Sinne, als Schlussfolgerun-

    gen eines einzelnen Individuums. Und deshalb war es methodisch nur folgerichtig

    und korrekt, auch die Naturwissenschaften mit philosophisch-theologischen berle-

    gungen einzukleiden, ja sie dadurch wie mit einem Korsett auf ihre einzig sinnvollen

    und heilsamen Aussagemglichkeiten auszurichten.

    Wenn Bacon also auch Experimentatoren in seine Kritik einbezieht was zu-

    erst verwundern mag, ist doch die sich des Experiments bedienende Empirie eine

    Basis moderner Wissenschaft , dann meint er ein Vorgehen in diesem Zusammen-

    hang. Damit wird klar, dass ein experimentell gesttztes Formulieren von Erkennt-

    nissen noch lange nicht als ein Zeichen fr eine empirisch orientierte Wissenschaft

    im Sinne der Neuzeit genommen werden darf. 21 Und gerade im 17. Jahrhundert

    scheint es geraten, sehr auf diesen Unterschied Acht zu geben. Denn zwar knnte

    man das Problem mit Bacons Auftauchen fr erledigt halten. Doch bersieht eine

    nur auf die erstmalige Formulierung neuer Gedanken konzentrierte Geistesgeschichte

    allzu oft, dass bis zu seiner allgemeinen Anerkennung zuweilen viel Zeit verstreicht.

    Und ebenso, wie Bacons prsentische Formulierungen anzeigen, dass er selbst diese

    Form von Wissenschaft noch allenthalben in Blte fand, belegt der heute erreichte

    19 Auf die hnlichkeit im Umgang mit Wissenschaft in beiden Jahrhunderten hat Alistair C. Crombiebereits 1959 hingewiesen (vgl. Crombie 1990, S. 139150).

    20 Vgl. etwa zur implizierten Empirie bei Albertus Magnus Sturlese 1997, S. 52, und zur Visualisie-rung des Buchwissens bei Hugo von St. Viktor Illich 1991, S. 34.

    21 Vgl. die Ausfhrung in Ohly 1999, S. 81, ber Echoexperimente John Websters, die eindeutig ausdem Zusammenhang der Signaturenlehre motiviert waren, bzw. S. 53 ber die dezidierte Hinwen-dung zur Naturbeobachtung bei den Paracelsisten, die ebenfalls von dem Gedanken getrieben war,das Innere der Pflanzen und Tiere an ihrem ueren ablesen zu knnen, um ihre verborgenenHeilkrfte zu erkennen.

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    berblick ber das Schrifttum des 17. Jahrhunderts, dass die Verffentlichung seines

    Novum Organumdie entscheidende Wende vielleicht einlutete, aber vorerst nicht

    erwirken konnte. Erst die Grndervter der englischen Royal Society sollten sich ab

    1660 explizit auf seine Reformideen berufen.22Und dass auch ein bereits ausschlie-

    lich von Naturerkenntnis motiviertes Experimentieren noch keine moderne Empirie

    sein muss, liest man bei Peter Dear: Nach einer klaren Unterscheidung zwischen ei-

    nem aristotelischen Umgang mit Wahrnehmungserfahrung und moderner, auf ein

    einmaliges Ereignis gesttzter Empirie in der Nachfolge Newtons stellt er fest, wie

    sehr ausgerechnet Galilei noch in ein- und derselben Diskurskultur mit Jesuiten und

    Universalgelehrten verwurzelt war, da er seine Erkenntnisse ganz selbstverstndlich

    in die Muster aristotelischer Wissenschaftlichkeit einpasste.23

    Nimmt man diesen Befund, dass berkommenes in wissenschaftlicher Metho-

    de wie Stoffanordnung auch das gesamte 17. Jahrhundert hindurch noch von klarer

    Wirkung war, wirklich ernst und vergleicht ihn mit der zentralen Rolle, die diese Zeit

    als Scharnier hin zur Moderne, als Epoche der mittlerweile zum Schlagwort gewor-

    denen wissenschaftlichen Revolution in wissenschafts- und ideengeschichtlichen

    Darstellungen spielt, erhebt sich natrlich ein historiographisches Problem: Wie sind

    diese beiden diametralen Storichtungen in einBild der Zeit einzuordnen? Soll man

    nach dem Kommenden bewerten und die nach rckwrts gewandten Erscheinungen

    als untypisch und anachronistisch ausschlieen? Das hiee dann aber wohl, eine

    schon quantitativ prominente Textgruppe aufgrund teleologischer Vorurteile an den

    Rand zu drngen und ihren Autoren die eigene Zeitgenossenschaft abzusprechen.

    Oder versucht man so weit als irgend mglich ohne ein vorgefasstes Urteil ber Weg

    und Ziel des Weltgeistes die Epoche in der Flle ihrer Erscheinungen zu analysieren,nicht allzu frh nach dem Strohhalm harmonischer Entwicklung oder (ver-)fhrender

    Benennung zu greifen, scheinbare Widersprche auszuhalten, um am Ende vielleicht

    das gngige Bild abgewandelt zu finden?

    22 Gouk 1999, S. 89.

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    Die Frage ist natrlich rhetorisch. Und Detailuntersuchungen haben lngst er-

    geben, dass die ausschlieliche Fokussierung auf die wissenschaftliche Revolution,

    ihre philosophischen Neuanstze ebenso wie den Methodenwandel hin zur Empirie

    und die Abkehr von magischen und transzendentalen Bezgen eines von mehreren

    Charakteristika dieses Jahrhunderts in unzulssiger Weise zum alleinigen Movens

    aller damaligen Wissenschaft verabsolutiert. Und dass bei einem genaueren Blick

    sich der rezeptiv postulierte Riss nicht nur durch das Jahrhundert und seine weltan-

    schaulichen und wissenschaftlichen Schulen zieht, sondern gar soweit durch Indivi-

    duen, dass die Vertreter der scheinbar konservativen von denjenigen der scheinbar

    modernen Auffassungen kaum mehr scharf getrennt werden knnen, sollen einige

    Beispiele illustrieren, die die oben erwhnten Helden in der Entwicklung neuzeitli-

    cher Wissenschaftlichkeit zum Subjekt haben.

    Etwa Newton: Wie schwer fllt der Versuch, ihn sich nicht nur intuitiv-genial

    unter dem Apfelbaum, sondern auch bei seinen erwiesenermaen eingehenden al-

    chemistischen und kabbalistischen Studien vorzustellen. 24

    Ein nchstes Beispiel: Kepler und die Harmonie der Welt. Ohne Zweifel ist es

    nach gngiger Beurteilung rckwrtsgewandt, die Konsonanzproportionen in den

    Himmelsbahnen vorgeprgt finden zu wollen, um die Analogie von Mikrokosmos

    und Makrokosmos, bewirkt durch Gottes geordnet-ordnende Schpfungstat, besttigt

    zu sehen. Zwar sind die Verhltnisse, die Kepler in seiner Harmonice mundifindet,

    und die astronomischen Realitten, an denen er sie ausmacht, nicht nur von der bis

    dahin relativ simplen Annahme weit entfernt, sondern beruhen auch auf exakten as-

    tronomischen Messungen und Berechnungen. 25Doch ein Selbstzeugnis wie das, dass

    er seit 1596 dem Erscheinungsjahr seines Mysterium cosmographicum bewusstnach den musikalischen Proportionen gesucht habe, von deren Existenz am Himmel

    er fest berzeugt war, und die Tatsache, dass er die Messwerte ihrer Deutung als mu-

    23 Dear 1995, S. 125f. und 248. Zur genaueren Unterscheidung von aristotelischer experientiaund

    neuzeitlichem experimentumvgl. unten Kap. III, 1.24 Vgl. Gouk 1999, S. 224257.25 Walker 1987, S. 84.

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    sikalische Intervalle zum Teil recht deutlich zupassen musste, gewinnt unserem Bild

    von ihm als einem der Grndervter einer empirischen und vorurteilsfreien As-

    tronomie zumindest eine nicht unwesentliche Facette hinzu.

    Das Musicae compendiumvon Descartes schlielich, verfasst um 1618, aber

    erst 1650 posthum gedruckt, ist hinlnglich bekannt und nimmt unter dem musikali-

    schen Schrifttum des 17. Jahrhundert sicherlich eine Sonderstellung in der Forschung

    ein, wird ihm doch zumeist eine berlegene Modernitt nachgesagt. So beurteilt etwa

    Rolf Dammann es als einen von der Tradition unabhngigen Neuanfang. 26Doch wie

    verwunderlich fngt dieser Anfang an, wenn Descartes auf die alte Idee der Sympa-

    thie und Antipathie zwischen den Dingen zurckgreift und erwhnt, dass eine mit

    Schafshaut bespannte Trommel nicht tnen wolle, sobald gleichzeitig eine mit

    Wolfshaut bezogene geschlagen werde.27Als Gewhr fr dieses spezielle Beispiel

    sofern es nicht ein allgemein verbreitetes Detail einer ebenso allgemeinen Idee war

    knnte eine Schrift des Mediziners Ambroise Par aus dem Jahre 1575 gedient ha-

    ben.28Beider Landsmann Marin Mersenne nimmt dann die Geschichte im Jahre 1623

    noch einmal auf. 29Wie viel fortschrittlicher will hier doch Kircher erscheinen, der

    sich ebenfalls ausfhrlich mit Fragen der Sympathie beschftigt, sie als solche auch

    keineswegs infrage stellt, doch hinsichtlich der Ansichten etlicher berhmter alter

    (etwa Pythagoras) und neuer (Giovambattista Della Porta) Gelehrter, Schafe seien

    mit aus Wolfsdrmen gefertigten Lauten zu erschrecken, Pferde mit Trommeln aus

    Elefanten-, Kamel- oder Wolfshaut, vehemente Kritik anmeldet:30Es sei eines Philo-

    sophen nicht nur unwrdig, solcherlei deliramentaund aniles fabulaszu verbreiten,

    ohne sie zuvor im Experiment nachgeprft zu haben, sondern die musikalische Sym-

    pathie wirke berhaupt nicht durch das Material, sondern die Luftschwingung, alsodie Frequenz.31Das lsst gleich mehrfach aufhorchen: Zum einen spricht er sich in

    26 Dammann 1995, S. 215.27 Descartes 1650, S. 5.28 Par 1575, Kap. 21.29 Mersenne 1623.30 MU B, S. 228.31 MU B, S. 229.

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    solchen Fllen fr die Notwendigkeit des Experiments zur Absicherung eines bislang

    nur behaupteten Faktums aus. Die Skepsis gegenber den Zeugnissen der Autorit-

    ten, die er damit beweist, und allein schon die Idee, so lange berliefertes sei einer

    berprfung auf sein simples Zutreffen nicht enthoben, sind sicherlich typisch fr

    die sich wandelnde Wissenschaftlichkeit vor 1700. Dennoch knnte fr sie auch eine

    mittelalterliche Figur wie Abaelard Pate gestanden haben, der in seinem zwischen

    1121 und 1126 verfassten Sic et non das reine Autorittsargument zugunsten des

    forschenden Suchens, des lernenden Hrens und vergleichenden Prfens ablehnt. 32

    Doch zugleich zeichnet sich schon an dieser Bemerkung Kirchers bliche Verwen-

    dung von Experimenten ab, die nicht wie in der modernen Empirie Erklrungen von

    natrlichen Vorgngen liefern sollen, sondern lediglich Sachverhalte abklren, deren

    Ursachen und Wirkmechanismen dann wieder mit rationalen, traditionell verwurzel-

    ten Mitteln gesucht werden. Zum anderen setzt er einem konturlosen Sympathiebe-

    griff den Bacon ganz zu Recht fr wohlfeil hielt, da er jede wirklich wissenschaft-

    liche Ursachensuche von vornherein unterbinde33 eine ausgearbeitete Theorie ent-

    gegen. Das ist zum Mindesten einmal wissenschaftlich nicht unseris und an den

    Standards der Zeit gemessen beinahe auergewhnlich. Was an diesem direkten

    Vergleich zwischen Kircher und Descartes ebenfalls verwundern will, ist die Tatsa-

    che, dass Descartes ein derart mit dem alten Weltbild verknpftes Thema als etwas

    vllig Selbstverstndliches nur in einem Nebensatz erwhnt, whrend Kircher es

    ausfhrlich problematisiert, ja zu Teilen gar verwirft und damit diesen in den Bereich

    der Magie gehrenden Erklrungszusammenhang erst wissenschaftsfhig macht.

    Damit steht er fr einmal mit Bacon auf derselben Seite.

    Kircher scheint also doch durch mehr als die Zuflligkeit seiner Lebensdatenein Zeitgenosse dieser Mnner zu sein, und eine mgliche Untersuchung, die sich mit

    der Scheidung des Konservativen vom Vorausweisenden, der Renaissance- von den

    Barock-Elementen in seinen Ideen wie denen der Zeit begngen wollte, erweist

    32 Vgl. dazu von Moos 1997, S. 40.33 Bacon 1605, S. 289.

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    sich mehr und mehr als ohne groe Aussagekraft und fast schon irrefhrend. Viel-

    mehr gilt es dem auf den Grund zu gehen, was Empirie und Alchemie, Kabbala und

    Methodendiskurs gleichermaen motivieren konnte. Denn keineswegs soll hier jetzt

    in Umkehrung der meisten Forschung das 17. Jahrhundert unauflslich an das Mit-

    telalter und die Sptantike rckgebunden werden. Doch schliet man, wie es mittler-

    weile dringend geraten scheint, die damals ebenfalls noch vorhandenen und vielleicht

    sogar breiter akzeptierten Reminiszenzen alter Denkformen wie der hermetischen in

    die Betrachtung ein, ergibt sich daraus ebenfalls ein Problem, das nicht verschwiegen

    werden soll: Wenn die Prmissen der philosophisch-wissenschaftlich-theologischen

    Welterschlieung tatschlich so altehrwrdig waren, wie erklrt sich dann der doch

    ganz eigene und eben auch bei den Konservativen verbreitete Charakter von Wis-

    sensdurst und Forschen dieser Zeit? Kircher ist eben kein mittelalterlicher Scholasti-

    ker, auch kein Renaissancemagier, sondern dies sei um seiner Wichtigkeit willen

    noch einmal wiederholt ein Kind seiner Zeit.

    Das 17. Jahrhundert in seiner berflle von Weltentwrfen und Ordnungsver-

    suchen hlt also in besonderem Mae dazu an, sich gegen eine nur lineare Ge-

    schichtsbetrachtung zu entscheiden und eine Epoche, die so oft nur unter den transi-

    torischen Gesichtspunkten des Schon und Noch nicht bewertet wird, einmal als

    einen historischen Moment, eine entwickelte, detailreiche und in ihren Details wech-

    selseitig aufeinander bezogene Kulturvarianz zu verstehen.34

    Die Musik erweist sich nun in diesem Zusammenhang als ein Klrung versprechen-

    des Objekt, da sie als eine traditionell mit ungeheurer Bedeutung aufgeladene Diszi-

    plin den Schauplatz konservativster wie modernster Bestrebungen abgab und diesezwischen den Buchdeckeln der Musurgiagar eng verband. Dagegen war unter den

    gegebenen Umstnden mit Widerstand zu rechnen. Und neuerlich ist es Bacon, den

    man gegen Kircher ins Feld fhren knnte:

    34 So auch der Ansatz von Peter Dear (Dear 1995, explizit S. 15).

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    Music, in the practice, hath been well pursued, and in good variety; but in theo-ry, and especially in the yielding of the causes of the practique, very weakly;

    being reduced into certain mystical subtilties, of no use and not much truth. 35

    The diapason or eights in music is the sweetest concord; The cause is dark,and hath not been rendered by any.36

    Nicht nur nutzlos, auch schlichtweg falsch sei alle Theorie bislang, und die zentrale

    Frage nach der Ursache fr musikalische Schnheit und Wirkkraft noch ohne Ergeb-

    nisse geblieben. Das ist nichts weniger als ein Frontalangriff auf zweitausend Jahre

    Musikbetrachtung. Stellen wir uns vor, dass Kircher ihn in seiner Musurgiaparieren

    wollte.

    Und tatschlich bietet Kircher Aussagen, die einen imaginren Dialog mit Ba-

    con zu fhren scheinen. Den Zustand seiner Zeit etwa beurteilt er gnzlich anders:

    Verm cum in ea tempora inciderimus, vt nihil hodi magis reprehensioni ob-noxium, qum quod rectissimum, nihil magis ridiculum, qum quod maxim se-rium, nil magis falsum, qum quod sincerissimum. 37

    (Aber wir leben heute in Zeiten, in denen nichts mehr kritisiert wird als das, was

    unverrckbar richtig ist, nichts lcherlicher ist als das Ernsthafte, nichts falscherals das Wahrhaftigste.)

    Wie Bacon formuliert auch Kircher polemisch und tendenzis, verallgemeinert die

    kritisierten Erscheinungen: Whrend fr jenen alle Wissenschaft noch unreflektiert

    am berholten klebte und ergebnislos schien, sieht dieser nur das umstrzlerische

    Moderne. Und was fr eine hbsche Koinzidenz, dass genau wie Bacon auch Kircher

    deshalb eine Art Instauratio mit seiner Musurgiaim Sinne hat: Cum enim musicae

    instaurandae mihi fuerit animus.

    38

    Fr beide also steht fest, dass die Gegenwart re-formbedrftig ist. Das ist zwar althergebrachte Exordialtopik, wird aber immer auch

    ein Quntchen wirkliches Empfinden ausdrcken: Was zwnge die Autoren sonst an

    den Schreibtisch, um solche nicht gerade unaufwendigen Gedankengebude zu er-

    35 Bacon 1627, Century II, Einleitung.36 Bacon 1627, 103.37 MU A, S. [XXII].

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    richten, wie es sowohl das Novum organumals auch die Musurgia jedes auf seine

    Art sind?

    Und wenn ihre Reformen auch in diametrale geistesgeschichtliche Richtungen

    streben, binden sie ihre Erneuerungen doch beide in erster Linie an Methodenrefor-

    men: Whrend Bacon die aristotelische Logik auf neue Fe stellt, sieht Kircher den

    Weg zu seinem Ziel in einer Verbindung von Musiktheorie und -praxis. Das ist bei

    Kircher mindestens so unantik (war doch die Musikpraxis damals von auch nicht

    dem geringsten Wert fr die Inhalte und vor allem die Aufgaben der pythagoreisch-

    platonischen Musiktheorie) wie bei Bacon.

    Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die hnlichkeit des Unhnlichen;

    zwischen gestern und morgen changierende Personen wie Ideen: Das knnte tatsch-

    lich eine Betrachtungsweise sein, die dem 17. Jahrhundert in greren Teilen gerecht

    wird als eine analytische und aussondernde. (Nur nebenbei sei bemerkt, dass sich

    damit erstaunlicherweise eine neue Nhe zu alten, plakativen Beschreibungen des

    Barock als des Zeitalters der zusammen gespannten Gegenstze ergibt.) Und um

    mit Gewinn ber Kircher nachzudenken, ist sie sowieso die einzig mgliche. Aus

    diesen beiden Grnden steht eine solche geistesgeschichtliche Konstruktion denn

    auch im Hintergrund der vorliegenden Untersuchungen.

    3 Doctorum hujus seculi Phoenix39

    Einen weiteren Schlssel zum Werk dann bietet natrlich dessen Autor. Anekdoten

    und ausfhrliche Beschreibungen zu Kirchers Leben gibt es genug. Fr einen weite-

    ren Lebensbericht an dieser Stelle besteht also keinerlei Notwendigkeit. Interessanter

    fr den gesetzten Rahmen ist es vielmehr, einzelne Facetten seiner Persnlichkeit,

    Ausbildung, institutionellen und persnlichen Vernetzung, sowie seiner Vita zu be-

    leuchten, die unmittelbaren oder mittelbaren Niederschlag in der Musurgiagefunden

    38 MU A, S. [XXIII].39 Von Zesen, 1662, S. 377, ber Kircher.

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    haben. Entscheidend dabei kann es nicht sein, zu einem Charakterbild Kirchers zu

    gelangen: Abgesehen von der enormen Schwierigkeit eines solchen Unterfangens ist

    es fr das hier verfolgte Ziel schlicht irrelevant. Vielmehr soll auch am Beispiel sei-

    ner Person das in den Vordergrund gerckt werden, was in einem gewissen Sinne

    verallgemeinerbar scheint, gar prototypisch, so dass ein Detail es wiederum erlaubt,

    den Bogen zu den greren geistes-, wie wissenschaftsgeschichtlichen Zusamme n-

    hngen des 17. Jahrhunderts zu ziehen. Wo lsst sich Kircher also als typisch deuten?

    Ein Universalgelehrter

    Dass Kirchers wissenschaftliche Persnlichkeit die eines Universalgelehrten war (um

    nicht den vernderlich gebrauchten und seit der / durch die Aufklrung allzu oft ne-

    gativ konnotierten40Terminus Polyhistor zu verwenden), steht auer Zweifel. Doch

    meint dieser Terminus etwas Spezifischeres als nur vielfltige Interessen und ein

    disparates uvre, zeigt er doch ein zentrales Phnomen der frhneuzeitlichen gelehr-

    ten Kultur an.41Wissend zu sein meint in dieser Prgung nicht, lediglich ber eine

    Flle von Daten zu verfgen (geschweige denn, durch Spezialisierung bewusst auf

    den grten Teil verfgbarer Daten zu verzichten); wenngleich die Flle, ja idealer-

    weise die Vollstndigkeit der Daten die unvermeidliche Basis dafr ist. 42 Von Be-

    deutung ist vielmehr ihre sinnvolle, Sinn offen legende Vernetzung miteinander. Die

    Leitbegriffe, unter denen das versucht wird, sind ordo und methodus:43Aus der ra-

    tionalen Weltordnung wird analogisch eine Wissensordnung extrahiert, die eben we-

    niger die Daten, als ihre Ordnung, ihren Strukturzusammenhang spiegelt.

    Die Quellen, aus denen sich das Universalwissen speiste, waren sowohl die

    schriftliche berlieferung die sich die Universalgelehrten in riesigem Ausmae

    anzueignen wussten , als auch eigene Naturbeobachtungen. 44Ihren sofort einleuch-

    tenden, wenn auch nicht hufigsten, so typischsten literarischen Niederschlag fand

    40 Zedelmaier 2002, S. 423.41 Zedelmaier 2002, S. 421.42 Vgl. Le Goff 1994, S. 29, der universalisals ein Schlagwort fr die geordnete Totalitt ansieht.43 Zedelmaier 2002, S. 428.

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    diese intellektuelle Attitde in der Enzyklopdie als Tendenz, das gesamte Wissen in

    einem einzigen Abriss und Zusammenhang abzubilden.45

    Hervorgehoben sei auch noch, dass die Universalgelehrten unabhngig von

    ihrer gesellschaftlichen Herkunft Brger der gemeinsamen Respublica litterarum,

    verbunden zudem durch ausgedehnte lateinische Korrespondenz verglichen mit den

    Neuerungen des 17. Jahrhundert eher konservativ zu nennen wren und dem Wandel

    from a humanism bound to the past hin zu der franzsisch geprgten Neuen Philo-

    sophie und Wissenschaft widerstrebten. 46

    Die Anknpfungspunkte an Kircher liegen auf der Hand: Kosmopolitisch

    schon durch seinen Lebens-Weg von Deutschland ber Frankreich nach Italien, aber

    auch durch seine Ordenszugehrigkeit, war er dem neuplatonisch-hermetischen

    Weltbild verpflichtet, das auch die Grundlage der universalen Gelehrsamkeit bilde-

    te.47Worber immer er schrieb, es floss ein Foliant aus seiner Feder, wie Lichten-

    berg einmal spttelte.48Und dass auch dieMusurgia wie die meisten seiner Werke

    als enzyklopdisch angelegt zu verstehen ist, soll hier vorerst nur postuliert, weiter

    unten aber ausgefhrt werden. 49Neben derMusurgiasind es vor allem der Magnes,

    dieArs magna lucis et umbraeund dieArs magna sciendi, in denen Kircher die Welt

    anhand nur eines einzigen Sachverhalts zu greifen versucht, sie ber nur ein Wirk-

    prinzip vom Hchsten bis ins Tiefste erklrt.50 Er ist sich dieses Zusammenhangs

    wohl bewusst, so dass er in der Musurgia fordern kann, der vollkommene Musiker

    msse im Grunde ein Universalgelehrter sein:

    Solus itaque perfectus Musicus est, & dici debet, qui Theoriam praxi iungit, quinon tantm componere nouit, sed & singularum rerum rationem reddere potest;

    ad quod tamen cum dignitate praestandum, omnium paen scientiarum notitiarequiritur; scilicet Arithmeticae, Geometriae, Proportionum sonorum, Musicae

    44 Zedelmaier 2002, S. 425.45 Vgl. zu diesem Komplex Grafton 1985, bes. S. 3742.46 Grafton 1985, S. 42.47 Grafton 1985, S. 32.48 Zit. nach Wurzer 1829, S. 154.49 Vgl. Kap. II, 2.50 Ausfhrlich dazu Kap. II, 4.

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    practicae tam vocalis, qum instrumentalis, Metricae, Historicae, Dialecticae,Rhetoricae, totius denique Philosophiae absoluta cognitio. 51

    (Nur der ist ein vollkommener Musiker und kann ein solcher genannt werden,der Theorie und Praxis verbindet, der nicht nur komponieren, sondern auch vonallem Rechenschaft geben kann. Um das mit einiger Wrde zu bewltigen, sindKenntnisse in fast allen Wissenschaften ntig, also der Arithmetik, Geometrie,der von den Proportionen der Tne, sowohl der Vokal- als auch der Instrumen-talmusik als ihren praktischen Disziplinen, der Metrik, Geschichte, Dialektikund Rhetorik und schlielich die vollkommene Beherrschung der gesamten Phi-losophie.)

    Das ist ein ausnehmend hoher Anspruch. Was sein Effekt auf die erklingende Musik

    sein knnte, ob sich die Musiker des 17. Jahrhunderts tatschlich an ihm orientierten,

    ob sie ihn wenigstens teilten, fhrt zu einer Fragestellung, die im vorliegenden Zu-

    sammenhang von enormer Bedeutung ist. 52 Mit den Gelehrten seiner Zeit jedoch

    verbinden Kircher diese Gedanken gewiss.

    Ein Jesuit

    Zustzlich zu dem allgemeinen geistigen Klima des 17. Jahrhunderts disponierte Kir-

    cher aber auch sein Eintritt in die ignatianische Gesellschaft zum Universalgelehrten,

    waren doch Jesuiten, sofern sie die wissenschaftliche Laufbahn einschlugen, fast per

    definitionem ebensolche.53 Die Ausbildung war im Allgemeinen traditionell, also

    scholastisch orientiert, doch vielleicht etwas fester durchgestaltet. Sie begann mit den

    trivialen Disziplinen, um grundstzliche sprachliche, rhetorische und literarische

    Fhigkeiten zu vermitteln, und setzte sich dann mit der Philosophie (Mathematik,

    Logik, Naturphilosophie und Metaphysik) und darauf aufbauend der Theologie

    fort. 54Nachdem man auf diese Weise alle Disziplinen und vor allem den hierarchi-

    sierten Verbund, in den sie eingepasst waren und miteinander kommunizierten, ken-

    nen gelernt hatte, nimmt es nicht Wunder, dass etwa Kircher Lehrauftrge fr so dis-

    51 MU A, S. 47.52 Aber leider erst zu einem spteren Zeitpunkt untersucht werden kann.53 O'Malley 1999, S. 26.54 Vgl. dazu Simmons 1999, S. 522, und Feldhay 1999, S. 108.

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    parate Fcher wie biblische Sprachen und Mathematik erteilt bekam. Frank Kennedy

    beschreibt die dauerhafte Zusammenschau der Wissenschaften bei den Jesuiten mit

    folgenden Worten:

    A commitment to the search for effective meanings encouraged Jesuits to seekrelationships among various disciplines rather than divide them, and was a re-sult of their belief in the essential unity of human beings and the fundamentalintelligibility of life.55

    Kirchers Installation am Collegium Romanum in Rom dann zeigt nicht nur, wie

    wichtig den Ordensoberen und offenbar auch dem damaligen Papst Urban VIII. 56

    (selber bei den rmischen Jesuiten ausgebildet) die Frderung viel versprechenderwissenschaftlicher Talente war, sondern ermglichte ihm sptestens seit 1645, nach-

    dem er den Status eines scriptor quasi eines Privatgelehrten mit der einzigen Auf-

    gabe, Publikationen zu verfertigen57 erhalten hatte, sich befreit von allen Lehrver-

    pflichtungen gnzlich seinen Forschungsprojekten zu widmen. Diese Auszeichnung

    wurde nur wenigen zuteil, vor ihm etwa dem vielleicht bedeutendsten jesuitischen

    Mathematiker Christoph Clavius, Kirchers direkter Vorvorgnger im Amt des Ma-

    thematikprofessors am Collegium Romanum.58

    berhaupt war eigene Autorschaftnur wenigen Mitgliedern gestattet, und einer noch geringeren Anzahl das Verfassen

    von nicht ausschlielich zum Schulbetrieb bestimmten Werken, wie es diejenigen

    Kirchers im Grunde durchweg sind.

    Und noch von anderen Ressourcen der Gesellschaft konnte er profitieren: Wh-

    rend zwar in allen jesuitischen Collegien kulturelle Aktivitten einen hohen Stellen-

    wert hatten, galt das Collegium Romanumgeradezu als das kulturelle Zentrum Roms.

    Die opernhnlichen Schuldramen und andere schulische Anlsse wie Thesenvertei-digungen und Preisverleihungen wurden smtlich mit groem musikalischen Auf-

    wand ausgeschmckt und waren der ffentlichkeit zugnglich. 59 Damit boten sie

    55 Kennedy 1999, S. 318.56 Scharlau 1969, S. 15.57 Gorman 2001, S. 11.58 Feldhay 1999, S. 110.59 Rice 1999, S. 164.

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    eine Plattform fr Kontakt und intellektuellen wie knstlerischen Austausch zwi-

    schen Jesuiten und Laien, den auch Reisende, unter ihnen so bedeutende und Kircher

    eng verbundene wie Knigin Christina von Schweden oder Johann Jacob Froberger,

    hufig nutzten. Dem Austausch innerhalb der Ordensmitglieder, den noch Ignatius

    initiiert hatte, diente die Korrespondenz der Ordensprovinzen mit ihrer Leitung in

    Rom. Gerade Missionare waren angehalten, regelmig ber ihre Erfahrungen, die

    Geographie, Biologie und Kultur der von ihnen bereisten fernen Landstriche zu be-

    richten. Seine hohe Position innerhalb der Ordenshierarchie ermglichte es Kircher,

    solche Berichte auch selber anzufordern oder wenigstens um Mitteilung ihn interes-

    sierender Fakten zu bitten. Whrend die bekannteste Frucht dieser Zusammenarbeit

    zwischen den Missionaren und ihrem in Rom alle eintreffenden Berichte sammeln-

    den und sichtenden Mitbruder sicherlich Kirchers China illustrataist, begegnen aber

    auch in derMusurgiaimmer wieder Passagen, die ber musikalische Phnomene aus

    den neuen Welten berichten. In diesen Zusammenhang gehrt auch das erwachende

    archologische Interesse an den alten Hochkulturen und ihren Nachfolgern etwa in

    gypten oder dem Nahen Osten. Damit haben die Materialsammlungen der Jesuiten

    wohl wesentlich dazu beigetragen, dass das bis dahin in Europa kaum vorhandene

    Wissen um die Realgeschichte sich deutlich erweiterte.60

    Zuletzt steht Kircher als Jesuit wenn auch weniger fr die aktiv-aggressive

    Verteidigung der katholischen Konfession (gegenreformatorische uerungen streit-

    barer Art finden sich nicht, was wider Erwarten durchaus typisch jesuitisch sein

    knnte: So haben etwa die mit Johannes Kepler in engem Kontakt stehenden Jesuiten

    zwar ein aufrichtiges Interesse an seinem Seelenheil gezeigt, ihn aber nie plump zu

    missionieren versucht.), so doch tiefer gehend fr die Bewahrung des tradiertenWeltbildes. Das allerdings war in jesuitischen Augen lngst nicht starr und in seinen

    Einzelheiten unvernderlich, vielmehr entwickelt sich die jesuitische Wissenschaft

    auf einer geschickten Gratwanderung zwischen Beharren und Erneuern zu einer ernst

    60 Grafton 1985, S. 42.

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    zu nehmenden Alternative im Wissenschaftsgeschft des 17. Jahrhunderts.61Rivka

    Feldhay hat einige Eckpunkte dieses Prozesses am Beispiel der von den Jesuiten be-

    vorzugt behandelten mathematischen Disziplinen benannt: So habe sich in den Na-

    turwissenschaften bis gegen 1620 eine experimentell orientierte, physico-

    mathematische Methodik herausgebildet. 62 Fr nicht glaubensgebundene Themen

    gilt eine relativ weite Meinungsvielfalt, die auch Kritik an den alten Autoritten und

    klare Neuerungen zulsst. 63So finden sich etwa etliche Galileische Thesen in jesuiti-

    schen Schriften wieder (und es war ein Jesuit, nmlich der schon erwhnte Clavius,

    der Galilei in seinen frhen Jahren mit groem Wohlwollen untersttzte) 64, soweit

    sie in das von ihnen noch immer als Grundlage verwendete aristotelische System

    eingepasst werden knnen.65Diese tendency to assimilate innovations within cer-

    tain limits66beschreibt Feldhay unter dem Stichwort Inklusion: Einerseits konnte

    die bloe Referierung auch abgelehnter Meinungen das Wissen ber den Konsens

    hinaus erweitern, andererseits bekleidete man neue Erkenntnisse, die man in das bis-

    herige Lehrgebude integrieren wollte, gerne mit einem bis in das Alte Testament

    oder die heidnische Antike zurckreichenden, konstruierten Stammbaum, 67wofr

    spter auch ein Beispiel aus der Musurgia begegnen wird. Den Wissenschaftlern

    stand ein internes Zensurgremium als Kontrollinstanz gegenber,68dem alle zur Ver-

    ffentlichung bestimmten Schriften vorgelegt wurden. Sein Augenmerk galt aber viel

    mehr der Qualittssicherung als der Traditionsfrmmigkeit.

    Diese Strategie ermglichte den Jesuiten lange Zeit ein Wirken unter den fh-

    renden Wissenschaftlern ihrer Zeit. Dass sie gegen Ende des 17. Jahrhunderts all-

    mhlich an Prestige verloren, liegt nicht in nachlassender Begabung, sondern in einer

    61 Feldhay 1999, S. 108.62 Feldhay 1999, S. 111.63 Feldhay 1999, S. 115.64 Vgl. Wallace 2003, S. 104.65 Feldhay 1999, S. 111.66 Feldhay 1999. S. 117.67 Feldhay 1999, S. 117 und 122.68 Feldhay 1999, S. 116.

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    Verweigerung gegenber dem nun nicht mehr Inkludierbaren begrndet: 69Denn die

    Grenzen der Anverwandlung waren ganz klar die des Glaubens in seiner katholi-

    schen Prgung. Diese Grenze konnten und wollten die Jesuiten (noch) nicht ber-

    schreiten, da der Glaube ihren Forschungen nicht nur eine Grenze, sondern vor allem

    auch ein Ziel setzte: Naturwissenschaft war Gottesdienst und Gotteserkenntnis glei-

    chermaen. Diese Voraussetzungen gelten uneingeschrnkt auch fr Kirchers Schrif-

    ten und sind gar einer der wichtigsten Schlssel zu ihrem Verstndnis.

    Ein Deutscher in Rom

    Vor allem in Bezug auf seine musiktheoretischen berlegungen mag auch seine

    Herkunft eine Rolle spielen: Wenn Deutschland wie alle anderen Lnder damals

    auch noch nicht als Nation zu fassen ist, so doch als ein Kulturraum, dessen Debatten

    mit dem 16. Jahrhundert genau wie etwa die italienischen eine eigene Kontur gewin-

    nen, was aus Quellensammlungen zum Schreiben ber Musik beispielhaft hervor-

    geht:70 In Italien wechseln schon Ende des 15. Jahrhunderts gleichzeitig mit der

    Schriftsprache (vom Latein zum Volgare) auch die Trger des Diskurses und damit

    seine Inhalte: Die Musica theoricawird fast vllig zurckgedrngt, whrend das In-

    teresse an der praktischen Anwendbarkeit der Musik deutlich zunimmt; auch die Au-

    toren selber sind zunehmend Praktiker, gar Instrumentalisten, die bislang alles andere

    als zur schreibenden Schicht gehrt hatten; Elementarlehren, Kompositions- und

    Instrumentenlehren sind die bevorzugten Stoffe der Darstellungen. Im deutschen

    Sprachraum hlt man das Lateinische fester: Noch Leonhard Euler (17071783) et-

    wa, der bedeutende Mathematiker und ebenso wichtige Akustiker, verffentlichte

    Zeit seines Lebens etliche Schriften zur Musik und Akustik, alle auf Latein, darunter

    1739 das Tentamen novae theoriae musicae, das sich gleich auf der ersten Seite mit

    einer Pythagoras-Nennung in die boethianische Tradition stellt. Vergleicht man zu-

    dem die deutsch geschriebenen Traktate mit den lateinischen, ergibt sich die Ten-

    69 Vgl. Gorman 1999, S. 181.

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    denz, dass die Sprachwahl Anspruch und Argumentationshhe spiegelt. Lateinische

    Texte umgreifen grere Themengebiete und sind nher am gelehrten Disput, 71wh-

    rend die deutschen Traktate zu groen Teilen elementare Singlehren fr Lateinsch-

    ler sind. An den berkommenen, spekulativen Inhalten halten auch sie nicht so pau-

    schal fest, wie Dammann postulierte.72Zudem teilen sich die Autoren recht deutlich

    in ihre Konfessionen: Whrend im sddeutsch-katholischen Raum hauptschlich im

    16. Jahrhundert und in einem universitren, humanistischen Umfeld (Glarean, Coch-

    lus, Bogentantz) ber Musik geschrieben wurde, griffen in den protestantischen

    Gebieten namentlich die Kantoren/Lateinschullehrer zum Stift (Heyden, Dressler,

    Listenius). In der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts und bis in die ersten Dekaden

    nach 1700 hinein, als die katholische Tradition bereits weggebrochen war, sind es

    aber gerade die protestantischen Kantoren um Andreas Werckmeister, die ob-

    wohl/insofern Praktiker den alten Bedeutungszusammenhang von musica mundana

    und musica instrumentalis noch einmal zur Blte und in ihrer eigenen Person zur

    Einheit fhren. 73

    Kircher Katholik und in Rom eng mit der italienischen (Musik-)Kultur in

    Kontakt scheint hier eine etwas schillernde Zwischenposition einzunehmen. In kei-

    ne Gruppe katholischer Musiktheoretiker persnlich eingebunden, bildet er in der

    Musurgia gerade die Zusammenhnge ab, die einige Zeit spter fr die protestanti-

    sche Tradition so fruchtbar werden. Vermittelnd gewirkt hat hier Wolfgang Caspar

    Printz, den die Lektre der Musurgiaangeregt hatte, Kircher in Rom zu besuchen. 74

    Seine eigenen daraufhin entstandenen Schriften greifen smtlich auf Kircher als eine

    wichtige Quelle und vor allem eine ideologische Matrix zurck, womit er die in

    70 Die Materialbasis der folgenden Aussagen bilden die Zusammenstellungen in Band 7 und 8a derReihe Geschichte der Musiktheorie.

    71 Hier ragen die lateinischen Disputationen heraus, die zu groen Teilen auf die metaphysischenImplikationen der Musik Bezug nehmen, also die spekulativen Themenbereiche reprsentieren.Vgl. die Wittenberger Disputationen Johann Lippius von 16091612, aufgefhrt in GesMTh 8a,S. 408.

    72 Vgl. dazu Dammann 1969, S. 61 und 187.73 Damman 1969, S. 77.74 Scharlau 1969, S. 341.

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    Deutschland fast schon vergessene Schrift in den Diskurs kurz vor und nach 1700

    wieder eingliedert. Vor allem konservative protestantische Musiktheoretiker wie Jo-

    hann Heinrich Buttstett zeigen sich von da an als eindeutig von ihr beeinflusst,75aber

    auch die polemische Ablehnung durch Mattheson stellt eine wenn auch negative

    Form der Rezeption und Auseinandersetzung dar. Diese konfessionelle Durchlssig-

    keit eines eindeutig religisen Musik- und Wissenschaftsbegriffs in der zeitlichen

    Nachbarschaft eines brutalen Religionskrieges nimmt zumindest wunder, mag aber

    durch die Emphase, die Luther auf den gttlichen Ursprung der Musik und ihre Nhe

    zur Theologie legte,76vermittelt sein. Weiter stellt sich auch die Frage, ob Kircher

    die Unterschiede der musiktheoretischen Traditionen wahrnahm und wie er sie in der

    Musurgia spiegelte. Dass ihn der Versuch einer Synthese verlockt haben knnte,

    scheint mit Hinblick auf die vom ihm zusammen gespannten Hauptpostulate beider

    Richtungen, nmlich eine alles durchwaltende kosmologischeMusica theorica sowie

    eine affektmchtige, berwltigendeMusica practica, nicht unwahrscheinlich.

    Wenn also die transalpine Herkunft Kircher manchen Weg fr sein Denken aufge-

    zeigt haben mag, so hat sein Lebensort Rom mit Gewissheit Spuren in seinem Wir-

    ken hinterlassen. Schlielich war es schier unmglich, dort zu leben und nicht davon

    beeinflusst zu werden. Denn seit dem Beginn dessen, was man gemeinhin Gegenre-

    formation nennt, trieb die Stadt Blten eines neuen, sehr dezidierten Selbstbewusst-

    seins,77 denen die Vernderungen auf der Realebene mindestens entsprachen: Die

    Ppste gingen konzentriert an die architektonische Umgestaltung der Stadt, deren

    vernachlssigtes mittelalterliches Erscheinungsbild nicht lnger zu ihrer wiederbeleb-

    ten Aufgabe als caput mundipassen wollte. Und nicht zufllig wurde gerade die je-suitische Mutterkirche Il Ges zum Stilvorbild des sich entwickelnden Barock. Zu

    Dutzenden wurden die bei den berall emsig vorangetriebenen Bauarbeiten gefunde-

    nen, vom antiken Rom ererbten Obelisken auf den Pltzen der Stadt verteilt: Ein

    75 Scharlau 1969, S. 362.76 Luther, Tischreden Nr. 4441 und 7034. Vgl. dazu auch unten das Kap. IV, 2.

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    Kreuz auf der Spitze und lateinische Kommentare auf der Basis widmeten diese

    Zeugnisse heidnischer Gre jeweils um. Wahlweise wurde der Triumph des Chri-

    stentums betont (so etwa auf dem Obelisken vor St. Peter, in einer viel beachteten

    und uerst aufwendigen Aktion 1586 von Domenico Fontana fr Papst Sixtus V.

    aufgestellt) oder die Kontinuitt und christliche Erfllung derprisca sapientiavorge-

    stellt (wie bei dem kleinen Obelisken vor S. Maria sopra Minerva). Die gleichsam

    massenmediale Deutung dieser Aktionen bernahm im 17. Jahrhundert niemand so

    willig wie Kircher: Alle drei wichtigen Ppste, unter denen er wirkte, hatten ihren

    Obelisken errichtet und den gesuchten Spezialisten Kircher mit deren Erklrung be-

    traut. So fand sich eine bersetzung des Obelisken von Urban VIII. eingebunden in

    denProdromus Coptus (Rom 1636); der Obeliscus PamphiliusInnozenz X. auf der

    Piazza Navona regte ihn 1650 gar zu einer eigenstndigen, beraus prachtvoll und

    teuer ausgestatteten Publikation an, war er doch auch schon in dessen Auffindung

    und Bergung involviert; und dem entsprechenden Objekt Alexanders VII. galt die Ad

    Alexandrum VII. Pont. Max. Obelisci Aegyptiaci, nuper inter Isaei Romani rudera

    effossi, interpretatio hierogliphica (Rom 1666), die den Auftraggeber so fesselten,

    dass er sich von Kircher persnlich in die Geheimnisse des Hieroglyphischen ein-

    weihen lie. Die Obelisken Roms sind folglich Ausrufezeichen hinter einem ppstli-

    chen Herrschaftsanspruch ber die ganze Welt. Und daran, dass dessen diachrone

    Formulierung wie intendiert synchron verstanden werden konnte, hatte ihr Inter-

    pret Kircher entscheidenden Anteil, schlielich war der gyptologische Teil seines

    Werkes der europaweit sicher am breitesten rezipierte.

    Anstrengungen zur intellektuellen und kulturellen Erneuerung Roms und der

    katholischen Kirche gingen damit Hand in Hand. Wie mit dem rmischen Barock einverbindlicher Baustil geschaffen worden war, wurden auch paradigmatische Institu-

    tionen gegrndet oder bereits bestehenden ein autoritativer, verbindlicher Status ver-

    liehen: Die Einrichtung des Collegium Romanumals gleichsam ppstliche, gesamt-

    katholische Universitt etwa hatte die argumentative Aufrstung des priesterlichen

    77 Fr den Hinweis auf diese Zusammenhnge danke ich Herrn Dr. Klaus Pietschmann, Zrich.

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    Personals zum Ziel. Und die ppstliche Sngerkapelle forderte fr sich selbst in toto

    terrarum orbe primatum.78 In ihrem Umfeld entwickelte sich denn auch so etwas

    wie die Idee eines rmischen musikalischen Stils, geprgt durch ein musikgeschicht-

    lich gesehen berlanges Festhalten an kontrapunktischer Durchgestaltung. Eine ent-

    sprechende Assoziierung des Kontrapunkts und damit einhergehend die Ablehnung

    des Paradigmenwechsels hin zur monodisch-affektorientierten Musik findet sich

    dann in der ersten Hlfte des 17. Jahrhunderts besonders dezidiert bei Romano Mi-

    cheli (15751659).79Zeit Lebens auf Rom und die ppstliche Kapelle fixiert, suchte

    er Anschluss und Einflussnahme, wozu er in etlichen polemischen Schriften und

    Kompositionen dem rmischen Stil Kontur zu verleihen suchte. Er selber verschrieb

    sich besonders der Kanonkunst, einer fr Rom zu dieser Zeit sehr typischen Gattung,

    die noch mit der spekulativ-transzendenten Musikauffassung verflochten war.

    Kircher war mit Micheli der Anfang der 1620er Jahre beinahe Kapellmeister

    an Il Ges geworden wre und spter an S. Luigi dei Francesi wirkte offenbar eng

    bekannt, machte sich dessen Stilideal zu eigen und multiplizierte seine Wirkung

    durch die Platzierung eines 36-stimmigen Kanons von Micheli auf dem Frontispiz

    der Musurgia. Auf diesen nimmt der Text spter Bezug und entwickelt eine hoch

    gestimmte Kanon-Ideologie, als deren Leuchtturm er neben Micheli auch Pier Fran-

    cesco Valentini (15701654) nennt. 80Beiden Namen fgt er ein romanus an, was

    vor dem Hintergrund, dass gerade Micheli auch selber Wert auf dieses Epitheton

    legte und sich in seinen spteren Werken nur noch musico di Roma nannte, 81klar

    mehr als nur eine biographische Angabe ist, sondern eine Art corporate identity dar-

    und herstellt, ein von den Autoren selbst gewhltes und mit Stolz getragenes Etikett.

    78 Zit. nach Sherr 1994, S. 624. Vgl. zu diesem Zusammenhang die Arbeiten von Klaus Pietschmann(Pietschmann 2004a und 2004b).

    79 Vgl. Lamla 2004.80 MU A, S. 583f.81 Lamla 2004, S. 402.

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    Kircher nahm diese Gruppenidentitt also auf, verschaffte ihr Reichweite und

    spitzte ihre paradigmatisch-katholische Konnotation noch etwas zu. 82 Vor diesem

    Hintergrund mag es denn auch nicht als ein Akt der Bequemlichkeit erscheinen, dass

    sich Kircher, der Deutsche, vor allem in seinen Passagen zur praktischen Musik fast

    ausschlielich auf rmische Komponisten und rmische Verhltnisse bezieht. Er-

    staunlich oder auch perfide suggestiv daran ist, dass er seine musikalischen Wert-

    mastbe kaum je als spezifisch rmisch offen legt, sondern als allgemeingltig ver-

    standen wissen mchte: Der rmische Sonderstil soll universal werden.

    Ob als Hieroglypheninterpret oder Musikgeschichtler, Kircher setzte sich in je-

    dem Fall als Anwalt und Promotor der Romideologie in Szene und schmolz sie zu

    einem offenbar sehr wirkmchtigen und untrennbaren Amalgam aus religis-

    politischen Zielen, wissenschaftlichem Angebot, knstlerischer Bezauberung und

    medialer Verfhrung.

    Netzwerke

    Kircher trat also keineswegs nur ber seine Bcher an die ffentlichkeit, sondern er

    band sich auch persnlich und ganz bewusst in die verschiedensten Kommunikati-

    onsnetze seiner Zeit ein. Das belegen neben den vierzehn Bnden des erhaltenen

    Briefwechsels83 auch die wissenschaftlichen Debatten, die in seinen Werken ihren

    Niederschlag fanden, sowie zahlreiche Reiseberichte ber Besuche in seinem Muse-

    um.84

    Mehrere Netze mit je verschiedenen Kommunikationspartnern lassen sich da-

    bei unterscheiden: An erster Stelle nahm Kircher natrlich an dem schon erwhnten

    Austausch innerhalb der Gesellschaft Jesu teil, empfing Informationen und holte Er-

    kundigungen ein. Damit stand ihm ein schier unschtzbares Instrument zur Beschaf-

    fung von Wissensdaten selbst aus den exotischsten Weltgegenden zur Verfgung,

    82 Fr den Hinweis auf diese Zusammenhnge danke ich sehr herzlich Herrn Dr. Klaus Pietschmann,Zrich.

    83 Heute aufbewahrt in I-Rapug 555568.84 Etwa in Printz 1696, S. 93, oder Monconys 1666, S. 446 und 452

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    das aufgrund der klaren hierarchischen Strukturen des Ordens reibungslos und

    dienstbeflissen funktionierte. Den Anschluss an die Respublica litteraria, also die

    Elite der Gelehrten, musste Kircher hingegen erst absichtsvoll herstellen, indem er

    sie in seinen Vorworten immer wieder als Adressat beschwor, im Laufe seines Le-

    bens zahllose Wissenschaftler zu Briefpartnern gewann, sich aber auch durch seine

    universalwissenschaftliche Attitde hier beheimatete und somit der eventuellen Be-

    schrnkung auf einen bestimmten fachwissenschaftlichen Zirkel bewusst versagte.

    Evidentermaen war Kircher nicht daran gelegen, sich in die Traditionen irgendeines

    Fachschrifttums einzuordnen: Sein Metier war das Wissen insgesamt und am mani-

    festesten wird das in der Ars magna sciendi das Wissen als solches. Fr ein Nach-

    denken ber die Konzeption der Musurgia drfte dieser Sachverhalt in gattungsfor-

    maler ebenso wie inhaltlicher Hinsicht noch Bedeutung gewinnen.

    Neben der intellektuellen Elite stand Kircher jedoch auch in engen Beziehun-

    gen zu den Trgern der hchsten geistlichen wie weltlichen Macht: Kardinle und

    Ppste protegierten ihn, unterhielten enge persnliche Beziehungen, und ganz beson-

    ders die habsburgischen Kaiser traten als ihm fast freundschaftlich gesinnte Mzene

    auf. So ging seine Installation am Collegium Romanum letztlich auf eine gemeinsa-

    me Anstrengung des provenalischen Senators und Wissenschaftsmzens Nicolas-

    Claude Fabri de Peiresc und des Kardinals Francesco Barberini zurck, die gegen

    seine Berufung als Wiener Hofmathematiker durch Ferdinand II. bei Papst Urban

    VIII. intervenierten.85

    Diese Kreise, die zum Teil auch Schnittmengen untereinander bildeten, drften

    zweifellos in je eigener Weise Wirkungen auf Kirchers uvre entfaltet haben: Wh-

    rend das jesuitische Umfeld den an Aristoteles und Thomas von Aquin orientiertendogmatischen Rahmen vorgab, lieferte die Gelehrtenrepublik Diskussionsimpulse,

    Themen und Methoden. Die Machtelite schlielich wollte als Finanzier und wohl

    auch hauptschliches Publikum86aus den Werken Ingredienzien zu ihrem Selbstver-

    85 Godwin 1994, S. 11 und 13.86 Dazu ausfhrlich in Kap. II, 3.

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    stndnis schpfen und trat zuweilen auch ganz direkt als Ideengeber auf: Der ppstli-

    chen Anregungen zu etlichen gyptologischen Studien wurde bereits Erwhnung

    getan. Auerdem beauftragte Kardinal Barberini Kircher auf seiner Maltareise

    1637/1638 mit musikarchologischen Forschungen, 87whrend die DedicatioderArs

    magna sciendieinen Auftrag Kaiser Ferdinands III. als Impuls nennt. Es spricht nicht

    wenig fr Kirchers Dispositionsvermgen, dass er aus dermaen unterschiedlichen

    Quellen doch ein welt- und wissenschaftsanschaulich so konsistentes und in seinen

    Zielen so hufig ineinander greifendes Werk destillieren konnte.

    Die diskursiven Vernetzungen mit all diesen Gruppen fanden in drei verschie-

    denen gesellschaftlichen Rumen statt: im internationalen und berkonfessionellen

    Briefwechsel (es gab Kontakte zu Jesuitenpatres in den fernsten Missionen ebenso

    wie zu protestantischen Gelehrten Leibniz und Herrschern), als persnliche Be-

    gegnung in Rom, nun meist auf Katholiken beschrnkt (Kircher wurde bei den ver-

    schiedensten Problemen als Fachkundiger um Hilfe gebeten, hatte Zutritt zu den Pri-

    vatzirkeln des rmischen Adels und der Papstnepoten,88und fr den Kontext derMu-

    surgiakann es kaum hoch genug veranschlagt werden, dass er mit allen bedeutenden

    Musikern und Musikschriftstellern Roms bekannt war89), und schlielich im Collegi-

    um, wo ihn und sein Museum zahlreiche Bildungsreisende besuchten. 90Dort konnte

    er ganz Herr des Ortes und Geschehens wohl die gezielteste Wirkung auf seine

    Gegenber entwickeln.

    Eine sehr pointierte Beschreibung und Interpretation dieser mikrokosmisch-

    sten von Kirchers Wirkenswelten hat Michael Gorman entworfen. 91Er entwickelt

    seine Gedanken zwar an den vielfltigen Apparaten und Maschinen des Museums,

    87 Brief vom 07.11.1637, I-Rapug 556/111.88 Scharlau 1969, S. 313.89 Dazu zahlreiche Zeugnisse in derMusurgia, etwa S. [XXI], und in seinem Briefwechsel.90 Ein Besucherprofil des Museums, das genau diese Mischung aus der Bildungs- und geistlichen wie

    weltlichen Machtelite besttigt, liefert Kirchers Schler, Mitarbeiter und Herausgeber GasparSchott 1657 imProoemiumseinerMagia universalis.

    91 Gorman 2001.

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    weitet sie aber zu einer Interpretation des Museums als ganzem aus. Maschinen und

    Museum deutet er analog zu inside jokes als Stifter einer Gruppenidentitt.

    [W]hile excluding the majority of people who are not privy to the assumptionson which the joke is based, the machines of Kircher provided an elite socialgroup with self-defining puzzles and enigmas. 92

    Diese soziale Gruppe bestand hauptschlich aus der rmisch-katholischen Elite mit

    ihren Polen in Rom und Wien,93wie ja der so oft mit der Gegenreformation nahezu

    identifizierte Jesuitenorden ganz allgemein ein geistiges Band zwischen dem Papst-

    hof und den Habsburgern bildete. Entscheidend hierbei ist Gormans Feststellung,

    dass Kircher keineswegs eine lngst konstituierte und sich ihrer selbst bewusste ge-

    sellschaftliche Einheit ansprach, sondern sie aktiv mitzuformen half, woraufhin sie

    wiederum das Museum mit Spenden und Informationen untersttzte und somit seine

    identittsstiftende Funktion positiv beantwortete.94

    Collegium und Museum funktionierten als both a theatrum mundiand a repo-

    sitory of universal knowledge95, deren Inhalte allein durch die Tatsache ihrer Aus-

    wahl, durch Anordnung und Bedeutungszuweisung gleichsam Mikrokosmen ausbil-

    deten, die hnlich wie der Makrokosmos in ihrer Struktur ber sie hinausweisen-

    de Botschaften ihres Schpfers enthielten. 96Kurz: Sie waren didaktisch, interpretati-

    onsbedrftig und wollten mehr vermitteln als nur physikalisch-mechanische Tricks.

    Und auch bei ihnen fhrte der Weg zum Verstndnis und einer daraus resultierenden

    Epistrophe oder Conversio ber die Evozierung von bewunderndem Staunen. Das ist

    natrlich uralte christliche Didaktik, wie sie zuerst wohl die Kirchenvter in ihren

    Kommentaren zum Sechstagewerk entfalteten. In den Jesuiten und eben auch ganz

    besonders in Kircher fand dies Vorgehen aber neue, beredte Anwlte.Neben der Aufrechterhaltung der aristotelischen Physik, auf der alle Apparate

    wesentlich beruhten (whrend zur selben Zeit etwa Otto von Guericke in Magdeburg

    92 Gorman 2001, S. 2.93 Gorman 2001, S. 2.94 Gorman 2001, S. 2.95 Gorman 2001, S. 25.

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    seine berhmt gewordenen Experimente zum Erweis des Vakuums vorbereitete, mit

    denen er eine der Grundfesten der bisherigen Physik, den horror vacui, falsifizieren

    konnte), waren die didaktisch-moralischen Hauptthemen die Blostellung von Aber-

    glauben und heidnischen Kulten, die Zgelung der Affekte und allgemein eine Sub-

    limierung der Sitten.97Diese Verbindung von performativem Aufwand und ethischer

    Zielsetzung zeichnete damals auch das Jesuitentheater in ganz besonderem Mae

    aus.98

    Das Museum als ein Theater, ein Spiegel fr ein klar konturiertes Publikum al-

    so: Der Grund, warum hier eine Weile davon gehandelt worden ist, liegt nun so klar

    zu Tage wie die Parallelen zum geschriebenen wissenschaftlichen Werk Kirchers.

    Die spezifischen Mechanismen der Interaktion von sozialer Selbstdefinition und

    Wissenschaft im Museum scheinen auch in Kirchers Bchern auf und stellen damit

    wohl einen grundstzlichen Faktor seines Wirkens dar. Denn von entscheidender

    Wichtigkeit fr alle seine Werke scheint neben der jeweils klar benannten Leser-

    gruppe und der breiten, bunten Anlage, die dem Varietas-Prinzip gerecht zu werden

    versucht, der Anspruch, Abbild der Welt im Kleinen zu sein und zugleich von dem

    vorgefhrten Stoff sowohl auf die wahre Welt- und damit Gesellschaftsordnung als

    auch auf transzendente Zusammenhnge zu verweisen. Deren ideologische Veranke-

    rung in der katholischen Tradition ist klar umrissen. Die enge Bindung Kirchers an

    die Achse der katholischen Macht zwischen Kirchenstaat und Heiligem Rmischen

    Reich belegen neben seinen persnlichen Beziehungen zu den prominentesten Figu-

    ren auf beiden Seiten viel mehr noch die programmatischen Widmungen an Kardin-

    le, Kaiser und Erzherzge. Erstaunlicherweise bestanden hnliche Kontakte zu ka-

    tholischen franzsischen, spanischen oder gar osteuropischen Herrschern nicht, wasdafr spricht, dass sich Kircher bewusst (und wohl kaum nur aufgrund seiner Her-

    kunft oder Ordenszugehrigkeit) fr diese Stellungnahme entschied und sein Wirken

    96 Gorman 2001, S. 31.97 Gorman 2001, S. 16. Zum Zusammenhang der Automaten mit der frhneuzeitlichen Affektdiskus-

    sion und dem Aufkommen des Absolutismus vgl. Dear 1998.98 Gorman 2001, S. 11.

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    dem Dienst an der intellektuellen Begrndung und Aufrechterhaltung dieser Sozio-

    kultur widmete. Wohl nicht zuletzt deshalb kamen Kirchers frheste Kritiker gerade

    aus den Reihen der englischen und niederlndischen Protestanten, die es auch an

    antijesuitischen Affekten zur Begrndung ihre