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Mendelssohn Kurt - Die Suche Nach Dem Absoluten Nullpunkt V_3_0

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Zum Thema: Der absolute Temperaturnullpunkt läßt sich niemals erreichen, doch kann man sich ihm heute bereits bis auf wenige Millionstel Grad nähern. Louis Cailletets Sauerstoffverflüssigung hatte im Jahr 1877 das Interesse an den tiefen Temperaturen ausgelöst. Dann wurde Helium, das Gas mit dem niedrigsten Siedepunkt, von Onnes in Leiden verflüssigt; heute werden mit magnetischer Kühlung und mit Hilfe von Eigenschaften des Atomkerns so faszinierende und vor allem technologisch bedeutsame Phänomene wie das Verschwinden der inneren Reibung von Flüssigkeiten und die Supraleit-fähigkeit untersucht und nutzbar gemacht. Zum erstenmal ist diese aben-teuerliche Geschichte, sind ihre Protagonisten (fast alle Nobelpreisträger) und deren Anteil an der Entwicklung der modernen Quantenphysik aus unmittelbarer Erfahrung und Anteilnahme geschildert und charakterisiert worden.

Zum Autor: Professor Kurt Mendelssohn (geb. 1906), Schüler von Nernst, Planck, Einstein und Schrödinger in Berlin und Breslau, forscht und lehrt seit 1933 in Oxford; er war überdies der erste, der in England Helium verflüssigt hat. So hat er mit eigenen Experimenten und Untersuchungen das Vordringen zum absoluten Nullpunkt wesentlich mitgefördert. 1952 war er Gastprofessor an der Rice Universität in Houston (Texas), 1964 an der Kwame Nkrumah Universität in Kumasi (Ghana); zuvor auch in Japan. Sein Hauptwerk Cryophysics (1960) gehört zur Standardliteratur der Tieftemperaturforschung. Er ist außerdem mit Untersuchungen über den Stand der naturwissenschaftlichen Forschung in China, Japan, der Sowjetunion und Polen hervorgetreten.

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Kindlers Universitäts Bibliothek

Kurt Mendelssohn

Die Suche nach dem absoluten Nullpunkt

68 Abbildungen und farbige Diagramme

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Kindlers Universitäts Bibliothek World University Library Herausgeber der deutschen Ausgabe Hans-Geert Falkenberg Redaktion: Kurt Fassmann Rolf Geisler Wissenschaftlicher Beirat der deutschen Ausgabe Prof. Dr. Herbert W. Duda Prof. Dr. J. Hans D. Jensen (Wien) (Heidelberg) Prof. Dr. Ludwig Heilmeyer Prof. Dr. Helmuth Plessner (Freiburg) (Erlenbach bei Zürich) Herausgeber der internationalen Ausgabe Verlag Weidenfeld & Nicolson Managing Editor: (London) Colin Haycraft Wissenschaftlicher Beirat der internationalen Ausgabe Prof. J. L. Aranguren (Madrid) Dr. Michael Grant (Belfast) Prof. Léon Binet (Paris) Prof. L. Heilmeyer (Freiburg) Sir Maurice Bowra (Oxford) Prof. A. den Hollander (Amsterdam) Prinz Louis de Broglie (Paris) Prof. J.H.D. Jensen (Heidelberg) Douglas Cooper (Oxford) Prof. Bernard Lewis (London) John Davy (London) Denis Mack Smith (Oxford) Prof. S. Dresden (Leiden) Prof. Sir Nevill Mott (Cambridge) Prof. Herbert W. Duda (Wien) Prof. Enzo Paci (Mailand) Prof. P. L. Entralgo (Madrid) Prof. H. Plessner (Zürich) Prof. R. J. Forbes (Amsterdam) John Vaizey (Oxford) Pierre Gaxotte (Paris) Prof. Miguel Gayoso (Madrid) Aus dem Englischen von Gernot v. Pape © 1966 Copyright by K. Mendelssohn © 1966 Copyright der deutschsprachigen Ausgabe by Kindler Verlag GmbH, München Titel der englischen Originalausgabe: The Quest for Absolute Zero. The meaning of low temperature physics Korrekturen Dr. Rudolf Zitek Scan by Brrazo 10/2005, k-Lesen by Circus Satz bei Münchner Buchgewerbehaus GmbH Printed in Italy by Officine Grafiche Arnoldo Mondadori. Verona

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Inhalt

1. Paris 1877 8 2. Krakau 1883 26 3. London 1898 56 4. Leiden 1908 81 5. Der dritte Hauptsatz 99 6. Quantelung 123 7. Unbestimmtheit 148 8. Magnetische Kühlung 175 9. Supraleitung 206 10. Suprafluidität 238

Nachwort 265

Literaturhinweise 266

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Abbildung gegenüber der Titelseite: Apparatur für den ersten nuklearen Kühl-versuch; das Solenoid ist herabgelassen, und man erkennt den Kryostaten mit flüssigem Helium.

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1 | Paris 1877 Unsere Geschichte beginnt im Jahr 1877. Es ist Weihnachtsabend, und Schauplatz ist die Akademie der Wissenschaften in Paris. In der vorange-gangenen Woche hatten sich die Gerüchte verdichtet, daß die Bekanntgabe einer bedeutenden Entdeckung kurz bevorstünde. Die Versammlung wartete ungeduldig, während die Tagesordnung in der schwerfälligen Weise gelehrter Akademien erledigt wurde. Dann öffnete der Schriftführer Dumas gleichsam den Vorhang, indem er ein Zitat aus den Werken Lavoisiers verlas: »Würde man die Erde in eine heißere Zone des Sonnen-systems bringen, sagen wir eine, in der die umgebende Temperatur höher wäre als die kochenden Wassers, dann würden alle unsere Flüssigkeiten und sogar einige Metalle in den gasförmigen Zustand versetzt und Teil der Atmosphäre. Würde die Erde andererseits in sehr kalte Zonen, etwa die des Jupiter oder Saturn, gebracht, dann würde das Wasser unserer Flüsse und Meere in festes Gebirge verwandelt. Die Luft (oder wenigstens einige ihrer Bestandteile) würde aufhören, ein unsichtbares Gas zu sein, und flüssig werden. Eine derartige Umwandlung würde also neue Flüssigkeiten hervorbringen, die wir uns bis jetzt nicht vorstellen können.«

Fast ein ganzes Jahrhundert war vergangen, seit der große Chemiker diese prophetischen Sätze geschrieben hatte und alle Versuche mißglückt waren, in den Laboratorien Lavoisiers »neue Flüssigkeiten« herzustellen. Die Mitteilung, die nun verlesen werden sollte und in der die Verflüssi-gung von Sauerstoff gemeldet wurde, war daher ein Meilenstein auf einem neuen Weg, dem Weg zum absoluten Temperaturnullpunkt. Autor der Mitteilung war ein frisch gewähltes korrespondierendes Mitglied der Akademie, ein Bergbauingenieur aus Chatillon-sur-Seine namens Louis Cailletet. Wie viele seiner Vorgänger begann er, mit Gasen zu experimen-tieren, die er hoffte, durch Anwendung hohen Drucks verflüssigen zu können. Für den ersten Versuch nahm er Acetylen (C2H2), da man

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vermutet hatte, daß bei Zimmertemperatur ein Druck von etwa 60 at zu dessen Verflüssigung ausreichen würde. Bevor dieser Druck jedoch erreicht wurde, bekam die Apparatur ein Leck, und das komprimierte Gas entwich. Cailletet hatte das dickwandige Glasrohr mit dem komprimierten Acetylen während des Zwischenfalls beobachtet. Gleich nach Entstehen des Lecks bemerkte er, daß sich ein blasser Nebel im Rohr gebildet hatte, der sofort wieder verschwand. Der Schlüssel zu Cailletets späterer Großtat war seine unverzügliche Folgerung, daß die Druckerniedrigung eine plötzliche Abkühlung des Acetylens bewirkt und er die vorübergehende Kondensation eines Gases wahrgenommen hatte. Zuerst argwöhnte er, das Acetylen sei nicht rein gewesen und er habe Wassertröpfchen gesehen. Aus Berthelots berühmtem Laboratorium verschaffte er sich nun sehr reines Acetylen, aber als er das Experiment damit wiederholte, entwickelte sich wiederum der Nebel. Jetzt stand außer Zweifel, daß Acetylen verflüssigt worden war und Cailletet bei seinem Mißgeschick auf eine neue Gasverflüssigungsmethode gestoßen war. Im Besitz dieser Kenntnis verlor er keine Zeit, das wichtigste Problem auf jenem Gebiet anzugreifen: die Verflüssigung der atmosphärischen Gase. Er begann mit Sauerstoff, da dieser ziemlich leicht rein dargestellt werden konnte, komprimierte ihn bis auf etwa 300 at und kühlte das dickwandige Glasrohr seiner Apparatur auf –29° C ab, indem er es mit verdampfendem Schwefeldioxid umgab. Als er den Druck plötzlich verminderte, beobachtete er wieder einen Nebel aus Kondensationströpfchen. In einigen weiteren Versuchen stellte er sicher, daß dieser Nebel nicht auf Verunreinigungen zurückzuführen war. Sauerstoff war verflüssigt worden, und einen Bericht über dieses Experiment legte er der Akademie vor.

Aber noch eine andere Überraschung stand bevor. Cailletets Aufsatz war kaum verlesen, als der Schriftführer bekanntgab, die Akademie habe zwei Tage vorher, am 22. Dezember, ein Telegramm eines Genfer Physikers erhalten. Es lautete:

Sauerstoff heute bei 320 Atmosphären und 140 Kältegraden durch kombinierte Anwendung von schwefliger und Kohlensäure verflüssigt.

Raoul Pictet

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Diese kurze Mitteilung ergänzte ein Bericht über die von Pictet angewandte Methode, der offenbar früher eingesandt worden war und das Ergebnis vorwegnahm. Pictet hatte nicht Cailletets direkten Weg zum Erfolg gefunden, sondern sich der Verflüssigung von Sauerstoff stufen-weise genähert, indem er verschiedene Gase nacheinander verflüssigt hatte. Dieser Weg wurde als Kaskadenverfabren bekannt und wird noch besprochen werden. Wichtig ist, daß Pictet praktisch gleichzeitig, aber mit einer ganz anderen Methode, dasselbe Ziel wie Cailletet erreicht hatte.

Das Zusammentreffen der Entdeckungen war kein Zufall. Die Geschichte der Naturwissenschaften kennt viele Beispiele dafür, daß zwei oder mehrere Leute unabhängig voneinander dieselbe Entdeckung ungefähr zur selben Zeit gemacht haben. Mit »unabhängig« ist dabei gemeint, daß sie nicht voneinander abschrieben oder einander über die Schulter schauten. Diese Entdeckungen waren niemals unabhängig, wenn man den Entwicklungsstand der Wissenschaft betrachtet. Die Wissenschaft schreitet nicht durch glückliche Zufälle voran; sie wächst organisch und bringt unausweichlich die Entdeckungen hervor, die jedes Entwicklungs-stadium erfordert. Cailletet hätte dem Nebel keine Beachtung geschenkt, wäre er nicht an Gasverflüssigung interessiert gewesen. Hätte nicht er dessen Bedeutung erfaßt, so wäre sie früh genug von jemand anderem bemerkt worden. Dasselbe gilt für Pictet, der auf einem anderen Weg zum selben Ergebnis kam. Obwohl unsere Geschichte mit einer Doppelfanfare am Weihnachtsabend 1877 beginnt, war, wie wir später sehen werden, die Bühne dafür längst errichtet, und die Galapremiere mußte eben um jene Zeit stattfinden.

Der organische Fortschritt der Wissenschaft mit der Unausweichlichkeit ihrer großen Leistungen zur rechten Zeit hat ihren Anhängern ein heikles Problem beschert, nämlich das der Priorität. Obwohl jedermann weiß, daß eine Entdeckung, wenn sie gemacht wurde, gemacht werden mußte, legt man dennoch großen Wert darauf, sie zuerst gemacht zu haben. Es sind genug Fälle bekannt, die Kopf-an-Kopf-Rennen nahekommen und Zielfotos erfordern. Es gibt dabei gewisse Spielregeln, die sich zwar von Zeit zu Zeit und von Land zu Land etwas ändern, die aber alle auf eine Art

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offizielle Publikation der Entdeckung abzielen. Im Frankreich Cailletets und Pictets kam es auf die Mitteilung an die Akademie an. Pictet hatte sich durch sein Telegramm den 22. Dezember gesichert, den Tag, an dem sein Experiment gelungen war. Aber was war mit Cailletet, dessen Aufsatz erst am 24. verlesen wurde? Seine entscheidende Beobachtung hatte er am 2. Dezember gemacht, und nur aus persönlichen Gründen war die Bekanntgabe auf den Sitzungen am 7., am 10. oder am 17. unterblieben. Cailletet hatte sich in folgendem Dilemma gesehen: Auf der Sitzung der Akademie am 17. Dezember stand er zur Wahl als korrespondierendes Mitglied, und er hielt es mit Recht für schlechte Politik, ein sensationelles Forschungsergebnis an oder kurz vor diesem Tag bekanntzugeben. Es hätte nach einem Versuch aussehen können, die Wähler zu beeinflussen. Andererseits konnte es nicht schaden, die Katze aus dem Sack zu lassen, solange das nicht in der Akademie geschah. So hatte Cailletet die Sauerstoffverflüssigung vor einem geladenen Kollegenkreis in der École Normale in Paris vorgeführt, und zwar am Sonntag, dem 16. Dezember. Am folgenden Tag wählte ihn die Mineralogische Abteilung der Akademie mit 33 gegen 19 Stimmen. Jetzt konnte die wichtige Bekanntgabe am 24. stattfinden, aber Pictets Telegramm vom 22. kam dazwischen. Es schien, als hätte Cailletet die Priorität verloren. Aber die Sache ging glücklich aus. Am 2. Dezember, dem Tag seines entscheidenden Experiments in Chatillon-sur-Seine, hatte Cailletet einen Brief mit einem vollständigen Bericht über die Entdeckung an seinen Freund Sainte-Claire Deville in Paris geschrieben. Der Brief war am 7. angekommen, und Deville hatte ihn sofort zum ständigen Schriftführer der Akademie gebracht, von dem er gezeichnet und mit Datum gesiegelt worden war. Damit war Cailletets Priorität bei der Verflüssigung von Sauerstoff anerkannt.

Pictet hatte in seiner ersten Mitteilung nichts über die tiefste Temperatur bei seinen Experimenten gesagt. Von Cailletet war der Temperaturabfall bei seiner Expansion auf 200° C geschätzt worden, was nicht sehr falsch war. In jenem Stadium schien noch bedeutsamer als die Temperatur-erniedrigung die Tatsache, daß Lavoisiers Voraussage sich im Laboratorium als richtig erwiesen hatte. Die Luft der Erdatmosphäre war in

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eine Flüssigkeit verwandelt worden, denn Cailletet gab nur eine Woche nach der denkwürdigen Sitzung vom 24. die Verflüssigung von Stickstoff bekannt. Er war seinem Erfolg in der Weihnachtswoche auf den Fersen geblieben.

Guillaume Amontons, der in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts lebte, scheint als erster die Vorstellung eines absoluten Nullpunkts der Temperatur formuliert zu haben. Er war ein später Zeitgenosse von Boyle und Mariotte, die, wiederum unabhängig voneinander, gezeigt hatten, daß bei der Kompression der Luft ihr Druck im selben Verhältnis ansteigt, wie ihr Volumen abnimmt. Amontons hatte als Kind das Gehör verloren und widmete sein Leben dem Studium der Temperatur und ihrer Messung. Bei seinen Versuchen, ein zuverlässiges Thermometer zu bauen, benutzte er ein Luftvolumen, das durch eine Quecksilbersäule abgeschlossen war, die zur Druckanzeige diente. So erweiterte er die Arbeit von Boyle und Mariotte durch Messung der Druckänderung in einem bestimmten Luftvolumen bei Temperaturvariation. Er begann seine Messungen am Siedepunkt des Wassers und bemerkte, daß gleiche Temperaturernied-rigungen gleiche Luftdruckabnahmen bewirkten. Daraus schloß er, daß nach weiterer Abkühlung der Luftdruck schließlich bei einer bestimmten Temperatur – er schätzte sie auf –240° C – ganz verschwinden würde. Da der Druck des Gases nicht negativ werden kann, muß es eine tiefste Temperatur geben, unter die man Luft oder auch irgendeine andere Substanz nicht abkühlen kann. Amontons war damit ein Vorläufer von Charles und Gay-Lussac in Frankreich, die ein Jahrhundert später, auch unabhängig voneinander, dieses Gesetz in einer strengeren Form aussprachen. Sie zeigten, daß die Druckabnahme pro Grad Celsius ¹/273 des Drucks bei der Temperatur des schmelzenden Eises, d. h. bei 0° C, ausmachte. Der absolute Nullpunkt wurde dadurch auf –273° C festgelegt.

Bezeichnenderweise stellte Amontons sich diesen absoluten Nullpunkt als einen Zustand vollkommener Ruhe vor, in dem alle Bewegung aufgehört haben würde. Das ist wichtig, weil sie einen Hinweis auf seine Vorstellungen vom Wesen der Wärme gibt. Die Bedeutung der Begriffe Wärme und Temperatur und deren richtige Messung stellte die Forscher

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des 17. und 18. Jahrhunderts vor mißliche Probleme. Was, so fragten sie sich, ist das Wesen der »Wärme«? Offenbar war der physikalische Zustand von Wasser, das über einer Flamme erhitzt worden war, kurz vor dem Kochen ein anderer als der kalten Wassers. Das ließ sich mit Amontons' Thermometer zeigen. Auch war etwas in das Wasser eingetreten, und dieses Etwas hatte die Flamme hervorgebracht. Nach der alten alchimistischen Vorstellung war ein feuriger »Grundstoff« aus der Flamme in das Wasser übergegangen. Andererseits würde ein heißes Stück Eisen, ins Wasser geworfen, ebenfalls dessen Temperatur erhöhen. Plausible Erklärungen für alle diese Beobachtungen erhielt man, wenn man die Existenz eines Fluidums, genannt Wärmestoff, postulierte, dessen einzige Eigenschaften Wärme und die Fähigkeit wären, bei Berührung von einem Körper in einen anderen überzugehen. Demgemäß war Wärmestoff von der Flamme an das Eisen und anschließend vom Eisen an das Wasser übergeben worden. Seine Konzentration wurde mit dem Thermometer gemessen, und es floß, wie es jedes Fluidum muß, von höherer zu niederer Konzentration. Schließlich hatten Eisen und Wasser dieselbe Temperatur, und das bedeutete, daß sie dieselbe Konzentration an Wärmestoff enthielten. Der große Vorteil dieser Vorstellung einer materiellen Natur der Wärme war, daß sie quantitative Aussagen gestattete. Zum Beispiel ist es möglich, Wärmestoff in Einheiten zu messen. Die Wärmestoffmenge, die die Temperatur von einem Gramm Wasser um einen Grad erhöht, wird eine Kalorie genannt. Das Problem beim Wärmestoff besteht darin, daß er ein gewichtsloses Fluidum ist. Man hatte nämlich gefunden, daß das Stück Eisen nicht schwerer wurde, wenn man es erwärmte. Diese Erkenntnis machte es schwierig, das Fluidum in das bestehende physikalische Weltbild einzuordnen. Die Vorstellung des Wärmestoffs als eines gewichtslosen Fluidums gab man schließlich Anfang des 19. Jahrhunderts auf. Wie nützlich dieser Begriff jedoch ist, zeigt die Tatsache, daß er in einer weniger bestimmten Form bis heute beibehalten worden ist. Der Begriff einer »Wärmemenge«, die in Kalorien gemessen wird, ist zusammen mit anderen Begriffen wie Temperatur, Druck und Volumen grundlegend für die Thermodynamik.

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Die Stärke der Thermodynamik liegt darin, daß sie diese wohl-definierten Größen verwendet, die leicht und eindeutig gemessen werden können. Die einfache Formel, die diese Größen miteinander verknüpft, erschloß viele komplizierte wissenschaftliche und technologische Probleme, die oft dank der Allgemeingültigkeit der Thermodynamik mit fast unheimlicher Leichtigkeit gelöst wurden.

Die Begriffe der Thermodynamik werden uns von jetzt an bis zum Ende unserer Geschichte begleiten. Sie stehen neben jenen der atomistischen Deutung der Wärme, der kinetischen Theorie. Die Thermodynamik hat es mit folgenden Größen zu tun: Temperatur, gemessen mit dem Thermometer, Druck, gemessen als Kraft, die auf die Flächeneinheit wirkt, und Volumen, gemessen als Größe eines Behälters. Alle beziehen sich auf Beobachtungen in einem Maßstab, der vielmillionenmal größer ist als der eines einzelnen Atoms. So ist in der Thermodynamik die Einheit der Wärmemenge, die Kalorie, definiert als diejenige Menge Wärme, die zur Erwärmung von einem Gramm Wasser um ein Grad Celsius nötig ist. In dieser Definition ist nichts über die physikalische Natur der Wärme ausgesagt. Sie kann ein gewichtsloses Fluidum sein oder etwas anderes.

Amontons' Bemerkung über den absoluten Nullpunkt als Zustand der Ruhe zeigt, daß er tatsächlich an etwas anderes dachte als an die hypothetische Substanz »Wärmestoff«. Dieses andere ist Bewegung im atomaren Maßstab. 2000 Jahre vor Amontons postulierte Demokrit, daß alle Materie aus winzigen unteilbaren Bausteinen, den Atomen, zusammengesetzt sei. Seit der Zeit ging es mit der atomistischen Theorie auf und ab, aber niemals wurde sie ganz aufgegeben. Sie ist unter anderem deshalb reizvoll, weil sie eine Deutung der Wärme erlaubt, die ohne das gewichtslose Fluidum auskommt und auf etwas schon Bekanntem basiert: den Gesetzen der Mechanik. Newton und Amontons waren Zeitgenossen, und es war nur natürlich, Newtons Gesetze, die die Bewegung der Körper am Himmel und auf der Erde beschreiben, auch auf jene hypothetischen kleinen Atome anzuwenden. Amontons scheint nicht über jene vage Andeutung hinausgegangen zu sein, aber 1778 behandelte der große Schweizer Mathematiker und Naturwissenschaftler Daniel Bernoulli die

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Frage strenger. In seiner berühmten Abhandlung über Hydraulik postulierte er, daß alle »elastischen Fluida«, wie z. B. Luft oder Wasser, aus kleinen Teilchen bestünden, die in ständiger unregelmäßiger Bewegung seien und dabei fortwährend miteinander und mit den Wänden des Behälters zusammenstießen. Da die Stöße vollkommen elastisch sind, läuft sich die Bewegung nicht tot. Die Teilchen bewegen sich etwa wie Tennisbälle, mit dem Unterschied, daß sie überhaupt nicht »ermüden«. Jeder dieser atomaren Tennisbälle springt, wenn man ihn fallen läßt, immer wieder bis zur ursprünglichen Höhe zurück. Die Heftigkeit der Stöße, die Geschwin-digkeit der einzelnen Teilchen werden von uns als Wärmeempfindung registriert. Bernoulli legte dar, daß seine Theorie zum selben Ergebnis führt, wie es Amontons 1702 experimentell erreichte.

Diese kinetische Deutung der Wärme ist von großer Schönheit, nicht deshalb, weil sie besonders einfach ist – wie wir sehen werden, ist das nicht immer der Fall –, sondern weil sie die Erscheinungen der Wärme ganz und gar mit den bekannten Ausdrücken der Mechanik erklärt. Man benötigt keinen neuen Begriff wie etwa den des gewichtslosen Wärmestoffs.

Der wichtigste Glaubensgrundsatz der Naturwissenschaft besagt, daß die physikalische Welt nach einem folgerichtigen und allumfassenden Plan geschaffen wurde. Deshalb erwarten wir, daß alle unsere Beobachtungen, wie zusammenhanglos sie uns auch immer erscheinen mögen, nach diesem Schema zusammenhängen müssen. Die Entdeckung dieses Schemas ist der einzige Zweck jeder Grundlagenforschung. Bis jetzt stehen wir immer noch ganz am Anfang, wenn wir eifrig neue Erscheinungen entdecken, und können nicht einmal hoffen, wären wir auch noch so findig, jemals angemessene Vorstellungen von diesem Schema zu entwickeln. Es ist, als setzten wir ein Puzzlespiel zusammen, und gegenwärtig wissen wir, daß wir noch nicht einmal alle Teile in Händen haben. Auch wissen wir nicht, wie groß das Spiel eigentlich ist, und haben das unbehagliche Gefühl, daß es unendlich groß sein könnte. Unter diesen Umständen müssen wir uns glücklich schätzen, wenn wir hier und da einige wenige Teile finden, die zusammenpassen und kleine Inseln des Puzzlespiels bilden, die zunächst

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keine Beziehung zu anderen Inseln haben. Daher triumphieren wir, wenn wir zwei Inseln miteinander verbinden können. Die direkte Verknüpfung der Erscheinungen der Wärme mit den Gesetzen der Mechanik über die kinetische Theorie ist ein solcher Triumph, einer der größten in der Geschichte der Naturwissenschaften. Dennoch dauerte es noch ein Jahrhundert, bis Bernoullis kinetische Theorie anerkannt wurde, und wir sehen leicht ein, weshalb. Die Erklärung der Wärme als eine Empfindung, die durch ungeheuer viele winzige Nadelstiche von unsichtbar kleinen, schnell bewegten Teilchen hervorgerufen wird, ist überzeugend. Überdies ergeben sich, wie wir sofort sehen werden, die Beziehungen zwischen Volumen, Druck und Temperatur, die von Boyle und Gay-Lussac experimentell entdeckt wurden, als direkte Folgerungen aus der kinetischen Theorie. Was jedoch ist eine Wärmemenge, ausgedrückt in Begriffen der atomaren Bewegung? Man sieht sofort, daß hier die Vorstellung von einem gewichtslosen Fluidum, das von einem Körper in einen anderen geschüttet werden kann, viel besser geeignet ist. Außerdem sind, wie jeder Billardspieler weiß, Stöße zwischen mehr als zwei Kugeln schwierig vorauszuberechnen. Wie also kann man die Stöße zwischen Millionen und aber Millionen schnell bewegter Teilchen mathematisch behandeln? Erst als dieses letzte Problem zufriedenstellend gelöst war, wurde die kinetische Theorie zu dem, was sie heute ist. Solange man aber nicht nach einer Erklärung durch ein physikalisches Modell verlangt, hilft immer die Thermodynamik. Ihre Lösungen mögen nicht aufschlußreich sein, sie sind aber immer richtig. Auch heute gibt es noch viele Probleme in der Phänomenologie der Wärme, die zwar keine großen Schwierigkeiten für die thermodynamische Lösung bieten, die aber für die kinetische Deutung ganz unzugänglich geblieben sind. Immer wenn man Bedingungen annimmt, unter denen man die Atome oder Moleküle als vollkommen elastische Tennisbälle betrachten kann, ergibt die kinetische Theorie ein klares und einfaches Bild. Aber sobald man berücksichtigen muß, daß die Tennisbälle Kräfte aufeinander ausüben, werden die Schwierigkeiten unüberwindbar. Andererseits wurde die mathematisch zweifellos ungeheure Schwierigkeit, die aus der Vielzahl einzelner Stöße entsteht, durch Maxwell und Boltzmann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts

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gelöst. Die dabei benutzte mathematische Methode ist die Statistik, die sich auch in der Staatskunst (hier drängt sich eine Sinnverbindung auf) beim Umgang mit größeren Bevölkerungszahlen bewährt hat. Die Statistik sieht vom Individuellen ab und beschäftigt sich statt dessen mit Durch-schnittswerten. Wie der Haushaltsplan mit dem mittleren Einkommen und die Versicherungsgesellschaften mit der mittleren Lebenserwartung, so rechnet die kinetische Theorie mit der mittleren Geschwindigkeit. Es stört die Versicherungsgesellschaften nicht, wenn einige Leute länger leben als der Durchschnitt, da andere früher als der Durchschnitt sterben. In jedem Augenblick haben in einem Gas einige Atome viel größere und andere viel kleinere Geschwindigkeiten als der Durchschnitt, aber das macht nichts aus, solange sehr große Zahlen statistisch behandelt werden.

Wir wollen diese Überlegung jetzt auf den einfachen Fall eines mit Luft gefüllten Raums anwenden, dessen Volumen wir ändern können, also etwa den eines Zylinders mit einem Kolben. Zunächst halten wir den Kolben fest und messen den Gasdruck, d. h. die Kraft, die die Gasmoleküle auf den Kolben ausüben. Das gelingt uns, indem wir das Gewicht bestimmen, das auf den Kolben gelegt werden muß, um ihn festzuhalten. Die Kraft ist gegeben durch die Zahl der Moleküle, die die Flächeneinheit des Kolbens in der Zeiteinheit treffen, und durch die mittlere Geschwindigkeit der Moleküle. Die letztere ist ein Maß für die Temperatur, und da wir unser erstes Experiment ohne Temperaturänderung durchführen wollen, wird diese mittlere Geschwindigkeit dieselbe bleiben. Das erste Experiment besteht darin, so viel mehr Gewicht auf den Kolben zu legen, daß das Gas bis zur Hälfte seines ursprünglichen Volumens komprimiert wird. Dann finden wir mit Boyle, der dasselbe vor 300 Jahren tat, daß ein genau doppelt so großes Gewicht benötigt wird. Dieses Ergebnis steht gut in Einklang mit der Theorie, da dieselbe Zahl Moleküle jetzt auf das halbe Volumen beschränkt ist und der Kolben zweimal so häufig getroffen wird.

Bei unserem zweiten Experiment erhöhen wir die Temperatur, behalten aber die Kolbenstellung bei. Jetzt wird die Geschwindigkeit der Moleküle und dadurch die Heftigkeit jedes einzelnen Stoßes vergrößert. Zusätzlich bewirkt die größere Geschwindigkeit, daß der Kolben häufiger getroffen

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wird. Die Kraft auf den Kolben wächst daher mit dem Quadrat der Molekülgeschwindigkeit. Dieser Druckanstieg ist, wie Amontons beobach-tete, zum Temperaturanstieg proportional. Jetzt haben wir die Bedeutung der Temperatur im atomistischen Modell gefunden. Sie ist im wesentlichen gleich dem Quadrat der Geschwindigkeit der Moleküle, d. h. ihrer kine-tischen Energie.

Schließlich untersuchen wir, was geschieht, wenn wir den Kolben durch Erhöhung des Gewichts senken und nun nichts unternehmen, um die Temperatur konstant zu halten. Betrachten wir einen Augenblick lang ein einzelnes Molekül, das gerade auf den Kolben zufliegt. Es hat vor dem Zusammenstoß eine bestimmte Geschwindigkeit. Nachdem es jedoch zurückgestoßen wurde, ist die Geschwindigkeit größer, da der Kolben nicht in Ruhe war, sondern sich mit seiner eigenen Geschwindigkeit gegen das Molekül bewegte. Das zurückfliegende Molekül wird beim nächsten Zusammenstoß seine höhere Geschwindigkeit an ein anderes weitergeben usf. Auf diese Weise wächst die mittlere Geschwindigkeit aller Moleküle im Zylinder, und das entspricht, wie wir sahen, einer Temperaturerhöhung. Mit anderen Worten: Bei Kompression erwärmt sich ein Gas. Diese Erscheinung kennt jeder, der einmal einen Fahrradreifen aufgepumpt und gespürt hat, daß die Pumpe dabei heiß wird. Der Vorgang läßt sich umkehren. Wenn wir das Gewicht auf dem Kolben vermindern und ihn durch das Gas herausdrücken lassen, treffen die Moleküle auf einen zurückweichenden Kolben und haben nach dem Zusammenstoß eine geringere Geschwindigkeit. Das Gas kühlt sich bei Expansion ab. Hier folgt nun die Erklärung für Cailletets Experiment: Er benutzte keinen Kolben, aber man versteht leicht, was in seinem Fall geschah: Ein Zylinder sei in zwei Teile geteilt, die durch ein Rohr verbunden sind und von denen nur einer einen Kolben enthält (Abb. 1).

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1 Cailletets Kühlvorrichtung läßt sich als Teil eines einzelnen Hubs einer Expansions-maschine auffassen.

Der andere ist jetzt Cailletets dickwandiges Glasrohr mit dem komprimierten Sauerstoffgas. Wenn man das Gas sich ausdehnen läßt, indem es den Kolben des rechten Zylinders zurückstößt, wird sich der Sauerstoff in beiden Behältern abkühlen, da wegen ihrer gegenseitigen Stöße alle Moleküle an der Geschwindigkeitsverminderung teilnehmen. Dem zurückweichenden Kolben folgt ein Gasstoß durch das Verbindungs-rohr. Tatsächlich wissen die Moleküle in Cailletets Rohr auf der linken Seite nichts von der Existenz des Kolbens, und daher ist es viel einfacher und billiger, statt Zylinder und Kolben einen Gashahn am Ende des Verbindungsrohrs zu verwenden. Wenn dieser geöffnet wird, strömt der komprimierte Sauerstoff aus, und der in dem dickwandigen Rohr zurückbleibende Rest kühlt sich so weit ab, daß augenblicklich Flüssigkeitströpfchen gebildet werden. Der Gashahn ist natürlich nichts anderes als das zufällige Leck in Cailletets Apparatur.

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2 Kontinuierlicher Kühlkreislauf mit einem Kompressor A, einer Expansionsmaschine B und einem Wärmeaustauscher D. Die in B entnommene Wärme wird in C durch das Kühlwasser abgeführt.

Cailletet hatte versucht, Acetylen durch hohen Druck zu verflüssigen, und vermutlich erkannte er nicht sofort die volle Bedeutung seines erfolgreichen Mißgeschicks. Wir haben gerade gesehen, wie sein Experiment mit den Begriffen der kinetischen Theorie erklärt werden kann, aber natürlich gibt es auch eine Erklärung in der Sprache der Thermodynamik. Sie ist älter als die kinetische und eignet sich besser für quantitative Überlegungen, sagt aber nichts darüber, was in dem sich ausdehnenden Gas im einzelnen vorgeht. Der Grundstein zur thermo-dynamischen Behandlung wurde ein halbes Jahrhundert vor Cailletet von dem französischen Pionieroffizier Sadi Carnot in seiner Theorie der Wärmekraftmaschine gelegt. Seine Schrift Reflexions sur la puissance motrice du feu wurde 1824 veröffentlicht und sollte zur Grundlage der Energieerzeugung und der Thermodynamik werden. In dieser Schrift setzt er die mechanische Energie, die zur Kompression eines Gases aufgewandt wird, in Beziehung zu dem Temperaturanstieg, der dabei auftritt. Umgekehrt muß die Energieabgabe des Gases beim Herausstoßen des Kolbens Abkühlung bewirken. Bei diesen Vorgängen hat man es also mit einer Umwandlung der Energie von mechanischer Arbeit in Wärme und umgekehrt zu tun. Aufgrund dieser Überlegungen läßt sich eine einfache Kühlvorrichtung bauen, die aus zwei Kolbenmaschinen besteht, von denen

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die eine (A) zur Kompression des Gases und die andere (B) dazu dient, es bei der Expansion mechanische Arbeit leisten zu lassen (Abb. 2). Das A verlassende Gas ist heiß, und diese Kompressionswärme wird durch Kühlwasser in den Behälter C abgeführt. Das Gas wird nun zur Expansionsmaschine B weitergeleitet, wo Wärmeenergie in mechanische Arbeit umgewandelt wird. Das dabei abgekühlte Gas verläßt B und passiert vor der Rückkehr nach A bei D ein Rohr, das jenes umgibt, durch welches das komprimierte Gas nach A gelangt. Diese Vorrichtung D dient dazu, das einströmende komprimierte Gas durch den Gegenstrom des aus der Expansionsmaschine austretenden kalten Gases abzukühlen. Dieser »Wärmeaustauscher« sorgt dafür, daß nach jedem Hub von B das zum nächsten Hub in B einströmende Gas kälter ist als vorher. Die ganze Anordnung ist ein geschlossener Kreislauf, in dem die Wärme fortwährend vom Kühlwasser abgeführt und B zunehmend kälter wird. Das geht bis zu einer Temperatur weiter, bei der das Gas im Kreislauf so kalt wird, daß es in B flüssig zu werden beginnt.

Eine Kühlapparatur dieser Art wurde schon 1857 von Siemens zum Patent angemeldet, aber als zwanzig Jahre später Cailletet seine Experi-mente machte, wies niemand auf das Patent hin. Offenbar wurde damals der Zusammenhang zwischen Cailletets Methode und einer Kolbenkühl-maschine nicht klar erkannt. Von den Siemens-Maschinen wurden einige gebaut, und 1862 brachte der schottische Ingenieur Kirk ein sehr erfolgreiches Modell zur Abkühlung von Schieferöl in einem Raffinerie-prozeß heraus, das ebenfalls Quecksilber gefrieren lassen, d. h. eine Temperatur von mindestens –39° C erreichen konnte. Jedoch waren die Männer, die diese Maschinen entwickelten, keine Wissenschaftler, sondern Ingenieure, die Kühlmöglichkeiten für Schiffe suchten, damit Fleisch unverdorben von Australien nach England transportiert werden konnte, was dann 1879 zum erstenmal gelang.

Den ersten Versuch, Luft mit einer Expansionsmaschine zu verflüssi-gen, machte Solvay (wahrscheinlich 1887); denn damals erhielt er ein deutsches Patent. Darin werden drei mögliche Apparaturen beschrieben, von denen zwei Expansionsmaschinen waren. Eine wurde ausprobiert,

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erreichte aber nur etwa die Hälfte der nötigen Abkühlung. Da die Originalaufzeichnungen des Experiments verloren sind, weiß man nicht, um welchen der drei Entwürfe es sich handelte. Erfolg hatte schließlich der französische Ingenieur Georges Claude, dessen systematische und beharrliche Versuche 1902 zur Verflüssigung von Luft führten. Beträchtliche technische Schwierigkeiten waren zu überwinden. Zunächst mußte die Expansionsmaschine thermisch gut isoliert werden, da ihre tiefste Arbeitstemperatur unter –150° C lag und der Wärmezustrom minimal sein mußte. Zweitens ist das Schmieren der beweglichen Teile äußerst schwierig, da Öl bei diesen tiefen Temperaturen gefriert. Es läßt sich Petroläther, der bis –140° C flüssig bleibt, verwenden, aber bessere Ergebnisse wurden mit einer trockenen Lederdichtung erzielt. Eine kleine Luftmenge, die zwischen der Kolbendichtung und der Zylinderwand hindurch entweicht, ist in diesem Fall das eigentliche Schmiermittel. Claude hätte wahrscheinlich angesichts all dieser Schwierigkeiten nicht durchgehalten, wenn es sich lediglich um ein wissenschaftliches Experiment gehandelt hätte. Aber um die Jahrhundertwende war die Luftverflüssigung für die industrielle Gewinnung von Sauerstoff aus der Atmosphäre sehr wichtig geworden. Claude wurde außerdem durch den Erfolg angespornt, den seine deutschen und englischen Konkurrenten sieben Jahre früher mit einem anderen Verfahren gehabt hatten.

Temperaturen noch unter –200° C erreichte Claudes Expansions-maschine 1920, und zwar mit Wasserstoffgas statt Luft als Arbeits-substanz. Es ging wieder um Gastrennung, nämlich um die Gewinnung von Wasserstoff aus Kokereigas, und nicht um die Verflüssigung des Wasserstoffs selbst. Niemand scheint ernsthaft die Expansionsmaschine als Werkzeug für die Tieftemperaturforschung in Betracht gezogen zu haben. Als ich 1933 den russischen Physiker Peter Kapitza in seinem neuen Laboratorium in Cambridge besuchte, sah ich einige Metallpreßstücke herumliegen, die ich für Teile einer Kühlvorrichtung hielt. Kapitza bestätigte das, sagte aber nichts Bestimmtes; er wollte die Maschine lieber vorher in Gang gesehen haben. Ein Jahr darauf gab er seinen Erfolg bekannt. Er hatte einen Heliumverflüssiger gebaut, der eine

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Expansionsmaschine enthielt und nur zehn Grad über dem absoluten Nullpunkt arbeitete, eine genial erdachte und großartig ausgeführte technische Leistung. 1946 schließlich wurde ein ähnlich angelegter Heliumverflüssiger von Prof. Collins vom Massachusetts Institute of Technology entworfen und gebaut und von der A. D. Little Company kommerziell ausgewertet. Ein gutes Hundert dieser Maschinen wurde in alle Welt verkauft und löste eine Revolution in der Tieftemperatur-forschung aus. Flüssiges Helium, bis dahin eine Seltenheit, die nur in wenigen Labors zur Verfügung stand, wurde plötzlich einer großen Zahl akademischer und industrieller Forschungsstätten zugänglich. Die Folge war eine ungeheure Ausweitung der wissenschaftlichen und technolo-gischen Arbeit bei sehr tiefen Temperaturen, so daß man die Zeit bis 1946 jetzt oft mit v. C, vor Collins, bezeichnet.

Die Kolbenmaschine ist nicht die einzige Vorrichtung, mit der Wärme in mechanische Arbeit umgewandelt werden kann. Bei der Energieerzeu-gung im großen, z. B. in Generatorstationen, Ozeandampfern und jetzt auch in Flugzeugen, hat die Turbine sie ersetzt. Der thermodynamische Wirkungsgrad einer Turbine ist größer, und zwar aus Gründen, die über den Rahmen unserer Geschichte hinausgehen. Noch weit verlockender ist die Turbine zum Entzug von Wärme, d. h. zur Kälteerzeugung. Patente für Turbinen zur Gastrennung ließen sich Thrupp in England und Johnson in Amerika in den späten neunziger Jahren geben. Verflüssigungsturbinen wurden zuerst Anfang der dreißiger Jahre von der Firma Linde AG in Deutschland betrieben, aber aus Gründen der industriellen oder militäri-schen Geheimhaltung sickerten in den folgenden Jahren nur wenige Infor-mationen durch. Es war wiederum das technische Genie Kapitza, das 1939, jetzt in Moskau, eine detaillierte Analyse der Überlegenheit der Turbine als Verflüssigungsvorrichtung vorlegte. Die Turbine besitzt nicht nur wesent-liche thermodynamische Vorteile, sondern arbeitet auch noch bei viel geringerem Druck als die Kolbenmaschine, was die ganze Anlage billiger und in der Konstruktion einfacher macht. Heute ist die Turbine zur Standardausrüstung für die riesigen Tieftemperatureinrichtungen gewor-den, die Stahlwerke und Raketenbasen versorgen. Der 1877 von Cailletet

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beobachtete Nebel hat zu einer technologischen Entwicklung von gigantischen Ausmaßen und mit immer weitergehender Verzweigung geführt.

Kehren wir nun zu dem fehlenden Glied zwischen Cailletets Experiment und der Kolbenmaschine zurück. Die Expansionsmaschine erzeugt Kälte, weil sie mechanische Arbeit leistet, aber wo wird in Cailletets Apparatur solche Arbeit geleistet? Es geschieht nichts weiter, als daß der komprimierte Sauerstoff in die Luft entweicht. Den Schlüssel liefert Abb. 1 (S. 19), in der wir die rechte Seite des Zylinders durch einen Absperrhahn ersetzt haben. Sobald dieser geöffnet wird, leistet der Sauerstoff ein bißchen mehr, als daß er nur entweicht. Er hebt die Erdatmosphäre um ein wenig an, und die so geleistete Arbeit bewirkt eine Abkühlung. Anders ausgedrückt: Cailletets Experiment stellt nichts anderes dar als einen unvollständigen einzelnen Arbeitsgang der Kühlvorrichtung in Abb. 2 (S. 20). Das Sauerstoffgas wird zunächst bei A auf 300 at komprimiert. Dann wird es in C durch verdampfendes Schwefeldioxid auf –29° C vorgekühlt und schließlich – ohne Verwendung eines Wärmeaustauschers – B zugeführt.

In Cailletets Fall entspricht A nur einem Teil eines Expansionszylinders (der linken Seite in Abb. 1), und wenn der Hahn geöffnet wird, findet ein einzelner Expansionshub nur teilweise statt. Ein kleiner Bruchteil des sich ausdehnenden Gases bleibt im Glasrohr zurück, wo die Tröpfchen flüssigen Sauerstoffs erscheinen. Die Mehrzahl der Tröpfchen ist durch das Ventil entkommen und genauso rasch verdampft wie entstanden.

Während Cailletets Experiment zum erstenmal die Erdatmosphäre im flüssigen Zustand zu zeigen vermochte, ist es hoffnungslos unwirksam als Methode zur Gasverflüssigung. Als man wenige Jahre später bessere Wege zur Herstellung flüssiger Luft fand, wurde Cailletets Methode aufgegeben und blieb bis 1932 nichts weiter als eine historische Kuriosität. In jenem Jahr wurde sie wieder in ihrer alten Form von F. E. Simon weiterverfolgt, der aufzeigte, daß sie im Sonderfall des Heliums eine zwar immer noch wenig wirksame, aber doch einfache und bequeme Verflüssigungsmethode darstellt.

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Cailletet ging seinem Erfolg weiter nach, indem er seine Apparatur verbesserte. 1882 kühlte er die Glaskapillaren mit flüssigem Äthylen statt Schwefeldioxid und senkte dadurch die Anfangstemperatur seines Experiments von –29° C auf –105° C. Er beobachtete bei Expansion eine heftige Turbulenz im Rohr, aber der Sprühregen aus flüssigem Sauerstoff verdampfte wiederum sofort. Der nächste entscheidende Schritt zur Beherrschung tiefer Temperaturen war ihm auch jetzt versagt geblieben. Dieser nächste Schritt war auf der denkwürdigen Sitzung der Akademie am Weihnachtsabend 1877 von Jamin, einem anderen großen Pionier der Physik des 19. Jahrhunderts, formuliert worden. Jamin hatte gesagt: »Die Möglichkeit der Sauerstoff Verflüssigung ist jetzt erwiesen … Das entscheidende Experiment steht noch aus. Es wird darin bestehen, den flüssigen Sauerstoff auf der Temperatur seines Siedepunkts zu halten.« Er unterschied klar zwischen der momentanen Beobachtung eines Tröpfchennebels und der Gewinnung einer Flüssigkeit, deren Oberfläche in einem Reagenzglas ruhig siedet. Das zu erreichen war Cailletet und den französischen Physikern nicht vergönnt. Cailletet setzte seine Arbeit viele Jahre lang fort, und als er 1913 in Paris 80jährig starb, hatte er die Genugtuung, seine ursprüngliche Entdeckung zu einem neuen Zweig der Physik entwickelt zu sehen. Alle Gase waren verflüssigt worden, und dem absoluten Nullpunkt war man bis auf weniger als ein Grad nahe gekommen. Das Tor zu einer fremden, neuen Welt verwirrender physikalischer Erscheinungen wie dem vollkommenen Verschwinden des elektrischen Widerstands war geöffnet. Sein altes Laboratorium in Chatillon-sur-Seine ist noch heute erhalten; ein Raum, in dem seine Apparaturen stehen, mit Blick auf seinen Gemüsegarten – von seinen Nachkommen liebevoll gepflegt.

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2 | Krakau 1883

Welchen Anstoß Cailletets Beobachtung der wissenschaftlichen Entwicklung gab, kennzeichnet die Tatsache, daß 1882 ein polnischer Wissenschaftler, der damals in Paris arbeitete, die Vielzahl von Cailletet-Apparaturen erwähnte, die dort von der berühmten Instrumentenmanu-faktur E. Ducretet hergestellt wurden. Er wies darauf hin, daß Cailletet keine experimentelle Einzelheit vor seinen Kollegen geheimhielt, die häufig seine Versuche wiederholen und erweitern wollten. Der Pole war einer von ihnen und kaufte bei Ducretet eine Apparatur, um sie mit nach Krakau zu nehmen, wo er gerade den Lehrstuhl für Physik erhalten hatte. Sein Name war Zygmunt Florenty von Wroblewski. Die alte Jagellonen-Universität von Krakau gehörte damals zur habsburgischen Monarchie, was das deutsche Adelsprädikat vor Wroblewskis polnischem Namen erklärt. Bei seiner Ankunft in Krakau begegnete Wroblewski im Chemischen Institut einem Mann seines Alters – er war damals Mitte Dreißig –, der dasselbe Interesse an der Gasverflüssigung hatte. Es war K. Olszewski, der sich dreizehn Jahre lang mit einer alten und unzureichenden Ausrüstung herumgeplagt hatte. Er war natürlich nicht nur über die Ankunft Wroblewskis erfreut, sondern auch über die der modernen Verflüssigungsapparatur. Wroblewski und Olszewski gingen im Februar 1883 ans Werk, und ihnen gelang am 9. April das, was Cailletet und die anderen vergeblich versucht hatten: Flüssiger Sauerstoff siedete ruhig in einem Versuchsgefäß ihrer Apparatur.

Daß ihnen das in zwei Monaten oder sogar rascher gelang, ist fast unglaublich. Um dieses Kunststück beneiden sie viele moderne Forscher, die Geld, Ausrüstung und Personal genug haben. Um es zu erklären,

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müssen wir mehrere Faktoren beachten. Wroblewski war sehr vertraut mit den Pariser Experimenten, denen er beigewohnt hatte. Olszewski, der sich über zehn Jahre mit einer veralteten und behelfsmäßigen Hochdruckausrüstung abgemüht hatte, hatte praktische Erfahrungen wie kein zweiter. Cailletets Apparatur vom Vorjahr erforderte nur eine geringfügige Änderung, um flüssigen Sauerstoff in beständiger Form zu erzeugen. Tatsächlich war Cailletet dem Erfolg nahe gewesen, und es fehlte nichts weiter als eine neue Idee. Für diese jedoch verdienen die Polen volle Bewunderung, da sie ihren Erfolg einem besseren Verständnis der physikalischen Prinzipien verdanken. Von den beiden Änderungen, die sie anbrachten, war die erste trivial.

Sie bogen die Glaskapillare so um, daß kein flüssiger Sauerstoff durch den Expansionshahn entweichen konnte, sondern sich alles auf dem Boden der Kapillare ansammelte (Abb. 3). Die zweite Änderung war die entscheidende. Wie Cailletet benutzten auch sie zur Kühlung der Kapillare flüssiges Äthylen, aber statt es unter Atmosphärendruck sieden zu lassen, pumpten sie den Dampf über der Flüssigkeit bis zu einem Druck von 2,5 cm Quecksilbersäule, d. h. ¹/30 at, ab. Dadurch verringerte sich die Temperatur auf – 130° C, und als das Sauerstoffgas unter hohem Druck in die Kapillare drang, sahen sie, wie sich kleine Tröpfchen auf der Glaswand bildeten und als Flüssigkeit am Boden der Kapillare sammelten. Sie hatten Sauerstoff verflüssigt, ohne von Cailletets ursprünglicher Vorrichtung für die Expansion des Gases Gebrauch gemacht zu haben.

Um das dieser Verflüssigungsart zugrunde liegende Prinzip zu verstehen, müssen wir zu früheren Experimenten zurückgehen, die die Rolle von Druck und Temperatur beim Verflüssigungsprozeß und die Natur des Gleichgewichts zwischen Flüssigkeit, Dampf und Gas erhellt hatten.

Vorher soll noch einiges über die Entwicklung der Krakauer Tieftemperaturschule gesagt werden.

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3 Die Apparatur, mit der Wroblewski und Olszewski als erste flüssigen Sauerstoff erzeugten, der in einem Versuchsgefäß ruhig siedete.

Die erste Nachricht von dem entscheidenden Experiment, die zur

Sitzung der Französischen Akademie am 16. April übermittelt wurde, erschien unter den Namen beider Experimentatoren; das gilt auch für die ausführliche Veröffentlichung in den Annalen der Physik und Chemie. Wir wissen daher nicht, wer von beiden die Idee hatte, den Äthylendampf abzupumpen, aber es mag bezeichnend sein, daß die Namen nicht in alphabetischer Reihenfolge stehen; Wroblewski wird an erster Stelle als Autor angegeben. Lehrbücher nennen gewöhnlich Olszewski und Wroblewski zusammen als die führenden Wissenschaftler der Krakauer Schule, aber tatsächlich überdauerte die Zusammenarbeit die nächsten sechs Monate nicht. Im Oktober 1883 finden wir Olszewski wieder in seinem Chemischen Institut bei eigenen Tieftemperaturexperimenten, während Wroblewski fast dieselbe Arbeit im Physikalischen Laboratorium fortsetzt. Was genau vorgefallen ist, läßt sich nicht mehr leicht feststellen,

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aber viele Jahre später spricht Olszewski spitz von der »Auflösung der Zusammenarbeit«. Es scheint, als seien sie, obwohl sie genau dieselbe Frage an derselben Universität bearbeiteten, wie Pole voneinander getrennt geblieben, bis hin zum frühen Tod Wroblewskis fünf Jahre später. Als er eines Nachts noch im Labor arbeitete, stieß er eine Petroleumlampe um und verbrannte in den Flammen. Heute sind seine angesengten Notizblätter in der alten Halle der Jagellonen-Universität ausgestellt, unweit des Immatrikulationsgesuchs, das von einem berühmten Studenten vor mehr als 400 Jahren unterschrieben wurde, einem Nikolaus Kopernikus.

In unserem Bericht über die Expansionsmaschine waren wir im vorigen Kapitel auf die kinetische und thermodynamische Erklärung des Kühlvorgangs zu sprechen gekommen, hatten aber nichts über den Verflüssigungsmechanismus gesagt. In Lavoisiers Prophezeiung zur Luftverflüssigung, die in der Akademie auf der Sitzung am Weihnachtsabend 1877 verlesen wurde, wird die Kälte als wichtige Wirkkraft angesehen. Schon zu Lavoisiers Zeiten jedoch begann man zu erkennen, daß auch der Druck bei der Verwandlung eines Gases in Flüssigkeit eine Rolle spielt. Alles dies war kompliziert und verwirrend, aber andererseits hatte Robert Boyles Untersuchung der »Federung der Luft« eine wunderbar einfache Beziehung zwischen Druck und Volumen eines Gases enthüllt. Ende des 18. Jahrhunderts beschäftigte sich M. van Marum aus Haarlem mit Experimenten, die klären sollten, ob Boyles Gesetz für alle Gase oder nur bei Luft gilt. Eine der Substanzen, die er untersuchte, war Ammoniakgas. Dabei machte er eine wichtige Entdeckung. Als er zunehmend höheren Druck anwandte, nahm das Gasvolumen nicht mehr proportional ab, wie Boyles Gesetz es voraussagte. Bei 7 Atmosphären stieg schließlich der Druck trotz weiterer Kompression nicht mehr an, während das Volumen weiter abnahm. Statt noch komprimiert zu werden, verwandelte sich das Ammoniakgas bei diesem Druck in flüssiges Ammoniak. Weitere Verringerung des Volumens bewirkte nur eine Zunahme der Flüssigkeitsmenge im Zylinder auf Kosten des Gasvolumens. Allein durch Anwendung hohen Drucks also und ohne Temperaturerniedrigung war Ammoniak verflüssigt worden.

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Van Marums Beobachtung zog zahllose Versuche nach sich, bekannte Gase durch Kompression zu verflüssigen. Bei manchen gelang es, aber andere blieben auch unter dem höchsten erreichbaren Druck Gase. Eins dieser Experimente steht in wichtiger Beziehung zur späteren Geschichte der Gasverflüssigung, obwohl es nicht in erster Linie für diesen Zweck gedacht gewesen war. An der Royal Institution in London stellte Humphrey Davy, der unter anderem als Erfinder der Grubenlampe in die Geschichte eingegangen ist, Untersuchungen über die Eigenschaften von Chlorverbindungen an. Eines Tages im Jahr 1823 erhitzte Michael Faraday, der damals Assistent in Davys Labor war, in einem abgedichteten Glasrohr eine dieser Verbindungen, um ihre chemische Aufspaltung zu studieren. Er und ein Freund von Davy, Dr. Paris, der bei dem Experiment zuschaute, nahmen verblüfft einige Tropfen einer öligen Flüssigkeit wahr, die sich am kalten Ende des Rohrs bildeten (Abb. 4). Dr. Paris ging nach Hause und fragte sich, ob die benutzten Materialien vielleicht verunreinigt gewesen seien. Am nächsten Morgen aber bekam er von Faraday mitgeteilt, daß die Tropfen verflüssigtes Chlorgas gewesen waren. Faraday erkannte, daß außer dem Druck, den er im abgedichteten Rohr durch Erhitzen erzeugt hatte, auch die Temperatur eine Rolle spielte, da sich die Flüssigkeit am kalten Ende gesammelt hatte. Als er 1826 und noch einmal 1845, jetzt als Direktor der Royal Institution, auf diese Experimente zurückkam, wandelte er sie ab, indem er das ungeheizte Ende des Rohrs in eine Kühlmischung tauchte, statt es auf Zimmertemperatur zu lassen. Dieses Vorgehen erwies sich als sehr erfolgreich, und er konnte einige Gase verflüssigen, die früheren Versuchen widerstanden hatten. Sauerstoff, Stickstoff und Wasserstoff jedoch zeigten keine Neigung zur Verflüssigung, und viele Forscher hielten sie für, wie sie es nannten, »permanente Gase«.

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4 Faradays Chlorverflüssigung

Die Vorstellung von permanenten Gasen war durch eine Reihe von

negativen, wenn auch aufsehenerregenden Versuchen gestützt worden. Wenn Luft auch unter dem höchsten im Experiment herstellbaren Druck nicht flüssig wurde, mußte ein noch höherer Druck erzeugt werden. Geniale Vorrichtungen wurden zu diesem Zweck ausprobiert. Aime komprimierte Sauerstoff und Stickstoff auf über 200 at, indem er sie in besonders entworfenen Zylindern bis zu Tiefen von über 1,5 km ins Meer versenkte. Ein sonst nicht bekannt gewordener Mediziner aus Wien namens Natterer wurde der hervorragende Pionier in der Konstruktion von Hochdruckkompressoren. 1844 sorgte er auch für die Herstellung dieser Maschinen durch den »wohlrenommierten Mechaniker Herrn Kraft«, »um den Freunden der Physik und Chemie die Entdeckung aller Hindernisse und die Erfindung der vorteilhaftesten, angemessensten und sichersten Anordnung der ganzen Apparatur zu ersparen«. Die Maschinen kosteten

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100 Gulden und wurden bis auf 200 at geprüft. Natterer selbst war drauf und dran, seinen Kunden weit vorauszueilen, verkündete er doch, er sei »willens, die Kompression bis auf 2000 at fortzusetzen«. Tatsächlich ging er noch über sein Ziel hinaus, indem er wenige Jahre später etwa 3000 at erreichte, eine ganz erstaunliche Leistung auf dem neuen Gebiet der Hochdrucktechnik. Sein Rekord blieb lange ungebrochen, und noch 40 Jahre später stützt sich Olszewski bei seinem erfolgreichen Experiment auf einen alten Natterer-Kompressor, den er in dem sonst ärmlich ausgerüsteten Krakauer Labor entdeckte, als er dort als Student seine Arbeit begann. Natterer selbst hatte zumindest eines gezeigt, daß nämlich auch ein Druck von 3000 at Luft nicht verflüssigte. Sauerstoff und Stickstoff schienen wirklich permanente Gase zu sein.

Faraday kam nicht als erster darauf, daß Druck und Temperatur bei der Umwandlung eines Gases in Flüssigkeit eine Rolle spielen. 1822 beschloß Charles Cagniard de la Tour, ein Attache des Innenministeriums in Paris, einmal zu untersuchen, was mit einer Flüssigkeit geschieht, wenn sie in einem geschlossenen Behälter erhitzt wird. Zuerst nahm er Alkohol als Probesubstanz und füllte ihn in ein Druckkochgefäß, das aus dem geschlossenen Ende eines dickwandigen Kanonenrohrs angefertigt war. Dies Gefäß, meinte er, würde sicher Druck und Temperatur standhalten, aber natürlich konnte er nicht sehen, was im Innern vorging. Also verlegte er sich aufs Horchen. Er tat eine Quarzkugel in den alkoholgefüllten Druckkörper und bemerkte, daß es verschieden klang, je nachdem, ob sie in der Flüssigkeit oder in Luft herumrollte. Dann verschloß er das Gefäß und erhitzte es, wobei er fortwährend das Geräusch registrierte. Er fand, daß der Alkohol bei hinreichend hoher Temperatur schließlich völlig in den Gaszustand überging und keine Flüssigkeit zurückblieb. Da er jetzt sehen wollte, was und wie es geschieht, machte er seine nächsten Beobachtungen an abgedichteten Glasrohren. Er erhitzte sie und füllte sie mit immer größeren Flüssigkeitsmengen. Obwohl er dickwandige Rohre benutzte, pflegten sie zu explodieren, sobald er etwa das halbe Volumen mit Flüssigkeit gefüllt hatte. Dennoch fühlte er sich schließlich berechtigt, daraus zu schließen, daß bei einem Druck von über 119 at Alkohol nicht in

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flüssiger Form existieren könne und daß die –^Flüssigkeit ganz plötzlich zu Gas würde. Wegen dieser Schlußfolgerung haben wir Cagniard de la Tour als den Entdecker des hervorstechenden Merkmals des Gleich-gewichts zwischen Gas und Flüssigkeit, des sogenannten kritischen Punkts, anzusehen. Das Wesen dieses Gleichgewichts blieb höchst unklar und wurde erst durch eine großartige Versuchsreihe erhellt, die Thomas Andrews am Queen's College in Belfast zwischen 1861 und 1869 durch-führte. Andrews betrachtete seine Arbeit als Fortsetzung der Untersu-chungen de la Tours. Er hatte jetzt jedoch eine viel bessere Apparatur zur Verfügung als sein französischer Vorgänger und zog außerdem seine Lehren aus dessen Fehlschlägen. Cagniard de la Tour hatte mit Alkohol bescheidenen Erfolg gehabt, aber Wasser mit seinem höheren Siedepunkt hatte einen Druck erfordert, dem seine Glasrohre nicht mehr standhielten. Andrews wählte daher für seine Arbeit Kohlendioxid (COä), das bei normaler Temperatur gasförmig ist. Wie er erwartete, war der Druck relativ niedrig, den man zur Untersuchung jenes ganzen Bereichs brauchte, in dem Gas und Flüssigkeit im Gleichgewicht stehen. Er stellte Messungen derselben Art an wie van Marum bei Ammoniak. Für verschiedene Flüssig-keiten bestimmte er die Volumenänderung einer gegebenen Substanzmenge bei Druckvariation. Die resultierenden Kurven heißen Isothermen, weil sich jede auf ein und dieselbe Temperatur bezieht. Die gleichen Messungen waren von Boyle und Mariotte zweihundert Jahre früher an Luft bei Zimmertemperatur gemacht worden. Wir haben bereits von der Beziehung zwischen dem Druck P und dem Volumen V berichtet, die sie entdeckt hatten und die in Form der einfachen Gleichung P • V = konst. geschrieben werden kann. Wenn also Luft auf die Hälfte ihres ursprünglichen Volumens komprimiert werden soll, ist das Doppelte des ursprünglichen Drucks nötig, für ein Drittel des Volumens das Dreifache usf. Wir haben ebenfalls gesehen, daß dieser einfache Zusammenhang durch die kinetische Theorie erklärt werden kann. Ändert man die Temperatur und mißt wiede-rum Isothermen, dann erhält man das Ergebnis, das zuerst von Amontons, später noch einmal von Charles und Gay-Lussac angegeben wurde und das ebenso einfach als P • V = konst. • T geschrieben werden kann, wobei T die Temperatur, gemessen vom absoluten Nullpunkt aufwärts, ist.

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5 Isothermen eines »idealen« Gases für vier verschiedene Temperaturen. Nach dem Boyleschen Gesetz muß das Produkt aus Druck und Volumen für beliebige Werte von P und V bei konstanter Temperatur dasselbe sein. Die grauen und rosafarbenen Flächen sind gleich groß.

Tragen wir in einem Diagramm P und V als Ordinate bzw. Abszisse auf

und markieren alle Punkte, für die das Produkt P mal V denselben Wert hat, so erhalten wir eine symmetrische Kurve, die Isotherme von Luft bei gegebener Temperatur T (Abb. 5). Für eine höhere Temperatur erhält man eine Kurve ähnlicher Gestalt, aber da P mal V jetzt einen größeren Wert

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hat, liegt sie oberhalb der ersten Isotherme. Entsprechend liegt die Isotherme für eine tiefere Temperatur tiefer.

Alle diese Isothermen sind glatte Kurven, sogenannte rechtwinklige Hyperbeln. Für uns ist interessant, daß sie keine Unregelmäßigkeit zeigen, die wir erwarten würden, wenn die Luft irgendwo in unserem Diagramm vom gasförmigen in den flüssigen Zustand überginge. Gleichwohl konnte Cailletet Luft verflüssigen, und der Schluß ist unausweichlich, daß unser Diagramm in irgendeiner Hinsicht falsch ist. Anders ausgedrückt: Wir müssen erwarten, daß das Gesetz von Boyle nicht allgemein gilt, sondern unter gewissen Bedingungen versagt. Andrews' Ziel war, diese Bedingungen genau zu erforschen.

Einen Hinweis darauf, was er erwarten mußte, hatten die Beobachtun-gen von van Marum geliefert, der sich im Grunde für genau dasselbe interessiert hatte, nämlich ob Boyles Gesetz für Ammoniak gilt. Van Marum war einer dieser Isothermen (der für Zimmertemperatur) gefolgt und hatte gefunden, daß sich das Volumen bei Druckerhöhung zunächst mehr verringerte, als es nach Boyles Gesetz sollte. Schließlich erreichte er einen Druck, von dem ab eine weitere Volumenabnahme zu keiner zusätzlichen Kompression des Ammoniakgases führte, statt dessen trat flüssiges Ammoniak auf. Andrews fand, daß van Marum ganz richtig beobachtet hatte, erweiterte aber den Rahmen der Untersuchungen durch Messung vieler verschiedener Isothermen. Die Kurvenschar, die er erhielt, sah ganz anders aus (Abb. 6) als jene, die aus Boyles Gesetz folgern würde. Alle Isothermen, die tiefen Temperaturen entsprechen, zeigen das von van Marum entdeckte Verhalten. Sie alle haben einen waagerechten Teil, der dem Bereich entspricht, in dem das Gas zur Flüssigkeit konden-siert. Folgen wir einer dieser Isothermen von größerem zu kleinerem Volumen, d. h. von rechts ausgehend, so bemerken wir erst den Anstieg und dann einen Knick, dort, wo der waagerechte Teil beginnt. Hier erschei-nen die ersten Flüssigkeitströpfchen. Wenn man nun das Volumen weiter verringert, wird immer mehr Gas flüssig, bis am Ende des flachen Teils kein Gas mehr übrigbleibt. Von jetzt ab ändert jede weitere Druckerhöhung das Volumen kaum, d. h., die flüssige Phase ist sehr wenig kompressibel.

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Der flache Teil der Isotherme offenbart etwas Wichtiges. Da der Druck konstant bleibt, während immer mehr Gas flüssig wird, muß der Druck des Gases im Kontakt mit der Flüssigkeit immer derselbe sein, unabhängig davon, ob ein kleiner oder großer Volumenanteil mit Flüssigkeit gefüllt ist. Auch zeigt Andrews' Diagramm deutlich, daß dieser Gleichgewichtsdruck steigt, wenn wir zu höheren Isothermen übergehen, d. h. die Temperatur erhöhen. Überdies bemerken wir, daß der flache Teil kürzer wird, bis eine besonders wichtige Isotherme erreicht ist, die kein flaches Stück mehr aufweist, sondern lediglich einen Punkt, an dem die Steigung der Kurve Null geworden ist. Die höheren Isothermen steigen nun alle glatt über den ganzen Volumen- und Druckbereich an, und wenn man zu noch höheren Temperaturen übergeht, nehmen die Isothermen mehr und mehr die Gestalt einer rechtwinkligen Hyperbel an. Das ist dann der Bereich, in dem Boyles Gesetz gilt.

Andrews' Ergebnisse lieferten nicht nur eine Menge neuer Tatsachen, sondern auch ein wunderbar vollkommenes und befriedigendes Bild des Zusammenhangs zwischen dem gasförmigen und flüssigen Aggregat-zustand. Außerdem paßten alle verwirrenden und einander scheinbar widersprechenden Ergebnisse der Vergangenheit jetzt zueinander, und jedes hatte in dem neuen Rahmen plötzlich einen Sinn. Das wichtigste aber war, daß Andrews' sorgfältige Messungen den Weg zum Verständnis der starken Kohäsionskräfte öffneten, die von jedem Atom ausgehen, aber nie die Dimension gewöhnlicher makroskopischer Beobachtung erreichen. Es ist auch wesentlich, daß Andrews' Beobachtungen, obwohl sie sich auf Kohlensäure beschränkten, qualitativ allgemeingültig sind. Die Tempera-turen, die Drücke und die Volumina variieren von Substanz zu Substanz, aber die temperaturbedingte Gestalt der Isothermen ist ziemlich die gleiche, ob wir nun Wasser, Wasserstoff oder Eisen nehmen.

Im unteren Teil von Andrews' Diagramm kann man jene Bereiche klar erkennen, in denen die Substanz entweder vollständig gasförmig oder vollständig flüssig oder, wie im flachen Teil, teils im flüssigen und teils im gasförmigen Zustand ist. Dieser Bereich, in dem beide Phasen im Gleichgewicht stehen, wo wir also einen Meniskus (eine gekrümmte

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Trennfläche) zwischen Flüssigkeit und Gas wahrnehmen können, wird jedoch schmäler bei höheren Temperaturen und verschwindet völlig, wenn endlich unsere besonders wichtige Isotherme erreicht ist. Bei jeder höheren Temperatur fehlt der flache Teil, es gibt dort keinen Bereich der Isotherme, in dem wir einen Meniskus beobachten können. Andrews selbst sagte von diesem Zustand: »Wenn jemand fragt, ob die Substanz jetzt im gasförmigen oder flüssigen Zustand ist, dann erlaubt die Frage, glaube ich, keine eindeutige Antwort.« Andererseits läßt Andrews' Diagramm keinen Zweifel, wo ein Meniskus auftreten kann und wo nicht. Jede Isotherme mit einem flachen Teil zeigt Flüssigkeit und Gas im Gleichgewicht an. An dem Punkt, an dem die besonders wichtige Isotherme die Steigung Null hat, verschwindet die letzte Spur dieses Gleichgewichts. Das ist der kritische Punkt der Substanz. Außer dem kritischen Druck und dem kritischen Volumen bezeichnet er, was noch wichtiger ist, die kritische Temperatur.

Als kritische Temperatur von Kohlendioxid fand Andrews 31° C, woraus sich klar ergibt, daß oberhalb dieser Temperatur auch bei höchstem Druck niemals jener Zustand mit einem Meniskus erzeugt werden kann. Das erklärt sofort, warum es Natterer nicht gelang, Sauerstoff zu verflüssigen, obwohl er ungeheuren Druck anwenden konnte. Wie Wroblewski später zeigte, ist die kritische Temperatur des Sauerstoffs –118° C und der kritische Druck 50 Atmosphären. Man versteht jetzt auch, warum 1882 Cailletets zweiter Versuch, flüssigen Sauerstoff in beständiger Form zu bekommen, keinen Erfolg hatte und warum die Polen ihr Ziel erreichten. Cailletets Kühlmittel, flüssiges Äthylen, das bei Atmosphären-druck siedet, ermöglichte ihm eine Anfangstemperatur von –105° C, 13 Grad oberhalb des kritischen Punkts, wo selbst Natterers 3000 Atmosphären keine Verflüssigung ergeben hätten. Bei den Krakauer Experimenten siedete flüssiges Äthylen unter vermindertem Druck bei –130° C, also unterhalb des kritischen Punkts des Sauerstoffs, und es bedurfte nur eines Drucks von etwa 25 at, um eine beständige Kondensation der Flüssigkeit einzuleiten. Die Polen hatten eine Isotherme mit einem flachen Teilstück erreicht.

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6 Isothermen eines realen Gases (CO2), wie sie von Andrews gemessen wurden. Sie kommen den durch das Boylesche Gesetz beschriebenen erst bei hohen Temperaturen (T7) nahe. Bei tiefen Temperaturen sind sie komplizierter, und unterhalb des kritischen Punkts liegt der Verflüssigungsbereich.

Wir haben Andrews' Diagramm nicht nur aus historischen Gründen

benutzt, sondern auch weil es klar und überzeugend die Bedeutung und die Grenzen des flüssigen Zustands erläutert, und wir werden später darauf zurückkommen. Für viele Zwecke ist jedoch eine andere Form der Darstellung bequemer und aufschlußreicher; auch diese werden wir häufig benutzen müssen. In ihr tragen wir nicht Druck und Volumen, sondern Druck und Temperatur als Ordinate bzw. Abszisse auf. Wir können uns bei

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dieser Gelegenheit auch eine Gewohnheit aneignen, die uns den Umgang mit tiefen Temperaturen erleichtern wird. Wir befreien uns von jedem künstlichen Anfangspunkt der konventionellen Temperaturskalen, der, folgt man Celsius, der Gefrierpunkt des Wassers ist, während er für jene, die an Fahrenheit glauben, in einer Mischung von Eis und Salz festgelegt ist. Seit Amontons und Gay-Lussac den absoluten Nullpunkt bei –273° C festsetzten, können wir genausogut von dort aus zählen, auch wenn wir es nur deshalb täten, um lediglich in eine Richtung (d. h. aufwärts) zählen zu können. Gleichwohl müssen wir wieder in die Konvention zurückfallen, wenn wir die Größe der Gradeinheiten wählen, mit denen wir zählen: Durch eine zugegeben willkürliche Entscheidung wurde hier die Gradeinheit der Celsiusskala übernommen. Da °F und °C als Symbole für die beiden konventionellen Skalen benutzt worden waren, wurde nun °K die Bezeichnung für die absolute Skala, und zwar Lord Kelvin zu Ehren, der den Begriff Temperatur von den Beschränkungen befreite, die auf das Thermometer zurückgehen, und ihn statt dessen auf reine Thermodynamik begründete. So gibt es in der absoluten Skala keine negativen Tempera-turen mehr. Der Nullpunkt ist der absolute Nullpunkt. Die Temperatur schmelzenden Eises (0° C) liegt bei 273° K, die kochenden Wassers bei 373° K, was natürlich +100° C ist. Das befreit uns von lästigen Minuszeichen und Subtraktionen. Von nun an gilt als kritische Temperatur des Sauerstoffs nicht -118°'C, sondern 155° K (273 minus 118).

In unserem Druck-Temperatur-Diagramm (Abb. 7) bezeichnen die Linien die Grenzen der verschiedenen Aggregatzustände. Die durchgehend fette Linie schließt den festen Zustand ein. Sie vereinigt sich mit der Temperaturachse bei dem Druck 0 und dem absoluten Nullpunkt. Von dort steigt sie an, zuerst allmählich, dann immer rascher bis zum oberen Ende jedes beliebigen Diagramms, das wir heute zeichnen können. Das bedeutet, daß es auch bei den höchsten Drücken, die wir im Laboratorium erzeugen können, stets eine bestimmte Temperatur gibt, bei der eine Substanz schmilzt. Was mit dieser Schmelzkurve jenseits der Grenzen experimen-teller Forschung geschieht, können wir nicht sagen. Das ist eines der ungelösten Probleme der Physik, das wir leider verlassen müssen, weil

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unsere Untersuchung uns in die entgegengesetzte Richtung führt. Bei hinreichend tiefen Temperaturen grenzt der feste Zustand immer an den gasförmigen und nicht, wie man leicht denken könnte, an den flüssigen Zustand.

Wir können dieses Diagramm verdeutlichen, indem wir den Fall des Wassers betrachten und beobachten, was in einem wassergefüllten Gefäß geschieht, wenn wir die Temperatur ändern. Um der von der atmosphärischen Luft herrührenden Komplikation aus dem Wege zu gehen, evakuieren wir das Gefäß zunächst und verstärken es so, daß es Druck aushält. Bei einer Temperatur unterhalb des Gefrierpunkts sehen wir nichts in dem Gefäß außer Eis. Ein mit dem Gefäß verbundenes Druckmeßgerät registriert, wie sich feststellen läßt, einen gewissen Druck, d. h., der Raum über dem Eis ist nicht leer. Er ist tatsächlich mit Wasser im Gaszustand, also mit Wasserdampf, gefüllt, und der Druck dieses Dampfes hat den Wert, den die durchgehend fette Linie in unserem Gleichgewichtsdiagramm angibt. Wir befinden uns in dem Bereich, in dem der feste und der gasförmige Zustand im Gleichgewicht sind. Wenn wir unser Gefäß weiter erwärmen, steigt der Druck allmählich an und zeigt uns so, daß etwas von dem Eis verdampft. Schließlich erreichen wir die Temperatur, bei der das Eis zu schmelzen beginnt, und jetzt sehen wir Wasser und Eis im Gefäß, das zusätzlich Dampf enthält, der aber unsichtbar bleibt. Diese Temperatur wird der Tripelpunkt genannt, weil hier alle drei Phasen, die feste, flüssige und gasförmige, im Gleichgewicht sind. Bei irgendeiner tieferen Temperatur ist kein Wasser und bei irgendeiner höheren kein Eis vorhanden.

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7 Das Druck-Temperatur-Zustandsdiagramm zeigt die Kurven, längs denen die festen, flüssigen und gasförmigen Phasen derselben Substanz im Gleichgewicht miteinander stehen. Man beachte, daß die flüssigen und gasförmigen Phasen nicht völlig voneinander getrennt sind, sondern oberhalb des kritischen Punkts ineinander übergehen.

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Erwärmen wir das Gefäß über den Tripelpunkt hinaus, so sehen wir nur Wasser, bemerken aber auch, daß die Wasseroberfläche mit steigender Temperatur sinkt; also verdampft ein Teil des Wassers. Dadurch wird bestätigt, daß der Druck des Dampfes stetig ansteigt. Wir bewegen uns jetzt auf der unterbrochenen Kurve, deren allmählicher Anstieg dem Anstieg des flachen Teils der Isothermen in Abb. 6 (S. 38) entspricht. Schließlich geschieht etwas Außergewöhnliches. Bei einer bestimmten Temperatur wird der Meniskus, der das Wasser von seinem Dampt trennt, plötzlich unsichtbar. Senken wir jetzt die Temperatur wieder ein wenig, dann taucht auch die Wasseroberfläche an genau derselben Stelle auf, an der sie so überraschend verschwand. Wir haben den kritischen Punkt erreicht.

So seltsam das Verschwinden des Meniskus auch erscheinen mag, es ist nicht schwierig zu erklären. Als das Gefäß erwärmt wurde, nahm die Dichte des Wassers darin ab, wie es bei jeder Substanz geschieht, die erwärmt wird. Andererseits verdampfte immer mehr Wasser, was bedeutet, daß der Dampf sich zunehmend verdichtete, bis schließlich die Temperatur erreicht wurde, bei der die Dampfdichte der Dichte der Flüssigkeit entsprach. In diesem Augenblick verschwindet jeder Unterschied zwischen der flüssigen und der gasförmigen Phase; sie sind identisch geworden. Jetzt ist der Zustand erreicht, den Andrews beschrieb, als er sagte, daß die Frage, ob die Substanz eine Flüssigkeit oder ein Gas ist, nicht zu beantworten sei. Also ist es sinnlos, über Gasverflüssigung zu sprechen, solange wir nicht eine Temperatur erreichen können, bei der sich eine Grenzfläche zwischen den beiden Phasen bildet. Unser Diagramm zeigt, daß eine solche Grenzfläche bei einer Temperatur oberhalb der kritischen nicht entstehen kann.

Aus dem Druck-Temperatur-Diagramm entnehmen wir mit einem Blick die möglichen Zustände, in denen eine Substanz bei einer gegebenen Temperatur angetroffen werden kann. Bevor wir das Diagramm für die Erörterung der Gasverflüssigung benutzen, muß noch erklärt werden, warum der so vertraute Begriff Siedepunkt bis jetzt in unseren Überlegungen übergangen wurde. Der Grund dafür ist, daß der Siedepunkt

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zwar praktisch sehr wichtig ist, aber keine grundlegende Bedeutung hat, und nur existiert, wenn sich über der Flüssigkeit auch Luft befindet. Er ist lediglich die Temperatur, bei der der Dampfdruck der Substanz gleich dem Druck der Atmosphäre wird. Da letztere sich mit der Höhe ändert, kocht Wasser in Mexico City bei 93° C und in London bei 100° C, während die entsprechenden Siedepunkte des flüssigen Sauerstoffs 87° bzw. 90° K (–183° C) sind. Die kritischen oder Tripelpunkte von Wasser oder Sauerstoff dagegen sind stets dieselben, wo immer sie auch gemessen werden.

Kehren wir nun zu dem einfachen Fall einer Substanz zurück, die in einem Behälter eingeschlossen ist und daher nur unter ihrem eigenen Dampfdruck steht. Hier zeigt das Diagramm, daß Druckänderungen entsprechende Temperaturänderungen bewirken müssen. Z. B. wird jetzt klar, warum Wroblewski und Olszewski eine tiefere Temperatur erreichten als Cailletet. Sie verminderten den Dampfdruck über ihrem Bad aus flüssigem Äthylen, während Cailletet es unter Atmosphärendruck sieden ließ. Aus dem Diagramm folgt ebenfalls, daß jede Substanz, deren kritischer Punkt oberhalb der Zimmertemperatur (etwa 293° K) liegt, allein durch Druckanwendung verflüssigt werden kann. Vermindern wir anschließend den Druck, so kühlt sich die Flüssigkeit entlang der unterbrochenen Dampfdruckkurve (siehe S. 41) ab. Nach diesem Prinzip arbeiten die meisten Haushaltskühlschränke. Benutzen wir eine hinreichend starke Pumpe, um den Dampfdruck zu vermindern, können wir die Substanz auch unter den Tripelpunkt abkühlen und auf diese Weise den festen Zustand erreichen. Für die meisten praktischen Zwecke ist das nicht erwünscht, da die Arbeitssubstanz, ist sie einmal gefroren, nicht mehr durch den Kühlkreis fließen kann.

Überdies können wir zwei oder mehr solcher Kühlkreise hintereinander schalten (Abb. 8). Wenn wir eine Substanz A verwenden, die bei Zimmertemperatur durch Kompression verflüssigt werden kann, können wir sie bei einer etwas tieferen Temperatur T1 verdampfen lassen. Ein zweites Gas B, dessen kritischer Punkt unterhalb der Zimmertemperatur, aber über T1 liegt, kann nun durch Kompression bei T1 verflüssigt und anschließend bei einer noch tieferen Temperatur T2 verdampft werden.

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8 Eine Kühl»kaskade« mit zwei Substanzen verschiedener kritischer Daten. Wesentlich ist, daß sich die Bereiche des Flüssigkeit-Gas-Gleichgewichts etwas überlappen.

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Diesen Vorgang hat man Kaskadenverfahren genannt. Pictet

verflüssigte 1877 mittels einer solchen Kaskade Luft, indem er in seinem ersten Kreis Schwefeldioxid, im zweiten Kohlensäure und im dritten Sauerstoff benutzte. Zumindest glaubte er dies zur Zeit seines Experiments, das vollkommener und mit wahrscheinlich besserem Verständnis der entscheidenden Faktoren geplant war als das Cailletets. Eine spätere Untersuchung seiner Experimente macht es jedoch unwahrscheinlich, daß im dritten Kreis tatsächlich Sauerstoff unter Druck verflüssigt wurde, und es scheint, daß der Flüssigkeitsstrahl, den er aus seiner Maschine entspringen sah, Sauerstoff war, der auf dieselbe Weise wie in Cailletets Anordnung verflüssigt worden war, d. h. durch Druckverminderung. Selbst wenn Pictets erste Kaskade nur zum Teil arbeitete, so zeigten doch er und andere nach ihm, daß sie sehr erfolgreich betrieben werden und als wirksames Mittel zur Verflüssigung von Sauerstoff oder Luft dienen kann. Eine Kaskade mit drei aufeinanderfolgenden Kreisen von Methylchlorid, Äthylen und Sauerstoff wurde zwischen 1892 und 1894 von dem holländischen Physiker Kamerlingh Onnes in seinem Laboratorium in Leiden konstruiert. Ihr wurde noch ein vierter Kreis zur Kondensation der atmosphärischen Luft hinzugefügt. Die ganze Anlage, die damals die hervorragendste Errungenschaft der Tieftemperaturtechnik war, erzeugte pro Stunde 14 Liter flüssige Luft und blieb noch viele Jahre nach Onnes' Tod (1926) in Betrieb. Sie bildete die Grundlage des berühmten Leidener Laboratoriums, das für mehr als drei Jahrzehnte die Tieftemperatur-forschung beherrschen sollte und heute Kamerlingh Onnes' Namen trägt. Das jedoch ist ein späterer Abschnitt unserer Geschichte.

Sofort nachdem die Verflüssigung von Luft gelungen war, versuchte Cailletet auf dieselbe Weise Wasserstoff zu verflüssigen, aber alle seine Bemühungen schlugen fehl. Auch Pictet versuchte sich daran, und hierbei übertraf seine Begeisterung leider seine wissenschaftliche Vorsicht. Pictets Gewißheit, daß seine Apparatur flüssigen Wasserstoff erzeugte, ließ ihn Behauptungen aufstellen, die sich später als ganz unhaltbar erwiesen. Aufgrund einer völlig falschen chemischen Voraussage erwartete er, daß

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flüssiger Wasserstoff metallische Eigenschaften habe. Er berichtete, einen stahlblauen Strahl flüssigen Wasserstoffs gesehen zu haben, der die Wand seiner Apparatur mit metallisch klingendem Gerassel getroffen habe.

1884 begannen Wroblewski und Olszewski, die jetzt jeder für sich in Krakau arbeiteten, in eigenen Experimenten Wasserstoff nach Cailletets Expansionsmethode zu verflüssigen. Beide bemerkten einen leichten Nebel, und jeder hoffte, er möge aus Tröpfchen flüssigen Wasserstoffs bestehen. Beide hegten jedoch den Verdacht, daß es sich um irgendeine Verunreinigung in kondensierter Form gehandelt haben könnte. Aber die Tage Cailletets und Pictets waren jetzt vorüber, und von jedem, der ernsthaft behauptete, Wasserstoff verflüssigt zu haben, erwartete man, daß er etwas Handfesteres vorweise als eine vergängliche Nebelspur. Das Mißlingen dieser Krakauer Experimente kennzeichnet das Ende jener Epoche, in der man mit roher Gewalt und aufs Geratewohl Gase zu verflüssigen versuchte.

Die treibende Kraft, die hinter den Experimenten stand, war eine völlig andere geworden. Der Mythos von den »permanenten Gasen« war zerstört, und Lavoisiers Voraussage hatte sich als richtig erwiesen. Nachdem Cailletet Sauerstoff und Stickstoff verflüssigt hatte, zweifelte niemand mehr ernsthaft daran, daß auch Wasserstoff in den flüssigen Zustand versetzt werden könne. Das Problem war nicht mehr, ob dieses zuletzt übriggebliebene Gas verflüssigt werden könnte, sondern die Frage nach der Temperatur, bei der das geschehen würde. Ein wichtiges Kapitel der wissenschaftlichen Forschung war erfolgreich abgeschlossen; der Zusammenhang der drei Aggregatzustände miteinander war verstanden. Für jede Substanz konnte ein Diagramm gezeichnet werden, auf dem die feste, flüssige und gasförmige Phase zu sehen war und das bis auf kleinere Abweichungen immer wie das Diagramm der Abb. 7 (S. 37) aussehen würde.

Das neue Kapitel, das in den späten achtziger Jahren begann, war die Erforschung der tiefen Temperaturen. Bis dahin war die Herstellung tiefer Temperaturen nur ein Hilfsmittel bei der Verflüssigung der permanenten Gase gewesen, und wie wir gesehen haben, hatte man die Rolle, die diese

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tiefen Temperaturen spielten, nicht immer sehr gut verstanden. Nachdem dann die erste Erregung über die verflüssigten Gase abgeflaut war, rückte der Tieftemperaturaspekt in den Vordergrund. Als die polnischen Physiker als erste gezeigt hatten, wie man flüssigen Sauerstoff im Laboratorium aufrechterhalten kann, begann man allmählich zu erfassen, daß die Wissenschaft sich auf den Weg zum absoluten Nullpunkt begeben hatte und daß auf einen Schlag bereits zwei Drittel des Wegs zurückgelegt worden waren. Die wenigen Gramm bläulicher Flüssigkeit im Inneren einer Apparatur in Krakau waren der erste Stützpunkt in einem unermeßlich großen Gebiet, das bis dahin vollkommen unerforscht war. Von dort aus schritt man auf zwei Wegen voran, die zwar immer voneinander abhingen, aber verschiedene Ziele hatten. Auf dem einen fand der Marsch auf den absoluten Nullpunkt statt, der bald zu einem aufregenden Rennen wurde, auf dem anderen wurde das Verhalten der Materie in dem eben erschlossenen Bereich der tiefen Temperaturen erforscht. Ein dritter Forschungszweck gesellte sich bald dazu: die technische Anwendung der neuen wissenschaftlichen Entdeckungen.

Der erste Theoretiker der Tieftemperaturforschung war der holländische Naturwissenschaftler Johannes Diederik van der Waals, der 1872 im Alter von 35 Jahren Andrews' Ergebnisse im Rahmen der Molekülphysik deutete. Die kinetische Theorie betrachtete ein dem Gesetz von Boyle gehorchendes Gas als eine Gesamtheit von Molekülen, die so klein sind, daß ihr Volumen gegen das Gasvolumen vernachlässigt werden kann. Ihr einzig wichtiges Merkmal außer ihrer Masse ist die Geschwindigkeit, mit der sie sich durch den Raum bewegen und zusammenstoßen. Da diese Zusammenstöße vollkommen elastisch sind, können wir einfache physikalische Gesetze erwarten, um das Verhalten eines solchen idealen Gases zu beschreiben. Wir sahen bereits, daß mit diesem einfachen Modell Erwärmung durch Kompression und Abkühlung durch Expansion leicht erklärt werden können. Wenn wir eine Kühlmaschine entwerfen, die auf Expansion unter Arbeitsleistung gegen einen Kolben oder in einer Turbine beruht, brauchen wir nicht mehr als die Gesetze von Boyle und Gay-Lussac. Aber diese Gesetze sagen uns nichts über Verflüssigung. Würden

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sie immer befolgt, so könnte man eine Expansionsmaschine bauen, die, von Zimmertemperatur ausgehend, den absoluten Nullpunkt erreichen würde. Zu der Zeit also, als man noch einige Gase für permanent hielt, muß das durchführbar erschienen sein. Aber wir wissen nicht, ob jemals einer diese Möglichkeit in Betracht zog. Obwohl van der Waals seine berühmte Arbeit Über die Kontinuität des gasförmigen und flüssigen Zustands fünf Jahre vor der Sauerstoffverflüssigung veröffentlichte, war er bereits überzeugt, daß kein Gas permanent sein würde. Er hatte sich zum Ziel gesetzt, die Gründe für das Versagen von Boyles Gesetz herauszufinden, ein Versagen, das sein Landsmann van Marum zuerst bemerkt und darauf Andrews so gründlich erforscht hatte. Da Wasserdampf bei Abkühlung zuerst zu flüssigem Wasser kondensiert und dann zu Eis gefriert, mußte die Vorstellung von Gasmolekülen, die nur kinetische Energie besitzen, erweitert werden. Es ist klar, hinsichtlich welcher zwei Aspekte das einfache kinetische Modell eines Gases unzulänglich ist: Die Moleküle müssen eine endliche Größe haben und üben natürlich Kräfte aufeinander aus. Van der Waals berücksichtigte diese beiden Vernachlässigungen, indem er die Gasgesetze mit (P + a/V

2) statt des Drucks P und (V – b) statt des Volumens V niederschrieb. Seine erste Korrektur berücksichtigt die Tatsache, daß die Anziehungskraft zwischen den Molekülen diese enger zusammenrückt und daher wie ein zusätzlicher Druck wirkt, der durch die Konstante a bestimmt wird. Dieser »Druck« muß um so größer sein, je enger die Moleküle zusammengerückt sind, d. h., a muß durch V2 dividiert werden. Die zweite Verbesserung vermindert das Gesamtvolumen um die Konstante b, die den Volumenanteil ausdrückt, den die Moleküle selbst einnehmen.

Die neue Gleichung, die statt P • V – konst. • T jetzt (P + a/V2) • (V – b)

= konst. • T lautet, ergibt Kurven von eigenartig geschlängelter Gestalt (Abb. 9), die jedoch derjenigen der von Andrews gemessenen Isothermen nicht unähnlich ist. Es kommt kein flaches Teilstück vor, aber man beachte, daß van der Waals' Gleichung in dem geschlängelten Bereich zu jedem gegebenen Druck drei Lösungen für das Volumen ergibt. Wenn wir mit einer geraden Linie diese drei Lösungspunkte miteinander verbinden,

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erhalten wir eine Kurve, die Andrews' Isothermen sehr ähnelt. Überdies können wir die richtigen drei Werte durch eine nicht allzu mühsame Rechnung ermitteln. Man mußte bald einsehen, daß die Natur der intermolekularen Kräfte viel zu kompliziert ist, um durch eine so einfache Formel, wie es die von van der Waals ist, genau ausgedrückt werden zu können. Heute ist es klar, daß keine einfache Zustandsgleichung allgemeingültig sein kann. Diese Schwierigkeiten entstehen jedoch nur, wenn man sehr genaue Werte für die Isothermen sucht, und es besteht kein Zweifel, daß van der Waals' Näherung im großen und ganzen richtig war. Wenn wir uns nicht um feinere Einzelheiten kümmern, gibt die Van-der-Waals-Gleichung komplizierte Verhältnisse bemerkenswert zuverlässig wieder. Außerdem ist die Rolle der anziehenden Kräfte beim Übergang von einem Aggregatzustand in einen anderen klarer geworden. Diese Kräfte können bei hohen Temperaturen vernachlässigt werden, da nämlich die sehr hohe Bewegungsenergie sie dort vollkommen verdeckt. Wird nun das Gas abgekühlt, so sinkt diese kinetische Energie und die intermolekularen Kräfte machen sich durch Abweichungen von Boyles Gesetz bemerkbar. Bei hinreichend tiefen Temperaturen schließlich wiegen sie die abnehmende kinetische Energie auf. Die Moleküle fliegen nicht mehr nach jedem Zusammenstoß auseinander, sondern werden zusammengehalten. Der flüssige Zustand ist erreicht. In diesem Zustand haben die Moleküle zwar noch eine gewisse Bewegungsfreiheit, können sich aber nicht mehr sehr weit voneinander entfernen. Bei noch tieferen Temperaturen wird die kinetische Energie so klein, daß auch diese Bewegungsfreiheit verlorengeht. Von jetzt an ist jedes Molekül an seine Nachbarn gebunden, und die ganze Molekülansammlung ist zum festen Zustand gefroren.

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9 Van der Waals' Modifikation des Boyleschen Gesetzes berücksichtigt das Eigenvolumen der Moleküle und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte. Es ergibt sich eine gute Annäherung an die von Andrews gemessenen Isothermen (vgl. Abb. 6).

Ein großer Vorzug der Van-der-Waals-Gleichung ist, daß sie mit den

obigen Einschränkungen für jede Substanz gilt. Lediglich die beiden Koeffizienten a und b sind von Fall zu Fall verschieden. Sind sie einmal

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aus der Messung von einer oder mehreren Isothermen bestimmt, kann das ganze Zustandsdiagramm für die Substanz vorhergesagt werden. Insbesondere ist die kritische Temperatur ziemlich genau gleich 0,15 • a/b , so daß die Kenntnis der beiden Koeffizienten für ein Gas die Vorhersage seines kritischen Punkts erlaubt. Da die Van-der-Waals-Gleichung auch im Bereich oberhalb der kritischen Temperatur gilt, lassen sich a und b aus sorgfältigen Messungen der Isothermen weit oberhalb des Bereichs möglicher Verflüssigung bestimmen. Nach dem enttäuschenden Ergebnis des Jahres 1884 widmete Wroblewski die meiste Zeit der vier ihm verbleibenden Lebensjahre der Bestimmung der Koeffizienten a und b für Wasserstoff. Nach seinem Tod schickte einer seiner Schüler die von ihm aufgezeichneten Beobachtungen und Folgerungen an die Akademie der Wissenschaften in Wien. Die Ergebnisse waren nicht ermutigend gewesen. Er schätzte die kritische Temperatur des Wasserstoffs auf etwa 30° K; seine Folgerung war, wie sich später zeigen sollte, richtig. Dagegen ist die tiefste Temperatur, die mit flüssiger Luft bequem erreicht werden kann, etwa 50° K. Es bestand also keine Hoffnung, flüssigen Wasserstoff dadurch zu erhalten, daß man das Gas bei Temperaturen flüssiger Luft komprimierte. Eine Lücke von 25° klaffte zwischen den Dampfdruck-kurven von Luft und Wasserstoff, und es stand kein anderes Gas zur Verfügung, das zur Verflüssigung mittels einer Kaskade hätte dienen können. Der Fortschritt hatte sich totgelaufen.

Sieben Jahre später (1895) erfanden Hampson in England und Linde in Deutschland, wieder unabhängig und gleichzeitig, ein neues Gasverflüssi-gungsverfahren, das das Tor zu weiteren Fortschritten auf den absoluten Nullpunkt hin öffnete. Es erwies sich dank seiner technischen Einfachheit sofort als erfolgreich. Das zugrunde liegende physikalische Prinzip ist leider nicht annähernd so einfach. Das Verfahren stützt sich auf Beobachtungen, die Joule und Thomson (der spätere Lord Kelvin) mehr als 40 Jahre früher gemacht hatten. Im Zusammenhang mit seiner Arbeit über die Energieumwandlung interessierte sich Joule für die Gasexpansion unter Bedingungen, bei denen keine Arbeit während dieser Expansion geleistet wird. Als wir Cailletets Experiment erörterten, sahen wir, daß selbst dann,

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wenn die Versuchsanordnung keinen Kolben enthält, Arbeit geleistet werden kann – wie z. B. durch Anhebung der Erdatmosphäre. Von der kinetischen Vorstellung her ist völlig klar, daß immer Arbeit geleistet wird, wenn die Moleküle des sich ausdehnenden Gases vom Kolben oder von ihren Nachbarn mit einer geringeren Geschwindigkeit zurückprallen, als sie ursprünglich besaßen. Bei Joules Experiment ließ man das Gas sich einfach in ein größeres Volumen ausdehnen. Unter diesen Bedingungen sollte sich keine Wärme entwickeln, da nirgends in der Anordnung Arbeit geleistet wird. Seine ersten Experimente waren erfolglos, aber 1852 unternahm er zusammen mit Thomson einen empfindlicheren Versuch. Sie ließen Luft ein Rohr entlangströmen, in dem sich ein poröser Pfropfen befand. Da der Pfropfen für den Gasstrom einen Widerstand bildete, war der Luftdruck vor ihm größer als hinter ihm. Die Luft dehnte sich also beim Durchströmen des Pfropfens aus, ohne dabei Arbeit zu leisten. Bei den Zusammenstößen, wie während des Durchtritts der Luft durch die feinen Kanäle im Pfropfen stattfinden, können die Moleküle nirgends mit verminderter Geschwindigkeit zurückprallen.

Die Ergebnisse waren in zweierlei Hinsicht überraschend. Zunächst kühlten sich die Luft wie auch ihre Bestandteile Sauerstoff und Stickstoff bei dieser Expansion leicht ab, und dasselbe taten die meisten anderen Gase, die Joule und Thomson untersuchten. Die zweite Überraschung war, daß bei Wasserstoff, der einzigen Ausnahme von dieser Regel, statt dessen ein Erwärmungseffekt auftrat. Spätere Untersuchungen zeigten, daß der Abkühlungseffekt sich mit sinkender Temperatur vergrößert und sich sogar Wasserstoff bei hinreichend tiefer Temperatur abkühlt, wenn er sich auf diese Weise ausdehnt.

Da wir von einem idealen Gas, d. h. einem, das dem Gesetz von Boyle gehorcht, überhaupt keinen Erwärmungseffekt erwarten dürfen, müssen wir zwangsläufig folgern, daß die von Joule und Thomson beobachteten Erscheinungen von Eigenschaften herrühren, die auch für die Verflüssigung verantwortlich sind. Das ganze Problem konnte erst nach den Untersuchungen von Andrews und van der Waals gelöst werden. Andrews' Diagramm (S. 38) zeigt tatsächlich, daß noch weit oberhalb der

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kritischen Temperatur die Isothermen von rechtwinkligen Hyperbeln stark abweichen. Sie erscheinen verzerrt, und das ist ein sicheres Zeichen für die Nähe des flüssigen Zustands bei tieferen Temperaturen; das ist ebenfalls erklärbar durch die intermolekularen Kräfte und das Eigenvolumen der Moleküle. Wenn sich jetzt das Gas durch den porösen Pfropfen ausdehnt, wird tatsächlich Arbeit geleistet, allerdings keine äußere Arbeit gegen einen Kolben oder gegen die Atmosphäre. Die Arbeit wird in diesem Fall intern aufgewandt, nämlich um die Moleküle voneinander zu entfernen, d. h. die gegenseitigen Anziehungskräfte zu überwinden. Die Van-der-Waals-Gleichung berücksichtigt jedoch nicht nur die intermolekularen Kräfte, sondern auch das Eigenvolumen der Moleküle, und dieser Ausdruck in der Gleichung wirkt in der entgegengesetzten Richtung. Wegen ihres Eigenvolumens halten die Moleküle nämlich voneinander einen gewissen Abstand. Daher kann auch ein Erwärmungseffekt auftreten. Wir verstehen nun, warum die von Joule und Thomson gefundene Temperaturänderung bei einigen Gasen eine Abkühlung und bei anderen eine Erwärmung ist. Die beiden Korrekturen in der Van-der-Waals-Gleichung wirken in entgegengesetzten Richtungen, und der resultierende thermische Effekt kann daher eine Erwärmung oder eine Abkühlung sein, je nachdem, welche der beiden Wirkungen überwiegt. Zum Glück für die Erzeugung tiefer Temperaturen herrscht bei Annäherung an die Verflüssigung immer der Abkühlungseffekt vor.

Verglichen mit der Abkühlung, die in einer Expansionsmaschine erzielt werden kann, ist der Joule-Thomson-Effekt gewöhnlich sehr klein. Andererseits ist die Kühlvorrichtung sehr einfach. Sie besteht nur aus einem Pfropfen oder einer Düse, durch die hindurch das Gas expandiert wird, und erfordert keinerlei bewegliche Teile bei tiefen Temperaturen. Der Siemenssche Kühlkreis und dessen Wärmeaustauscher waren seit fast 40 Jahren bekannt, so war es nur eine Frage der Zeit, ob jemand auf die Idee kommen würde, die Expansionsmaschine durch einen Joule-Thomson-Pfropfen zu ersetzen. Die Patentanträge für eine solche Vorrichtung wurden unabhängig voneinander am 23. Mai 1895 von Hampson in England und am 5. Juni desselben Jahres von Linde in

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Deutschland eingereicht. Der Bericht über Lindes erstes Experiment wenige Monate später ist ganz dramatisch. Da der Wärmeaustauscher sehr schwer war, vergingen nicht weniger als drei Tage, bis die Endtemperatur erreicht war und sich die erste flüssige Luft niederschlug. In den zwei dazwischenliegenden Nächten erwärmte er sich zum Teil wieder, da die Wärmeisolation schlecht war. 10 Im Hampson-Linde-Kreislauf ist die Expansionsmaschine der Abb. 2 (S. 19) durch eine Düse ersetzt, in der Abkühlung aufgrund des Joule-Thomson-EfTekts erfolgt.

Die Funktionsweise des Hampson-Linde-Krefslaufs ist sehr einfach

(Abb. 10). Das Gas wird in A komprimiert, strömt durch einen Wärme-austauscher D und wird dann durch die Düse B expandiert. An dieser Stelle findet eine geringe Temperaturerniedrigung statt, und das expandierte Gas kühlt daher das einströmende Gas in D. Wird dieser Vorgang häufig wiederholt, so nimmt die Temperatur an der Düse stetig ab, bis schließlich Verflüssigung eintritt und der verflüssigte Anteil sich in E sammelt. Der Vergleich der Abb. 2 (S. 19) und 10 zeigt sofort, wie ähnlich die beiden Kreise sind. Der einzige Unterschied besteht in der Verwendung einer Düse anstatt einer Expansionsmaschine. Dieser Unterschied bedeutet jedoch, daß man die technische Einfachheit mit einem großen Verlust an Kühlwirkung und der Notwendigkeit höherer Drücke und größerer Gasmengen im Kreis bezahlen mußte.

Von 1895 an hat sich die industrielle Anwendung der Ergebnisse der

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Tieftemperaturphysik der Zukunft zugewandt. Ihr wichtigstes Ziel wurde, aus der atmosphärischen Luft Sauerstoff zu gewinnen, der in großen Mengen bei der Stahlherstellung und bei anderen technischen Prozessen benötigt wird.

Die Abtrennung des Stickstoffs aus der Luft und die des Wasserstoffs aus Wassergas sind ebenfalls von großer Bedeutung. Die Patente von Hampson und Linde führten schließlich zu den großen Gastrennungs-werken in England, Deutschland und den USA. Sie wurden um die Jahrhundertwende in Frankreich durch das Patent von Claude ergänzt, der dann die Herstellung von Expansionsmaschinen als Geschäftsunternehmen betrieb.

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3 | London 1898

Am 1. September 1894 veröffentlichte die Londoner Times einen Artikel über die Fortschritte auf dem Weg zum absoluten Nullpunkt. Dieser Artikel stützte sich auf ein Interview mit Professor (später Sir James) Dewar von der Royal Institution in London und handelte hauptsächlich von dem, wie es damals schien, letztmöglichen Schritt in Richtung auf das Endziel, nämlich der Verflüssigung des Wasserstoffs. Dewar, damals 52jährig, war durch seine brillanten Experimente in den Mittelpunkt der Tieftemperaturforschung getreten. Vier Jahre später erreichte er sein Ziel, wenn auch auf eine Weise, die von der im Interview angedeuteten sehr verschieden war. Zu jener Zeit gründete sich seine Hoffnung, die Kluft zwischen den Temperaturen der flüssigen Luft und dem kritischen Punkt des Wasserstoffs zu überbrücken, auf die »Herstellung einer neuen Substanz«, die einen geeigneten kritischen Punkt bei, sagen wir, 80º K haben sollte. Man hielt Wasserstoff mit einem zehnprozentigen Zusatz von Stickstoff für eine solche Substanz, und Dewar experimentierte damit. Heute wissen wir, daß die Löslichkeit von Stickstoff in flüssigem Wasserstoff viel zu klein ist, um nutzbar zu sein. Aber Dewar war offenbar nicht sicher, ob er nicht vielleicht doch Wasserstoff verflüssigt habe. Auf jeden Fall war er vorsichtig, und daher schrieb The Times: »Professor Dewar behauptet nicht, reinen flüssigen Wasserstoff in einem seiner Vakuumgefäße erzeugt zu haben, obwohl sich unmöglich sagen läßt, welche Flüssigkeit außer Wasserstoff es gewesen sein könnte.«

James Dewar war ein kleiner Mann von vielseitiger Begabung und nahezu unheimlichem experimentellem Geschick, und er besaß ein leicht reizbares Künstlertemperament. Als jüngster von sieben Söhnen eines schottischen Gastwirts brach er im Alter von zehn Jahren einmal ins Eis

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ein, danach stand es einige Jahre schlecht um seine Gesundheit. Damals entwickelte er seine große handwerkliche Gewandtheit, indem er viel Zeit beim Dorfschreiner verbrachte, der ihn den Geigenbau lehrte. Eine dieser Geigen, die anläßlich seiner goldenen Hochzeit gespielt wurde, trug die Inschrift »James Dewar, 1854«. Später besuchte er die Universität Edinburgh, wo er nach seinem Studium eine Professur für Chemie innehatte. Im Alter von 33 Jahren erhielt er den Jackson-Lehrstuhl für experimentelle Philosophie in Cambridge. Nach allem, was man darüber weiß, scheinen Dewar und Cambridge nicht besonders gut miteinander ausgekommen zu sein. Als ihm zwei Jahre darauf der Fuller-Lehrstuhl für Chemie an der Royal Institution in London angeboten wurde, nahm er ihn mit Vergnügen an und blieb dort bis zu seinem Tode im Alter von 81 Jahren bis zum letzten Augenblick tätig. Wie seine wissenschaftlichen Veröffentlichungen zeigen, erstreckte sich Dewars Interesse auf einen sehr großen Themenkreis, aber seine übrige Forschungsarbeit tritt völlig zurück neben seinen hervorragenden Beiträgen auf dem Gebiet der tiefen Temperaturen. An der Royal Institution fühlte er sich frei von akademischen Pflichten und Universitätsvorschriften, und dem Künstler in ihm war der Geist Davys und Faradays immer gegenwärtig. Als ein Jahr nach seiner Amtsübernahme die Sauerstoffverflüssigung bekanntgegeben wurde, fühlte er, daß der Geist Faradays ihn mahnte, die frühere Pionierarbeit bei der Gasverflüssigung an der Royal Institution fortzusetzen. Sofort besorgte er sich aus Paris eine Cailletet-Apparatur, und schon nach wenigen Monaten, im Sommer 1878, zeigte er seinem Auditorium anläßlich eines der berühmten Freitagabendvorträge die Tropfen flüssigen Sauerstoffs. Bevor er die Apparatur vorführte, die »der Royal Institution von Dr. Warren de la Rue großmütig gestiftet« worden war, gab Dewar einen Abriß der Geschichte der Gasverflüssigung, wobei er bezeichnenderweise mit Faradays Brief an Dr. Paris über die Verflüssigung von Chlorgas begann.

Dieser Experimentalvortrag war der erste einer langen Reihe von Demonstrationen, die sich über mehr als drei Jahrzehnte verteilten und in den eindrucksvollen Experimenten mit flüssigem Wasserstoff gipfelten.

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Die seltene Verbindung von experimentellem Geschick und künstlerischem Instinkt, getragen von tiefem wissenschaftlichem Verständnis, machte Dewar zu einem einzigartigen Schausteller. Ein großes Gemälde in der Royal Institution zeigt ihn, wie er – im Frack – die Eigenschaften flüssigen Wasserstoffs einer großen Versammlung demonstriert. Seine Vorlesungen waren um so eindrucksvoller, als er in ihnen gewöhnlich seine eigenen neuesten Forschungsergebnisse vorführte. Sie waren gesellschaftliche Ereignisse, bei denen die Öffentlichkeit das Schauspiel des derzeitigen wissenschaftlichen Fortschritts erlebte und der Hörsaal zum Theater wurde. Wie auf jeder Bühne sahen die Zuschauer nur die glänzende Aufführung, ahnten aber kaum die unendliche Sorgfalt, mit der geplant und geprobt worden war.

Cailletets Experiment mit einer käuflichen, fertigen Apparatur zu wiederholen ist einfach. Aber zur Forschung geeignete Tieftemperatur-einrichtungen aufzubauen ist ein viel schwierigeres Unterfangen. Dewar brauchte noch sechs Jahre, bis er diese zweite Stufe erreichte, und auch dann war er noch nicht viel weiter gekommen als Wroblewski und Olszewski im vorangegangenen Jahr, von deren »glänzendem Erfolg« er am Anfang seines Vortrags berichtete. Dewars hauptsächliche Verbesserung bestand in einer Abänderung, die einem großen Auditorium die Experimente zu beobachten erlaubte. Aber seine Untersuchungen des chemischen Verhaltens von flüssigem Sauerstoff und die Bemerkung des Präsidenten der Royal Society vom 27. Mai 1886, er sei Zeuge gewesen, als Dewar Sauerstoff gefrieren ließ, deuten darauf hin, daß er außerdem seine Versuchsanordnung sehr verbessert hatte. Im selben Jahr noch beschrieb Dewar seine Apparatur, defen Konstruktion einen bedeutenden Fortschritt gegenüber der Krakauer Ausrüstung darstellte. Seltsamerweise ist die Beschreibung einem Artikel angefügt1, der sich mit der Untersuchung von Meteoriten beschäftigt, eine Tatsache, die zehn Jahre später noch gewisse Folgen hatte.

Die Tätigkeit der Royal Institution und Dewars Vorliebe für Demonstra-tionsexperimente erforderten es, daß die verflüssigten Gase in einem Probegefäß »ruhig siedeten«, wie Jamin es gefordert hatte. Um das zu

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erreichen, sind zwei Dinge nötig. Erstens muß eine ausreichende Menge des verflüssigten Gases erzeugt und zweitens verhindert werden, daß das Gas sofort wieder verdampft. Das erste Problem lösten die polnischen Wissenschaftler, und sie unternahmen auch einige Schritte zur Lösung des zweiten. Cailletet hatte bereits bemerkt, daß die Beobachtungen bei seinem ersten Experiment durch den Reif gestört wurden, der sich auf der Außenseite seines Glasrohrs bildete. Bei späteren Untersuchungen umgab er daher dieses Rohr mit einem zweiten, das an dem ersten mit Stöpseln befestigt und dessen Boden mit Calciumchlorid, einem Trockenmittel, bedeckt wurde. In dieser derart verbesserten Anordnung war das Experimentierrohr von einem wasserdampffreien Zwischenraum umschlossen, so daß sich kein Reif bilden konnte. Bei den früheren Krakauer Experimenten wurde diese Vorrichtung ebenfalls benutzt, und zum erstenmal konnte man flüssigen Sauerstoff in einem Probegefäß sieden sehen, wenn auch nur für kurze Zeit, da der Wärmezustrom ihn bald wieder verdampfen ließ. Im folgenden Jahr (1884) wurde die Apparatur weiter verbessert. Der kalte Äthylendampf wurde über die Außenwand des Glasgefäßes mit dem flüssigen Äthylen abgesogen, das wiederum den flüssigen Sauerstoff vom Wärmezustrom abschirmte (Abb. 11a). Mit diesem Verfahren begannen Olszewski und Dewar zur selben Zeit.

Damals wurde der wissenschaftliche Wortschatz um ein neues Wort bereichert. Die besonders konstruierten Behälter, in denen verflüssigtes Gas zu Beobachtungs- und Forschungszwecken aufbewahrt wurde, nannte man Kryostate (kryos ist das griech. Wort für »kalt«) und die Kunst der Kälteerzeugung Kryogenik (Kältetechnik). Bald gehörten die Kryo-staten nicht mehr zur Verflüssigungsapparatur selbst. Statt dessen wurde die Flüssigkeit aus dem Expansionsgefäß über einen Hahn in den eigentlichen Kryostaten gefüllt, der dann abgenommen werden konnte. Das erleichterte das Experimentieren sehr. Die Kryostaten dieser Zeit bestanden aus einem Rohr, das flüssigen Sauerstoff enthielt, und einem äußeren Glasbecher, in den das Rohr mit einem Stöpsel eingepaßt war (Abb. 11b). Auf dem Boden des Bechers befand sich ein Trockenmittel, das den Wasserdampf zwischen den Glaswänden absorbierte und die Reifbildung verhinderte. So

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konnte Dewar bei seinen Vorträgen jeweils kurz vorher gewonnenen flüssigen Sauerstoff in den Hörsaal mitbringen und dessen Eigenschaften dem Auditorium vorführen. In den zehn Jahren seit der ersten Verflüssigung hatten die Experimente mit flüssiger Luft und flüssigem Sauerstoff ungeheure Fortschritte gemacht, aber es gab ein beunruhigendes Zeichen dafür, daß die Annäherung an den absoluten Nullpunkt auf eine weitere Schwierigkeit stoßen würde 11 Entwicklungsstufen des Vakuumgefäßes

. Damit eine Flüssigkeit verdampft, muß ihr eine bestimmte

Wärmemenge zugeführt werden. Diese latente Wärme der Verdampfung ermöglicht es überhaupt erst, ein verflüssigtes Gas aufzubewahren. Jeder Kubikzentimeter flüssigen Sauerstoffs erfordert zu seiner Verdampfung den Zustrom einer Wärme von 70 cal in den Kryostaten. Je weniger

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Wärme in den Kryostaten gelangt, um so länger hält sich der Sauerstoff im flüssigen Zustand. Leider ist jedoch die latente Wärme des Sauerstoffs ungefähr viermal kleiner als die des Wassers, was, wie Trouton gezeigt hat, der Tatsache zuzuschreiben ist, daß Sauerstoff bei einer viermal geringeren Temperatur siedet als Wasser (Temperaturen in Grad Kelvin). Nach Troutons Regel war daher zu erwarten, daß die latente Wärme des Wasserstoffs noch kleiner, möglicherweise mehr als viermal kleiner als die des Sauerstoffs sein würde. Diese grobe Überlegung zeigte nur zu deutlich, daß, selbst wenn man Wasserstoff verflüssigen könnte, die damalige Bauart der Kryostaten zu seiner Aufbewahrung ganz ungeeignet wäre.

Dewar scheint dieses wichtige Problem irgendwann gegen Ende des Jahrs 1892 gelöst zu haben, da er in einem Vortrag am 20. Januar 1893 seinem Auditorium sein berühmtes Vakuumgefäß vorführte, und zwar in einer so vollkommenen Form, daß sie bis heute unverändert blieb. Wie wir gerade gesehen haben, war der doppelwandige Kryostat schon seit einigen Jahren in Gebrauch gewesen, aber nur Wasserdampf war aus dem Zwischenraum entfernt worden. Dewar baute den Kryostat um, indem er auch noch die Luft entfernte (Abb. 11c). Als Anregung zu diesem genialen Schritt nannte er eine seiner eigenen Veröffentlichungen, die damals zwanzig Jahre zurücklag. Darin hatte er beschrieben, wie er das Vakuum zur Wärmeisolation in einem Kalorimeter benutzt hatte. Jetzt demonstrierte er überzeugend die Überlegenheit seiner Erfindung gegenüber den Kryostaten alter Bauart, indem er den ruhig wie Wasser im Vakuumgefäß stehenden flüssigen Sauerstoff zeigte und dann den Stutzen abbrach, an dem das Gefäß hermetisch zugeschmolzen worden war. Als Luft in den Zwischenraum der Wände eindrang, begann der flüssige Sauerstoff heftig zu sieden. In derselben Vorlesung zeigte Dewar auch Vakuumgefäße mit versilberten Wänden, in denen zusätzlich die Wärmezufuhr durch Strahlung weitgehend beseitigt worden war.

Um das Vakuumgefäß zu erfinden, bedurfte es mehr als nur einer glänzenden Idee. Die Anfertigung dieser Gefäße erforderte einen sehr geschickten Glasbläser und die fertige Flasche eine sorgfältige Wärmebehandlung, damit sie nicht zersprang, wenn das Innere plötzlich

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auf die Temperatur flüssiger Luft abgekühlt wurde. Einige der während des Vortrags gezeigten Gefäße waren recht kompliziert gebaut. Diese Vollkommenheit hatte man erst nach vielen Versuchen und Fehlschlägen erreicht. Über diese Schwierigkeiten sagte Dewar, wie üblich, nichts. Des längeren erläuterte er jedoch die sinnreichen Methoden, mit denen er die für seine Flaschen erforderlichen hohen Vakua erzielt hatte.

Das Dewar-Gefäß war ein gewaltiger Schritt vorwärts auf dem Weg, die Temperaturen der flüssigen Luft zu beherrschen und noch tiefere zu erzeugen. Insbesondere gestatteten jetzt die sehr verbesserten Aufbewahrungsmöglichkeiten, die die Vakuumflasche bot, mit Litern statt mit Kubikzentimetern verflüssigter Gase zu experimentieren. Im selben Vortrag sprach Dewar über die finanziellen Schwierigkeiten, mit denen die Forschung zu kämpfen hatte, und man vernahm einen Seufzer der Erleichterung, als er sagte: »Als ich wegen der Kostenfrage in großer Bedrängnis war, sprang die Goldsmiths' Company mit einem großzügigen Zuschuß von 1000 Pfund ein, damit die Arbeit mit der verbesserten Apparatur fortgesetzt werden konnte.« Drei Tage später kam die Times, als sie über den Vortrag berichtete, auf dieses Thema zurück und wies prophetisch auf das neue Gesetz hin, das die Wissenschaftler entdeckt hätten: das Gesetz der steigenden Ausgaben.

Bei hervorragenden Erfindungen beanspruchen freilich oft mehrere die Priorität; und beim Vakuumgefäß nannten die Deutschen den Namen Weinholds, der die Vakuumisolation bereits vor Dewar benutzt haben soll, während die Franzosen das Gefäß vase d'Arsonval nannten, weil dieser die Vakuumisolation 1888 für biologische Zwecke verwendet hatte. Es steht jedoch außer Zweifel, daß jeder dieser beiden Wissenschaftler, hätte er die Bedeutung der Vakuumisolation für die Aufbewahrung flüssigen Sauerstoffs erkannt, auch davon Gebrauch gemacht hätte. Erst Dewars Idee führte zur Umwälzung in der experimentellen Kältetechnik. Ohnehin hatte er jedoch einen beträchtlichen Vorsprung vor Weinhold und d'Arsonval, da er bereits zwanzig Jahre früher die Vakuumisolation in der Kalorimetrie benutzt hatte.

Doch das war nicht der einzige Prioritätsstreit, in den sich Dewar

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verwickelt fand. Wenige Jahre später entstand eine zweite dieser Kontroversen, mit denen seine wissenschaftliche Karriere durchsetzt war und zu denen er übermäßig veranlagt zu sein schien.

Im Februarheft des Philosophical Magazine von 1895 erschien ein Artikel von Olszewski, der auf 25 Seiten ein Resümee seiner ganzen Tieftemperaturarbeit gab. In der Einleitung führte Olszewski für diese Veröffentlichung zwei Gründe an. Der erste war, daß seine Arbeiten über eine ganze Anzahl kontinentaleuropäischer Zeitschriften verstreut und daher englischen Lesern nicht leicht zugänglich wären; der zweite, daß Dewar seine Arbeit wiederholt hätte, ohne ihn auch nur zu erwähnen. Während das erste Argument als angängig, wenn auch ungewöhnlich durchgehen könnte, war er mit dem zweiten im Unrecht und auch schlecht beraten. Im Unrecht, weil Dewar in Wirklichkeit einen Teil der Arbeit Olszewskis vorweggenommen hatte, und schlecht beraten, weil Olszewski Dewars Wut und giftige Gehässigkeit arg unterschätzt hatte. Olszewski beklagte sich hauptsächlich darüber, daß Dewar von seiner, Olszewskis, Apparatur zur Verflüssigung großer Sauerstoffmengen aus dem Jahr 1890 keinerlei Notiz genommen hatte. Offenbar hatte er Dewars Arbeit aus dem Jahr 1886 über die Meteoriten nie zu Gesicht bekommen, wo die Gasverflüssigungseinrichtung der Royal Institution beschrieben worden war. Daher war es ganz sinnlos zu behaupten, Dewar hätte nichts weiter getan als die Krakauer Arbeit wiederholt. Dewar stellte das in seiner Antwort richtig. Außerdem jedoch schlug er zurück, und zwar auf die empfindlichste Stelle. Offenbar wußte Dewar einiges über den Bruch Olszewskis mit Wroblewski gleich zu Beginn der Krakauer Experimente, wenn er schrieb: »Ich bin persönlich sehr froh darüber, daß eine englische Ausgabe der Aufsätze Professur Olszewskis erschienen ist. Man hat jedoch etwas sehr Wichtiges vergessen, und ich bin überzeugt, daß die Herausgeber des Philosophical Magazine das in Kürze nachholen werden. Hier in England sähen wir gern eine Übersetzung der glänzenden späteren Aufsätze von Professor Wroblewski. Bevor das geschehen ist, kann die wissenschaftliche Öffentlichkeit viele der Prioritätsansprüche Professor Olszewskis unmöglich beurteilen.« Ein Jahr darauf nahm Dewar in einer

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langen Veröffentlichung über den Fortgang seiner Tieftemperaturarbeit das Thema mit Gusto und frischer Kraft wieder auf. Er riet seinen Lesern, einen von Wroblewski 1885 veröffentlichten Aufsatz zu lesen »und sich allgemein mit der Arbeit dieses sehr bemerkenswerten Mannes vertraut zu machen, bevor sie zu voreiligen Schlüssen über die von seinem zeitweiligen Mitarbeiter geltend gemachten Prioritätsansprüche kämen«.

Die Apparatur und die Experimente, die in dieser Arbeit beschrieben wurden, sind von beträchtlicher Bedeutung. Sie begründeten Dewars größten Triumph und trugen die Keime zu zwei weiteren bitteren Kontroversen in sich. Die erste Abbildung dort zeigt die Apparatur, mit der in der Royal Institution Luft verflüssigt und wo deutlich sichtbar die Joule-Thomson-Expansion durch eine Düse als Kühlvorrichtung benutzt und ein damit verbundener Wärmeaustauscher verwendet wurden. Es sei bemerkt, daß diese Arbeit Anfang 1896 erschien, nur wenige Monate nach der Erteilung der Patente an Hampson und Linde. Linde wird im Text erwähnt, Hampsons Name jedoch erscheint nur in einer ärgerlichen Fußnote gegen einen Professor des Royal College of Science, der das Vakuumgefäß Cailletet zuschrieb. Der Artikel dieses Professors trug den Titel »L'appareil du Dr. Hampson pour la liquefaction de l'air«. Im wesentlichen wollte Dewar darauf hinweisen, daß seine eigene Apparatur brauchbar war, auch wenn ihr kein wirklich neues Prinzip zugrunde lag, da der Wärmeaustauscher ja bereits 1857 von Wilhelm Siemens beschrieben worden war. Außerdem erwähnte er die Experimente von Joule und Thomson als »wohlbekannt«.

Von den in diesem Aufsatz beschriebenen Experimenten sind jene am wichtigsten, in denen Wasserstoffgas durch ein Verfahren expandiert wird, das dem zur Luftverflüssigung benutzten ähnelt und ebenfalls von einer Joule-Thomson-Düse sowie einem Wärmeaustauscher Gebrauch macht. Wie zu erwarten war, stellte Dewar fest, daß keine Abkühlung erfolgte, wenn Wasserstoff bei Zimmertemperatur in die Apparatur gefüllt wurde. Als er dieses Gas jedoch mit flüssiger Luft vorgekühlt hatte. beobachtete er einen Abkühlungseffekt, allerdings kein Zeichen einer Verflüssigung. Wie niedrig die Temperatur des Strahls aus Wasserstoffgas war, der aus der

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Düse kam, demonstrierte er damit, daß er ihn auf flüssigen Sauerstoff richtete: Der Sauerstoff gefror zu einem blaßblauen, festen Block. Dewar schätzte, daß die Temperatur des Strahls zwischen 20º und 30º über dem absoluten Nullpunkt liegen müßte, und wies darauf hin, daß die Eigenschaften der Materie nun bei diesen sehr tiefen Temperaturen untersucht werden könnten. Daß die Verflüssigung des Wasserstoffs selbst erreicht werden könnte, davon war Dewar jetzt überzeugt. Über die Zukunftsaussichten sagte er: »Diese Schwierigkeiten werden durch Verwendung eines anders geformten Vakuumgefäßes und durch bessere Isolation überwunden werden. Daß man flüssigen Wasserstoff gewinnen und in geeignet gebauten Vakuumgefäßen handhaben kann, läßt sich nicht bezweifeln.«

In den folgenden zwei Jahren veröffentlichte Dewar viele Forschungsergebnisse über die Eigenschaften der Materie bei den Temperaturen flüssiger Luft, aber offensichtlich arbeitete man hinter den Kulissen mit voller Kraft auf die Verflüssigung des Wasserstoffs hin. Schließlich war Olszewski in Krakau eifrig mit demselben Problem beschäftigt, und ein neuer starker Konkurrent war in Holland aufgetaucht. Dank seiner großen Luftverflüssigungskaskade besaß Kamerlingh Onnes in Leiden kältetechnische Einrichtungen, die jenen der Royal Institution wahrscheinlich überlegen waren, und Dewar wußte, daß auch Onnes Vorbereitungen zur Wasserstoffverflüssigung traf. Am 10. Mai 1898 erreichte Dewar sein Ziel: Er hatte 20 Kubikzentimeter flüssigen Wasserstoffs erzeugt, die in einem Vakuumgefäß ruhig siedeten. Die Bekanntgabe erfolgte auf der Sitzung der Royal Society vom 12. Mai. Weder damals noch bei irgendeiner späteren Gelegenheit gab Dewar eine Beschreibung seines Verflüssigers. Er erwähnte lediglich, daß das Wasserstoffgas bei dem ersten erfolgreichen Versuch auf –205º C (68º K) vorgekühlt worden war und mit 300 Litern pro Minute durch seine Apparatur strömte. Nach einer nicht näher angegebenen Zeit begann sich flüssiger Wasserstoff zu sammeln, und die 20 Kubikzentimeter wurden in ungefähr fünf Minuten gewonnen; danach wurde seine Apparatur durch Verunreinigungen im Wasserstoffgas blockiert.

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Dewar beobachtete eine farblose Flüssigkeit mit einer klar erkennbaren Oberfläche, und eine grobe Messung zeigte, daß sie eine sehr geringe Dichte besaß; flüssiger Wasserstoff hat nur ¹/14 des spezifischen Gewichts von Wasser. Dewar interessierte sich natürlich vor allem für die Temperatur, die er erreicht hatte, aber hier stieß er auf eine eigenartige Schwierigkeit: Das in seiner Apparatur angebrachte elektrische Thermometer zeigte hoffnungslos kleine Meßwerte an und arbeitete offenbar nicht mehr richtig. Neue Naturgesetze, von denen Dewar noch nichts ahnen konnte, kündigten die Nähe des absoluten Nullpunkts an.

Obwohl Dewar bei dieser ersten Verflüssigung den Siedepunkt des flüssigen Wasserstoffs nicht bestimmen konnte, so konnte er doch zeigen, daß die erreichte Temperatur sehr niedrig sein mußte. Zwei verschlossene Glasgefäße, das eine mit Sauerstoffgas, das andere mit Luft gefüllt, wurden in den Kryostaten mit flüssigem Wasserstoff getaucht, und beide Substanzen gefroren sofort. Das bei diesem ersten Experiment benutzte elektrische Thermometer enthielt ein Thermoelement und maß die zwischen zwei Verbindungsstellen verschiedener Metalle auftretende Spannung, deren eine auf die zu messende Temperatur gebracht wurde. Zu seiner Überraschung ergab sich keine wesentliche Spannung, die über den Temperaturabfall Auskunft hätte geben können. Anschließend benutzte Dewar ein elektrisches Thermometer anderer Bauart, das darauf beruht, daß sich der elektrische Widerstand eines Platindrahts mit der Temperatur ändert. Bei seinen früheren Experimenten mit flüssiger Luft und flüssigem Sauerstoff hatte Dewar festgestellt, daß dieser Widerstand in derselben Proportion sank, wie die Temperatur fiel. Eine solche Widerstands-abnahme zeigte sich auch, als das Thermometer auf den Siedepunkt des Wasserstoffs abgekühlt wurde; aber die daraus bestimmte Temperatur war verdächtig hoch, nämlich 35° K. Hier geschah wieder etwas Seltsames; diesmal war die Abnahme zu gering. Das deutete darauf hin, daß auch die Widerstandsänderung bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt vom normalen Verhalten abwich. Schließlich wurde ein Gasthermometer benutzt, ein Instrument, das nach dem oben erörterten Gesetz von Gay-Lussac arbeitete. Dewar füllte sein Gasthermometer mit Wasserstoff unter

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geringem Druck, um dadurch den Bedingungen eines idealen Gases möglichst nahezukommen, aber einige Korrekturen mußte er noch anbringen. Er maß damit ziemlich genau den richtigen Siedepunkt, nämlich ungefähr 20° über dem absoluten Nullpunkt.

Kaum hatte Dewar die erfolgreiche Wasserstoffverflüssigung bekannt-gegeben, als zwei Wochen später in der Zeitschrift Nature ein von Hampson an den Herausgeber geschriebener Brief erschien. Hampson beklagte sich dort, daß sein Anteil an dem Experiment überhaupt nicht erwähnt worden war, und behauptete, er wäre, bevor er sich im Mai 1895 um sein Patent beworben hatte, Ende 1894 in die Royal Institution gekommen, um Dewars Assistent Lennox zu sprechen. Dabei hätte er, so behauptete Hampson, Lennox von seiner Erfindung erzählt. Damit wollte er zu verstehen geben, daß Dewar seine Erfolge bei der Verflüssigung von Luft und Wasserstoff auf der Grundlage der in diesem Gespräch von Hampson an Lennox übermittelten Informationen erzielt habe. Auf diesen Brief antwortete Dewar entrüstet und giftig und behauptete, auch wenn Hampson nie gelebt hätte, hätte er auf demselben Weg und in derselben Zeit Erfolg gehabt. Hampson zahlte mit gleicher Münze zurück, und auch Dewar blieb ihm wiederum nichts schuldig. Die Herausgeber von Nature scheinen ein gewisses Vergnügen an diesem unwürdigen Streit gefunden zu haben, hatten sie doch am 4. August nicht weniger als vier Briefe von Hampson und vier Antworten von Dewar veröffentlicht. Dann aber schlief die ganze Sache ein, und noch heute ist ungewiß, ob die Streiter ermüdeten oder ob die Herausgeber oder die Urlaubszeit ihr ein Ende setzten. Diese Kontroverse ist merkwürdig, und es läßt sich heute nicht mehr genau sagen, was an ihr faul war. Was wollte Hampson damals in der Royal Institution? Warum sprach er nur mit Lennox, statt Dewar selbst aufzusuchen? Warum wieder erwähnte Dewar in seinem Artikel von 1896 über die Luftverflüssigung zwar Linde, jedoch nicht Hampson, obwohl seine Fußnote zeigt, daß er dessen Arbeit kannte? Es ist gut möglich, daß Dewar in denselben Bahnen dachte wie Linde und Hampson unabhängig voneinander, und in diesem Fall hätte Hampsons Mitteilung an Lennox Dewar in arge Verlegenheit gebracht. Wir sollten jedoch nicht vergessen,

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daß die Luftverflüssigung mit der Joule-Thomson-Kühlung Dewar großartig gelungen war, bevor Hampsons Maschine überhaupt arbeitete.

So wenig erbaulich dieser Streit war, Dewars Unternehmungsgeist scheint er nicht gedämpft zu haben. Ein Jahr nach der Wasserstoff-verflüssigung feierte er seinen nächsten und letzten Triumph auf dem Weg zum absoluten Nullpunkt: das Gefrieren des Wasserstoffs. Seine ersten Versuche, die feste Phase durch Abpumpen des Dampfes über der Flüssigkeit zu erreichen, waren mißlungen, und er sah sofort ein, daß der Wärmezustrom in seinen Kryostaten zu groß war, um durch die Kälte ausgeglichen zu werden, die beim Verdampfen der Flüssigkeit entstand. Die schlimmsten Befürchtungen, daß die Bedingungen für weitere Abkühlung bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt zunehmend ungünstiger sein würden, wurden nicht nur bestätigt, sondern noch übertroffen. Wie schon erwähnt, war nach Troutons Regel zu erwarten, daß die zum Verdampfen des flüssigen Wässerstoffs nötige Wärmemenge nur ¹/4 oder ¹/5 derjenigen bei der Verdampfung flüssigen Sauerstoffs sein würde. Das würde es vier- bis fünfmal schwieriger machen, Wasserstoff flüssig zu halten, und einen viel besseren thermischen Schutz für den Kryostaten erfordern. Es erwies sich, daß die Verdampfungswärme des Wasserstoffs noch viel kleiner ist, als Troutons Regel angibt. Der Grund für diese zusätzliche und unerwartete Schwierigkeit liegt in derselben Abweichung von den normalen physikalischen Gesetzen, die die Anzeige der elektrischen Thermometer Dewars verfälscht hatte.

Dewar überwand schließlich die Schwierigkeit der geringen Verdampfungswärme, indem er sein Vakuumgefäß mit dem einzufrie-renden flüssigen Wasserstoff in ein zweites Vakuumgefäß mit flüssiger Luft hineinsetzte. Das äußere Gefäß diente dabei als Abschirmung, die den Wärmezustrom in das Innere des Kryostaten auf ein Minimum verringerte. Als der Druck des abgepumpten Dampfes auf fünf Zentimeter Queck-silbersäule gesunken war, erschien Schaum in der Flüssigkeit, die sich gleich darauf in eine klare, durchsichtige Masse zu verwandeln begann: Wasserstoff war gefroren. Wie schon die Durchsichtigkeit des flüssigen Wasserstoffs erwarten ließ, erwies sich der feste Wasserstoff nicht als

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Metall, wie es einige Chemiker kühn vorausgesagt hatten. Wieder stand man vor der Schwierigkeit, die Temperatur des

Tripelpunkts zu bestimmen. Dewar berechnete sie aus der Anzeige seines Gasthermometers auf etwa 16° K, aber später zeigte sich, daß er unnötig vorsichtig geschätzt hatte. In Wirklichkeit hatte er sich dem absoluten Nullpunkt bis auf 14° K genähert. Etwas weiter kommt man noch, wenn man den Dampf über der festen Substanz abpumpt. Eine große Temperaturabnahme ist davon nicht zu erwarten, da sich der Dampfdruck sehr rasch verringert. Auch hier unterschätzte Dewar seine Leistung, indem er 13° K für die tiefste mit Wasserstoff erreichbare Temperatur hielt. Wie weit er wirklich kam, läßt sich jetzt schwer sagen, da alles von Einzelheiten der experimentellen Anordnung abhängt. Wahrscheinlich erreichte er 12° oder eine noch etwas tiefere Temperatur.

Als Dewar seine erste erfolgreiche Wasserstoffverflüssigung durchführte, glaubte er, das sei der letzte Schritt zum absoluten Nullpunkt. Seinen eigenen Arbeiten ist es zuzuschreiben, daß sich das als falsch erwies. Es zeigte sich, daß Wasserstoff nicht das Gas mit dem tiefsten Siedepunkt ist. Die nächste Etappe auf dem Weg zum absoluten Nullpunkt hieß Helium.

Dewars erste Mitteilung über die Wasserstoffverflüssigung trug tatsächlich den Titel »Liquefaction of hydrogen and helium«, aber bald stellte sich heraus, daß er Spuren von Verunreinigungen für kondensiertes Helium gehalten hatte. Helium war ein ganz neuer Name in der Geschichte der Gasverflüssigung, was nicht überrascht, da es eine so seltene Substanz ist, daß sie lange der Entdeckung entgangen war. Helium ist nicht nur selten, sondern auch chemisch völlig inaktiv, d. h., es bildet keine Verbindung mit anderen Substanzen, über die man für gewöhnlich ein seltenes Element entdeckte. Tatsächlich merkt man von seiner Anwesenheit auf der Erde so wenig, daß es zuerst auf der Sonne nachgewiesen wurde.

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts brachten Kirchhoff und Bunsen die Erforschung der Materie einen gewaltigen Schritt voran, indem sie das Licht glühender Dämpfe analysierten. Dazu benutzten sie ein Spektroskop,

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mit dem sich die einzelnen Wellenlängen von Lichtquellen messen lassen. Bei der totalen Sonnenfinsternis am 18. August 1869 wurde das Spektroskop zum erstenmal auf die Sonnenkorona – eine gewaltige Hülle aus heißen Gasen – gerichtet, die nur sichtbar ist, wenn die Sonnenscheibe selbst vom Mond verdunkelt wird. Die totale Sonnenfinsternis wanderte über Indien und Malakka hinweg, und alle sie beobachtenden Wissenschaftler registrierten eine helle, gelbe Spektrallinie, die von den meisten zuerst dem Wasserstoff oder dem Natrium zugeschrieben wurde. Einer von ihnen, Janssen, fragte sich, ob das Spektroskop die gelbe Linie nicht auch unter normalen Bedingungen, d. h., wenn die Korona unsichtbar ist, zeigen würde. Am nächsten Tag machte er einen Versuch, der positiv verlief. Er teilte seine Beobachtung der Französischen Akademie mit, bei der sein Brief am 24. Oktober eintraf, am selben Tag wie der von Lockyer in England, der unabhängig von Janssen zum selben Ergebnis gekommen war. Janssen und Lockyer bezweifelten beide von Anfang an, daß die starke gelbe Linie, die sie in der Sonne gesehen hatten, mit der wohlbekannten Natriumlinie identisch sei, aber Wasserstoff konnte nicht so leicht ausgeschlossen werden. Schließlich ließ der Vergleich mit Beobachtungen im Laboratorium, die hauptsächlich von Frankland und Lockyer durchgeführt wurden, wenig Zweifel daran, daß es die Linie eines unbekannten chemischen Elements war, und Lord Kelvin faßte 1871 in seiner Präsidentenrede vor der British Association die Forschungsarbeiten der beiden mit den Worten zusammen: »Sie scheinen eine neue Substanz anzudeuten, für die die Autoren den Namen Helium vorschlagen.«

Fast ein Vierteljahrhundert lang blieb Helium ein Gas, das nur in der Sonne beobachtet worden war. 1895 untersuchte Sir William Ramsay dann im Anschluß an seine Entdeckung des neuen Edelgases Argon Gase, die aus Pechblende durch Erhitzen ausgetrieben werden können. Er unterwarf sie einer Spektralanalyse und entdeckte zu seiner großen Überraschung jene helle gelbe Linie, die Janssen und Lockyer in der Sonnenatmosphäre beobachtet hatten. Helium war auf der Erde nachgewiesen, und nun begann die Suche nach anderen irdischen Fundorten für die neue Substanz. Mineralbrunnen wie in Wildbad oder Bath sowie Erdgasquellen lieferten

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kleine Mengen Helium. Man fand es auch in der Erdatmosphäre, aber nur in einer Konzentration von weniger als 1 : 100 000.

Dewar erkannte bald, daß seine Behauptung, er hätte Helium gleichzeitig mit Wasserstoff verflüssigt, ein Irrtum war und daß die neue Substanz tatsächlich auch bei den tiefsten Temperaturen, die er mit festem Wasserstoff erreichen konnte, noch gasförmig blieb. Auf der Höhe seines Triumphs befand er sich in einer eigenartigen Lage. Schließlich hatte er mit der Wasserstoffverflüssigung doch nicht den letzten Schritt auf dem Wege zum absoluten Nullpunkt getan. Seine Großtat hatte eine weitere mögliche Etappe enthüllt, und aus allen ihm vorliegenden Andeutungen mußte er schließen, daß die Verflüssigung des Heliums ein noch schwierigeres Unterfangen sein würde als jene des Wasserstoffs. Überdies arbeiteten seine Konkurrenten Olszewski in Krakau und Onnes in Leiden an demselben Problem. Das Rennen war im Gange, aber falls Helium nicht einen ziemlich hohen kritischen Punkt hatte, würde es ein langer und schwieriger Weg werden. Ein kritischer Punkt oberhalb 10° K konnte noch durch Expansion in einer Cailletet-Apparatur erreicht werden, und dazu wäre nur eine beschränkte Heliummenge nötig. Für tiefer liegende Temperaturen müßte ja ein Joule-Thomson-Kühlkreis herangezogen werden, der viel größere Mengen Heliumgas erfordern würde, als damals zur Verfügung gestanden hätten.

Dewar ging nicht mit jenem Vorsprung ins Rennen, den er so leicht hätte haben können: Ramsay, die größte Kapazität auf dem Gebiet der seltenen Gase, hatte sein Laboratorium unweit der Royal Institution, aber leider war Dewar mit Ramsay verfeindet.

Es begann im Dezember 1895 auf einer Sitzung der Royal Society, auf der Dewar einen Artikel, über seine Tieftemperaturarbeit verlas und seine Zuversicht artikulierte, er stünde auf der Schwelle zur Wasserstoffverflüssigung. Als er geendet hatte, stand Ramsay auf, um zu verkünden, er habe gerade aus Krakau die Nachricht erhalten, daß Olszewski erfolgreich Wasserstoff verflüssigt und nicht nur einen Nebel, sondern eine beträchtliche Menge Flüssigkeit erzeugt hätte. Ramsays Bemerkung muß ein betrüblicher Epilog zu Dewars Vortrag gewesen sein.

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Dewar wartete vergeblich auf Olszewskis Veröffentlichung, bis er selbst im Mai 1898 die erste Wasserstoff Verflüssigung der Royal Society mitteilen konnte. Zu Dewars Verblüffung wiederholte Ramsay nach seinem Vortrag Olszewskis Prioritätsanspruch. Dewar forderte Ramsay jetzt auf, einen Beweis für seine Behauptung beizubringen, und auf der nächsten Sitzung mußte Ramsay zugeben, daß Olszewski in einem Brief, den er (Ramsay) in diesen Tagen erhalten hatte, abstritt, flüssigen Wasserstoff jemals in stationärer Form erzeugt zu haben. Zweifellos hatte Ramsay ohne irgendeine Berechtigung Dewar grob provoziert. Dewar war verständlicherweise verärgert, und da Ramsay es unterließ, seinen Widerruf zu veröffentlichen, stellte Dewar die Angelegenheit richtig, indem er die Kontroverse und seine Rechtfertigung in den Proceedings of the Royal Institution veröffentlichte. Er hatte zwar das Recht dazu, aber seine Beziehungen zu Ramsay verbesserten sich dadurch keineswegs. Dewar kümmerte sich offenbar wenig darum. Tatsächlich hatte Ramsay den größeren Schaden, da er flüssigen Wasserstoff brauchte, um Helium von Neon trennen zu können, und er Dewar unter diesen Umständen kaum um die Unterstützung der Royal Institution bitten konnte. Glücklicherweise stand ihm jedoch an der Universität ein sehr begabter junger Mann, Morris Travers, zur Verfügung, der in nur zwei Jahren einen Wasserstoff-verflüssiger gebaut, in Betrieb gesetzt und dessen Konstruktion mit allen Einzelheiten veröffentlicht hatte. Travers wies besonders darauf hin, daß der Verflüssiger nur für Experimente mit seltenen Gasen gebaut worden sei, dankte jedoch gleichzeitig Hampson ostentativ für seine Hilfe und hob besonders die Einfachheit der Konstruktion und die geringen Kosten hervor, die sich in seinem Fall auf 35 Pfund beliefen.

Das war ein Seitenhieb auf Dewar, der immer betont hatte, wie kostspielig die Tieftemperaturforschung sei.

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12 doppelseitiges Photo: Sir James Dewar demonstriert die Eigenschaften flüssigen Wasserstoffs in der Royal Institution. Personenschlüssel s. unten: 1 und 2 Herr und Frau Siemens; 3 Lady Dewar; 4 Sir William Crookes; 5 Rt. Hon. Lord Rayleigh; 6 Dr. Ludwig Mond; 7 Sir Oliver Lodge; 8 Sir James Dewar; 9 J. W. Heath; 10 R.N.Lennox; 11 Dr. Rudolph Messel; 12 Prof Sir Francis Galton; 13 Robert Mond; 14 Commendatore G. Marconi.

Es war klar, daß Travers und Ramsay, jetzt im Besitz flüssigen Wasserstoffs, sich ebenfalls an der Heliumverflüssigung versuchen würden, und daher sah sich Dewar 1901 nicht mehr zwei, sondern drei Konkurrenten gegenüber. Wie er selbst, versuchten zuerst alle, den Weg abzukürzen. Tatsächlich hatte Olszewski bereits 1896, d. h. noch vor der Wasserstoffverflüssigung, Helium durch die Cailletet-Expansion zu verflüssigen versucht. Er begann bei Temperaturen der flüssigen Luft und bei einem Druck von 140 Atmosphären. Wahrscheinlich war er sehr

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optimistisch, als er die bei der Expansion erreichte Temperatur auf 9° K schätzte; aber es zeigte sich keinerlei Verflüssigung. 1901 begann Dewar am Tripelpunkt des Wasserstoffs (14° K) und bei 80 at und hatte genausowenig Erfolg. Auch er schätzte seine Endternperatur auf 9° K, war aber wohl zu pessimistisch und hätte tatsächlich noch zwei oder drei Grad niedriger schätzen können. Zwei Jahre später unternahm Travers seinen Versuch und begann mit festem Wasserstoff bei einer Temperatur, die wahrscheinlich zwischen 11° und 12° K lag und durch starkes Abpumpen bei 60 at erreicht worden war, aber auch er hatte kein Glück. 1905 war wieder Olszewski an der Reihe, dem dann Kamerlingh Onnes folgte.

So hatte sich nun eindeutig gezeigt, daß die einfache Cailletet-Apparatur mit ihrer relativ großen Wärmekapazität sowie die darin benutzte kleine Menge Helium keine Heliumverflüssigung ermöglichten und daß kein Weg an der mühevollen Aufgabe vorbeiführte, einen Joule-Thomson-Verflüssiger zu bauen. Aber auch das würde nichts nützen, wenn Helium noch bei den tiefsten mit Wasserstoff erreichbaren Temperaturen beim Durchgang durch den porösen Pfropfen oder das Expansionsventil eine Erwärmung zeigen sollte. Bevor man sich also auf das mühevolle und kostspielige Projekt eines Kühlkreises mit Helium im großen Maßstab einließ, mußte man zuvor bessere Schätzungen des kritischen Punkts beschaffen. 1904 machte Dewar den ersten Versuch mit einem sinnreichen Experiment, indem er die Adsorption von Helium auf Holzkohle bei den Temperaturen flüssigen und festen Wasserstoffs untersuchte. Das ergab den Wert 6° K, der viel versprach. Ein Jahr später jedoch kam Olszewski zu dem Schluß, daß der kritische Punkt des Heliums nur ein Grad über dem absoluten Nullpunkt liege, und das schien hoffnungslos.

Dieses deprimierende Ergebnis wurde im folgenden Jahr von Kamer-lingh Onnes aufgrund einer Untersuchung von Helium-Wasserstoff-Mischungen bestätigt. Zum Glück verließ er sich jedoch nicht ganz und gar auf diese Folgerung, da er das Gefühl hatte, daß sich eine zuverlässige Schätzung eigentlich erst aus der Messung der Isothermen ergeben könnte. Daran arbeitete man in seinem Laboratorium gerade, und als nach einem weiteren Jahr, also 1907, die Ergebnisse vorlagen, änderten sie das Bild

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ganz und gar. Sie zeigten, daß der kritische Punkt zwischen 5° und 6° K liegen müßte; Dewars Schätzung war richtig gewesen.

Unterdessen arbeitete Dewar eifrig an dem Verflüssigungskreislauf. Lennox wollte den Verflüssiger ganz aus Metall bauen, aber Dewar verwarf diesen Gedanken in der Meinung, er müsse die Vorgänge direkt sehen können; das war wahrscheinlich ein Fehler. Die größte Schwierigkeit aber bestand darin, eine ausreichende Menge reinen Heliumgases zu bekommen. Im Rückblick erscheint es, als wäre das Unternehmen bei einer Verbindung von Dewars Geschick in der Tieftemperaturarbeit mit Ramsays Erfahrung im Umgang mit seltenen Gasen völlig anders verlaufen. Statt dessen bauten Dewar und Lennox eine gewaltige Apparatur zur Trennung von Helium und Neon, die nie richtig funktionierte. Anschließend wurden alle ihre Verflüssigungsversuche durch unreines Helium vereitelt, da gefrorenes Neon die Röhren und das Ventil ihres Verflüssigers verstopfte. Dann geschah ein weiteres Unglück. Ein junger Werkstattmechaniker drehte am falschen Hahn, und der ganze kostbare Heliumvorrat ging über Nacht verloren.

1908 erörterte Dewar in einer Arbeit mit dem Titel »The Nadir of Temperature« seine Schwierigkeiten und Rückschläge beim Versuch, Helium zu verflüssigen, war aber noch voller Hoffnung auf Erfolg; nur 100 oder 200 Liter reinen Heliums fehlten ihm, meinte er. An dieser Stelle steht dann eine bei der Korrektur des Artikels hinzugefügte traurige Fußnote, die lautet: »Helium wurde am 9. Juli 1908 von Professor Dr. Kamerlingh Onnes an der Universität Leiden verflüssigt.« Das Rennen war vorbei, und Dewar hatte verloren.

Dewar kam über seine Niederlage nie hinweg. Gleich nach diesem Schlag geriet er mit Lennox in Streit, und dieser verließ ihn. Jetzt verlor Dewar sehr schnell das Interesse an der Tieftemperaturforschung. In einem gewissen Ausmaß wurde sie zwar an der Royal Institution noch weiter betrieben, aber Dewars eigentliches Interesse wandte sich anderen Problemen, insbesondere Untersuchungen der dünnen Flüssigkeitshäutchen von Seifenblasen zu, woran er bis zu seinem Tod arbeitete. Er wurde noch autokratischer und streitsüchtiger als zuvor und überwarf sich schließlich

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mit dem einzigen ihm verbliebenen wissenschaftlichen Freund, Sir William Crookes. Am Ende stand ihm nur noch die Gefährtin seiner kinderlosen Ehe, Lady Rose Dewar, zur Seite. Ihre Verehrung für ihn ließ nie nach, und er war ihr ergeben. Sie war es auch, die nach seinem Tode dafür sorgte, daß seine gesammelten Arbeiten in Buchform erschienen. Er besaß zwar viele Fehler, war aber oft unerwartet großzügig und ein Musikliebhaber, der junge Künstler nicht nur unmittelbar förderte, sondern es auch fertigbrachte, heimlich einen Teil der Karten zu ihren Konzerten aufzukaufen und zu verteilen, damit sie ein Publikum bekamen.

Nach Dewars Tod ging die Tieftemperaturforschung in England zu Ende; er hinterließ keine Schule. Nachdem er die Royal Institution Cambridge vorgezogen hatte, verwandelte er sie in ein, wie man allerdings zugeben muß, brillantes Einmannunternehmen. Seinen wissenschaftlichen Assistenten Lennox, Heath und Green pflegte er gelegentlich in einer kurzen Bemerkung am Ende einer Veröffentlichung Dank zu sagen, aber im Titel erschienen ihre Namen nie. Lennox und Heath verloren jeder ein Auge bei der Arbeit für Dewar, der seine Erfolge gewiß zu einem großen Teil der Ergebenheit verdankte, die sie ihm selbst oder der von ihm inspirierten Arbeit entgegenbrachten. Dewars Herrschaft in seinem Laboratorium war absolut wie die eines Pharao, und er schuldete niemandem Rechenschaft außer dem Geist Faradays, dem er gelegentlich nachts in der Galerie hinter dem Vorlesungssaal begegnete.

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4 | Leiden 1908

Von Paris, Krakau und London verlagerte sich das Geschehen nun nach Leiden. In den Niederlanden, mit ihrer jahrhundertealten Tradition naturwissenschaftlicher Forschung, war die erste Pionierarbeit auf dem Gebiet der Gasverflüssigung im 18. Jahrhundert von Martinus van Marum, dem Direktor der Teyler Stichting in Haarlem, geleistet worden. Seine Ammoniakuntersuchungen haben wir bereits erwähnt, wie auch die Arbeit von van der Waals, der Andrews' Experimente zum kritischen Punkt theoretisch erläutert hatte. Es war van der Waals' Forschungsarbeit, die zur Gründung jenes Instituts anregte, das in der Geschichte der Tieftempe-raturforschung die größte Bedeutung erlangen sollte: das Leidener Kältetechnische Laboratorium.

Im Jahre 1882 berief die Universität Leiden auf den Lehrstuhl für Physik einen jungen Mann von 29 Jahren, dessen erste Arbeiten bereits zu großen Hoffnungen berechtigten. Er entstammte einer alten Familie aus Groningen im Norden Hollands und hieß Heike Kamerlingh Onnes. Zwei Jahre vorher hatte ihn eine Arbeit von van der Waals sehr beeindruckt, der sich mit der Idee der korrespondierenden Zustände beschäftigte. In diesem Artikel wurde behauptet, daß sich alle Substanzen hinsichtlich der drei Aggregatzustände im wesentlichen ähnlich verhielten. Besonders die Voraussage der kritischen Punkte bis dahin noch nicht verflüssigter Gase erregte Onnes' Interesse, eine Voraussage, die man aufgrund der Van-der-Waals-Gleichung machen konnte. Der Schlüssel zu diesem Problem war die Messung der Isothermen (siehe Abb. 6 auf S. 38), aus der sich die Konstanten a und b ergaben. Um brauchbar zu sein, mußten diese Messungen jedoch mit größter Sorgfalt durchgeführt werden. Es ist bezeichnend, daß Onnes für seine Habilitationsschrift das Thema wählte: Die Bedeutung quantitativer Untersuchungen in der physikalischen

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Wissenschaft. In dieser Arbeit forderte er, das Motto door meten tot weten (durch Messung zum Wissen) sollte über die Tür jedes Physiklabors geschrieben werden. Physikalische Beobachtungen, die damals häufig beschreibender und qualitativer Natur waren, sollten mit derselben Sorgfalt und Genauigkeit wie jene der Astronomie gemacht werden.

Obgleich Onnes der großen Revolution physikalischer Vorstellungen und Theorien, die sich seinerzeit anbahnte, großes Interesse entgegenbrachte, beschäftigte er sich in erster Linie mit den Messungen, auf die die neuen Ideen sich gründen mußten. Im Grunde war er ein Experimentator mit einem feinen Sinn für die Probleme, die mit den Fragen der Vervollkommnung und technischen Eignung wissenschaftlicher Instrumente verbunden waren. Ohne je ein Perfektionist zu werden, war er sich genauestens bewußt, wie wichtig sorgfältige Planung und Organisation für den Erfolg eines Experiments sind, und er wandte diese Ideen in einem Ausmaß an, wie es nie zuvor in einem physikalischen Laboratorium versucht worden war. Ganz abgesehen davon, daß sein Laboratorium eine entscheidende Rolle in der Entwicklung der Tieftemperaturforschung spielte, diente es als Modell für die Forschungseinrichtungen des 20. Jahrhunderts. Kamerlingh Onnes war nicht nur ein hervorragendes Organisationstalent, sondern auch ein guter und geduldiger Diplomat und ein sehr weiser Mann. Seine Stärke war, daß er nicht für morgen, sondern auch für übermorgen plante. Das Geheimnis des stetigen Ertrags an glänzenden Arbeiten, den sein Institut erbrachte, lag darin, daß jedes Experiment, lange bevor es begonnen wurde, gründlich durchdacht und vorbereitet worden war.

Onnes erkannte wahrscheinlich als erster, daß die Vielfalt moderner Forschungsmethoden einen zuverlässigen Stab geschickter und besonders ausgebildeter Assistenten erfordert. Er spürte, daß die Zeit des Liebhaberprofessors vorbei war, der in sein Laboratorium gehen und die Geheimnisse der Natur an einem Nachmittag mit Hilfe eines Bindfadens und etwas Siegellack entdecken konnte. 1901 gründete er an seinem Laboratorium eine Schule für Instrumentenbauer und Glasbläser als eingetragene Gesellschaft. Das war ein sehr wichtiger Schritt, der von

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seinem Weitblick zeugte und nicht nur jene Art der Forschung ermöglichte, die er für sein eigenes Laboratorium vorsah, sondern auch weitreichende Folgen haben sollte. Ein Vierteljahrhundert später hatten Physiklaboratorien in aller Welt ihre in Leiden ausgebildeten Glasbläser, ohne deren Geschick und Tüchtigkeit sie verloren gewesen wären. Am meisten profitierten natürlich die holländischen Laboratorien davon, und später hatte die junge elektrische Industrie Hollands Grund genug, der Voraussicht, die Kamerlingh Onnes um die Jahrhundertwende bewiesen hatte, sehr dankbar zu sein.

Ein anderes Beispiel für Onnes' Planung auf weite Sicht war die Gründung einer wissenschaftlichen Zeitschrift, die ausschließlich der Arbeit seines Laboratoriums gewidmet war. So stellte er sicher, daß die kältetechnische Arbeit, die er plante und die, wie sich zeigen sollte, in der ganzen Welt nicht ihresgleichen hatte, in geschlossener Form der wissenschaftlichen Öffentlichkeit leicht zugänglich wurde. Auch damit hatte er großen Erfolg, und für mehrere Jahrzehnte wurden die Communications from tbe Physical Laboratory of the University of Leiden zur Bibel der Tieftemperaturforschung.

Die erste größere Einrichtung, die Kamerlingh Onnes in Leiden aufbaute, war bereits geprägt von seiner Strategie des konzentrierten Angriffs auf den absoluten Nullpunkt. Es handelte sich um die große Verflüssigungskaskade für Sauerstoff, Stickstoff und Luft, die wir in einem früheren Kapitel erwähnt haben. Sie wurde in den Jahren 1892–1894 errichtet, und zwar gleich in so großen Dimensionen, daß sie den rasch wachsenden Erfordernissen des Leidener Laboratoriums über 30 Jahre genügte. Typisch für Onnes ist auch, daß diese große Anlage von Anfang an hervorragend funktionierte; ein Ergebnis zehnjähriger sorgfältiger Planung.

In den fünfzehn Jahren zwischen dieser ersten großartigen Leistung und der Heliumverflüssigung wurden immer mehr sehr sorgfältige Messungen durchgeführt, hauptsächlich im Zusammenhang mit der Zustandsgleichung und auf den Spuren von van der Waals. Allmählich wurde Leiden zum Mekka naturwissenschaftlicher Pilger. Der Geist von Leiden stand im

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Gegensatz zu dem argwöhnisch bewachten Heiligtum, das sich Dewar an der Royal Institution geschaffen hatte und zu dem nur er selbst und seine engsten Mitarbeiter Zugang hatten. Onnes hielt die Türen des Leidener Laboratoriums für Wissenschaftler aus aller Welt, die auf dem Tieftemperaturgebiet arbeiten wollten, weit offen. Diese liberale Haltung, die Einrichtungen des Leidener Laboratoriums in ihrem ganzen eindrucksvollen Ausmaß allen zur Verfügung zu stellen, erklärt es, daß sie über ein Vierteljahrhundert einzigartig blieben.

Man stelle sich nicht etwa vor, Onnes habe seine Erfolge allein durch sorgfältige Planung errungen. Es brauchte das ganze Geschick eines tüchtigen Diplomaten, die Geldquellen aufzuspüren, die er zum Ankauf der Ausrüstung, zur Bezahlung der Assistenten und der Bauvorhaben und schließlich zur Veröffentlichung der Arbeiten aus seinem Laboratorium benötigte. Zusätzlich hatte er unvorhergesehene Schwierigkeiten. Ende der neunziger Jahre, als sich Onnes auf die Wasserstoffverflüssigung vorzubereiten begann, sah er das für sein Laboratorium geplante Werk ernstlich bedroht. Jemand, der ein tiefes Verantwortungsgefühl gegenüber der Gemeinschaft und eine nicht minder tiefe Unwissenheit in technischen Dingen besaß – eine Kombination, der man nicht selten begegnet –, richtete eine Petition an den Innenminister und verlangte die Einstellung der Arbeit des Laboratoriums. Es sei bekanntgeworden, so führte er aus, daß der Professor mit komprimierten Gasen experimentiere, und das könnte Personen und Gebäude gefährden. Die Experimente sollten verboten werden. So kam die Arbeit in Leiden notgedrungen zum Stillstand, bis eine Regierungskommission ernannt war und das Problem untersucht und beurteilt hatte. Die Kommission, der unter anderen van der Waals angehörte, wies klugerweise darauf hin, »daß die bei der Explosion eines Zylinders mit komprimiertem Gas freiwerdende Energie viel kleiner ist als jene, die bei der Verbrennung von 3 kg Schießpulver freigesetzt wird, einer Menge, die man ohne weiteres besitzen und transportieren darf«. Alle Kommissionsmitglieder waren von den Sicherheitsvorkeh-rungen im Laboratorium voll befriedigt. Onnes hatte inzwischen ausländische Experten um Gutachten zu seinen Gunsten gebeten, und

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Dewar schrieb, daß es »ein furchtbares Unglück für die Naturwissenschaft in Ihrem Lande (und der ganzen Welt)« bedeuten würde, »wenn Ihrem hervorragenden Tieftemperaturlaboratorium und Ihrer schönen Arbeit Beschränkungen auferlegt werden sollten«. So trug Onnes in dieser Sache den Sieg davon und konnte seine Forschungsarbeiten nach zwei Jahren fortsetzen.

Schritt für Schritt bereitete Kamerlingh Onnes den Angriff auf das Heliumproblem vor. Bis 1906, acht Jahre nach Dewars erster Verflüssigung, war Wasserstoff in Leiden nur in geringen Mengen verflüssigt worden. Die Leidener Anlage war jedoch so entworfen, daß sie nun mit industriemäßiger Zuverlässigkeit arbeitete und bis zu vier Liter Flüssigkeit pro Stunde erzeugte. Ausgerüstet mit einer Maschine, die ohne Störung große Mengen flüssiger Luft und flüssigen Wasserstoffs erzeugen konnte, war Kamerlingh Onnes jetzt Dewar oder Olszewski weit überlegen, deren Apparaturen, verglichen mit der Leidener Anlage, nur Spielzeug waren.

Die Versorgung mit einer ausreichenden Menge Heliumgas von entsprechender Reinheit war ebenfalls durch sorgfältige Planung und durch die diplomatische Ausnützung hilfreicher Beziehungen sichergestellt. Das Gas wurde aus Monazitsand gewonnen, und Kamerlingh Onnes berichtet, er habe große Mengen zu günstigen Bedingungen durch »das Büro für Handelsinformation in Amsterdam unter der Leitung meines Bruders« beziehen können. Er fährt fort mit der Bemerkung, daß danach »die Prä-paration von reinem Helium in großen Mengen im wesentlichen zu einer Frage von Geduld und Sorgfalt wurde«. Zur selben Zeit wurde der Entwurf des Heliumverflüssigers, der sich auf die Erfahrungen mit der Wasserstoff-maschine stützte, fertiggestellt und den fähigen Händen der Herren Flim und Kesselring, den Leitern von Mechaniker- und Glasbläserwerkstätten, übergeben. Anfang Juni 1908 war schließlich alles fertig.

Einen Bericht über diesen denkwürdigen Tag enthält die berühmte Leidener Mitteilung Nr. 108, die sich ausgesprochen spannend liest. In der Einleitung gibt Onnes einen kurzen historischen Abriß bis zu jenem Tage und erinnert an Dewars erste Schätzung von 5°–6° K für den kritischen

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Punkt von Helium, auf die Olszewskis deprimierende Voraussage von 2° K gefolgt war, ein Wert, der durch Onnes' erste eigene Arbeiten in Leiden bestätigt wurde. Er wußte jedoch damals, daß es das einzig Vernünftige war, auf die Ergebnisse sorgfältiger Messungen der Heliumisothermen zu warten. Diese waren endlich im Jahr zuvor erschienen und hatten wieder Hoffnung gegeben. Die Voraussage, die sich aus den neuen Leidener Messungen ergab, stimmte mit der Dewars überein. Jetzt schien der Weg klar genug vorgezeichnet, um den Entwurf des Heliumverflüssigers zu vollenden und den Kühlkreislauf bauen zu können, in dem das kostbare Gas vom Vorratsgefäß zum Verflüssiger und wieder zurück zum Vorratsgefäß verlustlos zirkulieren würde. Eine Beschreibung des Verflüssigers und der übrigen Anlage gibt Onnes in seinem nächsten Kapitel.

Dann folgt die Beschreibung des Experiments selbst. Zur Vorbereitung der letzten Attacke waren am 9. Juli nicht weniger als 75 Liter flüssiger Luft hergestellt worden; am frühen Morgen des 10. Juli, um 5.45 Uhr, begann das Experiment mit der Verflüssigung von Wasserstoff, von dem man 20 Liter benötigte. Um 13.30 Uhr standen sie zur Verwendung im Heliumverflüssiger bereit. Äußerste Vorsicht war jetzt bei der Vorkühlung dieser Apparatur mit flüssigem Wasserstoff geboten. Schon die winzigste Menge atmosphärischer Luft, die bei einem der vielen Arbeitsgänge aus Versehen eindringen könnte, würde den Enderfolg von vornherein aufs Spiel setzen. Sie würde in dem flüssigen Wasserstoff gefrieren, die Glaswand des Heliumbehälters mit Reif bedecken und dadurch eine Beobachtung unmöglich machen. Die schwierige Folge von Arbeitsvorgängen war von Flim geplant und ausprobiert worden, der auch jetzt ihre Durchführung leitete und sie ohne einen ernsthaften Zwischenfall erfolgreich abschloß. Die Heliumzirkulation begann um 16.20 Uhr, und von diesem Augenblick an drang der innere Kryostat des Verflüssigers in neue unerforschte Gebiete tiefer Temperaturen vor. Er enthielt ein Heliumgasthermometer, das den Fortgang des Experiments anzeigen sollte und jetzt der einzige Wegweiser war.

Lange Zeit bewegte sich der Zeiger kaum vom Fleck, und es schien

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keine bemerkenswerte Abkühlung stattzufinden. Verschiedene Stellungen des Expansionsventils und Änderungen des Gasdrucks wurden ausprobiert, bis schließlich ein allmählicher Abfall des Thermometers einsetzte. Die Temperatur des inneren Gefäßes schien langsam zu sinken, bis die Abnahme wiederum völlig aufhörte. Inzwischen war man bei dem letzten verfügbaren flüssigen Wasserstoff angelangt, und noch immer war von einer Verflüssigung des Heliums nichts zu sehen. Um 19.30 Uhr schien es, als sei der Versuch mißlungen.

Im Laufe des Tages hatte sich in der Universität herumgesprochen, das große Experiment sei im Gange, und einige Kollegen von Onnes fanden sich ein, um zu sehen, wie die Sache stand. In diesem kritischen Augenblick, als man nur noch wenig Hoffnung auf Erfolg hatte, äußerte einer dieser Besucher, Professor Schreinemakers, daß die beständige Weigerung des Thermometers weiterzufallen, darauf zurückzuführen sein könnte, daß es tatsächlich schon in eine siedende Flüssigkeit eingetaucht sei. Vielleicht sei doch flüssiges Helium erzeugt worden und nur schwer zu sehen. Warum sollte man das Gefäß nicht einmal von unten beleuchten? Man tat es, und plötzlich erschien der Flüssigkeitsspiegel, jetzt gut sichtbar durch die Reflexion des von unten kommenden Lichts. Das innere Gefäß war fast ganz mit flüssigem Helium gefüllt. Kamerlingh Onnes hatte Lavoisiers Prophezeiung erfüllt. Das letzte natürliche Gas war verflüssigt worden.

Die erste Erregung hatte sich kaum gelegt, als ein weiterer Besucher hereinkam, um die neue Flüssigkeit zu sehen. Es war Professor Kuenen, der darauf aufmerksam machte, daß das flüssige Helium ganz anders aussähe als flüssige Luft oder flüssiger Wasserstoff. Besonders überraschte ihn die Tatsache, daß der Flüssigkeitsspiegel dort, wo er die Glaswand berührte, kaum zu sehen war. Er verglich diese Erscheinung mit jener des Kohlendioxids in der Nähe des kritischen Punkts. Der wahre Grund jedoch, den man erst viel später verstand, ist mit jenen völlig neuen Eigenschaften der Materie eng verbunden, die erst bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt in Erscheinung treten.

Auf diese neuen Eigenschaften wurde noch einmal im letzten Teil des in

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der Mitteilung Nr. 108 beschriebenen Experiments hingewiesen, aber ihre Bedeutung blieb noch immer verborgen, und man überging sie. Über 60 Kubikzentimeter flüssigen Heliums waren bei diesem ersten Versuch erzeugt worden, und in der letzten Phase des Experiments versuchte Onnes, festes Helium zu bekommen, indem er die Flüssigkeit unter vermindertem Druck sieden ließ. Um die tiefstmögliche Temperatur zu erreichen, ließ er die ganze Flüssigkeit bis auf ungefähr 10 Kubikzentimeter verdampfen. Dann schloß er an den Heliumkryostaten eine starke Pumpe an, die den Druck über dieser Flüssigkeit bis auf eine Hundertstelatmosphäre verminderte, doch zeigte sich kein festes Helium. Er schloß daraus, daß der Tripelpunkt des Heliums noch unterhalb der Grenze seines Experiments liegen müßte, erkannte aber damals nicht, daß er sich dem absoluten Nullpunkt fast bis auf ein Grad genähert hatte. Noch zweimal in seiner späteren Forschungsarbeit bereitete ihm das Mißlingen dieses Versuches, flüssiges Helium einzufrieren, Kopfzerbrechen. Die endgültige Lösung des Rätsels erlebte er nicht mehr.

Als die Mitteilung Nr. 108 erschien, bestand der große Triumph in der Verflüssigung des Heliums selbst, dem letzten Schritt auf den absoluten Nullpunkt zu, der damals möglich schien. Der Autor wußte noch nicht, daß er nicht nur eine neue tiefe Temperatur erreicht, sondern auch eine neue Welt seltsamer Erscheinungen erschlossen hatte, die eine tiefgreifende Wirkung auf die physikalischen Vorstellungen ausüben sollten. Das große Experiment war erfolgreich verlaufen. Etwa um 22 Uhr war die Arbeit beendet, und Onnes schrieb: »Nicht nur die Apparatur war während dieses Experiments und seiner Vorbereitung aufs äußerste strapaziert; auch meinen Assistenten war das Äußerste abverlangt worden.«

Die Veröffentlichung schließt mit einer Zusammenfassung der neu beobachteten Eigenschaften flüssigen Heliums. Kamerlingh Onnes stellte ihnen eine ritterliche Äußerung über seinen besiegten Konkurrenten Dewar voran, indem er betonte, wie richtig viele seiner Voraussagen waren. Es wurden jedoch andere Phänomene beobachtet, die völlig unerwartet waren. Zu der sehr geringen Oberflächenspannung, die zuerst die Beobachtung des Meniskus verhinderte, kam der Fehlschlag des Versuchs, die

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Flüssigkeit einzufrieren. Eine weitere Eigenschaft, die ihn überraschte und die später von großer Bedeutung werden sollte, war die geringe Dichte der Flüssigkeit; flüssiges Helium erwies sich als etwa achtmal leichter als Wasser, bedeutend leichter, als man erwartet hatte.

Onnes unternahm dann im folgenden und noch einmal ein Jahr später (1910) weitere Attacken auf die tiefsten Temperaturen. 1909 konnte er den Dampfdruck über der Flüssigkeit auf 2 mm Quecksilbersäule vermindern, was 1,38° K entspricht. Noch stärkere Pumpen senkten beim nächsten Versuch den Druck auf 0,2 mm, was 1,04° K ergab. Aber Helium blieb auch noch bei diesen tiefen Temperaturen flüssig. Die Grenze, bis zu der die besten damals verfügbaren Pumpen den Druck reduzieren konnten, war erreicht, doch auf einen bedeutenden Fortschritt über diese letzte Leistung hinaus mußte Onnes noch länger als zehn Jahre warten. Dann waren Pumpen einer neuen Bauart entwickelt worden; man hatte sie zur Herstellung höher evakuierter Glühbirnen und Radioröhren benötigt.

Das allgemeine Interesse Onnes' und seiner Mitarbeiter wurde jedoch von der Erzeugung sehr tiefer Temperaturen durch ein Ereignis abgelenkt, das 1911 die Forschungsrichtung in Leiden änderte. Nun, da er den neuen Temperaturbereich flüssigen Heliums zur Verfügung hatte, wandte Onnes sich Untersuchungen über die Eigenschaften der Materie bei wenigen Grad über dem absoluten Nullpunkt zu. Teilweise hing die Auswahl der durchzuführenden Experimente von den dabei auftretenden technischen Schwierigkeiten ab. Eine Messung, die bei jeder Temperatur mit relativ geringer Mühe gemacht werden kann, ist die des Widerstands eines Drahtes. Außerdem hatte die Frage des elektrischen Widerstands reiner Metalle damals beträchtliche Bedeutung erlangt. Die Arbeit von Nernst in Berlin, die wir in einem späteren Kapitel im einzelnen erörtern werden, ließ vermuten, daß der Widerstand eines reinen Metalls mit abnehmender Temperatur allmählich kleiner werden und beim absoluten Nullpunkt schließlich völlig verschwinden würde. Derselben Frage war Dewar bei der Temperatur des flüssigen Wasserstoffs nachgegangen, aber seine Ergeb-nisse verbesserten keineswegs das Verständnis des Problems, sondern machten es im Gegenteil noch undurchsichtiger. Dewar hatte festgestellt,

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daß der Widerstand von Platin bei Temperaturabnahme weniger sank, als erwartet. Das schien für eine andere Theorie zu sprechen, nach der die Elektronen, die den Strom bilden, am absoluten Nullpunkt an die Atome festgebunden sein sollten. Das bedeutet natürlich, daß der elektrische Widerstand bei tiefsten Temperaturen unendlich groß werden würde. Dewars Beobachtungen an Platin deutete man daher als erstes Zeichen für diese Erscheinung, wobei man annahm, daß der Widerstand irgendwo unterhalb des Bereichs des flüssigen Wasserstoffs ein Minimum durch-laufen würde.

Kamerlingh Onnes nahm die Forschungsarbeit auf, wo Dewar sie niederlegen mußte, und untersuchte den Widerstand von Platin bei Heliumtemperaturen. Die Ergebnisse enttäuschten insofern, als sie keine der beiden Theorien bestätigten oder widerlegten. Weder fiel der Widerstand, noch stieg er, wenn die Temperatur gesenkt wurde, sondern er blieb konstant. Dennoch fand Onnes den passenden Schlüssel und die richtige Deutung. Er bemerkte, daß der Absolutwert des temperatur-abhängigen Widerstands von Probe zu Probe schwankte und um so geringer wurde, je reiner das Metall war (Abb. 13). Daraus schloß er, daß Nernst wahrscheinlich recht hatte; der Widerstand sollte bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt verschwindend klein werden, und sollte das nicht geschehen, wäre es Verunreinigungen zuzuschreiben.

Die nächste Aufgabe bestand also darin, diesen »Restwiderstand« durch Verwendung noch reinerer Metallproben möglichst weit zu reduzieren. Da Onnes wußte, daß Gold viel besser als Platin raffiniert werden kann, ging er zur Untersuchung der reinsten Golddrähte über, die er bekommen konnte. Dieser Schritt war insofern erfolgreich, als sich viel geringere Widerstandswerte ergaben als bei Platin. Der Befund war jedoch derselbe; bei wiederholten Versuchen sank der Widerstand mit steigender Reinheit. Onnes fühlte sich jetzt auf dem richtigen Weg. Er hatte seine eigenen Vorstellungen vom Verhalten des elektrischen Widerstands bei den tiefsten Temperaturen, die sich allerdings als völlig falsch erwiesen. Daher gelang es ihm zuerst nicht, die Größe der Entdeckung, vor der er stand, zu erkennen.

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13 Während in einem normalen Metall der elektrische Widerstand bei tiefen Temperaturen konstant wird, verschwindet der eines Supraleiters plötzlich, und zwar am Sprungpunkt.

Dewars und Onnes' Messungen bei höheren Temperaturen hatten für

alle Metalle einen Widerstandsabfall ergeben, der bei Extrapolation zu sehr tiefen Temperaturen andeutete, daß der Widerstand wenige Grad über dem absoluten Nullpunkt völlig verschwinden würde. Er hatte die Abflachung

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der Widerstandskurve bei Platin richtig als Einfluß von Verunreinigungen gedeutet und hielt nun nach einem Metall Ausschau, das er in hinreichend reinem Zustand bekommen könnte, um zu zeigen, daß dessen Widerstand tatsächlich bei Temperaturen verschwand, die er mit flüssigem Helium erreichen konnte. Diese Annahme unterschied sich sehr von den Voraussagen Nernsts und seiner Schule, die einen verschwindenden Widerstand erst beim absoluten Nullpunkt erwarteten. Aber aufgrund seiner Ergebnisse bei höheren Temperaturen und einer Theorie, die sich als völlig falsch erwies, schlug Onnes eine Formel vor, nach der der Widerstand reiner Metalle allmählich bis auf Null bei Heliumtemperaturen abfallen sollte.

Es gab ein weiteres Metall, das sich unter Umständen in einem noch reineren Zustand als Gold gewinnen ließ: Quecksilber. Da es bei Zimmertemperatur flüssig ist, kann es vielfach destilliert und dadurch in einem extremen Reinheitszustand erhalten werden. Die damit erzielten Ergebnisse wurden der Niederländischen Königlichen Akademie am 28. April 1911 mitgeteilt. Onnes berichtete, daß Quecksilber und auch eine Probe sehr reinen Goldes bei Heliumtemperaturen so geringe Widerstandswerte gezeigt hätten, daß seine Instrumente versagt hätten. Sein besonderes Interesse erregte das Verhalten der Quecksilberprobe, das noch bei der Temperatur des flüssigen Wasserstoffs einen ziemlich hohen Widerstand besaß, der sogar noch am Siedepunkt flüssigen Heliums nachgewiesen werden konnte, aber dann bei tieferen Temperaturen verschwand. Kamerlingh Onnes triumphierte, obwohl vorsichtig, als er darauf hinwies, er habe dieses Ergebnis aufgrund seiner Formel erwartet. Gleichwohl schließt er, seinem Brauch getreu, mit dem einschränkenden Hinweis, es handele sich hier nur um vorläufige Ergebnisse und genauere Messungen seien erforderlich.

Der nächste Bericht erschien schon einen Monat später, am 27. Mai. Die Meßgenauigkeit war jetzt erhöht worden, aber das Ergebnis überraschte etwas. Der Widerstand des Quecksilbers verschwand keineswegs allmählich, sondern schien kurz unterhalb des Siedepunkts von Helium auf einen unmeßbar kleinen Wert herabzusinken (s. Abb. 13 auf S. 91). Onnes

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bemerkte, daß dies nicht mit seiner Formel übereinstimmte. Während diese Mitteilung überschrieben war: »Das Verschwinden des Widerstands von Quecksilber«, trug sieben Monate später die nächste bezeichnenderweise den Titel: »Über die plötzliche Änderung der Schnelligkeit, mit der der Widerstand von Quecksilber verschwindet«. Wie die beiden vorangegan-genen Aufsätze ist auch dieser sehr kurz. Er bestätigt das frühere Ergebnis des plötzlichen Verschwindens des Widerstands, das jetzt auf einen Bereich von nur zwei Hundertstelgrad eingeengt war.

Dann verging über ein Jahr, ohne weitere Erwähnung dieser Arbeit. Eine Flut von Artikeln, die 1913 veröffentlicht wurden, zeigt jedoch, daß dies nicht auf Inaktivität zurückzuführen war. Im Gegenteil: Die Arbeit über das besondere Verhalten des Quecksilbers scheint das ganze Jahr 1912 hindurch mit Hochdruck weitergegangen zu sein. Eine vage Andeutung der Schwierigkeiten, denen er sich jetzt gegenübersah, machte Onnes im Schlußsatz der letzten Mitteilung vom Jahr 1911. Er berichtete von Versuchen, starke Ströme durch seine Quecksilberprobe hindurch-zuleiten, fügte aber hinzu, daß dabei ungewöhnliche Erscheinungen aufgetreten seien. Aus den vier zwischen Februar und Mai 1913 veröffent-lichten Arbeiten können wir den Gang der Ereignisse in der dazwischenliegenden Zeit etwa rekonstruieren. Jedes neue Experiment bestätigte nicht nur das Ergebnis, daß der Widerstand des Quecksilbers gleich unterhalb des Siedepunkts von Helium völlig verschwindet, sondern zeigte auch, daß dies nicht die Erscheinung war, die Onnes vorausgesagt hatte. Überdies wird Gold in keiner der Veröffentlichungen mehr erwähnt, und wir müssen annehmen, daß entweder die Arbeit daran ausgesetzt worden war oder Onnes erkannt hatte, daß Gold sich, im Gegensatz zu seiner ersten Mitteilung, ganz anders verhält als Quecksilber. Das war vielleicht einer der Gründe, weshalb er gezögert hatte, über seine Arbeiten früher zu berichten, da es nun gut möglich war, daß das Verhalten von Quecksilber für dieses Metall charakteristisch war. Auf jeden Fall veröffentlichte Onnes seine vier Arbeiten nach der Entdeckung vom Dezember 1912, daß auch Zinn und Blei ihren Widerstand verlieren.

In der zweiten Veröffentlichung von 1913, die im März erschien, tritt

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zum erstenmal das Wort Supraleitung auf, der Begriff, unter dem Onnes' große Entdeckung bekanntwerden sollte. Onnes scheint ihn nur als einen platzsparenden Ausdruck eingeführt zu haben, und die Art, wie er ihn zuerst gebrauchte, scheint noch kein volles Verständnis des neuen Effekts anzudeuten. Tatsächlich sagte er, als er im September in einem Vortrag auf einer Washingtoner Tagung über seine Arbeit mit Quecksilber berichtete, er habe »den supraleitenden Zustand« verwirklicht, »dessen Existenz nur die Experimente mit Gold und Platin wahrscheinlich gemacht hätten«. In diesem Stadium muß die Supraleitung Onnes zwar als etwas Bemerkenswertes, aber nicht völlig Unerwartetes erschienen sein. Offenbar betrachtete er sie als einen Extremfall des gewöhnlichen elektrischen Leitungsmechanismus in einem Metall.

Wir können hier noch nicht auf die eigentlichen Erscheinungen eingehen, die Kamerlingh Onnes bei seinen ersten Experimenten mit supraleitendem Quecksilber beobachtete und die ihn mit der Veröffentlichung seiner Beobachtungen zögern ließen. Das Bild, das sich langsam aus seinen eigenen Beobachtungen und denen anderer ergab, offenbarte, daß die Supraleitung keineswegs ein Extremfall der normalen elektrischen Leitung ist, sondern eine Erscheinung, die kaum etwas mit irgendeiner bekannten Eigenschaft der Materie zu tun hat. Sie forderte über ein Vierteljahrhundert lang die Theoretiker heraus, und selbst heute verstehen wir sie noch keineswegs völlig. Wir werden darauf in einem späteren Kapitel zurückkommen.

Die Supraleitung ist ein anschauliches Beispiel dafür, wie schwierig es sein kann, eine große Entdeckung zu machen, selbst wenn der Effekt sehr auffällig ist und nicht mehr als ein ziemlich einfaches Experiment erfordert. Der Wissenschaftler, der die Vorgänge, die er beobachtet, als Zeugnisse eines organischen Gefüges ansieht, versucht immer, das von ihm Gefundene mit dem bereits vorhandenen Wissen zu verknüpfen. Das erschwert es ihm, auf den ersten Blick eine neue Erscheinung zu erfassen, die keinen Zusammenhang mit bereits Bekanntem hat. Selbstverständlich versuchte deshalb Kamerlingh Onnes für die Supraleitung einen Platz im Rahmen der normalen Leitung zu finden. In seinem speziellen Fall

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vergrößerte die Verwirrung seine eigene – völlig irrige – Voraussage, daß die normale Leitfähigkeit bei einer gewissen tiefen Temperatur unendlich werden sollte. Erst allmählich, als immer mehr seiner Experimente ihm zeigten, wie grundlegend die Supraleitung von dem bekannten Schema der normalen Leitung abweicht, erkannte Kamerlingh Onnes die Größe seiner Entdeckung.

Mehr als 20 Jahre später, am Ende seines Lebens, waren einige sehr wesentliche Merkmale der Supraleitung noch immer unentdeckt. Dennoch hatte Onnes die Genugtuung zu wissen, daß er in der Supraleitung einen völlig neuen Aspekt der Materie entdeckt hatte, der bis dahin in der Welt der sehr tiefen Temperaturen verborgen gewesen war. Eine andere, ebenso seltsame Erscheinung hatte er flüchtig wahrgenommen, ohne jedoch ihre fundamentale Bedeutung zu erfassen. Es war wie bei der Supraleitung; wiederum verhinderte die Größe der bevorstehenden Entdeckung, daß sie gemacht wurde.

Hier war die Substanz, an der die Entdeckung gemacht werden mußte, noch leichter verfügbar; es war flüssiges Helium selbst. Wir erinnern uns, daß Onnes am Tag der ersten Verflüssigung die Dichte grob geschätzt und überraschend klein gefunden hatte. Er beschloß zu untersuchen, ob sie sich mit der Temperatur änderte, und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß die Dichte flüssigen Heliums, abgesehen davon, daß sie allgemein sehr gering ist, bei etwa 2,2° K ein Maximum durchläuft. Er veröffentlichte dieses Ergebnis Anfang 1911, aber die Entdeckung der Supraleitung beanspruchte in den folgenden Monaten seine ganze Aufmerksamkeit. Ende 1913 berichtete er in seinem Vortrag anläßlich der Nobelpreisverleihung von dieser seltsamen Erscheinung, wobei er zu verstehen gab, sie könnte – wie die neuen elektrischen Effekte – mit der von Planck um die Jahrhundert-wende entdeckten Quantelung der Energie zusammenhängen. 1924 kam Kamerlingh Onnes schließlich auf das Problem zurück, als er eine Reihe sorgfältiger Messungen veröffentlichte, die er zusammen mit Boks gemacht hatte und die sich bis kurz über 1° K erstreckten. Die von ihnen erhaltene Dichtekurve (s. Abb. 45 auf S. 242) zeigt einen Anstieg vom Siedepunkt bis 2,2° K, dem eine allmähliche Abnahme unterhalb dieser

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Temperatur folgt. Es konnte daher kein Zweifel bestehen, daß sich flüssiges Helium bei Temperaturerniedrigung zunächst, wie erwartet, zusammenzieht, sich aber dann wieder auszudehnen beginnt. Zugegeben, daß Wasser bei 4° C ein ähnliches Verhalten zeigt, aber das Wassermolekül hat eine kompliziertere Struktur, für die das anomale Verhalten nicht sehr erstaunlich ist. Das Heliumatom jedoch hat die größte Symmetrie aller in der Natur vorkommenden Atome, und das machte das Dichtemaximum zunächst äußerst rätselhaft.

Onnes erfaßte die Bedeutung seiner Beobachtung völlig und bereitete einen Großangriff vor. Dabei half ihm der Amerikaner Leo Dana, der bei ihm als Gast arbeitete. Sie versuchten als erste, die latente Verdampfungswärme zu messen, die zur Umwandlung der Flüssigkeit in Dampf nötig ist. Indem sie diese Größe vom Siedepunkt ab zu tieferen Temperaturen hin verfolgten, fanden sie tatsächlich ein Minimum in der Kurve, aber es war schwach und lag gerade außerhalb ihrer Meßgenauig-keit. Gleichzeitig hatten sie eine Untersuchung der spezifischen Wärme begonnen, und hier begegneten sie einem Effekt von solcher Dimension, daß sie ihm nicht trauten. Ihre veröffentlichten Ergebnisse reichen nur bis 2,5° K hinab und enthalten nichts Außergewöhnliches, lediglich eine Kurve, die allmählich zu tiefen Temperaturen hin abfällt. Ein solches Verhalten war zu erwarten. In Wirklichkeit hatten sie aber bis zu den Temperaturen hinab gemessen, bei denen das Dichtemaximum auftritt. Hier waren die Ergebnisse ganz außergewöhnlich gewesen; es hatten sich variierende und sehr hohe Werte ergeben. Onnes und Dana hatten das Gefühl, diese seltsamen Ergebnisse könnten nicht richtig sein, sondern seien wahrscheinlich durch einen Defekt in ihrer Apparatur verursacht worden. Daher nahmen sie sie nicht in ihren Artikel auf, der 1926 veröffentlicht wurde. Als dieser erschien, war Dana nach Amerika zurückgekehrt und Onnes gestorben. Die Arbeit über das seltsame Verhalten des flüssigen Heliums, auf die wir später zurückkommen werden, mußte von seinem Nachfolger und von Forschern in Oxford, Cambridge und Moskau fortgesetzt werden; denn das Leidener Laboratorium hatte nun seine Monopolstellung verloren.

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Mit Onnes' Tod fand eine Ära der Tieftemperaturforschung ihr Ende. Das große Laboratorium in Leiden, das jetzt seinen Namen trägt, hat seine Arbeit in großartiger Weise bis heute fortgeführt. Aber in die Untersuchungen im Bereich des absoluten Nullpunkts hat sich in den letzten 40 Jahren eine zunehmende Anzahl anderer Forschungsinstitute geteilt. Sie alle verdanken Kamerlingh Onnes sehr viel, dessen Pionierarbeit nicht nur das neue Gebiet der Temperaturen flüssigen Heliums erschloß, sondern auch eine neue Norm für die Forschungsplanung und die Leitung eines Laboratoriums setzte. Er war ein hervorragender Wissenschaftler, dem die Entdeckung neuer Erscheinungen den Nobelpreis und eine Fülle weiterer Ehrungen einbrachte. Seine größte Leistung ist jedoch die Originalität, mit der er ein Laboratorium schuf, das der Forschung im 20. Jahrhundert zum Vorbild werden sollte. Anders als Dewar war er ein guter Diplomat, der wußte, wie man mit Leuten auskommt, obwohl er zuweilen von ihnen erwartete, daß sie mit äußerster Kraft arbeiteten. Bei all seinen Leistungen wußte er jenen Dank, deren Arbeit seinen Erfolg ermöglicht hatte und die ihm immer ergeben waren. Eine bezeichnende Anekdote wird über sein Begräbnis erzählt. Der Leichenzug bewegte sich gerade von der Kirche durch die Stadt zum Friedhof hinaus, mit den Meesters Flim, dem Leiter der Werkstatt, und Kesselring, dem Leiter der Glasbläserei, hinter dem Leichenwagen. Offenbar hatte der Gottesdienst etwas länger als vorgesehen gedauert, und der Leichenwagen mußte sich beeilen, um den Friedhof rechtzeitig zu erreichen. Da sagte Flim zu Kesselring: »Das sieht dem alten Herrn ähnlich! Auch jetzt läßt er uns noch rennen.«

Als die Onnes-Ära des flüssigen Heliums sich ihrem Ende zuneigte, dämmerte ein neues Zeitalter. 1922 hatte Onnes bei seinem letzten Versuch, eine sehr tiefe Temperatur zu erreichen, ein System von zwölf jener neuen Diffusionspumpen benutzt, die Langmuir entwickelt hatte, um den Dampf über flüssigem Helium in einem sorgfältig isolierten Kryostaten abzupumpen. Mit dieser aufwendigen Ausrüstung erreichte er 0,83°. Die Mitteilung darüber bestand in einem Vortrag vor der Faraday-Society und ist bezeichnenderweise überschrieben: »Über die tiefste bis

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jetzt erreichte Temperatur.« Am Ende wirft er die Frage auf, ob dies als der letzte Schritt auf den absoluten Nullpunkt zu betrachtet werden müsse. Er betont, daß die äußerste Grenze bei tiefen Temperaturen erreicht wäre, falls nicht eine andere, noch flüchtigere Substanz als Helium entdeckt werden könnte. Einschränkend fügt er jedoch hinzu: »Wir können eine solche Grenze nur als eine vorläufige betrachten«, und schließt mit den Worten: »Wir können als sicher annehmen, daß auch die Schwierigkeit, die jetzt auf unserem Weg aufgetaucht ist, überwunden werden und daß die erste Aufgabe in einer langen und geduldigen Untersuchung der Eigenschaften der Materie bei den tiefsten erreichbaren Temperaturen bestehen wird.«

Diese Prophezeiung bewahrheitete sich, als noch nicht ein Jahr seit ihrer Äußerung vergangen war. Die Arbeit, die die Beobachtungen enthielt, die den neuen Temperaturbereich unterhalb 1° erschließen sollten, wurde von ihm selbst und H. R. Woltjer als Mitteilung Nr. 167c veröffentlicht. Er hielt den Schlüssel zu Temperaturen in der Hand, die zehn- und hundertmal niedriger als die gerade von ihm erreichten waren, aber er erkannte seine Bedeutung nicht. Wenige Jahre später taten es andere, die in einer andersartigen Denkweise aufgewachsen waren.

Die neuen Ideen, die den Fortschritt zu tieferen Temperaturen ermöglichen sollten, waren entwickelt worden, als Kamerlingh Onnes in den Fünfzigern stand. Sie waren ihm zwar bekannt, blieben ihm jedoch fremd, da er in dem festgefügten und autoritativen Lehrgebäude der klassischen Physik erzogen worden war. Es sind beunruhigend revolutio-näre Ideen, die unsere überkommenen Vorstellungen geändert haben und noch ändern. Zur selben Zeit hatte die Zerstörung des wohlgegründeten Gebäudes der physikalischen Gesetze neue und erregende Ausblicke eröffnet. Mit Kamerlingh Onnes müssen wir die alte Physik mit ihrer Sicherheit und ihren Grenzen verlassen, jene alte Physik, die solide und eng war wie das Viktorianische Zeitalter. Bevor wir jedoch unsere Reise zum absoluten Nullpunkt fortsetzen können, müssen wir einen ausgedehnten Abstecher in die Entwicklung der modernen Physik machen.

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5 | Der dritte Hauptsatz

Die ersten Andeutungen der neuen und unerwarteten physikalischen Gesetze wurden bei Dewars Wasserstoffverflüssigung sichtbar. Die zur Verdampfung der Flüssigkeit nötige Wärmemenge war noch kleiner, als nach Troutons Regel zu erwarten gewesen war. Das Thermoelement hatte bei der Temperaturanzeige versagt, und das elektrische Widerstands-thermometer hatte viel zu hohe Werte ergeben. Außerdem waren da die seltsam kleinen Werte der spezifischen Wärmen, die bald zum wichtigsten Anhaltspunkt bei der Suche nach neuen Ideen werden sollten. Mit jedem neuen Experiment wurde es klarer, daß die überkommenen Begriffe in der Nähe des absoluten Nullpunkts nutzlos wurden. Als das neue Gebiet sehr tiefer Temperaturen erforscht und vermessen wurde, verwandelte sich die vertraute Landschaft physikalischer Vorstellungen. Es war noch zu früh, Ursache und Bedeutung dieser Verwandlung zu verstehen, an ihrer Existenz jedoch konnte man nun nicht mehr länger zweifeln.

Wenn wir auf die Entdeckungen und Vorstellungen zurückblicken, die bald das stolze Gebäude der »klassischen« Physik erschüttern sollten, so sehen wir sie völlig zusammenhanglos und in einer Form auftauchen, die keine Beziehung zwischen ihnen vermuten ließ. Zur selben Zeit, als Dewar die in der Materie gespeicherte Energie verringerte, indem er diese Materie auf 20° über dem absoluten Nullpunkt abkühlte, kam Max Planck in Berlin, sehr gegen seinen Willen, zu dem Schluß, daß die Energie nicht jenes homogene Fluidum ist, als welches sie immer angesehen worden war, sondern daß sie eine Struktur besitzt. Walther Nernst in Göttingen versuchte die Prozesse aufzuklären, mittels derer eine neue chemische Industrie ihre Erzeugnisse herstellte, und Einstein, ein junger Mann, der am Patentamt in Bern arbeitete, begann die Ideen zu entwickeln, die eine Verbindung zwischen diesen neuen isolierten Tendenzen schaffen sollten.

Auf der Pionierarbeit der Experimentatoren in Frankreich, Polen, England und Holland sollten die deutschen Theoretiker das Gebäude neuer

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Vorstellungen der Quantenphysik errichten, das zur Erklärung der bei tiefen Temperaturen entdeckten Erscheinungen nötig war. Nernst, Planck und Einstein waren die leitenden Architekten. Jede Meinungsumfrage nach der Bedeutung dieser drei Männer würde die umgekehrte Reihenfolge ergeben, aber was das Verständnis der Welt nahe dem absoluten Nullpunkt angeht, müssen wir bei unserer Reihenfolge bleiben.

Walther Nernst wurde 1864 als Sohn eines preußischen Landrichters in Briesen geboren, einer kleinen Stadt an der Grenze zum zaristischen Rußland. Er war klein von Wuchs und wurde früh kahlköpfig; ursprünglich wollte er Dichter werden, und er liebte das Theater. Er spielte sein Leben lang die Rolle eines kleinen unschuldigen und oft leicht verwunderten Mannes von schlichter Aufrichtigkeit, aber dahinter lagen ein äußerst vielseitiger durchdringender Verstand und ein sarkastischer Humor verborgen. Sein berühmtes Buch Theoretische Chemie leitete eine neue Forschungsära ein und wurde zum Vorbild für die Denkweise einer ganzen Generation. Das war jene Generation, die ihre Einstellung zur Chemie nicht auf dem Schauplatz des Laboratoriums, sondern auf dem der großen Industrie suchte, und die sich bei ihrer Arbeit auf genaue Voraussagen stützte. Im Titel des Buchs ist Nernsts Lebenswerk zusammengefaßt.

Als Bismarck 1871 das Hohenzollernimperium schuf, trat das neue Reich verspätet in den Kreis der Großmächte. Kolonien, wie sie das Reich nun besaß, brachten außer Prestige und Schwierigkeiten wenig ein, und das Vaterland selbst war ungewöhnlich arm an Bodenschätzen, Kohle ausgenommen. Insbesondere fehlten Nitrate, da Stickstoff in Form chemischer Verbindungen ein wichtiger Grundstoff für Düngemittel im Frieden und für Sprengstoffe im Krieg ist. Das neue Reich hatte ihn für beide Zwecke nötig. Andererseits ist Stickstoff als Element überall im Überfluß vorhanden, da er 80°/o der atmosphärischen Luft bildet. Wasserstoff steht gleichermaßen im Überfluß zur Verfügung; beide Elemente verbinden sich zu Ammoniak. Hat man erst einmal Ammoniak, dann ist das übrige leicht. Daher sahen sich die deutschen Chemiker vor dem Problem, einen Weg zur Verbindung der Gase Stickstoff und Wasserstoff zu finden. Aber das alte alchimistische Aufs-Geratewohl-

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Verfahren war nicht geeignet, dieses Problem zu lösen. Auf jeden Fall war es erfolglos angewandt worden.

Nernst beschäftigte dieses Problem in seiner allgemeinsten Form. Als er nach Göttingen gekommen war, hatte die Universität für ihn das erste Laboratorium für physikalische Chemie gebaut. Das war eine neue Forschungsrichtung, die in den vorangegangenen Jahrzehnten aus der Anwendung physikalischer Methoden – experimenteller wie theoretischer – bei chemischen Problemen entstanden war. Ihr Hauptansatzpunkt war die Verwendung der Thermodynamik, deren begrifflicher Rahmen ursprüng-lich im Zusammenhang mit Wärmekraftmaschinen entwickelt worden war. Die Thermodynamik war bald über diese etwas engen Grenzen hinausgewachsen und hatte sich als sehr nützliches Werkzeug zur Lösung jedes Problems erwiesen, bei dem Temperaturänderungen auftreten.

Bevor wir unsere Geschichte der Tieftemperaturphysik fortsetzen, müssen wir innehalten, um einen weiteren Blick auf die Grundgesetze der Thermodynamik und ihre Anwendung zu werfen. Sie bilden den ersten Schritt zum Verständnis der neuen Methoden, die entwickelt worden sind, um noch viel tiefere Temperaturen als jene des flüssigen Heliums zu erreichen, und außerdem zum Verständnis der seltsamen Erscheinungen, die bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt auftreten.

Sehr viel verdankt die Thermodynamik den Arbeiten eines Benjamin Thomson, eines Mannes von lebhaftem und unternehmungslustigem Sinn, der 1753 in Woburn, Massachusetts, geboren wurde und später als Graf Rumford einer der Gründer der Royal Institution in London war. Nachdem Lavoisier 1794 während der Französischen Revolution hingerichtet worden war, trieb der Ehrgeiz Rumford zu dem unklugen Schritt, die Witwe des großen Wissenschaftlers zu heiraten. Leider aber war er kein Lavoisier, der sie dazu hätte bringen können, während der Experimente gehorsam neben ihm zu sitzen und Aufzeichnungen zu machen. Sie machte dem armen Grafen das Leben zur Hölle.

Als er für den Kurfürsten von Bayern Kanonenrohre bohrte, bemerkte Rumford, daß das Metall heiß wurde, und zwar desto heißer, je stumpfer das Bohrwerkzeug war. Außerdem war das Kanonenrohr die heißeste

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Stelle bei seinem »Experiment«, und nirgends fand eine Verbrennung statt, die die Wärme hätte erzeugen können. Rumford folgerte richtig, daß Reibung die Wärme erzeuge und daß bei diesem Vorgang mechanische Arbeit, die Drehbewegung des Bohrers, verbraucht würde. Mechanische Arbeit wurde in Wärme umgewandelt. Das ist der entgegengesetzte Vorgang zu dem, der in einer Dampfmaschine stattfindet, wo die durch Verbrennung im Kessel erzeugte Wärme in Arbeit, die Drehbewegung der Antriebswelle, verwandelt wird.

Nach diesen und anderen Beobachtungen ähnlicher Art verstand man allmählich, daß es eine physikalische Größe gibt, die in verschiedenen Erscheinungsformen auftreten kann. Aber da sie sich von der einen in die andere umwandeln läßt, muß sie immer dasselbe sein. Diese Größe ist die Energie. Es war nur ein Schritt weiter zu dem Schluß, daß ihre Umwandlung immer ohne Verlust geschieht. Die Behauptung, daß Energie nicht erzeugt oder vernichtet werden kann, wurde als Gesetz der Erhaltung der Energie oder, wie es manchmal heißt, als erster Hauptsatz der Thermodynamik bekannt.

Der Begriff Energie war natürlich seit Newtons Zeiten wohlbekannt, da sie sich für die Bewegung eines Körpers der Masse m und der Geschwindigkeit v zu ½ m • v2 berechnen läßt. In der Newtonschen Mechanik ist sie jedoch nicht von so offenbarer Bedeutung wie eine andere Kombination von Masse und Geschwindigkeit, nämlich m mal v, der sogenannte Impuls, dessen Erhaltung bereits Newton postuliert hatte. So wie wir hier Energie und Impuls beschrieben haben, beziehen sie sich ausdrücklich auf die Bewegung eines Körpers und eignen sich nicht zu Interpretation anderer Erscheinungen, etwa eines elektrischen Stroms, oder solcher, die beim Bohren eines Kanonenrohrs auftreten. Zwar wird der Satz von der Impulserhaltung heute als eins der Grundprinzipien der Mechanik und Teilchenphysik anerkannt, aber seine Anwendbarkeit ist auf dieses Gebiet beschränkt geblieben. Die Energie andererseits kann, wie Rumford zeigte, in Form von Wärme oder, wie man später entdeckte, in Form eines elektrischen Stroms oder einer chemischen Reaktion erscheinen. Ein Gesetz, das das Verhalten der Energie beschreibt, ist daher

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zwangsläufig von großer allgemeiner Bedeutung. Die Entdeckung, daß die Energie immer erhalten bleibt, unterwirft die Vorgänge, die in der Natur vorkommen können, sofort einer einschneidenden Beschränkung; nur solche sind erlaubt, bei denen die Energie unverändert bleibt.

Solche einschränkenden Gesetze, von denen der erste Hauptsatz der Thermodynamik wahrscheinlich das bedeutendste ist, sind die Grundlage aller Naturwissenschaft. Die Elektrizitätswerke verkaufen uns Energie in Form von elektrischem Strom, und dank des Satzes von der Energie-erhaltung können sie garantieren, daß genau dieselbe Energiemenge, die sie in Rechnung stellen, bei uns zu Hause in Form von Wärme oder Licht in Erscheinung tritt. Von allen nur denkbaren Wärmemengen, welche von der von uns verbrauchten Strommenge erzeugt worden sein könnten, hat das Gesetz der Energieerhaltung die Menge ausgewählt, die derselben Energie entspricht. Die Garantie der Elektrizitätswerke ist nur ein Beispiel für die genaue Voraussage über den Ablauf von Naturvorgängen, die dieses Gesetz uns erlaubt.

Das genaue Verständnis der Energieerhaltung wurde durch die Untersuchung der Wärmekraftmaschinen kompliziert, mit der, wie wir in Kapitel 1 erwähnten, Carnot begann. An dieser Komplikation ist die Tatsache schuld, daß die Energieumwandlungen eine gewisse Unsymmetrie enthalten. Während z. B. bei Experimenten ähnlich dem Bohren von Kanonenrohren die gesamte mechanische Energie restlos in Wärme umgewandelt werden kann, ist das Gegenteil nie der Fall. Wenn einer Dampfmaschine Wärme zugeführt wird, so kann nur ein Teil dieser Energie zum Antrieb der Welle ausgenutzt werden, und unvermeidlich wird ein Rest in Form unbrauchbarer Wärme im Kondensator der Maschine vergeudet. "Wir haben absichtlich das Wort »unvermeidlich« gewählt, weil es die Existenz eines weiteren einschränkenden Gesetzes andeutet, des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik.

Während der erste Hauptsatz auch in den elementarsten Physik-lehrbüchern immer mit großer Klarheit dargelegt wird, läßt man bezeichnenderweise den zweiten entweder fort oder verhüllt ihn mit so unverständlichem Gerede, daß er dem Leser noch unklarer bleibt, als er

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dem Autor war. Kurz, man hält ihn für »schwierig«, und das ist schade, da es sich um einen wirklich schönen und befriedigenden Lehrsatz handelt. Freilich vermittelt seine thermodynamische Formulierung (obwohl voll-kommen klar und unzweideutig) keine Vorstellung, die aufgrund der alltäglichen Erfahrung begriffen werden kann, wie es bei Temperatur oder Druck der Fall ist. Das kinetische Bild beseitigt jedoch, wie wir sehen werden, diese Schwierigkeit.

Nach Carnot wurde der nächste Schritt zum Verständnis der Umwandlung von Wärme in andere Energieformen von einem Deutschen, Rudolf Emanuel Clausius, getan. Er unterschied zwischen dem Bruchteil der Wärme, der in einem solchen Vorgang als mechanische Energie auftreten kann, und jenem, der als unbrauchbare Wärme vergeudet werden muß. Den ersten nannte er »freie« Energie und den zweiten umschrieb er mit einem neuen Begriff, den er Entropie nannte. Diesen Entropiebegriff benötigt man für die Aufstellung des zweiten Hauptsatzes der Thermo-dynamik, der die einfache Aussage macht, daß nur solche Vorgänge stattfinden können, bei denen die Entropie wächst oder zumindest konstant bleibt. Mit anderen Worten: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik schließt alle Vorgänge aus, bei denen die Entropie abnimmt.

Jedes echte Verständnis dieses wichtigen Gesetzes erfordert natürlich, daß man sich eine konkrete Vorstellung vom Begriff der Entropie machen kann. Die Thermodynamik bietet hier keine große Hilfe. Sie sagt uns nur, daß die Entropie eine durch die absolute Temperatur dividierte Wärmemenge ist. Das ist ein sehr nützlicher und einfacher Ausdruck, wenn man ihn in eine Gleichung einsetzt, aber man vermag von ihm nicht abzulesen, was er bedeutet. Diese Schwierigkeit bestand bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, als der Formalismus der Thermodynamik mit den aus der kinetischen Wärmetheorie abgeleiteten Vorstellungen zu einer außerordentlich nützlichen Methode der theoretischen Interpretation verbunden wurde, die man statistische Thermodynamik nennt. Die Einführung statistischer Methoden, die hauptsächlich auf den Wiener Ludwig Boltzmann zurückgeht, enthüllte die wahre Natur der Entropie. Die Entropie entpuppte sich als der Grad der Unordnung in einem System.

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14 Roter und weißer Sand vermischen sich, wenn man im Uhrzeigersinn umrührt, entmischen sich aber nicht wieder,, wenn man gegen den Uhrzeigersinn rührt.

Plötzlich wurde nicht nur die Bedeutung der Entropie klar, sondern darüber hinaus erwies sich der rätselhafte zweite Hauptsatz der Thermodynamik als ein wohlbekanntes Prinzip der alltäglichen Erfahrung. Dinge, die sich, wenn wir mit der Arbeit beginnen, in einem geordneten Zustand befinden, z. B. die Bücher in den Regalen einer Bibliothek, geraten in Unordnung, wenn wir mit ihnen arbeiten. Als ein konkretes Beispiel können wir ein kleines Glasgefäß nehmen, das wir halb mit weißem und halb mit rotem Sand füllen (Abb. 14). Nun rühren wir den Inhalt des Gefäßes mit einem Löffel hundertmal im Uhrzeigersinn um, und das Ergebnis ist blaßroter Sand. Der geordnete Zustand, in dem weißer vom roten Sand getrennt war, ist zerstört. Das Umrühren hat die Entropie erhöht. Man könnte dieser Folgerung entgegenhalten, daß wir das Gesetz

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insofern noch nicht bewiesen hätten, als es besagt, die Entropie müsse bei jedem Vorgang zunehmen, weil wir einfach ein spezielles Beispiel herausgesucht hätten, in dem sie es tut. Also kehren wir jetzt unseren Prozeß um, indem wir den Sand hundertmal entgegen dem Uhrzeigersinn umrühren. Natürlich ergibt sich nicht wieder die ursprüngliche Trennung in weißen und roten Sand, sondern unser Sand wird noch gründlicher durchmischt und höchstens noch gleichmäßiger rosa. Anders ausgedrückt: Die Entropie hat weiter zugenommen, genau wie es der zweite Hauptsatz verlangt. Eigentlich hätte es dieses kleinen Experiments gar nicht mehr bedurft, da wir von seinem Ausgang bereits von vornherein völlig über-zeugt waren. Diese Überzeugung stammt aus der alltäglichen Erfahrung, und wir sind angenehm überrascht, daß die eigentliche Bedeutung dieses »schwierigen« zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik in Wirklichkeit so tief in unserer allgemeinen Lebenserfahrung verwurzelt ist, daß wir hier nicht weiter zu verweilen und tiefer nachzudenken brauchen. 15 Beim Bremsen verwandelt sich die geordnete Bewegung der Atome des Eisenbahnrads in ungeordnete Bewegung.

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Wir können jetzt auch jenen seltsamen Mangel an Symmetrie bei der Umwandlung zwischen mechanischer Energie und Wärme verstehen. Ein fahrender Zug wird durch die Reibung der Bremsklötze an den Rädern zum Stehen gebracht. Bei diesem Vorgang werden Klötze und Räder heiß; die Bewegungsenergie des Zugs wird in Wärme verwandelt. Wenn wir andererseits die Räder eines stehenden Zuges erhitzen, setzen wir ihn dadurch nicht in Bewegung. Auch hier bringt das kinetische Bild Klarheit. Ein Rad und alle die Eisenatome, aus denen es besteht, bewegen sich in derselben Richtung. Machen wir in Gedanken von irgendeinem Teil des Rades mikroskopische Aufnahmen, auf denen wir die einzelnen Atome sehen können, dann läßt sich die Bewegungsrichtung der Atome durch kleine Pfeile andeuten (Abb. 15). Da sie alle an der Bewegung des Rades in derselben Weise teilnehmen, haben die kleinen Pfeile gleiche Länge und Richtung. Diese Pfeile bezeichnen jetzt die Geschwindigkeiten jedes einzelnen Atoms und stellen zusammen die kinetische Energie des Rades dar. Wenn der Zug durch Reibung an den Bremsen angehalten wird, verwandelt sich diese Energie in Wärme. Im atomaren Bereich bedeutet das einfach eine erhöhte unregelmäßige Bewegung der Atome. In unserem Bild zeigt sich das durch eine andere Verteilung der Länge und Richtung der Pfeile. Die Gesamtzahl aller Pfeile ist noch dieselbe, aber ihre Längen und Richtungen sind jetzt unregelmäßig verteilt. Das geordnete Muster der mechanischen Energie ist in das ungeordnete der Wärmebewegung übergegangen. Wie im Fall des sandgefüllten Glasgefäßes begreifen wir leicht, daß der Vorgang nicht umgekehrt werden kann, zumindest nicht vollständig und nicht einfach durch Erwärmung des Rades. Der Wärme, die wir dem Rad gerade zuführen wollten, kann noch ein kleiner Betrag an Regelmäßigkeit entnommen werden; aber das ist nur ein kleiner Bruchteil der Energie, die ursprünglich bei der Bremsung in Wärme verwandelt worden war. Wenn wir Wärme aufwenden wollen, um den Zug wieder in Gang zu bringen, müssen wir uns des komplizierten Mechanismus einer Dampfmaschine bedienen. Aber selbst dabei muß, wie schon erwähnt, die dieser Maschine zuzuführende Wärmeenergie viel größer sein als die mechanische Energie, die wir aus ihr gewinnen können. Indem wir die Wärmeenergie von der hohen Temperatur des Kessels zu der tieferen des

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Kondensators durch den Mechanismus der Maschine hindurchströmen lassen, können wir ihr einen kleinen Bruchteil als mechanische Energie zum Antrieb des Zugs entnehmen. Das ist möglich, weil einer Wärmemenge bei hoher Temperatur eine etwas geringere Unordnung entspricht als einer bei tieferer Temperatur. Die Gesamtentropie ist natürlich während des ganzen Vorgangs gestiegen, wie es der zweite Hauptsatz der Thermodynamik verlangt.

Unser Beispiel zeigt, daß Wärmeenergie, da sie in unregelmäßiger Bewegung der Atome besteht, nicht restlos in mechanische Energie umgewandelt werden kann. In einem abgeschlossenen System kann nämlich kein Vorgang stattfinden, der eine Abnahme der gesamten Unordnung zuließe. Am Beispiel des Gefäßes mit weißem und rotem Sand oder dem der Rotation eines Rades, die sich in unregelmäßige Bewegung der Eisenatome verwandelt, sehen wir das Anwachsen der Unordnung ziemlich deutlich. Bei der Dampfmaschine tritt es nicht annähernd so klar in Erscheinung, und in vielen Fällen kann man das aufschlußreiche statistische Modell überhaupt nicht wiedererkennen. Was ist dann zu tun? Wie können wir das Gesetz der Entropiezunahme anwenden, wenn wir keine Änderung des Ordnungszustandes feststellen können? Hier rettet uns die Rückkehr zur Thermodynamik. Ihre Definition der Entropie als Wärmemenge, dividiert durch die absolute Temperatur, bei der diese Wärmemenge entsteht, sagt uns zwar nichts über die Bedeutung der Entropie, aber erlaubt uns, sie zu messen. Kann eine physikalische Größe erst einmal durch Messung genau bestimmt werden, so können wir sie mit Vertrauen verwenden.

Unsere notwendige Abschweifung zu den Grundsätzen der Thermodynamik ist beendet, und wir können uns wieder jenem Problem zuwenden, dem sich die Physikochemiker um die Jahrhundertwende gegenübersahen und das von Nernst gelöst worden ist. Das Problem, erinnern wir uns, war die Voraussage chemischer Reaktionen. Der große französische Chemiker Berthelot glaubte um die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Lösung gefunden zu haben. Er behauptete, daß jede Reaktion immer in der Richtung maximaler Wärmeerzeugung ablaufen

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würde. Das erwies sich zwar als falsch, aber nicht als sehr falsch. Die meisten spontan ablaufenden Prozesse erzeugen tatsächlich Wärme, wie etwa die Verbrennung von Kohle oder die Freisetzung von Atomenergie. Es gibt jedoch einige Prozesse, die spontan Kälte erzeugen, wie das Schmelzen von Eis, wenn Salz darauf gestreut wird. Dieses Verfahren dient etwa der Entfrostung von Straßenbahnweichen und wird durch das Schmelzen des Eises zwar erreicht, aber die Lösung des Salzes im Wasser, die dabei entsteht, ist tatsächlich kälter, als das Eis ursprünglich war.

Jetzt ist leicht einzusehen, wo Berthelot irrte. Nicht die Wärme tendiert zu einem Maximum, sondern die Entropie, d. h. der Unordnungsgrad. Zwar ist eine gewisse Unordnung bei der Reaktion des Eises mit dem Salz dadurch beseitigt worden, daß Wärme verlorenging. Das wird jedoch mehr als ausgeglichen durch jene Zunahme der Unordnung, die von der Vermischung des Wassers mit Salz herrührt, und daher ist, wie der zweite Hauptsatz der Thermodynamik fordert, die Unordnung insgesamt gewachsen. Genau wie im Fall des verschiedenfarbigen Sands erfolgt bei Wasser und Salz zwar die Vermischung, nicht aber die Entmischung spontan.

Nicht die Gesamtenergie, wie Berthelot dachte, bestimmt die Richtung des Vorgangs, sondern die freie Energie, da die Entropie den Unterschied zwischen beiden angibt. Diese bedeutende Tatsache erkannte 1883 der Holländer Jacobus Hendricus van't Hoff, der auf diese Weise eine klare Definition des alten alchimistischen Begriffs der »Affinität« zwischen Substanzen gab. Eine Gleichung, die die Gesamtenergie und die freie Energie mit der absoluten Temperatur verknüpft, war wenige Jahre vorher aus einer Verbindung des ersten mit dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik abgeleitet worden, und zwar von dem großen amerikanischen Physikochemiker Josiah Willard Gibbs und dem Deutschen Hermann von Helmholtz. Wenn für die Partner einer chemischen Reaktion, sagen wir Wasserstoff, Stickstoff und Ammoniak, die freien Energien als Funktion der Temperatur bekannt sind, läßt sich das chemische Gleichgewicht voraussagen.

Die Gesamtenergie einer Substanz erhält man durch Messung ihrer

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spezifischen Wärme. Aber leider erlaubt es die mathematische Formel der Gibbs-Helmholtz-Gleichung nicht, die freie Energie aus der Gesamtenergie ohne eine weitere Annahme zu berechnen. Diese Annahme machte Nernst, der seine geniale Vermutung auf die Tatsache stützte, daß Berthelot fast recht hatte. Das muß bedeuten, daß Gesamtenergie und freie Energie bei normalen Temperaturen nicht allzu verschieden sein können. Nernst postulierte daher, daß sie bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt allmählich gleich werden.

Mehr als ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit Nernst 1906 sein Postulat aufstellte. Inzwischen ist die Richtigkeit seiner Vermutung durch eine große Zahl experimenteller Ergebnisse umfassend bestätigt worden. Schon ein Jahrzehnt nach Nernsts erster Veröffentlichung seines Theorems war es als dritter Hauptsatz der Thermodynamik anerkannt. Der dritte Hauptsatz erwies sich bald als wertvoll für die Voraussage chemischer Gleichgewichte. Als acht Jahre später der Krieg ausbrach, begannen bald synthetische Nitrate aus den großen Leunawerken der deutschen Rüstungsindustrie zuzufließen. Schon vorher war jedoch die praktische Bedeutung des dritten Hauptsatzes von der Tatsache überschattet, daß er die Aufmerksamkeit auf die Annäherung an den absoluten Nullpunkt lenkte. Seine Bedeutung für die Tieftemperaturphysik zeigen die beiden anderen Formulierungen, in denen das Theorem von Nernst ausgedrückt werden kann. Die eine lautet: Man kann dem absoluten Nullpunkt zwar beliebig nahe kommen, ihn aber nie erreichen. Die andere: Am absoluten Nullpunkt verschwindet die Entropie.

Die erste dieser beiden Behauptungen klingt zwar interessanter, ist jedoch von geringerer Bedeutung als die zweite. Seit Cailletets Zeiten, als die Erzielung tiefer Temperaturen experimentell möglich wurde, hat niemand, der an diesen Experimenten beteiligt war, von der Möglichkeit gesprochen, den absoluten Nullpunkt tatsächlich zu erreichen. In Verbindung mit der Verflüssigung des Wasserstoffs und später des Heliums wird die Annäherung an den absoluten Nullpunkt häufig hervorgehoben, aber man nahm es als gegeben hin, daß auch diese Substanzen schließlich bei genügend tiefen Temperaturen gefrieren und

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damit für weitere Abkühlung unbrauchbar werden würden. Offenbar hatten auch vor Nernst die Experimentatoren angenommen, daß ihre Kühlverfahren vor Erreichen des absoluten Nullpunkts versagen würden, ohne daß sie jedoch einen strengen Beweis dafür für nötig hielten. In der wissenschaftlichen Literatur vor 1906 gibt es keine Andeutung dafür, daß irgend jemand ernsthaft über die Erreichung des absoluten Nullpunkts nachgedacht und die theoretischen Möglichkeiten diskutiert hätte. Wäre das getan worden, so wäre das Ergebnis von dem Nernstschen nicht sehr verschieden gewesen. Im Rückblick müssen wir annehmen, daß jemand, der, sagen wir um 1900, ernsthaft das Problem untersucht hätte, zu dem Schluß gekommen wäre, der absolute Nullpunkt könnte nicht durch eine endliche Zahl von Abkühlungsstufen erreicht werden. Der Grund für dieses notwendige Mißlingen ist jedoch von dem durch den dritten Hauptsatz gegebenen Grund völlig verschieden. Vor Nernst mag das Problem etwa fünf Jahre lang im wissenschaftlichen Zwielicht gestanden haben, als nämlich die »klassischen« Prinzipien zwar allmählich zweifelhaft erschienen, die Quanteneffekte aber noch nicht eigentlich anerkannt wurden. Damals hätten Hoffnungen, den absoluten Nullpunkt zu erreichen, aufrechterhalten werden können. Da aber wiederum niemand solche Hoffnungen gehegt zu haben scheint, hatte diese Phase keine Wirkung auf die anschließende Entwicklung der Ideen.

Während die Formulierung des Theorems von Nernst als Gesetz von der Unerreichbarkeit des absoluten Nullpunkts in Lehrbüchern geläufig wurde, da sie klar und leicht zu behalten ist, kann sie für die Versuche von Leuten wie Dewar oder Kamerlingh Onnes nicht von wesentlichem Interesse gewesen sein. Sie hat jedoch einen gewissen Einfluß auf die Bedeutung des absoluten Nullpunkts als Fußpunkt unserer Temperaturskala. Diese Skala hat keine obere Grenze, da wir stillschweigend annehmen, daß immer, wenn wir eine sehr hohe Temperatur messen, eine noch höhere existiert und erreicht werden kann. Mit dem absoluten Nullpunkt ist das anders, da keine tiefere Temperatur vorstellbar ist. In diesem Zusammenhang muß die Behauptung des dritten Hauptsatzes unbefriedigend erscheinen, daß es unterhalb jeder tiefen Temperatur, die wir herstellen, eine noch tiefere gibt,

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die wir erreichen können, ohne damit den absoluten Nullpunkt zu erreichen. Überdies sinkt mit jeder weiteren Annäherung an den absoluten Nullpunkt der uns von diesem unerreichbaren Punkt trennende Abstand und muß sich schließlich als ein verschwindend kleiner Bruchteil eines Grads erweisen.

Man hat gute Gründe dafür, die additive Gradskala durch eine Skala der Temperaturverhältnisse zu ersetzen. Tatsächlich definiert der zweite Hauptsatz der Thermodynamik die Temperatur in solchen Verhältnissen. Das bedeutet einfach, daß wir, statt die Anzahl der Grade, sagen wir zwischen 1° K und 10° K, also neun, oder zwischen 10° K und 100° K, also neunzig, zu zählen, 10° K als zehnmal wärmer als 1° K und l00° K als zehnmal wärmer als 10° K betrachten. Indem wir diese Verhältnisse benutzen, messen wir also dem Intervall zwischen 1° K und 10° K dieselbe Bedeutung zu wie dem zwischen 10° K und 100° K oder dem zwischen 100° K und 1000° K usf. In dieser logarithmischen Skala haben wir es mit Potenzen von 10 zu tun und schreiben 100° K als 102° K, 1000° K als 103° K und 1 000 000° K als 106° K. Entsprechend wird 1° K jetzt zu 100° K, 0,1° K zu 10-1° K und 0,000001° K zu 10-6° K. Der absolute Nullpunkt rückt dadurch auf minus unendlich (10-∞° K), und das scheint für eine Temperatur, die niemals erreicht werden kann, sehr angemessen. Abgesehen von der neuen Zählweise und der passenderen Betrachtung des absoluten Nullpunkts als unendlich entfernt, ist an der logarithmischen Temperaturskala nichts Umwälzendes. Die physikalische Bedeutung des Temperaturbegriffs bleibt völlig unverändert.

Während also die Unerreichbarkeit des absoluten Nullpunkts nicht sehr bedeutsam für unser Verständnis der physikalischen Welt ist, stellt die andere Formulierung des dritten Hauptsatzes, die uns sagt, daß die Entropie Null werden muß, einen Satz von fundamentaler Bedeutung dar. Die sich aus ihm ergebenden Folgerungen, die man erst allmählich erfaßte, führten zu einem vollständigen Bruch mit den physikalischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts. Überdies erwies sich das Verschwinden aller Unordnung bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt als Schlüssel zur Erklärung der ungewöhnlichen Erscheinungen,

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die Dewar und Kamerlingh Onnes zuerst beobachtet hatten. Die erste Reaktion auf Nernsts Theorem war die Überraschung darüber,

daß die Entropie und nicht die Energie allmählich gegen Null geht. Bis dahin war die zuerst von Amontons formulierte Vorstellung des absoluten Nullpunkts als eines Zustands vollkommener Ruhe hingenommen worden. Besonders seitdem die kinetische Theorie die Temperatur als Maß für die mittlere Energie der Molekularbewegung erklärte, erschien es unausweichlich, daß diese Bewegung bei der Temperatur Null völlig verschwinden müßte. Jetzt zeigte es sich, daß nach dem dritten Hauptsatz der Thermodynamik ein Teil der Energie auch am absoluten Nullpunkt zurückbehalten wird. Das Wesen dieser Nullpunktsenergie blieb lange rätselhaft und unbegreiflich. Schließlich erwies sie sich als eine unmittelbare Manifestation des Grundprinzips der Quantenmechanik.

Abgesehen von einigen neuen und ungewöhnlichen Erscheinungen, die sich bei tiefen Temperaturen aus der Zunahme der statistischen Ordnung erklären lassen, ließ die Abnahme der Entropie auch die schon lange bekannten physikalischen Vorgänge in neuem Licht erscheinen. Ein Beispiel ist die bekannte Aufeinanderfolge der drei Aggregatzustände, die eine Substanz bei Abkühlung durchläuft. Wenn ein Gas abgekühlt wird, kondensiert es zunächst zum flüssigen Zustand und wird bei weiterer Abkühlung ein fester Kristall. Bis dahin hatte man diese Änderungen als unmittelbare Folge der Tatsache angesehen, daß die Temperatur ein Maß für die kinetische Energie der Atome oder Moleküle ist. Wenn diese Energie sich verringert, wird sie von den Anziehungskräften der Atome aufgewogen, und diese Atome bleiben dann, anstatt nach jedem Zusammenstoß wieder auseinanderzufliegen, aneinander hängen, zunächst lose im flüssigen und schließlich fest im festen Zustand. Das ist natürlich dieselbe Folge von Zuständen, die wir weiter oben bei der Diskussion der Van-der-Waals-Gleichung erwähnt haben. Diese Aufeinanderfolge kann jedoch noch von einer anderen Seite betrachtet werden, die wir bis jetzt vernachlässigt haben. Im gasförmigen Zustand erfüllen die Atome oder Moleküle den ganzen zur Verfügung stehenden Raum mit ungeordneter Bewegung (Abb. 16). Im flüssigen Zustand sind sie auch noch in

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Bewegung, aber jetzt ist die Substanz auf ihr eigenes Volumen beschränkt, das nur einen Teil des zur Verfügung stehenden darstellt. In festem Kristall schließlich sind die Atome an bestimmte Punkte in einer regelmäßigen Anordnung, dem sogenannten Kristallgitter, gebunden.

16 Wenn man ein Gas verflüssigt und eine Flüssigkeit einfriert, wird die Anordnung der Atome jeweils regelmäßiger.

Das heißt, es geschieht bei der Abkühlung einer Substanz mehr, als daß nur die kinetische Energie abnimmt. Verbunden damit wird die Struktur zunehmend geordnet. Die Entropie nimmt ab, und in gewisser Hinsicht können wir die wohlbekannte Folge von Gas, Flüssigkeit und Festkörper, wie auch die vertrauten Vorgänge der Kondensation und des Gefrierens, als eine Manifestation des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik betrachten.

Auf diese Weise erlangen die Aggregatzustände eine neue Bedeutung, wenn wir sie als Repräsentanten von Ordnungszuständen ansehen. Es gibt aber auch noch andere auf den dritten Hauptsatz zurückgehende Erscheinungen, die nicht sofort durchschaubar und daher erstaunlicher sind. Da die Wellenlängen der Röntgenstrahlen von derselben Größenordnung sind wie die Atomabstände im Kristallgitter, wurden die Röntgenstrahlen zu einem sehr brauchbaren Werkzeug für die genaue Erforschung dieser Gitter. Anfang der zwanziger Jahre wurden einige Kupfer-Zink-Legierungen auf diese Weise untersucht. Die Ergebnisse

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zeigten, daß in den Kristallproben die Kupfer- und Zinkatome ganz unregelmäßig verteilt waren (Abb. 17). Ein Jahr später wurden dieselben Proben einem Studenten zur Erprobung seiner Röntgenausrüstung übergeben. Zu jedermanns Überraschung erhielt er ein ganz anderes Ergebnis, das jetzt die Zink- und Kupferatome abwechselnd regelmäßig angeordnet zeigte. Tatsächlich hatten sich die Kristalle entmischt, die unregelmäßige Verteilung der beiden Atomarten war in eine regelmäßige Anordnung übergegangen. Die Kristalle waren durch Zusammenschmelzen von Kupfer und Zink, also bei sehr hohen Temperaturen, bei denen die Entropie groß ist, hergestellt worden und hatten sich daher in statistischer Unordnung befunden. Bei Zimmertemperatur, d. h. näher am absoluten Nullpunkt, war die Entropie geringer, also die Ordnung größer, und die unregelmäßige Anordnung mußte einer regelmäßigen weichen. Die Umordnung von Atomen in einem Kristall erfolgt jedoch langsam. Deshalb wurde die Veränderung erst ein Jahr später bemerkt. 17 In einem Messingstück sind die Kupfer- und Zinkatome bei hohen Temperaturen unregelmäßig verteilt (links), bei Abkühlung aber ordnen sie sich regelmäßig an (rechts).

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Solche Übergänge von einer ungeordneten zu einer geordneten Atomanordnung stellen die auffälligste und unmittelbarste Manifestation des Theorems von Nernst dar, aber leider sind sie oft schwierig zu beobachten, weil die für die Änderung erforderliche Zeit bei tiefen Temperaturen sehr lang wird. Sehr schön und eindrucksvoll wurde die Wirkung des dritten Hauptsatzes jedoch vor einigen Jahren in Moskau von Peschkow und Zinowjewa demonstriert. Sie untersuchten die Eigenschaften einer Mischung der Heliumisotope mit den Atomgewichten vier und drei. Das erstere ist das natürliche Helium aus Mineralien oder Gasquellen. Bei Kernreaktionen können jedoch stabile Heliumatome hergestellt werden, die ein Neutron weniger und daher das Gewicht drei haben. Dieses Isotopengemisch bleibt bis zu den tiefsten Temperaturen hinab flüssig und hat auch noch bei 1° K dank der Tatsache, daß beide Atomarten unregelmäßig gemischt sind, eine beträchtliche Entropie. Nach dem dritten Hauptsatz muß diese Entropie bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt verschwinden. Während man bei 1° K noch kein Anzeichen einer solchen spontanen Entmischung bemerkt hatte, änderte sich die Lage, als die Temperatur auf 0,8° K verringert wurde. Die Flüssigkeit begann sich in zwei Phasen aufzuteilen, von denen die eine reicher an dem leichten und die andere reicher an dem schweren Isotop war. Bei 0,5° K ist diese Entmischung so weit fortgeschritten, daß die beiden Flüssigkeiten durch einen Meniskus zwischen ihnen scharf getrennt sind, den man auf der von den russischen Wissenschaftlern gemachten Aufnahme deutlich sehen kann (Abb. 18). Die Erscheinung ist so außergewöhnlich, als würde sich der in unserem Glasgefäß gemischte rote und weiße Sand vor unseren Augen wieder entmischen.

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18 In Einklang mit dem Theorem von Nernst teilt sich eine Mischung aus Heliumisotopen nahe dem absoluten Nullpunkt in zwei flüssige Phasen auf. A Meniskus zwischen Flüssigkeit und Dampf; B Meniskus zwischen den beiden Flüssigkeiten.

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Um die Bedeutung des dritten Hauptsatzes zu erklären, haben wir über Mischkristalle und flüssiges Helium unter 1° K gesprochen und dabei in unserer Schilderung vieles übersprungen. Das Recht dazu gibt uns eine eigenartige Beschränkung des menschlichen Gehirns. Während wir ohne weiteres einen Zustand der Ordnung in der gegenseitigen Lage von Gegenständen erkennen und definieren können, gelingt uns das nicht bei ihrer Bewegung. Tatsächlich sind schon die Begriffe »Ordnung« und »Unordnung« in unserem Gehirn mit den Positionen verknüpft, die Gegenstände im Raum einnehmen, wie z. B. Bücher auf einem Regal oder Stühle in einem Hörsaal. Deshalb wählten wir die Ordnung der Atome in einem Kristallgitter und die Trennung der Heliumisotope in zwei flüssige Phasen, um die Wirkung des dritten Hauptsatzes zu demonstrieren. In der Natur kommen jedoch noch andere und gleich wichtige Ordnungsarten vor, bei denen Regelmäßigkeit nicht hinsichtlich der Position, sondern hinsichtlich der Bewegung herrscht.

Die Beschränkung, an der unser Gehirn leidet, liegt darin, daß wir uns nicht mit derselben Leichtigkeit ein Bild von »vorher und nachher« machen können wie von »nebeneinander«. Irgendwie ist es für uns schwierig, die Zeit in gleicher Weise zu betrachten wie die Dimensionen des Raums. Ob diese eigenartige Beschränkung angeboren oder eine Sache der Erziehung durch Erfahrung ist, läßt sich schwer sagen. Wie wir sehen werden, kann man sie durch Übung weitgehend überwinden. Gewöhnlich umgehen wir unsere Unfähigkeit, die Zeit den Darstellungen der physikalischen Welt einzuverleiben, indem wir eine Reihe von Bildern aufeinanderfolgender Ereignisse machen. Man kann sogar ein Gefühl für Kontinuität erzeugen, indem man den zu untersuchenden Verlauf so weit vereinfacht, daß die Bilderfolge kontinuierlich wird. Z. B. kann die Flugbahn einer Granate als Kurve in einem sonst »ruhigen« Bild dargestellt werden (Abb. 19). Wir können sogar noch einen Schritt weiter gehen, wenn wir die gleichzeitige Bewegung des Ziels zeigen, das wegläuft, sobald es den Abschuß der Kanone gesehen hat. Aber die nächste Korrelation, nämlich die zwischen den Positionen des Geschosses und des Ziels zu verschiedenen Zeiten, ist im Bild schwer darzustellen.

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19 »Vorher und nachher« läßt sich schwerer verdeutlichen als »nebeneinander«.

Wir haben bereits von dieser Art der Darstellung Gebrauch gemacht, als wir das Bremsen des Zuges erörterten. Wir deuteten die Bewegungen der Atome durch Linien an, deren jede aus einer unendlichen Anzahl aufeinanderfolgender Positionen bestand. Dieses Bild wurde durch Umwandlung der Linien in kleine Pfeile weiter vervollständigt, eine Übereinkunft, durch die wir andeuteten, daß wir es mit Bewegung zu tun hatten, und die außerdem zwischen den zwei möglichen Bewegungsrichtungen entlang einer Linie unterschied. Da sich alle unsere

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Linien auf dasselbe Zeitintervall beziehen sollten, stellten schließlich die kurzen Pfeile die langsame, die langen die schnelle Bewegung des entsprechenden Atoms dar. Diese Methode, den Zustand gleichzeitiger Bewegung einer Anzahl Teilchen sichtbar zu machen, läßt sich weiter vereinfachen, wenn man alle Pfeile von einem Punkt ausgehen läßt. Eine solche Darstellung von Vorgängen unterscheidet sich jetzt völlig von einer »Nebeneinander «-Anordnung, da die relativen Positionen der Teilchen aus ihr verschwunden sind. Statt dessen denken wir jetzt in einem dreidimensionalen Geschwindigkeitsraum. Auf diesen Begriff werden wir später zurückkommen und bemerken, daß er sehr nützlich ist bei dem Versuch, eine Ordnung im Bewegungszustand zu erkennen.

Obwohl man schließlich das Postulat von der am absoluten Nullpunkt verschwindenden Entropie als wichtigsten Aspekt des dritten Hauptsatzes erkannte, konzentrierte sich anfangs die Aufmerksamkeit auf die freie Energie. Wie wir sahen, erhält man diese mit Hilfe des Theorems von Nernst aus der Gesamtenergie einer Substanz. Läßt man einmal die seltsame Nullpunktsenergie, die immer in der Substanz zurückbleibt, beiseite, dann kann ihre Energie ziemlich direkt bestimmt werden. Die Gesamtenergie in einem Stück Eisen oder einem Glas Wasser bei Zimmertemperatur ist einfach die Wärmemenge, die der Substanz zugeführt werden muß, um sie vom absoluten Nullpunkt aus zu erwärmen. Wir sind dieser Art Messung bereits früher begegnet, als wir uns mit Energie in Form einer »Wärmemenge« beschäftigten und diejenige Wärmemenge als Einheit, genannt eine Kalorie, definierten, die zur Steigerung der Temperatur von einem Gramm Wasser um ein Grad benötigt wird.

Wir stellen fest, daß viel weniger Wärme, d. h. nur etwa ¹/10 Kalorie, zur Erwärmung von einem Gramm Eisen um ein Grad erforderlich ist und wieder eine andere Menge, etwa ¹/5 Kalorie, für ein Gramm Aluminium. Da diese Wärmemengen für die betreffenden Substanzen offenbar spezifisch sind, nennt man sie ihre spezifischen Wärmen. Ein interessanter Zusammenhang zwischen den spezifischen Wärmen verschiedener Substanzen wurde 1820 von den französischen Naturwissenschaftlern

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Pierre Louis Dulong und Alexis Thérèse Petit entdeckt. Diese Gesetzmäßigkeit machte sich bemerkbar, als man statt Massen von einem Gramm jeweils dieselbe Anzahl von Atomen betrachtete.

Die Chemiker des 18. Jahrhunderts hatten festgestellt, daß in Verbindungen die beteiligten Elemente immer in festen Verhältnissen zueinander stehen. Z. B. beobachtete man, daß stets zwei Teile Wasserstoffgas mit einem Teil Sauerstoffgas zur Bildung von Wasser reagieren, eine Tatsache, die sich in der chemischen Formel H2O für Wasser ausdrückt. Wenn mehr Wasserstoff bei der Reaktion benutzt wurde, blieb er als Gas übrig. Dasselbe geschah mit einem Überschuß an Sauerstoff. Die Gewichte der beiden Wasserstoff- und Sauerstoffmengen stehen zueinander im Verhältnis 2:16, d. h. 2 g Wasserstoff reagieren immer mit 16 g Sauerstoff, um 18 g Wasser zu bilden. Da jedes Wassermolekül, wie die Formel zeigt, durch Verbindung von zwei Wasserstoffatomen mit einem Sauerstoffatom gebildet wird, folgt, daß ein Sauerstoffatom 16mal schwerer sein muß als ein Wasserstoffatom. Außerdem ergibt sich, daß 1 g Wasserstoffgas dieselbe Anzahl Atome enthält wie 16 g Sauerstoffgas. Diese Tatsache gibt uns ein Mittel an die Hand, durch Auswiegen Substanzmengen zu bekommen, die jeweils dieselbe Zahl von Atomen enthalten.

Gewöhnlich fängt man beim leichtesten Atom, dem des Wasserstoffs, zu zählen an, und daher hat Wasserstoff das Atomgewicht 1 und Sauerstoff 16. Durch Abwiegen der Partner in chemischen Reaktionen kann diese Bestimmung des Atomgewichts auf alle Elemente ausgedehnt werden. So erhalten wir z. B. die Zahl 56 für Eisen, 27 für Aluminium, 64 für Kupfer, 197 für Gold und 238 für Uran.

Dulong und Petit entdeckten, daß man zur Erwärmung um ein Grad für 56 g Eisen dieselbe Wärmemenge benötigt wie für 27 g Aluminium oder 64 g Kupfer oder 197 g Gold usf. Mit anderen Worten: Ihr Gesetz sagt aus, daß die spezifischen Wärmen der Elemente, multipliziert mit ihrem Atomgewicht (d. h. jeweils für dieselbe Anzahl von Atomen), dieselben sind. Sie benutzten den Begriff des Grammatoms, der das Atomgewicht in Gramm ausdrückt, und stellten fest, daß die darauf als Einheit bezogene

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spezifische Wärme ungefähr 6 Kalorien pro Grad beträgt. Nun, da wir das Gesetz von Dulong und Petit zur Verfügung haben,

muß die Berechnung der Energien für den dritten Hauptsatz der Thermodynamik einfach erscheinen. Nehmen wir an, wir möchten die Gesamtenergie eines Grammatoms Eisen bei 0° C (273° K) wissen. Wir haben dann nichts weiter zu tun, als die Anzahl der Grade (273), um die das Eisen vom absoluten Nullpunkt aus erwärmt worden ist, mit der Zahl der für jeden Grad erforderlichen Kalorien (6) zu multiplizieren, und erhalten als Ergebnis 1638 cal. Auf ähnliche Weise könnten wir die Gesamtenergie bei jeder Temperatur unter und über 0° C berechnen.

Aber als Nernst 1906 sein Theorem verkündete, wußte er bereits, daß solch einfache Rechnungen ein falsches Ergebnis liefern müssen. Dewar hatte gezeigt, daß die spezifischen Wärmen bei tiefen Temperaturen viel kleiner als 6 cal pro Grammatom und Grad sind und daß das Gesetz von Dulong und Petit bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt nicht mehr gilt. Im folgenden Jahr wurde das Rätsel von Einstein gelöst. Das war der erste bedeutende Bruch mit dem System der klassischen Physik.

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6 | Quantelung

Das Versagen des Gesetzes von Dulong und Petit wurde zum Ausgangspunkt für das Verständnis der besonderen Stellung, die das Gebiet der tiefen Temperaturen im begrifflichen Rahmen der gesamten Physik einnimmt. Bevor man jedoch die Bedeutung dieses Versagens einzuschätzen vermag, mußte eine Erklärung für das Gesetz selbst gefunden werden. Auch hier liefert die kinetische Theorie ein leichtverständliches Bild. Der kristalline Körper ist, wie wir sehen werden, eine etwas komplizierte Anordnung von Atomen, die aufeinander starke Kräfte ausüben. Deshalb beginnen wir mit unseren Betrachtungen der Einfachheit wegen bei einem Gas, wo diese Kräfte vernachlässigt werden können. Nehmen wir also ein einfaches Gas unter einfachen Bedingungen, wie etwa Helium bei Zimmertemperatur. Als wir über die Van-der-Waals-Gleichung sprachen, sahen wir, daß die Anziehungskräfte zwischen den Atomen erst beim kritischen Punkt und darunter wichtig werden. Da die Zimmertemperatur 50mal höher als der kritische Punkt von Helium liegt, können wir das Gas getrost als »ideal« ansehen. Das bedeutet, daß wir uns nicht um Anziehungseffekte zu kümmern brauchen. Es kommt allein auf die Bewegungsenergie an. Überdies stellt Helium insofern einen einfachen Fall dar, als das Gas aus Einzelatomen und nicht aus Molekülen besteht wie in den komplizierteren Fällen von Wasserstoff und Sauerstoff.

Im kinetischen Bild wird der thermodynamische Begriff der Temperatur des Gases durch die mittlere kinetische Energie (½ m • v2) der Helium-atome beschrieben (m ist die Masse eines Atoms und v seine mittlere Geschwindigkeit). Diese Beziehung muß natürlich für jedes ideale Gas gelten, welche Masse seine Atome auch immer besitzen, und sie ist daher von fundamentaler Bedeutung. Unsere Maßeinheit (ein Grad) für die Tem-peratur war völlig willkürlich als der hundertste Teil des Temperaturinter-valls zwischen dem Schmelzpunkt des Eises und dem Siedepunkt des Wassers gewählt worden. Der Proportionalitätsfaktor, der den Bewegungs-zustand der Gasatome mit dem Grad verknüpft, muß daher eine Natur-

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konstante sein. Man hat sie Boltzmann zu Ehren Boltzmann-Konstante genannt und das Symbol k für sie gewählt. Jedes unserer Heliumatome besitzt also die mittlere kinetische Energie ½ k • T. Im Gas können sich die Atome frei in alle Raumrichtungen bewegen, und da der Raum dreidimen-sional ist, drückt man die Bewegung jedes Atoms am günstigsten durch die drei Raumkoordinaten aus, die man gewöhnlich mit x, y und z bezeichnet. Mit anderen Worten: Ein Atom, das sich in irgendeiner Richtung durch den Raum bewegt, tut das zu einem gewissen Teil in die x-Richtung, zu einem anderen Teil in die y-Rich-tung und schließlich auch noch in die z-Richtung. Durch Aufzählung dieser drei Bewegungskomponenten ist sein Bewegungszustand vollständig beschrieben. Das vereinfacht die Dinge, und daher wurde ½ k • T als die mittlere kinetische Energie eines Helium-atoms bei der Temperatur T in der x-Richtung definiert. Natürlich hat es eine gleich große mittlere kinetische Energie jeweils auch in der y- und in der z-Richtung, so daß seine gesamte kinetische Energie 3/2 k • T beträgt.

In der für die Bewegung eines Teilchens gewählten Sprache sagen wir, daß unsere Heliumatome im gasförmigen Zustand drei »Freiheitsgrade« besitzen und daß auf jeden die kinetische Energie ½ k • T entfällt. Diese Bezeichnungsweise ist in komplizierten Fällen von großem Nutzen, wenn man etwa aus mehreren Atomen bestehende Moleküle oder Materie im festen Aggregatzustand betrachtet. Ein anderer Aspekt dieses Bilds, der später große Bedeutung erlangen wird, ist das sogenannte »Äquipartitionsprinzip«. Es besagt, daß die Energie auf alle Freiheitsgrade gleich verteilt ist, eine Behauptung, die zwar in unserem Fall des idealen Gases trivial erscheint, die aber eingeschränkt werden muß, sobald man die Energie als gequantelt betrachtet.

Die Boltzmann-Konstante k bezieht sich auf die Energie eines einzelnen Atoms im Gas und ist daher sehr klein, wenn man sie in den Einheiten unserer makroskopischen Messungen ausdrückt, die sich auf menschliche Erfahrung stützen. Sie hat den Wert 3,28 • 10-24 cal pro Grad. Für Meßzwecke betrachtet man besser nicht einzelne Atome, sondern Atommengen, die makroskopisch vorkommen. Offenbar wählt man als Substanzmenge am günstigsten das Grammatom, das wir bei der

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Interpretation des Gesetzes von Dulong und Petit benutzten. Per definitionem ist die Anzahl von Atomen in einem Grammatom einer Substanz immer dieselbe, unabhängig davon, ob wir es mit Helium, Eisen oder Uran zu tun haben. Sie ist nach dem Italiener Amadeo Avogadro benannt und wird mit dem Symbol N bezeichnet. Ihr Wert ist 6,06 • 1023. Wenn wir k mit N multiplizieren, bekommen wir (3,28 • 10-24 • 6,06 • 1023) 1,9858 cal pro Grammatom und Grad. Diese gewöhnlich durch das Symbol R bezeichnete Zahl heißt die universelle Gaskonstante, weil sie als Konstante in dem Gesetz von Gay-Lussac (p • V = R • T) auftaucht, wenn man es auf ein Grammatom eines Gases bezieht.

Damit kann der Energieinhalt von Heliumgas jetzt als 3/2 R • T geschrieben werden. Das liefert uns sofort 3/2 R als spezifische Wärme eines idealen Gases, denn das ist die zur Temperatursteigerung um einen Grad (T ändert sich um 1) benötigte Energie. R ist, wie wir gerade gesehen haben, etwa gleich 2, so daß sich die spezifische Wärme von Helium zu rund 3 Kalorien pro Grammatom und Grad berechnet. Tatsächlich ergeben die Experimente denselben Wert.

Nach dieser Übung an einem einfachen Beispiel können wir uns jetzt dem komplizierteren eines festen Zustands zuwenden. Hier sind die Atome in einem Kristallgitter regelmäßig angeordnet. Daher wird jedes Atom durch die von seinen Nachbarn ausgehenden Anziehungskräfte auf seinem Platz festgehalten. An diesem Platz kann es sich bis zu einem gewissen Grad hin und her bewegen, wenn auch nicht so frei wie in einem Gas oder einer Flüssigkeit. Wir können uns die Atome in einem Kristall gleichsam als eine regelmäßige Anordnung von Billardkugeln vorstellen, die durch Gummibänder oder kleine Federn miteinander verbunden sind (Abb. 20). Das sind die Kräfte, die die Atome an ihren Plätzen halten. Wenn wir in diesem Modell ein Atom ein wenig aus seiner Gleichgewichtslage herausziehen und es dann loslassen, beginnt es unter der Wirkung der Federn zu schwingen. Im wirklichen Kristall schwingen alle Atome ununterbrochen und ungeordnet um ihre Gleichgewichtslagen. Diese Bewegung stellt die Temperatur des festen Körpers dar, genau wie die freie Bewegung der Atome in einem Gas ein Maß für dessen Temperatur ist.

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20 Wie elastische Federn halten die Anziehungskräfte die Atome im Kristallgitter fest.

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Der Unterschied zwischen einem Gas und einem Kristall besteht natürlich darin, daß im Kristall die Atome immer an ihre Plätze zurückkehren müssen, d. h., daß sie außer ihrer kinetischen Energie auch noch potentielle Energie besitzen. Daß das so sein muß, kann man an dem einfachen Beispiel eines Pendels einsehen. Auch das Pendel muß immer wieder in seine Ruhelage zurückkehren, während es, gehalten durch seine Schnur und durch die Erdanziehung, hin- und herschwingt. Wenn es den tiefsten Punkt seines Weges passiert, besitzt es die höchste Geschwindigkeit, d. h. maximale kinetische Energie. An jedem der beiden Endpunkte seiner Schwingung, an denen es für einen Augenblick zur Ruhe kommt, ist es dem Erdmittelpunkt ein bißchen weiter entrückt und hat daher potentielle Energie gewonnen. Ebenso hat das Atom, wenn es bei seiner Schwingung die Gleichgewichtslage passiert, kinetische Energie und am Umkehrpunkt potentielle Energie.

Das Erwärmen eines festen Körpers bedeutet daher eine Verstärkung der Atomschwingungen. Wir können diesen Fall jetzt ähnlich behandeln wie den des Gases. Wieder haben wir drei Freiheitsgrade für die kinetische Energie, da die Atome in alle Richtungen des dreidimensionalen Raums schwingen können. Hinzu kommen aber noch drei weitere Freiheitsgrade, in denen die Atome potentielle Energie gewinnen können, so daß sich insgesamt sechs ergeben. Um einen festen Körper zu erwärmen, muß man ihm also die Energie von 6 mal ½ R zuführen, das heißt ungefähr (6 • ½ • 2) 6 Kalorien pro Grammatom und Grad. Dies ist natürlich die geheimnisvolle Zahl, die Dulong und Petit entdeckten. Wir haben sie jetzt mittels der Atomschwingungen erklärt.

Nun können wir uns jenem Problem zuwenden, daß den Schlüssel zum Verständnis des Verhaltens der Materie nahe dem absoluten Nullpunkt lieferte, nämlich dem Versagen des Gesetzes von Dulong und Petit. Dewars grobe Messungen hatten gezeigt, daß die spezifische Wärme fester Körper bei tiefen Temperaturen viel kleiner als 6 cal pro Grammatom und Grad ist, aber das war nicht die erste Abweichung vom Gesetz von Dulong und Petit, die man entdeckt hatte. Bereits 1876 untersuchte Wilhelm Friedrich Weber die spezifische Wärme des Kohlenstoffs in den beiden

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Erscheinungsformen Diamant und Graphit. Er stellte fest, daß in beiden Fällen die bei Zimmertemperatur gemessenen Werte unter dem des Gesetzes von Dulong und Petit liegen, wobei die Abweichung beim Diamant ausgeprägter ist. Als er seine Untersuchungen zu höheren Temperaturen hin ausdehnte, entdeckte er, daß zuerst Graphit und dann auch Diamant eine spezifische Wärme von 6 cal pro Grammatom und Grad zeigen, wenn sie nur genügend erhitzt worden sind.

Als Weber ein Vierteljahrhundert später diese Ergebnisse in seinen Züricher Vorlesungen erwähnte, erregten sie das Interesse eines jungen Studenten namens Albert Einstein. Einstein erkannte, daß das Versagen des Gesetzes von Dulong und Petit bei tieferen Temperaturen, wie es von Weber an Kohlenstoff und später allgemeiner von Dewar gefunden worden war, an die Grundfesten der Physik rührte, konnte aber damals noch nicht sehen, was an den überkommenen Vorstellungen nicht stimmte. Etwa zur selben Zeit lieferte jedoch Max Planck in Berlin den Schlüssel zu diesem Geheimnis.

Plancks Veröffentlichung, die die tiefstgreifende Revolution in der modernen Physik auslösen sollte, wurde im Dezember 1900 vor der Berliner Physikalischen Gesellschaft verlesen. Sie löste eins der Grundprobleme, dem die Physiker jener Tage gegenüberstanden, und obgleich Planck in der Einleitung keinen Zweifel daran ließ, daß er sich der weitreichenden Bedeutung seines Ergebnisses voll bewußt war, empfand er persönlich Abneigung dagegen. Max Planck war der Sproß einer alten und bedeutenden Familie von Gesetzgebern, deren Geist er geerbt hatte. Die strengen und allgemeinen Gesetze der Thermodynamik bargen für ihn eine besondere Faszination, die sich auf das Gefühl stützte, sie besäßen jenen »absoluten« Charakter, den jedes Naturgesetz seiner Meinung nach aufweisen sollte. Er hegte tiefes Mißtrauen gegenüber Boltzmanns statistischer Deutung, weil sie sich auf Wahrscheinlichkeit gründet und deshalb von der Darlegung der Wahrheit in ihrer absoluten Form abzulenken schien. Während Planck selbst Boltzmann nie direkt angriff, ermutigte er wahrscheinlich Zermelo, einen seiner Schüler, zur Veröffent-lichung einer Arbeit, die die von Boltzmann auf die Thermodynamik

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angewandten statistischen Methoden scharf kritisierte. Natürlich hatte Boltzmann recht. Zermelo und Planck hatten die Bedeutung von Boltzmanns Vorgehen völlig verkannt. In seiner Antwort, in der er seine statistische Methode verteidigte, sagte Boltzmann einfach, daß Zermelo womöglich die Würfel für gefälscht halten würde, wenn er nach 1000 Würfen noch keine Sechs bekommen hätte, da die Wahrscheinlichkeit für ein solches Ereignis nicht Null ist. Plancks äußere Erscheinung unterstrich seine strenge Geisteshaltung. Sein schwarzer Anzug, das gestärkte Hemd und die schwarze Fliege hätten ihm das Aussehen eines typischen preußischen Staatsdieners gegeben, wären nicht die durchdringenden Augen unter der mächtigen Kuppel seines Schädels gewesen.

Das Problem, dem Planck sich zuwandte, hatte bereits eine Anzahl ausgezeichneter Physiker zur Resignation gezwungen, die sich alle wegen seiner grundlegenden Natur damit beschäftigt hatten. Jeder erwärmte Gegenstand strahlt elektromagnetische Energie aus. Die Strahlung erstreckt sich über ein Spektrum von Wellenlängen, deren einige wir als sichtbares Licht oder als Wärmeempfindung bemerken, während andere von unseren Instrumenten als Röntgenstrahlen, ultraviolette Strahlen oder Radiowellen registriert werden. Bei all diesen Strahlungen handelt es sich im Grunde um dieselbe Erscheinung; sie unterscheiden sich nur in der Wellenlänge oder, was auf dasselbe hinausläuft, in der Frequenz. Da sich alle diese Wellen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, ist die Frequenz einfach die Zahl der Wellen einer bestimmten Wellenlänge, die pro Sekunde ausgesandt werden. Dementsprechend ist die Frequenz, oft auch Wellenzahl genannt, für eine lange Welle klein und für eine kurze groß, da weniger lange Wellen auf die vom Licht in einer Sekunde zurückgelegte Strecke passen als kurze.

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21 Die Untersuchung der Strahlungskurven führte zu Plancks Quantentheorie.

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Erstaunlicherweise hängt diese Strahlung, die von den Experimentatoren des 19. Jahrhunderts entdeckt wurde, überhaupt nicht von der Art des strahlenden Gegenstands ab. Ob es ein Kupferblock, ein Stück Kohle oder auch eine Gaswolke ist, die Gesamtmenge der ausgesandten Straten, wie auch die Verteilung der Energie auf die verschiedenen Frequenzen, hängt nur von der Temperatur und von nichts anderem ab. Das läßt keinen Zweifel daran, daß hier ein ganz fundamentales Prinzip am Werk sein muß, und man sollte vermuten, daß es sich aus der Art ablesen läßt, in der die entsprechenden physikalischen Größen miteinander verknüpft sind. Diese Größen sind die absolute Temperatur, die Energie und die Frequenz. Sorgfältige Messungen hatten eine Reihe von Glockenkurven ergeben, die die ausgesandte Energie als eine Funktion der Frequenz bei verschiedenen Temperaturen darstellen. Alle diese Kurven haben eine ähnliche, wenn auch nicht dieselbe Gestalt (Abb. 21), und die Fläche unter jeder Kurve gibt die bei der entsprechenden Temperatur ausgestrahlte Gesamtenergie an. Ein weiterer wichtiger Punkt, der für uns von besonderem Interesse sein wird, ist der, daß bei Temperaturerniedrigung nicht nur die Gesamtenergie abnimmt, sondern zusätzlich die Energie mehr und mehr in den niedrigen Frequenzen ausgestrahlt wird. Diese Erscheinung ist uns in der Tat ganz vertraut; wir alle wissen, daß die Farbe eines sich abkühlenden Feuerhakens sich allmählich von Orange in Rot verwandelt, d. h. von höheren zu niederen Frequenzen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte man einige Teillösungen des Problems gefunden, aber eine Gleichung, die alle drei Größen, Temperatur, Energie und Frequenz, miteinander verknüpfte und zu den experimentellen Ergebnissen passende Lösungen besaß, stand noch aus. Als immer mehr experimentelle Ergebnisse anfielen, verschlechterte sich die Überein-stimmung mit den existierenden Formeln, anstatt sich zu verbessern; und besonders beunruhigend war eine Abweichung vom Äquipartitionsprinzip. Während andere ihre Theorien auf Betrachtungen der Energie stützten, versuchte Planck, der sich dem Problem vom Standpunkt der Thermodynamik her näherte, die Strahlung mit der Entropie in

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Zusammenhang zu bringen. Er kam sofort zu ermutigenden Ergebnissen, aber seine Kurve paßte immer noch nicht sehr gut. Das wurde schlimmer, als den Experimentatoren Rubens und Hagen in Berlin Messungen im Infrarotbereich niedriger Frequenzen glückten, die bis dahin nicht hatten untersucht werden können. In diesem Stadium erkannte Planck die Bedeutung der statistischen Methode Boltzmanns, die sich als Schlüssel zur Lösung erwies. Als er diesen Schritt getan hatte, konnte er eine Gleichung anschreiben, deren Lösungen über den ganzen Temperatur- und Wellenlängenbereich ausgezeichnet zu den Ergebnissen paßten.

Plancks Lösung war zwar so vollkommen, daß an ihrer Richtigkeit kein Zweifel bestehen konnte, besaß aber, wie es ihm schien, einen seltsamen Makel. Die Energie war in ihr nicht direkt mit der Frequenz verknüpft, sondern über einen Zahlenfaktor. Planck betrachtete diese seltsame Beziehung zunächst als eine mathematische Unschönheit, die durch geeignete Umschreibung seiner Formel beseitigt werden könnte. Was ihm selbstverständlich erschien, erwies sich jedoch als völlig unmöglich. Immer wenn er den Faktor aus seiner Gleichung hinausgeworfen hatte, war auch die Übereinstimmung mit den experimentellen Ergebnissen verschwunden. Ihm blieb nur der Schluß, daß dieser Faktor für die Interpretation der Strahlung wesentlich und von grundlegender Bedeutung sein mußte. Er mußte die Gleichung in der Form stehen lassen, in der sie sich zuerst aus seinen Berechnungen ergeben hatte. Sie enthielt die Energie e in Form der Frequenz, die gewöhnlich mit dem griechischen Buchstaben v bezeichnet wird, multipliziert mit einer Konstante, für die er das Symbol h einführte, also als e = h • v.

Der Sinn dieser Beziehung änderte das Aussehen der Physik von Grund auf. Sie besagt, daß die Energie, die bis dahin als ein strukturloses Fluidum angesehen worden war, atomistischer Natur ist. Wenn sie von einem heißen Körper ausgestrahlt wird, erscheint sie nicht als ein ununterbrochener Strom, der beliebig zerteilt werden kann, sondern als etwas, das in bestimmten Einheiten abgegeben wird, deren jede die Größe der mit h multiplizierten Frequenz besitzt. Aus Plancks Strahlungsformel folgt, daß Energie immer in bestimmten und unteilbaren Paketen, den

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sogenannten Quanten, abgegeben oder aufgenommen wird. Die Größe dieser Quanten hängt von der Frequenz der Strahlung ab; sie sind groß für hohe Frequenzen, d. h. für kurze Wellenlängen, klein für niedere Frequenzen.

Die gequantelte Struktur der Energie ist deshalb nicht früher erkannt worden, weil die Konstante h, ausgedrückt in makroskopischen Einheiten, sehr klein ist. Sie hat die Form einer mit der Zeit multiplizierten Energie. Ihr Wert ist von der Größenordnung 10-34 Kalorien mal Sekunden. Das bedeutet, daß eine bei Zimmertemperatur freigesetzte Kalorie aus mehr als Millionen mal Millionen mal Millionen Quanten besteht. Diese Struktur der Energie ist so feinkörnig, daß die einzelnen Quanten auch von unseren empfindlichsten Meßinstrumenten für Wärmemengen nicht registriert werden. Die einzelnen Quanten sind zwar bei makroskopischen Beobachtungen unsichtbar und nicht so wichtig, jedoch von größter Bedeutung, wenn wir die von einem einzelnen Atom aufgenommene oder abgegebene Energie betrachten.

Bei unserer Erörterung der spezifischen Wärme eines festen Körpers interpretierten wir das Gesetz von Dulong und Petit mit Hilfe der Schwingung eines einzelnen Atoms im Kristallgitter. In diesem Zusammenhang besagt das Äquipartitionsprinzip, daß die Energie auf alle Freiheitsgrade in der Substanz gleichmäßig verteilt wird. Das ist jedoch nur richtig unter der Annahme der klassischen Physik, daß die Energie beliebig fein unterteilt werden kann. Offenbar sieht das ganz anders aus, wenn Energie nur in Form unteilbarer Quanten verfügbar ist. Hier taucht nun Einstein in unserer Geschichte auf.

Die Quantentheorie war ein Sieg, den Plancks ungeheure intellektuelle Aufrichtigkeit über seinen eigenen Glauben erfocht. Die beiden Schritte, die er zur Aufstellung seiner Strahlungsformel tun mußte, waren ihm gleichermaßen unangenehm. Zuerst mußte er die Richtigkeit der statistischen Methode Boltzmanns zugeben und damit die Bedeutung von Wahrscheinlichkeitsüberlegungen in der Physik hinnehmen, die seinem Verlangen nach absoluten Naturgesetzen zuwiderliefen. Dann mußte er die diskontinuierliche und atomistische Natur der Energie entdecken, obwohl

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er sogar dem atomistischen Aspekt der Materie immer sorgfältig ausgewichen war, da er ihn als weniger grundlegend angesehen hatte als die kontinuierlichen Größen der klassischen Thermodynamik. Der erzkonservative Exponent der Physik des 19. Jahrhunderts war zum Revolutionär wider Willen geworden, zu einem Erneuerer, der das stolze Gebäude der klassischen Physik zum Einsturz gebracht hatte. Man versteht daher, daß er über die wissenschaftliche Revolution, die auszurufen sein glänzender Intellekt ihn gezwungen hatte, wenig erfreut war. Tatsächlich geschah während der nächsten fünf Jahre nichts, und dann griff nicht Planck, sondern Einstein zur Quantentheorie.

In Einsteins Verstand scheinen die Energiequanten zum erstenmal mit Leben erfüllt worden zu sein. Er betrachtete sie als einzelne »Lichtpfeile« und benutzte sie für eine schöne und eindrucksvolle Erklärung des photoelektrischen Effekts. Einstein war damals in Bern, und Planck in Berlin nahm davon nicht Kenntnis. Zwei Jahre darauf veröffentlichte Einstein seine glänzende Erklärung der spezifischen Wärmen bei tiefer Temperatur, die sich auf die Quantentheorie stützte, und etwa zur selben Zeit seine erste Arbeit zur Relativitätstheorie. Planck begrüßte diese als einen der hervorragendsten Fortschritte der Physik, schwieg sich aber zu Einsteins erfolgreicher Demonstration der fundamentalen Bedeutung seiner eigenen Quantentheorie völlig aus. Man hat gesagt, Plancks Abneigung, die Quantentheorie zu fördern, sei der Tatsache zuzuschreiben, daß er ihre volle Bedeutung nicht erkannt habe. Niemand, der Plancks erste Arbeit gelesen hat, kann das glauben. Die Erklärung für sein seltsames Verhalten ist vielmehr in der kritischen Schärfe seines Verstands zu suchen, der nicht nur die Quantentheorie gegen seine eigenen Überzeugungen entwickelte, sondern sich auch der Unvollkommenheit dieser Theorie schmerzlich bewußt war. Er wußte besser als jeder andere, daß in der Quantenkonstante h eine tiefgreifende Bedeutung liegen muß, die zu entdecken ihm nicht gelungen war. Mehr als ein Vierteljahrhundert mußte vergehen, bis in jenem glorreichen Jahr 1927 die Wahrheit ans Licht kam. Während seines langen Lebens, in dem er manch tragischen persönlichen Verlust erlitt, brach die scheinbar festgefügte Welt der Physik und der menschlichen

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Werte, in der Planck aufgewachsen war, zusammen. Aber er erlebte dabei den Triumph seiner Idee.Wir erwähnten bereits das Problem, das Einstein als erster erkannt hat: die Unvereinbarkeit des Äquipartitionsprinzips mit der Energiequantelung. Wenn eine Substanz erwärmt wird, kann die Energie von den Atomen nur in Form bestimmter Quanten aufgenommen werden. Die Eigenart dieser Quanten liegt in ihrer Abhängigkeit von der Frequenz v, die ihre Größe bestimmt. Die Temperatur eines Kristallgitters wird durch die Energie gegeben, mit der die Atome in ihm schwingen, und eine Temperaturzunahme bedeutet eine Verstärkung der Schwingung. Wenn wir einem Pendel Energie zuführen, vergrößern wir seine Schwingungsweite, seine Amplitude. Ungeändert bleibt jedoch, wie Galilei an einem Kronleuchter im Dom zu Pisa beobachtet hatte, die für jede Schwingung benötigte Zeit, die Frequenz. Ähnlich ist die Schwingungs-frequenz der Atome im Gitter immer dieselbe, wie stark sie auch schwingen. Sie ist für alle Atome im Kristall gleich, variiert aber von Substanz zu Substanz. Sie ist größer für leichte Atome, besonders dann, wenn die Anziehungskräfte, die es im Gitter festhalten, stark sind.

Einstein benutzte dieses Modell eines Kristalls als einer großen Anzahl mit derselben charakteristischen Frequenz schwingender Atome und bemerkte, daß es eine große Ähnlichkeit mit der von Planck bei der Ableitung der Strahlungsformel benutzten mathematischen Formulierung aufweist. Auch dort waren Abweichungen vom Äquipartitionsprinzip aufgetreten, besonders wenn kleine Frequenzen vorherrschten, d. h. bei tiefen Temperaturen.

Einstein gründete seine Theorie der spezifischen Wärmen auf die Annahme, daß die charakteristische Schwingungsfrequenz der Atome, nennen wir sie v0, die Größe der von der Substanz aufnehmbaren Quanten bestimmt. Das heißt, jedes Atom kann durch Aufnahme von Energiepaketen der Größe 1 • hv0, 2 • hv0, 3 • hv0 usf. in stärkere Schwingung versetzt werden, kann aber nicht, sagen wir 2,5 • hv0 oder, und das ist von besonderer Bedeutung, kleinere Energiemengen als hv0 aufnehmen.

Bei genügend hohen Temperaturen schwingen alle Atome stark, jedes

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mit der Energie einiger hv0 und diese läßt sich ohne Schwierigkeit gleichmäßig auf alle Freiheitsgrade im Kristall verteilen. Das ändert sich jedoch bei tieferen Temperaturen, wenn die mittlere Energie pro Atom auf 1 • hv0 absinkt. Jetzt kann die Energie, die sich ja nicht weiter unterteilen läßt, nicht mehr gleichmäßig verteilt werden. Man kann berechnen, daß ein Kupferatom in seinem Gitter mit einer Frequenz v0 von etwa 6,5 • 1012 Schwingungen pro Sekunde schwingt. Die Größen, die wir miteinander vergleichen, sind das mit dieser Frequenz verbundene Energiequantum hv0 und die thermische (kinetische und potentielle) Energie kT pro Freiheitsgrad. Da k wie h eine universelle Konstante ist, hängt diese Energie nur von der absoluten Temperatur T ab. Solange diese, verglichen mit hv0, groß ist, läßt sie sich leicht auf alle Freiheitsgrade gleichmäßig verteilen, und das Gesetz von Dulong und Petit gilt. Obwohl die Energie gequantelt ist, bemerken wir dies nicht, weil die Struktur der Energiequantelung, die durch die Größe von hv0 gegeben ist, zu feinkörnig ist, um in dem großen kT wahrnehmbar zu sein.

Das gilt jedoch nicht mehr, wenn die Temperatur niedrig genug und kT von derselben Größe wie hv0 geworden ist, da jetzt auf einen Freiheitsgrad entweder das kleinste Energiequantum oder überhaupt keine Energie entfällt. Wenn wir diese Bedingung durch die Gleichung h • v0 = k • T ausdrücken, können wir als Temperatur, bei der dies eintritt, T = hv0/k (T = hv0 geteilt durch k) berechnen. Setzen wir für h, k und die Frequenz v0 in Kupfer die entsprechenden Werte ein (6,6 • 10-27 • 6,5 • 1012/ 1,38 • 10-16 erg/grad), dann erhalten wir für T den Wert 300° K. Zunächst scheint das zu bedeuten, daß der Kupferkristall unterhalb 300° K, also etwa bei Zimmertemperatur, überhaupt keine Energie mehr aufnehmen kann und seine spezifische Wärme plötzlich verschwinden muß. Die thermo-dynamischen Größen sind jedoch, wie Boltzmann aufgezeigt hat, immer statistischer Natur. Das bedeutet, daß, obwohl die Größe der Energie-quanten unverändert bleibt und nicht alle Freiheitsgrade eins erhalten können, doch immer eine endliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß einige Freiheitsgrade eins erhalten. Das ist wie in einer Lotterie mit einem Auto als Gewinn. Das Auto kann nicht unter die Losbesitzer aufgeteilt

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werden. Nur einer wird es gewinnen, aber alle haben dieselbe Chance, dieser eine zu sein. Die Chance eines Freiheitsgrads, ein Energiequantum hv0 zu bekommen, vermindert sich stetig mit abnehmendem kT, d. h. mit sinkender Temperatur. Je niedriger die Temperatur des Kupferkristalls ist, um so weniger Quanten kann es aufnehmen, d. h., um so kleiner ist die spezifische Wärme.

Diese Abweichung von Dulongs und Petits Gesetz, also das Absinken der spezifischen Wärme bei tiefen Temperaturen unter den Wert von 6 cal pro Grammatom und Grad, war von Weber und Dewar beobachtet worden. Dieses scheinbar unbegreifliche Phänomen wurde jetzt von Einstein aufgrund der Energiequantelung erklärt. Seine Theorie ging viel weiter, als nur eine qualitative Erklärung zu geben. Er berechnete mit Hilfe von Plancks Formel die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Freiheitsgrad bei einer bestimmten Temperatur ein Energiequantum aufnimmt, und konnte eine Kurve auftragen, die die spezifische Wärme als Funktion der Temperatur angibt. Wie schon erwähnt, ist der feste Zustand von komplizierter Struktur, und Einsteins Modell war zwangsläufig vereinfacht. Zusätzlich zur Schwingung einzelner Atome im Gitter können ganze Atomgruppen gemeinsam schwingen, die beliebig groß sein können. Daher können statt nur einer charakteristischen Frequenz noch kleinere Schwingungsfrequen-zen im Gitter auftreten und kleinere Energiequanten aufnehmen. Eine etwas bessere Schätzung wurde sieben Jahre später von Debye angegeben, aber selbst diese ist noch zu einfach, als daß sie für alle Temperaturen gelten könnte.

Da wir uns nur für das Prinzip der Quantelung der spezifischen Wärme interessieren, können wir diese Verfeinerungen den Experten auf diesem Gebiet überlassen. Sie fügen dem grundlegenden Fortschritt der Theorie Einsteins, die für unsere Zwecke völlig adäquat ist, nichts wesentlich Neues hinzu. Die Formel T – hv0/k führt von der Frequenz v0, die für eine bestimmte Substanz charakteristisch ist, zu einer charakteristischen Temperatur, die eine besondere Bedeutung für diese Substanz hat. Bei dieser Temperatur nämlich wird die thermische Energie pro Freiheitsgrad der Größe eines Energiequantums gleich. Unterhalb dieser Temperatur

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nehmen die Wahrscheinlichkeit, daß die Freiheitsgrade jeweils ein Quantum aufnehmen, und damit auch die spezifische Wärme rasch ab. Für Kupfer mit einer Frequenz von 6,5 mal 1012 Schwingungen pro Sekunde erhalten wir eine charakteristische Temperatur von 300° K. Wie bereits erwähnt, hängt die Frequenz von der Masse des Atoms und der Stärke der Anziehungskräfte ab, die es auf seinem Platz festhalten. Das Kohlenstoffatom ist fünfmal leichter als das des Kupfers und schwingt daher viel schneller. Die charakteristische Temperatur liegt also viel höher. Die beiden Kohlenstoffmodifikationen, Graphit und Diamant, unterschei-den sich in ihrer Gitterstruktur und daher in der Stärke der Anziehungs-kräfte. Wie die große Härte des Diamants andeutet, sind sie in ihm stärker als im Graphit. Das bedeutet, daß die Frequenz der Gitterschwingungen im Diamanten höher ist; und die charakteristischen Temperaturen von Diamant und Graphit sind 1850° K bzw. 1500° K.

Jetzt können wir die seltsamen Ergebnisse verstehen, die Weber für die spezifische Wärme dieser beiden Substanzen erhielt. Der Diamant gehorcht dem Gesetz von Dulong und Petit erst bei sehr hohen Temperaturen, nämlich bei etwa 2000° K. Bei Zimmertemperatur ist die Wahrschein-lichkeit für einen Freiheitsgrad, das erforderliche große Energiequantum aufzunehmen, bereits ziemlich klein, und die spezifische Wärme beträgt tatsächlich nur ein Viertel des klassischen Werts von Dulong und Petit. Sie ist schon bei Zimmertemperatur streng gequantelt. Es ist ebenfalls klar, warum Weber beim Diamanten größere Abweichungen feststellte als beim Graphit. Andererseits liegen die charakteristischen Temperaturen der meisten anderen Substanzen unterhalb von Zimmertemperatur, und ihre spezifischen Wärmen sind bei Zimmertemperatur noch klassisch, eine Tatsache, die Dulong und Petit zur Formulierung ihres Gesetzes führte. Ein entgegengesetztes Extrem zum Diamanten ist Blei, das ein sehr schweres Atom besitzt und in dem, wie seine Weichheit andeutet, die Anziehungskräfte ziemlich klein sind. Es hat eine charakteristische Temperatur von nur 95° K.

Während die charakteristischen Temperaturen, bei denen die spezifische Wärme merklich unter den Wert von Dulong und Petit zu sinken beginnt,

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für die einzelnen Substanzen sehr verschieden sind, ist nach Einsteins Theorie zu vermuten, daß die Art, in der dieses Absinken erfolgt, für sie alle etwa dieselbe ist. Das Theorem von Nernst hatte die Aufmerksamkeit auf die spezifischen Wärmen bei tiefer Temperatur gelenkt, und Einstein hatte eine allgemeingültige Formel für ihr Absinken vorausgesagt; jetzt waren die Experimentatoren an der Reihe. Es ist interessant zu sehen, wie nahe die entscheidenden Daten beieinanderliegen. Nernst verkündete den dritten Hauptsatz 1906, 1907 veröffentlichte Einstein seine Theorie der spezifischen Wärmen, und 1908 verflüssigte Kamerlingh Onnes in seinem berühmten Leidener Laboratorium Helium.

Nernsts dynamische Persönlichkeit führte den experimentellen Angriff an. Er war gerade Professor für physikalische Chemie in Berlin geworden und machte sich sofort daran, spezifische Wärmen bei tiefen Temperaturen zu bestimmen. Mit großem theoretischem Verständnis, das an Intuition grenzte, verband er einen ausgeprägten Spürsinn für elegante Experimentiertechnik. Er war ein Mann mit wenig Geduld, der immer rasch zum Ziel kommen wollte. Einfache Experimente hatten deshalb besonderen Reiz für ihn. Für Perfektionismus hatte er keine Zeit und behauptete, ein Effekt sei der Untersuchung nicht wert, wenn er eine größere Genauigkeit als zehn Prozent erfordere. Er war sich darüber klar, daß dies eine Übertreibung war, aber sie kennzeichnet seine Einstellung sehr gut. Die Methoden, mit denen man spezifische Wärmen bei Zimmertemperatur bestimmte, waren für die Tieftemperaturarbeit völlig untauglich, und Nernst löste das Problem durch die Erfindung des Vakuumkalorimeters, einer einfachen Vorrichtung, die auf sehr geniale Weise von den bei tiefen Temperaturen herrschenden physikalischen Bedingungen Gebrauch machte. Wie perfekt seine Konstruktion war, sieht man am besten an der Tatsache, daß sie noch heute, über ein halbes Jahrhundert nach ihrer Erfindung, in Laboratorien überall auf der Welt und im wesentlichen in ihrer ursprünglichen Form benutzt wird.

Nernst reiste nach Leiden, um Kamerlingh Onnes' berühmtes Laboratorium zu besichtigen. Er war nicht nur von dessen einzigartigen Möglichkeiten beeindruckt, sondern noch mehr von der komplizierten

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Ausrüstung, und beschloß sofort, sich nicht auf eine derartig ausgefeilte Experimentiertechnik einzulassen. Nernst wollte nicht möglichst tiefe Temperaturen erreichen, sondern spezifische Wärmen messen. Es wäre ganz schön, auf 1° K zu kommen, aber er war der Ansicht, es sei so wenig über das Verhalten der Materie bei, sagen wir, 20° K bekannt, daß flüssiger Wasserstoff für ihn ausreichen würde. Travers hatte bei der Beschreibung seines Wasserstoffverflüssigers darauf hingewiesen, wie billig und einfach er war. Diese Bemerkungen waren natürlich nur gemacht worden, um Dewar zu irritieren, aber sie erweckten das Interesse von Nernst. Das war genau das, was er suchte, und mit seinem treuen Mechaniker Hönow begann er den Bau eines Wasserstoffverflüssigers nach seinen eigenen Plänen. Dieser war wieder in Details genial konstruiert und hätte auch gut funktioniert, wenn Hilfsgeräten wie dem Kompressor und den Gasreinigern etwas mehr Aufmerksamkeit geschenkt worden wäre. Aber Nernst konnte sich nicht damit abgeben, seine Ausrüstung bis ins letzte auszutüfteln, und die Wasserstoffverflüssigung war in Berlin nicht wie in Leiden eine Routinesache, sondern eine Kunst, in der es nur der listenreiche und erfahrene Hönow zu einem gewissen Erfolg brachte. Selbst zwanzig Jahre später, als ich für meine Arbeit auf ihre Dienste angewiesen war, hatten Hönow und der Verflüssiger einander noch nicht gut genug kennengelernt, um die Wasserstoffverflüssigung ganz ohne Aufregung zu bewerkstelligen.

Nernst versammelte in seinem Laboratorium bald eine Schar begeisterter Schüler, die er Physik und harte Arbeit lehrte. Sie verfluchten und bewunderten ihn und erinnerten sich später stolz der Anleitung und Inspiration, die er ihnen gegeben hatte. Unter ihnen waren zwei junge Engländer: F. A. Lindemann, der später als Viscount Cherwell ein enger Freund und Berater Winston Churchills wurde, und sein Bruder Charles. Besonders F. A. Lindemann übernahm eine führende Rolle bei der Untersuchung der spezifischen Wärmen und ihrer theoretischen Deutung. Die Brüder spielten ausgezeichnet Tennis und widmeten diesem Sport einen gewissen Teil ihrer Zeit, den sie durch Nachtarbeit im Laboratorium wieder aufholten. Dennoch konnte Nernst sein Mißfallen nicht ganz

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unterdrücken und offenbarte bemerkenswerte Geringschätzung des Wettkampfsports, als er sagte: »Zwei erwachsene Männer jagen einem Ball nach! Sie sind so reich, warum kaufen Sie sich nicht jeder einen?« Nernst selbst schwärmte für die Natur und die Jagd, und als er das Patent seiner Lampe für eine beträchtliche Summe glücklich verkauft hatte – es erwies sich bald als kommerziell unbrauchbar –, kaufte er ein Gut. Seine Ansichten über die Landwirtschaft sind interessant und ungewöhnlich. Einmal ging er zu Weihnachten in den Kuhstall und fand ihn überraschend warm. Er schloß, daß diese Wärme durch den natürlichen Stoffwechsel der Kühe erzeugt wurde, verkaufte die Kühe und ließ statt dessen Teiche anlegen, in denen er Karpfen züchtete. Er argumentierte, wenn für sein Geld Fleisch produziert würde, sollte das ohne eine haarsträubend große Zunahme der Entropie geschehen.

Nernst war ein Mensch voller Leben, der überraschende Ideen nur so hervorsprudelte, und seine Persönlichkeit prägte sich allen seinen Mitarbeitern auf. Die Menge der Arbeiten, die in jenen acht Jahren nach 1906 aus seinem Laboratorium kamen, war verblüffend. Als die Forschung beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs unterbrochen werden mußte, hatte sich sein Theorem aus einer seltsamen neuen Hypothese in ein allgemein anerkanntes und gut bestätigtes Gesetz der Thermodynamik verwandelt. Die Voraussagen, die der dritte Hauptsatz erlaubte, hatten das Aussehen der chemischen Technologie verändert, und, was für unsere Geschichte wichtiger ist, die Physik der tiefen Temperaturen hatte ihren wahren Sinn bekommen. Der Weg zu den neuen Vorstellungen war durch die Erforschung der spezifischen Wärmen geebnet worden.

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22 Der Abfall der spezifischen Wärmen bei tiefen Temperaturen wurde von Einstein aufgrund der Quantentheorie erklärt.

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Als die Messungen mit dem Vakuumkalorimeter die ersten Ergebnisse lieferten, wurde offenbar, daß Einstein recht hatte. Es war ein dreifacher Triumph: für seine Theorie, für Plancks Quantenhypothese und für Nernsts Theorem. Als eine Substanz nach der anderen untersucht wurde, zeichnete sich das allgemeine Schema genauso ab, wie es vorausgesagt worden war. Mit fallender Temperatur sanken die spezifischen Wärmen früher oder später unter den Wert des Gesetzes von Dulong und Petit und erreichten bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt allmählich verschwindend kleine Werte. Mehr noch, bei allen Substanzen erfolgte dieses Absinken in derselben Weise: Die Kurven neigten sich zunächst allmählich, fielen dann steil ab und gingen schließlich bei den tiefsten Temperaturen wieder in einen weniger steilen Abfall über. Diese Kurven der spezifischen, von der Temperatur abhängigen Wärmen besaßen mit erstaunlicher Genauigkeit die Form, die Einstein und Debye vorausgesagt hatten. Die für die verschiedenen Substanzen charakteristischen Kurven unterscheiden sich erheblich in der Temperatur, bei der der Abfall beginnt, da diese von der charakteristischen Frequenz v0, abhängt, mit der das Atom im Gitter schwingt.

Eine Reihe solcher Kurven für drei chemische Elemente zeigt die Abb. 22, aus der man ersieht, daß alle dieselbe form haben. Noch besser können diese Formen verglichen werden, wenn man die spezifischen Wärmen der verschiedenen Substanzen nicht gegen die absolute Temperatur aufträgt, sondern gegen die durch die jeweilige charakteristische Frequenz dividierte Temperatur. Dieselben spezifischen Wärmen wie in Abb. 22 sind in Abb. 23a aufgetragen, nur diesmal gegen T/v0 statt T als Abszisse. Der konstante Faktor k/h ist nur aus Dimensionsgründen nötig. Jetzt liegen die Werte für alle drei Elemente auf genau derselben Kurve. Sie verschwinden bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt und erreichen allmählich den »klassischen« Wert von Dulong und Petit, wenn kT/hv0 größer als 1 wird.

Die Fläche unterhalb der Kurve der spezifischen Wärme in Abb. 23a, d. h. die spezifische Wärme multipliziert mit der Temperatur, stellt die thermische Energie dar. Die Fläche zwischen dieser Kurve und der »klassischen« entspricht der Nullpunktsenergie. Man kann dasselbe

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Ergebnis auch noch auf eine andere Weise betrachten, die die besondere Bedeutung des dritten Hauptsatzes für das Tieftemperaturgebiet deutlicher werden läßt. In Abb. 23b haben wir nicht die spezifische Wärme, sondern die Energie gegen die Temperatur aufgetragen. Die ausgezogene Kurve gibt die gesamte Energie der Substanz an. Sie beginnt am absoluten Nullpunkt nicht bei Null, sondern bei einem endlichen Wert, nämlich der Nullpunktsenergie. Die Energie nimmt mit steigender Temperatur zunächst sehr langsam zu, da die spezifische Wärme in diesem Gebiet klein ist. Dann wird der Anstieg steiler, wenn die spezifische Wärme in der Gegend von (T/v0) • (k/h) = 1 rasch ansteigt, und schließlich wächst die Energie proportional zur absoluten Temperatur in einer geraden Linie. Dies ist der klassische Bereich des Gesetzes von Dulong und Petit, wo die spezifische Wärme 6 cal pro Grammatom und Grad beträgt und jeder Freiheitsgrad seinen Anteil ½ kT erhalten kann. Das erwähnte Verhalten der spezifischen Wärme kann leicht mit dem der Energie verglichen werden, da wir beide in derselben Weise gegen (T/v0) • (k/h) aufgetragen haben.

Das Verhalten der Energie, wie man es in den Tagen der klassischen Thermodynamik vor Nernsts Theorem erwartet haben würde, zeigt die punktierte Linie. Sie ist einfach eine Verlängerung der geraden Linie bis zum absoluten Nullpunkt hinab und geht, wie Amontons erwartet hatte, am absoluten Nullpunkt durch Null, d. h. läßt keine Nullpunktsenergie zu. Durch eine rote Kurve ist die thermische Energie angegeben, also jene Wärmemenge, die man zur Steigerung der Temperatur einer Substanz aufwenden muß. Sie ist für uns deshalb wichtig, weil sie jene Größe in unserem Energiediagramm ist, die man tatsächlich mißt. Die ausgezogene Kurve der Gesamtenergie erhält man dann, indem man zu der thermischen Energie die Nullpunktsenergie addiert.

Bis jetzt wurde der Begriff »tiefe Temperaturen« von uns etwas lässig zur Beschreibung eines Gebietes benutzt, das unterhalb des uns vertrauten Temperaturgebiets liegt und in dem wir unsere meisten Beobachtungen durchführen.

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23 Die Energiequantelung führt zu Abweichungen von den klassischen Begriffen der spezifischen Wärme (a) und der Energie (b), da sich aus ihr eine Restenergie ergibt, die von der Substanz auch am absoluten Nullpunkt noch zurückgehalten wird.

Nichts hat angedeutet, daß diesen tiefen Temperaturen irgendeine

besondere Bedeutung zukäme, außer daß eben alles kälter ist, a priori gibt es keinen Grund zu der Erwartung, daß sich das Aussehen der Materie nur deswegen grundlegend ändern sollte, weil sie abgekühlt wurde. Hier greift nun der dritte Hauptsatz der Thermodynamik entscheidend ein. Das Energiediagramm zeigt, daß bei hohen Temperaturen die Summe aus thermischer und Nullpunktsenergie die Gesamtenergie der Substanz ist.

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Natürlich muß die Existenz der Nullpunktsenergie sich im Verhalten der Materie bemerkbar machen, da sie der Substanz nicht entzogen werden und daher am Energieaustausch nicht teilnehmen kann. Andererseits ist ihr Einfluß bei genügend hohen Temperaturen nicht feststellbar, da die thermische Energie ihren klassischen Wert erreicht hat.

Es muß jedoch eine tiefgreifende Wandlung eintreten, wenn wir in den Bereich kommen, in dem die thermische Energie auf den Wert der Nullpunktsenergie oder noch darunter abgesunken ist. Unser Temperaturdiagramm zeigt deutlich, daß die neuen nichtklassischen Aspekte im Verhalten der Materie etwa in der Gegend der halben »charakteristischen« Temperaturen, d. h. bei ½ (T/v0) • (k/h) wichtig werden. So läßt sich mit Hilfe des Theorems von Nernst der Bereich der tiefen Temperaturen sehr gut als jener definieren, in dem die Nullpunktsenergie im Energieinhalt der Substanz überwiegt. Tatsächlich unterscheidet sich das Verhalten der Materie bei tiefen Temperaturen, wie Einstein in seiner genialen Deutung der spezifischen Wärmen zeigte, gründlich von dem bei normalen Temperaturen, da die Energiequantelung sich bemerkbar macht.

Das Quantenprinzip hatte sich in Plancks Strahlungsformel zu indirekt gezeigt, als daß es sofort den fundamentalen Bruch mit der klassischen Physik enthüllt hätte. Planck selbst, der sich der Folgerungen daraus bewußt war, hatte die neue Vorstellung nicht allzu laut verkündet, teilweise deshalb, weil er den Bruch ungern sah, hauptsächlich aber, weil er fühlte, daß seine Arbeit unvollständig geblieben war. Außerdem hatte der kleine Wert von h, durch den die Energie eine so feinkörnige Struktur erhält, vermuten lassen, daß die Quantelung sich auf makroskopische Erscheinungen nicht auswirken würde. Nernst und Einstein hatten die Lage geändert. Messungen makroskopischer und so konventioneller Größen wie der spezifischen Wärme hatten sich jetzt als der Quantelung unterworfen erwiesen. Planck war einer der ersten, die dies bemerkten, und er begrüßte den dritten Hauptsatz der Thermodynamik als die wichtigste Manifestation des Quantenprinzips.

Tieftemperaturforschung war jetzt nicht nur dank der experimentellen

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Pionierarbeit von Cailletet, Dewar und Kamerlingh Onnes zu einem neuen Fachgebiet der Physik geworden, sondern, in einem viel tieferen Sinn, ein Fachgebiet von ganz besonderer Eigenart, gekennzeichnet durch Naturgesetze und Erscheinungen, die sich von jenen bei gewöhnlichen Temperaturen unterscheiden. Dieser Unterschied ist grundlegend und besteht im Eindringen des Grundsatzes der Energiequantelung in unsere makroskopische Welt. Die beiden hervorragenden Merkmale der Tieftemperaturwelt, das Verschwinden der Entropie und das Überwiegen der Nullpunktsenergie, sind die unmittelbaren Folgen.

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7 | Unbestimmtheit

Das Theorem von Nernst hatte der Physik der tiefen Temperaturen eine besondere Bedeutung gegeben, wobei das Verschwinden der Entropie und die Nullpunktsenergie die herausragenden Merkmale waren. Während Leute wie Planck von Anfang an die Bedeutung des Entropiebegriffs völlig einsahen, zogen es die meisten Physiker damals wie heute vor, mit Energiebegriffen zu operieren. Ihnen erschien die Existenz einer Energie am absoluten Nullpunkt, die von der Substanz zurückbehalten würde, die revolutionärste Abweichung vom klassischen Denken. Ohne Erfolg versuchten sie sich vorzustellen, in welcher Form diese Energie, die nicht den thermischen Schwingungen der Atome zugeordnet werden konnte, sich manifestieren könnte. Lange blieb ihr Ursprung rätselhaft.

Planck, der den dritten Hauptsatz der Thermodynamik die unmittelbare Folge des Quantenprinzips genannt hatte, wurde zu einer Vermutung inspiriert, die sich schließlich als richtig erwies. Sie ging aus von dem Weg, auf dem er die Strahlungsformel als die Energieverteilung eines Systems von Oszillatoren abgeleitet hatte. Er hatte diesen Oszillatoren keine festumrissene physikalische Bedeutung gegeben, sondern sie nur als Quelle jener elektromagnetischen Strahlungen angesehen, auf die er die Formel anwandte. Die Quantenvorstellung ging dann aus der Tatsache hervor, daß die Formel erst dann stimmte, wenn man Änderungen der Energie dieser Oszillatoren nur in Schritten ganzer Vielfacher von hv gestattete. Das wichtigste daran war, daß es ganze Vielfache und nicht irgendwelche gebrochene sein mußten. Planck vermutete, daß die Nullpunktsenergie eines Oszillators den Wert ½ h • v haben sollte. Diese Energie, die kein ganzes Vielfaches ist, kann vom Oszillator nicht abgegeben, sondern muß zurückbehalten werden, und deshalb ist auch im tiefsten Energiezustand noch eine endliche Energie vorhanden.

Plancks Vermutung paßte gut zu Einsteins Theorie der spezifischen Wärmen und erfuhr eine noch stärkere Unterstützung, als Bohr die

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Quantentheorie auf sein Atommodell anwandte. Dort sind die Elektronen nie in Ruhe, auch wenn das Atom in seinem tiefsten Energiezustand, dem »Grundzustand«, ist. Selbst wenn man Plancks Vermutung als richtig ansieht, weiß man noch lange nicht, warum sie richtig ist. Eine Antwort auf diese Frage war nicht zu erwarten, bevor man der Quantenkonstante selbst eine physikalische Bedeutung geben konnte. Der Erfolg der Strahlungsformel und der von Einsteins Theorie der spezifischen Wärmen, wie auch viele Forschungsergebnisse, die sich in den folgenden Jahren anhäuften, zeigten, daß die Quantenkonstante eine sehr tiefgreifende Bedeutung in unserer physikalischen Welt haben muß. Im Augenblick war sie jedoch nicht mehr als ein Zahlenfaktor, den Planck benutzen mußte, um seine Formel den experimentellen Daten anzupassen.

Der große Erfolg der Quantentheorie, der in Einsteins und Bohrs Arbeit zum Ausdruck kam, verdeckte zunächst die Leere der Quantenvorstellung als solcher. Nur Planck selbst blieb zurückhaltend und vorsichtig, da er sich der Unvollkommenheit seiner großen Theorie von Anfang an bewußt war. Seiner Ansicht nach führten zwei Wege aus dem Dilemma: Entweder war die Quantenvorstellung eine mathematische Unschönheit, oder sie mußte einen tiefen physikalischen Sinn haben. Lange gab er der ersten Alternative den Vorzug. Seine feste Überzeugung, die Naturgesetze müßten »absolut« sein, erforderte Beziehungen zwischen physikalischen Größen, die von jeder Zweideutigkeit frei wären. Daher zog er die thermodynamische der kinetischen Beschreibung vor, der er wegen der Einführung atomistischer Begriffe mißtraute. Boltzmanns statistische Methode gefiel ihm ebenfalls nicht. Seiner Ansicht nach beraubte sie durch ihre Wahrscheinlichkeitsinterpretation die thermodynamischen Größen ihrer einfachen Erhabenheit. Auf seiner Suche nach der richtigen Strahlungsformel war es für ihn ein schwerer Schlag gewesen, zuerst feststellen zu müssen, daß nur die statistische Methode zur Wahrheit führen würde, und dann selbst atomistische Begriffe in die Thermodynamik einführen zu müssen. Noch bevor sein erster Artikel über die Strahlungsformel veröffentlicht war, hatte Planck, wenn auch vergeblich, versucht, die Quantenvorstellung aus seiner Arbeit zu

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beseitigen. Der Hauptgrund dafür, daß er seine Theorie während der auf diese erste Veröffentlichung folgenden Jahre nicht verteidigen konnte und Einsteins Werk ignorierte, lag in der Hoffnung, den Weg zur Kontinuität der klassischen Physik zurückzufinden.

Als die Jahre vergingen und die Quantenvorstellung Erfolg nach Erfolg erzielte, begann diese Hoffnung zu schwinden. Es blieb jetzt nichts anderes übrig, als ihre physikalische Realität hinzunehmen. Nun galt es jedoch noch, ihren tieferen Sinn zu entdecken. Hier tat wieder Einstein den ersten Schritt, wobei allerdings fraglich ist, ob er die weitreichenden Konsequenzen in diesem frühen Stadium überblickte. Ein Jahr, bevor er seine Arbeit über die spezifischen Wärmen schrieb, hatte er eine Anwendung der Quantentheorie auf den photoelektrischen Effekt veröffentlicht. Darin erklärte er die Freisetzung der Elektronen aus der Metalloberfläche, auf die das Licht traf, als Wirkung einzelner Quanten. Die Vorstellung solcher »Lichtpfeile«, wie er sie zunächst nannte, führte zu einer Schwierigkeit, mit der die klassische Physik nicht fertig werden konnte. Wenn solche Pfeile existierten – und Einsteins Theorie lieferte wiederum eine vollkommene Erklärung aller Beobachtungen –, dann müßten sie lokalisierbar sein. Eine solche Teilchennatur des Lichts war von Newton vermutet worden. Aber diese Vermutung hatte man schon lange zugunsten der Wellentheorie verworfen. Angesichts der wohlbekannten Interferenzexperimente von Young und Fresnel schien die Interpretation des Lichts als Wellenbewegung unwiderlegbar.

Es erhob sich die Frage, wie der Wellenaspekt des Lichts mit der aus Einsteins Theorie folgenden Teilchennatur zu vereinbaren sei. Einstein hatte mit Hilfe der Quantentheorie den photoelektrischen Effekt glänzend erklärt, aber gleichzeitig die Aufmerksamkeit auf einen Dualismus von Welle und Teilchen gelenkt, der über zwanzig Jahre lang die Physik verwirren sollte. Waren die gequantelten Lichtpfeile, die Photonen, wie sie bald genannt wurden, Teilchen, oder waren sie Wellen? Für dieses Rätsel schien es keine Lösung zu geben, und Sir William Bragg charakterisierte die Situation sehr gut, wenn er sagte, die Wellentheorie des Lichts würde montags, mittwochs und freitags gelehrt und die Teilchentheorie dienstags,

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donnerstags und samstags. Diese Lage verschlimmerte sich 1924 noch weiter, als der junge Franzose Louis de Broglie in seiner Doktorarbeit die Vermutung äußerte, daß nicht nur Lichtwellen Teilchenaspekte, sondern ebenso Teilchen wie das Elektron eine Wellennatur besitzen könnten. Bezeichnenderweise entstammte diese revolutionäre Vorstellung einem frischen jungen Gehirn, das von klassisch starren Ideen noch unbelastet war. De Broglie stützte sich auf nichts weiter als den Verdacht, daß die Natur Symmetrien bevorzuge, und sagte auf dieser Basis die Wellenlänge eines sich mit bestimmter Geschwindigkeit bewegenden Elektrons voraus. Tatsächlich wurden diese De-Broglie-Wellen bald darauf von den Experimentatoren entdeckt, die nachwiesen, daß sie zu ähnlichen Interferenzerscheinungen führen wie die Lichtwellen. 24 Wegen der Unbestimmtheit ist es unmöglich, ein Teilchen mit größerer als der durch die Plancksche Konstante gegebenen Genauigkeit zu lokalisieren. Die De-Broglie-Welle des Teilchens bezeichnet die Wahrscheinlichkeit dafür, daß man es in einem gegebenen Raumbereich antrifft, über den es gemäß der Unbestimmtheitsrelation »ausgeschmiert« werden kann.

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Eine Zeitlang schien es, als sei die Physik verrückt und alles möglich geworden. Die Geschichte jener Jahre ist eine Geschichte für sich, die wir, so spannend sie auch ist, hier nicht im einzelnen verfolgen können. Die Namen derer, die schließlich das Problem lösten, bilden eine Liste von Nobelpreisträgern. Wir können nicht mehr tun, als einige Höhepunkte erwähnen. Im Frühsommer 1925 hatte der junge deutsche Theoretiker Werner Heisenberg Heuschnupfen und fuhr nach Helgoland, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Er kam mit einer bemerkenswerten Folgerung zurück, die den ersten Schritt ermöglichte: »Nur solche Größen, die prinzipiell beobachtet werden können, dürfen in den Überlegungen verwandt werden.« Das hatte eine ernüchternde Wirkung auf die Neigung, Atome oder Elektronen in Analogie zu unseren normalen Billardkugeln zu betrachten. Wir können den Zusammenstoß zweier Elektronen nicht auf dieselbe Weise beobachten, wie ein Ereignis auf dem Billardtisch, und deshalb kann der Verwendung einer analogen Beschreibung keine physikalische Realität beigemessen werden.

Ein Jahr später transformierte der Österreicher Erwin Schrödinger Bohrs Atommodell, das ein gequanteltes Sonnensystem en miniature darstellt, in das natürliche Beugungsspektrum der De-Broglie-Welle des Elektrons um den Kern herum. Planck begrüßte das, weil der Wellenaspekt eine Rückkehr zur Kontinuität anzubahnen schien. Vorübergehend schien es so, als könnte die atomistische Natur von Materie und Energie in fließend veränderliche Wellen aufgelöst werden. Aber die Uhrzeiger ließen sich nicht zurückdrehen, und die klassische Physik kehrte nicht mit dem Quantenprinzip in den Armen triumphierend zurück. Wenige Monate nach Schrödingers Veröffentlichung entdeckte Max Born in Göttingen die wahre Natur der Wellen; sie geben die statistische Wahrscheinlichkeit an, das entsprechende Teilchen anzutreffen. Seitdem haben sich die Physiker damit zufriedengegeben, jede kleine Störung im Raum ein Teilchen zu nennen, ganz gleich, ob es nun ein Elektron oder Photon ist, wobei die Natur des Teilchens durch die Art der hervorgerufenen Störung beschrieben wird. Masse, elektrische Ladung, Drehimpuls und andere Merkmale definieren die Störung. Alle Teilchen haben Wellennatur, und

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diese Wellen zeigen die Chance an, mit der wir das Teilchen in einem gegebenen Raumbereich finden. Am höchsten Punkt der Welle treffen wir das Teilchen mit der größten Wahrscheinlichkeit an, und wenn irgendwo die Wellenhöhe praktisch Null ist, haben wir kaum Hoffnung, an dieser Stelle auf das Teilchen zu stoßen (Abb. 24).

Derart wurde der Dualismus von Welle und Teilchen mehr als zehn Jahre, nachdem Einstein ihn enthüllt hatte, von Born geklärt, der aufzeigte, daß die Naturgesetze in atomaren Dimensionen immer statistisch sind. Ein weiterer Schritt blieb noch zu tun: Die Quantenkonstante mußte ihren Platz im Rahmen dieser neuen Ideen finden. Es war Heisenberg, der die Lösung fand; ihre Ansätze stammten noch aus der Zeit seiner Heufieberkur auf Helgoland. Er fragte sich, wie scharf man ein Teilchen lokalisieren kann, wobei er sich erinnerte, daß nur die direkte Beobachtung den Anspruch erheben kann, auf eine physikalische Realität zu führen. Nehmen wir an, wir möchten ein Elektron finden. Dann brauchen wir eine Sonde, um es zu lokalisieren. Ein zweites Elementarteilchen, z. B. ein Photon, kann dazu benutzt werden; aber jetzt ergibt sich eine Schwierigkeit.

Wenn wir ein Photon von kurzer Wellenlänge, d. h. mit einem hohen Wert von h • v benutzen, dann ändert seine Energie die Geschwindigkeit des Elektrons auf eine nicht voraussagbare Weise. Nehmen wir jetzt statt dessen ein Photon von geringem hv, dann ist die entsprechende Welle so lang, d. h. seine eigene Position so unbestimmt, daß wir es für die genaue Feststellung derjenigen des Elektrons nicht brauchen können.

Heisenberg konnte schlüssig zeigen, daß diese Art der Überlegung nicht davon abhängt, was für ein Experiment man anstellt, sondern daß sie ganz allgemein gilt. Er bewies, daß prinzipiell für die Beobachtung eine untere Grenze der Bestimmtheit existiert, und diese Grenze erwies sich also durch die Quantenkonstante h gegeben. Endlich war die Bedeutung der geheimnisvollen universellen Konstante enthüllt, die zuerst in Plancks Strahlungsformel aufgetaucht war: Sie bezeichnet die Grenze der Bestimmtheit in der Physik.

Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip hat tiefgreifende Konsequenzen nicht nur in der Physik, sondern ganz allgemein in philosophischen

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Betrachtungen über Fragen des Determinismus und des freien Willens. Jede Behauptung über Vorgänge in den Dimensionen von h oder in noch kleineren ist nichts als eine metaphysische Spekulation und kann keinen Sinn beanspruchen, wenn es sich um Einzelvorgänge handelt.

Die makroskopischen Gesetze der Physik werden zum Glück durch die Statistik gerettet, da sie immer Mittelwerte über sehr viele solcher Einzelvorgänge darstellen. Die Grundlage der statistischen Behandlung ändert sich jetzt jedoch völlig. Im statistischen Verfahren der klassischen Physik werden die makroskopischen Größen aus Mittelwerten von Einzelvorgängen gebildet, deren jeder vollständig determiniert ist. Dort ist die Statistik nur eine mathematische Vereinfachung, und man nimmt an, daß wir mit adäquaten Beobachtungsmethoden und entsprechend guten Rechenmaschinen die Einzelvorgänge besser behandeln können als mit Hilfe der klassischen Mechanik. In der Quantenmechanik beziehen sich die physikalischen Gesetze immer auf statistische Mengen von Einzelvor-gängen, deren jeder undeterminiert ist. Gemäß der Unbestimmtheitsrelation können wir z. B. prinzipiell nicht voraussagen, ob ein einzelnes Radium-atom innerhalb der nächsten Sekunde zerfallen oder noch hunderttausend Jahre bestehen wird. Andererseits erlaubt uns die Statistik, genau vorauszusagen, daß in jedem Stück Radium, das aus einer großen Anzahl von Atomen besteht, die Hälfte dieser Atome nach 1600 Jahren zerfallen sein wird. In der klassischen Physik glaubten wir, uns bei Anwendung der Statistik um den Einzelvorgang nicht kümmern zu müssen; die Quantenphysik hat uns gelehrt, daß wir über diesen Einzelvorgang nichts wissen können.

Für unsere Zwecke ist das Unbestimmtheitsprinzip deshalb wichtig, weil es direkt auf die geheimnisvolle Nullpunktsenergie führt. Wie Heisenberg zeigte, machen wir bei dem Versuch, ein Teilchen zu beobachten, entweder seine Position unbestimmt, wenn wir seine Geschwindigkeit messen, oder umgekehrt die Geschwindigkeit unbestimmt, wenn wir seine Position feststellen. Die Unbestimmtheit ergibt sich als das Produkt dieser beiden Größen. Allerdings müssen wir statt der Geschwindigkeit v den Impuls m • v einsetzen und dadurch noch

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die Masse des Teilchens einführen. Die Unbestimmtheitsrelation lautet dann:

∆ mv • ∆ l >~ h

Dabei hat 1 die Dimension einer Länge, d. h., es repräsentiert unseren Maßstab zur Messung der Position. Die ∆-Zeichen sollen bedeuten, daß wir es mit Änderungen von Impuls oder Position zu tun haben. Die Beziehung besagt also, daß wir nur solche Änderungen beobachten können, deren Produkt größer als oder von derselben Größenordnung wie die Quantenkonstante h ist. Die Beobachtungsgrenze ist deshalb durch mv • l ≈ h gegeben oder, anders ausgedrückt, durch m • v ≈ h/l .

Wenn wir quadrieren und dann durch m dividieren, erhalten wir m • v² ≈ h²/ml². Jetzt steht auf der linken Seite unserer Beziehung eine Masse, multipliziert mit dem Quadrat einer Geschwindigkeit, und diese Größe ist, wie wir in früheren Kapiteln sahen, die kinetische Energie des Teilchens mit der Masse m. Die Unsicherheit der Lokalisierung des Teilchens innerhalb eines Bereichs der Länge 1 muß dem Teilchen irgendwie die Energie h2/ml2 verleihen. 25 Die Unbestimmtheit verleiht einem in einem Behälter eingeschlossenen Teilchen eine Energie.

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Schauen wir uns einmal an, was geschieht, wenn wir ein einzelnes Teilchen in einen Raumbereich vom Durchmesser 1 einschließen. Wir wissen jetzt, daß das Teilchen irgendwo in diesem Behälter ist, aber das Unbestimmtheitsprinzip erlaubt uns nicht, seinen genauen Aufenthaltsort zu einer gegebenen Zeit festzustellen (Abb. 25). Überall im Behälter können wir mit einer endlichen Wahrscheinlichkeit das Teilchen antreffen, und diese Wahrscheinlichkeit ist durch die De-Broglie-Welle gegeben, die uns z. B. sagt, daß wir das Teilchen mit größerer Wahrscheinlichkeit in der Mitte des Behälters finden als an einem bestimmten Ort in Wandnähe. Genauso könnte man sagen, das Teilchen schwinge irgendwie innerhalb des Behälters und gelange dabei irgendwann einmal in jeden Teil. Überdies läßt sich aus unserer Beziehung ablesen, daß das Teilchen, wenn wir es in einen kleineren Behälter einschließen, d. h. 1 kleiner machen, eine größere Energie erhält und heftiger schwingen muß; dasselbe geschieht, wenn wir m kleiner machen, d. h. ein leichteres Teilchen in den Behälter tun.

Die Schwingung des Teilchens aufgrund der Tatsache, daß es sich in jedem Teil des Behälters aufhalten kann, ist daher eine unmittelbare Folge der Unbestimmtheit. Diejenige Energie, die das Teilchen haben muß, lediglich weil ein gewisser Raum für seine Bewegung zur Verfügung steht, ist seine Nullpunktsenergie. In einem Kristall ist jedes Atom in einen durch seine Nachbarn gebildeten »Behälter« eingeschlossen, den es nicht verlassen kann und der ihm allein zukommt. Das Atom besitzt deshalb auch in seinem »Grundzustand« die Energie h2/ml2, wobei 1 jetzt der Abstand zwischen seinen Nachbarn ist. Diese Energie kann auch nicht abgegeben werden, da sie sich allein aus dem Spielraum ergibt, der dem Atom im Kristallgitter zur Verfügung steht. Das Unbestimmtheitsprinzip erklärt nicht nur die Existenz der Nullpunktsenergie, sondern auch deren Natur. Wir haben gesehen, daß die quantenstatistische Wahrscheinlichkeit, ein Atom irgendwo in dem von seinen Nachbarn begrenzten Raum anzutreffen, seiner Schwingung in diesem Raum äquivalent ist. Die Nullpunktsenergie läßt sich daher in ihrer Wirkung nicht von der thermischen Energie unterscheiden, die auch durch atomare Schwingungen repräsentiert wird.

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Die Vorstellung, daß die Nullpunktsenergie eines Kristalls sich als Schwingung der Atome äußert, fand ihre unmittelbare Bestätigung 1927, im selben Jahr, da Heisenberg das Unbestimmtheitsprinzip verkündet hatte. R. W. James und Miss E. M. Firth in Manchester entdeckten sie bei einer Untersuchung von Steinsalz mittels Röntgenstrahlen. Die Entdeckung, daß auf einen Kristall auftreffende Röntgenstrahlen durch die regelmäßige Anordnung des atomaren Gitters gebeugt werden, hatten 1912 Max von Laue sowie Vater und Sohn Bragg unabhängig voneinander gemacht. Die neue Untersuchungsmethode öffnete das Tor zur Erforschung der mikroskopischen Struktur der Materie im Gebiet atomarer Dimensionen. Ihrer Anwendung begegneten wir bereits bei der Beobachtung des Ordnungsvorgangs, der in Mischkristallen stattfindet. Die Röntgenbeugung liefert Informationen über die Lage von Atomen im Kristall zueinander und offenbart z. B. den Strukturunterschied zwischen Diamant und Graphit, die beide aus Kohlenstoffatomen bestehen, aber verschiedene Gittertypen besitzen. Die Atome sind jedoch nicht in Ruhe. Sie schwingen unter dem Einfluß ihrer thermischen Energie um ihre Gleichgewichtslagen. Diese thermische Bewegung macht die Röntgenbeugungsmuster etwas unscharf. Bei tiefer Temperatur sind die thermische Bewegung und die Unscharfe geringer. In Manchester wurde daher einer der Steinsalzkristalle bei der Temperatur flüssiger Luft untersucht. Im darauffolgenden Jahr wurde eine sorgfältige mathematische Analyse der Ergebnisse in Zusammenarbeit mit Waller und Hartree veröffentlicht, die unzweideutig zeigte, daß die bei tiefen Temperaturen festgestellte atomare Schwingung viel stärker war, als durch die thermische Energie des Kristalls erklärt werden konnte. Die Nullpunktsenergie, die sich in atomaren Schwingun-gen äußert, war somit experimentell unmittelbar beobachtet worden.

Schon lange vorher hatte man vermutet, daß die Nullpunktsenergie sich im Verhalten der Materie bei tiefen Temperaturen manifestieren müßte. 1916 hatte Nernst die Aufmerksamkeit auf die starken Abweichungen von Troutons Regel gelenkt, die man bei flüssigem Wasserstoff und vor allem bei flüssigem Helium gefunden hatte. Diese Regel, die von den Pionieren der Tieftemperaturforschung benutzt worden war, um das Verhalten der zu

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verflüssigenden Gase vorauszusagen, bezieht sich auf die Verdampfungswärme, d. h. die Energie, die zur Umwandlung von Flüssigkeit in Dampf erforderlich ist. Diese zusätzliche Energie ist nötig, um einem Molekül in der Flüssigkeit eine genügend große Geschwindigkeit zu erteilen, daß es die Anziehungskräfte seiner Nachbarn überwinden kann. Trouton hatte gezeigt, daß diese Energie zur absoluten Temperatur proportional ist, d. h., daß die Verdampfungswärme einer Substanz um so kleiner ist, je tiefer der Siedepunkt liegt. Das ist natürlich ganz vernünftig; denn eine Substanz hat eben deshalb einen tiefen Siedepunkt, weil die Anziehungskräfte zwischen den Molekülen klein sind.

Dewar sah diese Schwierigkeit voraus, als er den Kryostaten, in dem er Wasserstoff verflüssigen wollte, besonders sorgfältig gegen Wärmezu-strom abschirmte. Gemäß Troutons Regel konnte er erwarten, daß die Verdampfungswärme von Wasserstoff nur ein Viertel derjenigen von Sauerstoff betragen und dieser deshalb sehr leicht verdampfen würde. Was er aber nicht erwarten und nicht erklären konnte, war, daß die Verdampfungswärme nur halb so groß, wie vermutet, war. Eine noch größere Abweichung von Troutons Regel fand Kamerlingh Onnes bei Helium.

Auf Nernsts Vorschlag, diese Abweichungen als Wirkung der Nullpunktsenergie zu betrachten, gingen seine Schüler Bennewitz und Simon sieben Jahre später ein, als mehr experimentelle Ergebnisse zu kondensierten Gasen zur Verfügung standen. Sie zeigten durch eine Rechnung, daß die unerwartet geringen Werte der Verdampfungswärme tatsächlich durch den Einfluß der Nullpunktsenergie erklärt werden können. Troutons Regel gilt bei normalen und hohen Temperaturen und basiert auf der Tatsache, daß die Gesamtenergie einer Substanz ungefähr gleich ihrer thermischen Energie ist. Dies ist die Energie, die zur Verdampfung der Flüssigkeit zur Verfügung steht, und sie ist etwa proportional zur absoluten Temperatur. Die Lage ändert sich jedoch bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt, weil jetzt ein beträchtlicher Teil der Gesamtenergie von der Nullpunktsenergie gebildet wird, die in der Substanz zurückbleibt und nicht mit sinkender Temperatur abnimmt (s.

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Abb. 23 auf S. 145). Infolgedessen steht verhältnismäßig mehr Schwin-gungsenergie zur Verfügung, als nach der klassischen Physik zu erwarten war, und diese zusätzliche Energie erleichtert die Verdampfung. Das bedeutet, daß die zur Verdampfung der Flüssigkeit zuzuführende Wärme entsprechend kleiner ist als die klassisch berechnete.

Dasselbe gilt für die Energie, die man zum Schmelzen der Substanz benötigt.. Einen Extremfall bildet Helium. Kamerlingh Onnes konnte nicht verstehen, daß Helium auch noch bei der tiefsten von ihm erreichten Temperatur, nämlich 0,8° über dem absoluten Nullpunkt, nicht fest werden wollte. Wir wissen jetzt, daß Helium auch noch am absoluten Nullpunkt flüssig ist und daß noch ein äußerer Druck von 25 Atmosphären nötig ist, um es in den festen Zustand zu versetzen (s. Abb. 46 auf S. 244). Dieser Sachverhalt ist in der klassischen Physik völlig unerklärlich, wo man erwarten würde, daß jede Substanz bei Abkühlung zuerst flüssig wird und schließlich zu einem festen Körper gefriert. Simon zeigte, daß das seltsame Verhalten des Heliums eine direkte Folge seiner hohen Nullpunktsenergie ist. Diese Energie ist groß genug, um die kleinen Anziehungskräfte in dieser Substanz mehr als aufzuwiegen, so daß die Nullpunktsschwingung der Heliumatome sie auch am absoluten Nullpunkt davon abhält, einen Kristall zu bilden. Nur durch Anwendung zusätzlichen Drucks von außen bringt man sie so nahe zusammen, daß sie sich zu einem festen Gitter verbinden können. Aber auch ein gutes Stück oberhalb des absoluten Nullpunkts macht sich die Wirkung der Nullpunktsenergie in der anomal geringen Dichte flüssigen Heliums bemerkbar, die Kamerlingh Onnes schon bei der ersten Verflüssigung feststellte.

Es gibt einen Fall noch höherer Nullpunktsenergie als bei Helium, aber um seine einzigartige Bedeutung einsehen zu können, müssen wir zu den frühen Tagen der Formulierung des dritten Hauptsatzes zurückgehen.

Der besondere Weg, auf dem Nernst sein Theorem abgeleitet hatte, nämlich unter Bezugnahme auf chemische Gleichgewichte, hatte es mit einem unerfreulichen Makel versehen. Er konnte die Gültigkeit des Theorems nur für Materie im kondensierten Zustand postulieren, d. h. für Flüssigkeiten oder feste Körper, aber nicht für Gase. Die Schwierigkeit

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bestand darin, daß die spezifische Wärme eines idealen Gases nach der klassischen Physik bis hinab zum absoluten Nullpunkt endlich bleiben muß. Man kann einwenden und tat es auch, daß alle Substanzen bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt in den kondensierten Zustand übergehen und deshalb der Begriff eines idealen Gases kaum noch Sinn habe. Aber Nernst war damit nicht einverstanden und betrachtete diese Art der Überlegung als eine Ausflucht, die seines Theorems unwürdig war. Er behauptete, dieses sei ein Grundgesetz der Thermodynamik und könne als solches keiner Beschränkung unterworfen sein. Diese Argumentation war typisch für ihn und sein unbegrenztes Vertrauen in seine Hypothese. Da, so überlegte er, sein Theorem allgemeingültig sein muß, bedarf das klassische Gesetz der spezifischen Wärme für ein ideales Gas einer Einschränkung. Daher sagte er voraus, daß die spezifische Wärme bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt abnehmen und daß dies durch einen bisher noch unbekannten Vorgang hervorgebracht werde, den er »Gasentartung« nannte.

Viele von Nernsts Kollegen und selbst jene, die ihn bewunderten, standen dieser unverständlichen Erscheinung skeptisch gegenüber, die eher wie eine Prophezeiung als eine wissenschaftliche Voraussage klang. Nernst ließ sich nicht beirren, und er hatte Planck auf seiner Seite. Planck war ein bekannt vorsichtiger Mann, der auf Fragen seiner Schüler stets zu antworten pflegte: »Ich gebe Ihnen morgen meine Antwort.« Er kannte jedoch keine Vorsicht, wenn es um die Gesetze der Thermodynamik ging, da er sie als absolut sicher ansah. Planck war überzeugt, daß die Gasentartung existieren und eine Begleiterscheinung des Quantenprinzips sein müßte, sah aber keine Möglichkeit, sie in seine Theorie einzubauen. Schließlich besteht die gesamte Energie eines idealen Gases insgesamt in der geradlinigen Bewegung seiner Atome, und es erschien unmöglich, ihr eine Schwingungsfrequenz zuzuschreiben, die, mit h multipliziert, ein Quantum bilden könnte. Die Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften enthalten verzweifelte Versuche von Planck und anderen, eine Lösung zu finden, ohne daß dies damals gelang.

Wir haben bereits früher gesehen, daß Boyles Gesetz für ein ideales Gas

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durch Anwendung statistischer Methoden auf die Bewegung der Gasmoleküle abgeleitet werden kann. Die Methode, die Maxwell und Boltzmann im 19. Jahrhundert benutzten, stützt sich natürlich auf die klassische Mechanik. Deshalb war es nicht sehr überraschend, daß sie keinen Hinweis auf die Gasentartung gab, deren Ursprung in der Energiequantelung liegt. Bei der statistischen Behandlung eines Gases geht man so vor, daß man das vom Gas erfüllte Volumen in kleine Teile oder »Zellen« aufteilt. Dann berechnet man die Wahrscheinlichkeit, ein Teil-chen in einer bestimmten Zelle anzutreffen. Dasselbe tut man für einen Raum, der von den drei Dimensionen der Geschwindigkeit gebildet wird. Aus Gründen der mathematischen Bequemlichkeit werden die Berech-nungen gleich in einem sechsdimensionalen »Phasenraum« ausgeführt, der die drei Lage- und die drei Impulskoordinaten umfaßt. Übrigens ist ein »Raum« von mehr als drei Dimensionen nichts Geheimnisvolles; er wird einfach deshalb benutzt, weil sich in ihm mehrere Größen, die ein Teilchen beschreiben, einfacher gemeinsam mathematisch behandeln lassen. Ende des letzten Jahrhunderts führte Willard Gibbs diesen Raum stillschweigend ein, ohne daß Philosophen oder Okkultisten davon Notiz nahmen. Die Größe dieser Zellen ist im klassischen Phasenraum willkürlich, aber aus Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip geht klar hervor, daß eine solche willkürliche Unterteilung in der Quantenphysik nicht möglich ist. Da die Grenze für die Bestimmung eines einzelnen Ereignisses durch die Quantenkonstante h gegeben wird, kann man für nichts, was unterhalb dieser Grenze geschieht, physikalische Realität beanspruchen. Deshalb beträgt die Größe einer Zelle in der Quantenstatistik h3.

So haben wir jetzt in der Quantenstatistik eines idealen Gases getrennte Zustände, genau wie Einstein (in seiner Theorie der spezifischen Wärme eines Kristalls) den Schwingungen der Atome gequantelte Energiezustände zugeschrieben hatte. Das bedeutet, daß die spezifische Wärme eines idea-len Gases auf ähnliche Weise gequantelt sein und am absoluten Nullpunkt verschwinden muß. Mit diesem Schritt hatte Nernsts Voraussage der Gasentartung ihre theoretische Rechtfertigung aufgrund des Quanten-prinzips gefunden; damit war wieder ein neues Mosaiksteinchen zur

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Vervollständigung unseres physikalischen Weltbilds gewonnen. Wir haben die Quantelung der Molekularbewegung als eine notwendige

Folge der Unbestimmtheitsrelation erklärt, weil das die direkteste und einfachste Art der Überlegung ist. Es sei jedoch erwähnt, daß historisch die Quantenstatistik der Unbestimmtheit um drei Jahre vorausging. Im Sommer 1924 erhielt Einstein von einem jungen indischen Physiker aus Dacca, S. N. Bose, einen kurzen Artikel zur Übersetzung. Bose meinte, daß Plancks klassische Ableitung der Strahlungsformel durch eine andere ersetzt werden sollte, die sich lediglich auf die Statistik und das Quantenprinzip stützte. Dies war ihm durch Einführung von Phasenzellen der Größe h3 gelungen. In einem Nachwort machte Einstein auf die große Bedeutung des Aufsatzes von Bose aufmerksam, da er den Weg zu einer Quantenstatistik von Materieteilchen freigab. Dann entwickelte er selbst die Idee in zwei Beiträgen zu den Sitzungsberichten zu dem, was als Bose-Einstein-Statistik bekannt wurde (zum Unterschied von der klassischen Maxwell-Boltzmann-Statistik).

Eine gewisse Grundlage für das neue statistische Verfahren hatte Planck bereits in seiner Behandlung von Oszillatoren geliefert, die eine wichtige Abweichung von der klassischen Statistik aufwies, als sie später auf Moleküle angewandt wurde. Boltzmann unterscheidet bei seiner Zählmethode zwischen einzelnen Molekülen, obwohl sie tatsächlich nicht zu unterscheiden sind. Wenn wir z. B. zwei Zellen A und B haben und zwei Teilchen a und b auf sie verteilen wollen, dann führt die klassische Statistik auf vier mögliche Kombinationen:

A B 1. a b 2. b a 3. ab 4. ab

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Sind jetzt a und b zwei Wasserstoffmoleküle, dann sind sie nicht unterscheidbar; nennen wir sie beide x. Die Bose-Einstein-Statistik erlaubt dann nur drei Kombinationen:

A B 1. x x 2. xx 3. xx

In der klassischen Physik bemerken wir den Unterschied in der

Zählweise zwischen den beiden Statistikarten nicht, weil viel mehr Energiezustände zur Verfügung stehen als zu verteilende Teilchen. So bleibt uns die zu große Anzahl von Kombinationen der klassischen Statistik verborgen, da so viele Zellen ohnehin leer bleiben. Das ändert sich jedoch bei tiefen Temperaturen, wo die thermische Energie gering ist und die meisten verfügbaren Zellen besetzt sind.

Schon 1924 war so die Gasentartung von einer vagen Hypothese zu einer sicheren theoretischen Grundlage geworden, aber von einer experimentellen Bestätigung war man immer noch weit entfernt. Sie war tatsächlich sogar noch unwahrscheinlicher geworden. Die Quantenstatistik hatte die Gasentartung als wirklichen Effekt bewiesen, aber gleichzeitig gezeigt, daß er an einem realen Gas fast mit Sicherheit nicht zu beobachten wäre. Nach der theoretischen Voraussage muß die Abweichung vom idealen Gasgesetz von einem »Entartungsparameter« abhängen, der die Form Nh³/V(2πmkT)3/2 hat, wobei N die Avogadrosche Zahl, V das Volumen eines Grammatoms und T die absolute Temperatur ist. Um diesen Parameter einigermaßen groß zu machen, müssen V, m und T klein sein, d. h., man sollte die Entartung am besten in einem dichten, leichten Gas bei tiefen Temperaturen beobachten können. Helium eignet sich hier am besten, und der größte Effekt ist am kritischen Punkt zu erwarten, da bei noch tieferer Temperatur das Gas nicht sehr verdichtet werden kann, ohne sich zu verflüssigen. Selbst unter den günstigsten Umständen beträgt

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die von der Entartung bewirkte Abweichung vom Gasgesetz nur etwa ein Prozent. Das ist viel kleiner als der Einfluß der Anziehungskräfte zwischen den Heliumatomen, den man schwer genau schätzen kann und von dem die Entartung daher völlig verdeckt wird.

Eine Zeitlang schien es, als könnte Nernsts Voraussage der Gasentartung, obwohl richtig, niemals verifiziert werden. Doch dann erkannte man plötzlich, daß die Gasentartung für eine der bekanntesten Erscheinungen der Physik verantwortlich ist, nämlich für das elektrische Verhalten von Metallen.

Durch die Arbeit Faradays, Maxwells und vieler anderer waren Elektrizität und Magnetismus im 19. Jahrhundert zu wohlfundierten Pfeilern im Gebäude der klassischen Physik geworden. Zuerst hatte die Ähnlichkeit im Verhalten eines Wasserstroms und eines Elektrizitätsstroms vermuten lassen, daß elektrische Ladung ein homogenes Fluidum sei. Als J. J. Thomson jedoch 1897 das Elektron entdeckte, erkannte man die atomistische Natur der Elektrizität und nahm das Elektron als Träger der Ladung an. Von dort aus war es nur noch ein einziger Schritt zu der Vermutung, der Unterschied zwischen Isolator und Metall bestünde darin, daß sich die Elektronen im letzteren frei bewegen und einen Elektrizitätsstrom bilden können.

Diesen Schritt tat um die Jahrhundertwende Drude, der die Vorstellung eines »Gases« frei beweglicher Elektronen in einem Metall formulierte, eine Theorie, die der große holländische Theoretiker Hendrik Antoon Lorentz weiter entwickelte. Ein starkes Indiz für die Existenz eines Elektronengases lieferte das Rutherford-Bohrsche Atommodell, nach dem das Atom aus einem positiv geladenen Kern besteht, der von negativen Elektronen umgeben ist. Die Theorie nahm an, daß in einigen festen Körpern aus Gründen, die erst viel später klar wurden, ein oder mehrere Elektronen pro Atom aus der atomaren Struktur herausgelöst seien und sich frei durch das ganze Volumen der Substanz bewegen könnten wie die Moleküle eines Gases in einem Behälter. Wenn eine solche Substanz zwischen den positiven und negativen Pol einer Batterie gebracht wird, werden die Elektronen vom ersten angezogen und vom letzteren

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abgestoßen und bewirken so einen elektrischen Strom. In gleicher Weise bewirkt eine elektromagnetische Lichtwelle, die auf die Substanz trifft, eine entsprechende Bewegung freier Elektronen in der Oberfläche, die die Welle nicht eindringen läßt, sondern sie statt dessen zurückwirft. Anders ausgedrückt: Eine Substanz, der wir ein Gas aus freien Elektronen zuschreiben, zeigt genau das Verhalten, das wir von einem Metall her kennen.

Wie man daraus sieht, trifft die Elektronentheorie der Metalle so gut zu, daß man sie ohne weiteres für richtig hält. Es war deshalb etwas beunruhigend, als zwei ziemlich grundlegende Diskrepanzen entdeckt wurden. Erstens ergab sich aus der Größe der metallischen Wärmeleitung, daß die Elektronen alle eine sehr hohe mittlere Geschwindigkeit haben müßten, die nicht von der Temperatur abhinge – was gegen die Gasgesetze verstieße. Die zweite Diskrepanz betrifft die spezifische Wärme. Wir haben bereits früher gesehen, daß die Existenz drei kinetischer und drei potentieller Freiheitsgrade der atomaren Schwingungen zu einer spezifischen Wärme von

6/2 R führt, also zu ungefähr 6 cal pro Grammatom und Grad. Wenn jetzt im

Fall eines Metalls zusätzlich freie Elektronen, sagen wir eines pro Atom, vorhanden sind, die sich wie Moleküle in einem Gas frei bewegen, so müssen sie drei weitere kinetische Freiheitsgrade beisteuern, so daß die gesamte spezifische Wärme

6/2 R + 3/2 R = 9/2 R

beträgt, d. h. 9 Kalorien. Das ist jedoch nicht richtig; denn für Metalle

und Isolatoren findet man dieselbe spezifische Wärme von 6 Kalorien. Die Lösung dieses Rätsels lieferte schließlich Nernsts Gasentartung. Diese Lösung ist übrigens ein interessantes Beispiel dafür, wie die gemeinsamen

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Bemühungen einer großen Anzahl von Wissenschaftlern, von denen jeder einen wichtigen Beitrag leistet, zur endgültigen Erklärung führen. 1925 postulierte Wolfgang Pauli jenes wichtige Prinzip der Quantenmechanik, das seinen Namen trägt. Er deutete die spektroskopischen Ergebnisse mit Hilfe eines neuen Naturgesetzes, nach dem in einem Atom nicht mehr als zwei Elektronen Bahnen derselben Quantenenergie haben können. Und auch diese beiden müssen sich noch in ihren Spinrichtungen unterscheiden, d. h. entgegengesetzte Drehimpulse haben. Wir können hier nicht in eine Diskussion der tiefgreifenden Bedeutung eintreten, die diesem »Ausschließungsprinzip« im Rahmen der modernen Physik zukommt. Es zeigt, daß der »Spin« in der Welt der Elementarteilchen weit wichtiger ist als der Drehimpuls der klassischen Physik. Er ist wie etwa Masse oder elektrische Ladung eine wesentliche Eigenschaft des Teilchens. Hinzu kommt die seltsame Tatsache, daß die Spins irgendwie voneinander wissen; denn sie sind gezwungen, denselben Quantenzustand zu vermeiden. Mittels relativistischer Überlegungen hat Dirac diese wechselseitige Kenntnis einem folgerichtigen System der Quanten-mechanik einverleibt, aber auch so bleibt dieses Phänomen noch ziemlich rätselhaft.

Im Jahr darauf (1926) ging Enrico Fermi in Italien noch einen Schritt weiter und dehnte die Gültigkeit des Pauli-Prinzips über die Grenzen eines Einzelatoms hinaus auf das viel größere physikalische System eines Gases aus. In der Einführung zu seiner Arbeit bezieht er sich auf Nernsts Gasentartung und macht das Ausschließungsprinzip zur Grundlage einer neuen statistischen Behandlung. Unabhängig davon tat Dirac einige Monate später denselben Schritt. Das Wesentliche an der Fermi-Dirac-Statistik ist die wechselseitige Kenntnis, die die Gasmoleküle voneinander haben und die nach dem Pauli-Prinzip zwei Moleküle in einem Gasvolumen daran hindert, im selben Energiezustand zu sein. Das bedeutet, daß die neue Zählweise für statistische Wahrscheinlichkeiten sich nicht nur von der Maxwell-Boltzmann-Methode unterscheidet, sondern auch von derjenigen Boses und Einsteins, da jetzt jeweils nur ein Teilchen eine Zelle im gequantelten Phasenraum besetzen kann. Wenn wir wieder

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das Beispiel von Seite 163 heranziehen, dann gibt es in der Fermi-Dirac-Statistik nur eine Möglichkeit, zwei Teilchen auf die beiden Zellen A und B zu verteilen, die natürlich so aussieht:

A B x x

Das führt bei tiefen Temperaturen zu einer Situation, die sich von den durch die klassische oder die Bose-Einstein-Statistik postulierten sehr stark unterscheidet. Da nur ein Teilchen in jeder Zelle Platz hat, sind selbst am absoluten Nullpunkt ungeheuer viele Zellen besetzt, und das allein ergibt eine hohe Nullpunktsenergie. Nach seinem Modell berechnete Fermi auch die spezifische Wärme eines hochentarteten Gases und fand, daß sie bei tiefen Temperaturen proportional zur absoluten Temperatur sein sollte. Bei steigender Temperatur erreicht sie schließlich den konstanten klassischen Wert 3/2 R.

Fermi war noch einen Schritt weiter – und damit zu weit – gegangen mit der Vermutung, daß die Bose-Einstein-Statistik nur auf Photonen anwendbar sei und alle materiellen Teilchen der neuen Statistik gehorchen sollten. Er erkannte in diesem Stadium offenbar noch nicht, daß in Paulis Ausschließungsprinzip der Spin das entscheidende Merkmal ist, das die Verteilung der Elektronen auf die Bahnen um den Atomkern herum beherrscht. Das Gas, für das er seine Berechnungen anstellte, war Helium. Es ist seitdem klargeworden, daß nur Teilchen mit einer ungeraden Anzahl von Spins der Fermi-Dirac-Statistik gehorchen, während solche mit einer geraden Anzahl immer zwei entgegengesetzte Spins enthalten können, die sich gegenseitig aufheben. Helium hat zwei kreisende Elektronen und vier Teilchen – zwei Protonen und zwei Neutronen – im Kern, die alle einen Spin besitzen. Daher ist die Anzahl der Spins im Helium gerade, und seine Atome gehorchen der Bose-Einstein-Statistik. Diese Tatsache wird hier erwähnt, weil sie bei der Erörterung der besonderen Eigenschaften flüssigen Heliums von großer Bedeutung sein wird.

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Ein Jahr darauf veröffentlichte Pauli einen neuen Artikel, in dem er sich auf Fermis Arbeit bezog und die neue Statistik jetzt nicht nur auf die in einem Atom herumkreisenden Elektronen anwandte, sondern auch auf das Elektronengas in einem Metall. Seltsamerweise tat er nicht den naheliegenden Schritt, Fermis Formel für die spezifische Wärme hierbei anzuwenden. Statt dessen benutzte er die neue Statistik zu einer Erklärung des schwachen Diamagnetismus der Metalle, der lange rätselhaft gewesen war. Vielleicht berechnete er die spezifische Wärme der Elektronen deshalb nicht, weil er nur mit äußerster Vorsicht an das Problem des Elektronengases heranging. In der Einleitung zu dieser Arbeit betont er die versuchsweise Natur seines Vorschlags.

Ein weiteres Jahr verging, man schrieb jetzt 1928, bis Arnold Sommerfeld in München den letzten Schritt tat, der das ganze Problem des Elektronengases löste. Sommerfeld kombinierte das Ausschließungsprinzip und die Fermi-Dirac-Statistik mit Paulis Vorschlag, sie auf die Metallelektronen anzuwenden. Das Ergebnis war die berühmte Arbeit, die in jedem Lehrbuch über dieses Gebiet erwähnt wird und die mit einem Schlag eine ganze Anzahl noch offener Fragen beantwortete. Zunächst müssen wir zu dem Entartungsparameter zurückkehren, der auf Seite 163 erwähnt wird. Bei dessen Anwendung auf das Elektronengas stellen wir fest, daß er extrem groß ist, weil die Masse m des Elektrons so klein ist; sie beträgt nämlich nur den siebentausendsten Teil derjenigen des Heliumatoms. Außerdem ist das Elektronengas sehr dicht, da die Elektronen durch die positiven Atomkerne in den engen Grenzen des Kristallgitters zusammengehalten werden. Also ist das Volumen V, das ein Grammatom Elektronen einnimmt, sehr klein. Da m und V beide im Nenner des Entartungsparameters stehen, wird dieser also sehr groß. Zweitens gehorchen die Elektronen der Fermi-Dirac-Statistik, so daß das Elektronengas, wie wir gesehen haben, eine hohe Nullpunktsenergie besitzen muß.

Indem er alle diese Faktoren berücksichtigte, konnte Sommerfeld nicht nur zeigen, daß das Elektronengas entartet ist, sondern auch, daß seine spezifische Wärme den klassischen Wert 3/2 R erst bei einer Temperatur

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von etwa 30 000° K erreicht. Da alle Metalle, lange bevor diese Temperatur erreicht wird, verdampfen, erreicht Elektronengas auch nicht annähernd den klassischen Wert. Bei normalen Temperaturen ist es bereits völlig entartet, und seine spezifische Wärme ist unmerklich klein. Auf diese Weise erklärte Sommerfelds Arbeit nicht nur das Fehlen des Beitrags 3/2 R in der spezifischen Wärme der Metalle, sondern zeigte auch, daß die von Nernst postulierte Gasentartung existiert, und zwar in ganz extremer Form. Jetzt war nur noch ein direkter experimenteller Beweis der Theorie zu erbringen. Das geschah mit den Mitteln der Tieftemperaturforschung.

Die spezifische Wärme der Elektronen ist deshalb so schwierig zu beobachten, weil sie bereits bei normalen Temperaturen sehr klein ist. Da sie nach Fermi und Sommerfeld zur absoluten Temperatur proportional ist, muß sie bei 3° K noch hundertmal kleiner sein. Aber nicht nur die spezifische Wärme der Elektronen nimmt mit sinkender Temperatur ab, sondern auch die des Kristallgitters. Zum Glück erweist es sich, daß bei den tiefsten Temperaturen die spezifische Wärme des Gitters rascher verschwindet als die des entarteten Elektronengases. Daher muß die spezifische Wärme der Elektronen allmählich bemerkbar werden und schließlich sogar überwiegen, wenn man die Messungen zu genügend tiefen Temperaturen hin ausdehnt. Dieser Zustand tritt bei den Temperaturen flüssigen Heliums ein, und der vorausgesagte Effekt ist seitdem bei allen Metallen gefunden worden (Abb. 26). In diesem Temperaturbereich ist die spezifische Wärme des Kristallgitters proportional zur dritten Potenz der Temperatur, während die der Elektronen zur Temperatur selbst proportional bleibt. Für diejenigen, die mathematische Gleichungen bevorzugen, können wir die spezifische Wärme des Metalls durch A • T3 + B • T ausdrücken, wobei A und B Konstanten sind und wobei der erste Ausdruck sich auf das Gitter und der zweite auf die Elektronen bezieht. Welchen Wert die Konstanten auch immer haben, bei genügend tiefen Werten der Temperatur T muß der zweite Ausdruck größer als der erste werden.

Am günstigsten veranschaulicht man die Eigenschaften des entarteten Elektronengases, indem man die Elektronen nicht im herkömmlichen

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Ortsraum betrachtet, sondern im Geschwindigkeitsraum. Diese Darstellungsweise wurde bereits in Kapitel 5 erwähnt, als wir den Ordnungsgrad eines Systems erörterten. Die Auszeichnung der Positionen der einzelnen Elektronen im Metall würde uns nicht viel nützliche Information liefern; sie sind in dem ihnen zur Verfügung stehenden Raum unregelmäßig verteilt. Statt dessen tragen wir im Geschwindigkeitsraum ihre Geschwindigkeiten auf, die den jeweils in der Zeiteinheit zurückgelegten Wegen entsprechen, und zwar, wie in Abb. 27 gezeigt, alle von einem Punkt aus. In einem Gas völlig freier Elektronen bewegen sich diejenigen aus einem bestimmten Geschwindigkeitsbereich mit gleicher Wahrscheinlichkeit in jede Richtung. Wenn sie die gleiche Geschwindigkeit haben, dann legen alle in der Zeiteinheit gleiche Wegstrecken vom gemeinsamen Anfangspunkt aus zurück. Ihre Positionen im Geschwindigkeitsraum müssen deshalb auf der Oberfläche einer Kugel mit dem Anfangspunkt als Mittelpunkt liegen.

Am absoluten Nullpunkt müssen die Elektronen, die ja der Fermi-Dirac-Statistik gehorchen, alle die tiefstmöglichen Energiezustände besetzen, wobei jeder Zustand zwei Elektronen mit entgegengesetztem Spin enthält. Dementsprechend gibt es eine scharfe Grenze bei einer gegebenen Grenzgeschwindigkeit. Wir finden Elektronen in allen erlaubten Quan-tenzuständen geringerer Geschwindigkeiten, aber keins mit einer höheren. In unserer Darstellung entspricht die Grenzgeschwindigkeit jetzt einer Kugel mit scharf definierter Oberfläche. Diese Oberfläche nennt man Fermi-Oberfläche. Die Größe der Kugel ist ein Maß für die Nullpunktsenergie des Elektronengases.

Wenn die Temperatur des Metalls vom absoluten Nullpunkt an steigt, bekommen einige Elektronen höhere Geschwindigkeiten als die Grenzgeschwindigkeit. Daher leeren sich einige der tiefen Energiezustände innerhalb der Kugel. Das bedeutet, daß die Fermi-Oberfläche etwas unscharf wird. Da das Gas jedoch hoch entartet ist, sind die durch Wärmezufuhr bewirkten Geschwindigkeitszunahmen sehr klein im Vergleich mit der hohen Nullpunktsgeschwindigkeit. Die Fermi-Oberfläche ist deshalb nur etwas unscharf. Das erklärt sofort das Versagen

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der klassischen Elektronentheorie von Drude bei der Erklärung der Wärmeleitung der Metalle; der Einfluß der Temperatur auf die Elektronengeschwindigkeiten ist sehr klein. Das wichtigste Merkmal des Elektronengases besteht darin, daß seine Eigenschaften fast völlig durch die enorme Nullpunktsenergie bestimmt werden, die natürlich temperatur-unabhängig ist.

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27 Im Geschwindigkeitsraum liegen die Metallelektronen am absoluten Nullpunkt auf einer scharf begrenzten Kugeloberfläche (links). Wenn man die Temperatur erhöht, wird die Oberfläche verschwommen (rechts).

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Für jedes reale Metall ist die Annahme eines völlig freien Elektronengases natürlich eine starke Vereinfachung. In Wirklichkeit stehen die Elektronen, obwohl sie sich gegenseitig kaum stören, in enger Wechselwirkung mit dem Kristallgitter. Sie können sich nicht in alle Richtungen gleich frei bewegen. Die Fermi-Oberfläche ist nicht im entferntesten eine Kugel, sondern gewöhnlich stark verformt. Die Erforschung der Fermi-Oberfläche verschiedener Metalle war im vergangenen Jahrzehnt Hauptgegenstand der Arbeit von Shoenberg in Cambridge und von anderen Tieftemperaturlaboratorien. Oft sehen die von ihnen gefundenen realen Fermi-Oberflächen wie Stücke einer modernen Skulptur aus oder wie Ungeheuer aus dem Geschwindigkeitsraum, wie einmal scherzhaft gesagt wurde. Interessanterweise gehorchen die einwertigen Metalle Natrium und Gold der einfachen Theorie bemerkenswert gut. Ihre Fermi-Oberflächen haben sich als fast kugelförmig erwiesen. Tiefe Temperaturen bieten die einzige Möglichkeit für derartige Untersuchungen, weil die Fermi-Oberflächen nahe dem absoluten Nullpunkt kaum unscharf sind und im einzelnen erforscht werden können. Wir können uns hier jedoch nicht mit den Ergebnissen befassen, die wir erst nach einer weit ausholenden Abschweifung in die Theorie der Metalle wirklich verstehen könnten. Aber sie sind auch nicht besonders bezeichnend für die Tieftemperaturphysik, da das Elektronengas selbst bei Zimmertemperatur noch stark entartet ist.

Kehren wir zu der Frage der spezifischen Wärmen zurück. Die der Metallelektronen zeigt die Annäherung an die verschwindende Entropie schon bei normalen Temperaturen, die wegen ihrer hohen Nullpunktsenergie »tief« sind. Da wir als »tiefe« Temperaturen jene definiert haben, bei denen die Nullpunktsenergie überwiegt, kann eine bestimmte Temperatur, die für ein physikalisches System tief ist, für ein anderes hoch sein. »Hoch« ist eine Temperatur für ein System, wenn bei einer darunterliegenden noch irgend etwas Bezeichnendes in ihm geschehen kann. Tatsächlich können wir, obwohl wir wissen, daß seine Entropie am absoluten Nullpunkt verschwinden muß, nie ganz sicher sein, daß sie bei einer von uns als tief angesehenen Temperatur bereits klein

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genug für eine Extrapolation zum absoluten Nullpunkt hin ist. Manchmal gibt es Anzeichen dafür, daß irgendeine wichtige Veränderung in einer Substanz bei einer noch tieferen Temperatur verborgen liegt.

Anfang der zwanziger Jahre war die spezifische Wärme festen Wasserstoffs in Nernsts Laboratorium in Berlin bis 10° K hinab gemessen und glatt zum absoluten Nullpunkt hin extrapoliert worden. Die daraus abgeleiteten thermodynamischen Daten für Wasserstoff stimmten jedoch nicht mit den aus chemischen Reaktionen erhaltenen überein. Es entstand der Verdacht, im Wasserstoff müßte noch etwas Wichtiges zwischen 10° K und dem absoluten Nullpunkt geschehen. In meiner Doktorarbeit stellte ich mir die Aufgabe, diese Frage zu untersuchen, und deshalb mußte ich die Messungen der spezifischen Wärmen zu tieferen Temperaturen hin ausdehnen. Die Ergebnisse rechtfertigten den Verdacht völlig; bei 6° K hatte sich herausgestellt, daß die spezifische Wärme nicht so rasch, wie erwartet, sank, und bei 3° K begann sie sogar mit fallender Temperatur zu steigen. Damals konnte man den Effekt nicht weiter als bis 2° K verfolgen, aber seitdem haben verbesserte Meßmethoden ein ausgeprägtes Maximum der spezifischen Wärme festen Wasserstoffs nahe 1° K enthüllt. Die Ursache dieser Anomalie ist eng mit der hohen Nullpunktsenergie festen Wasserstoffs verknüpft, die sich in einer verstärkten, die Moleküle auseinander haltenden Schwingung äußert. Tatsächlich haben diese Moleküle so viel Spielraum, daß sie im Kristallgitter frei rotieren können. Die der Anomalie der spezifischen Wärme entsprechende Entropie-abnahme ist auf eine Ordnung dieser Rotationsbewegung der Wasser-stoffmoleküle zurückzuführen.

Seitdem sind Tieftemperaturanomalien in der spezifischen Wärme bei vielen Substanzen gefunden worden. Manchmal kennen wir die Ursache, aber bei vielen ist der beteiligte Mechanismus noch unklar. In jedem Fall ist jedoch völlig klar, daß die Entropie der Substanz größer ist als erwartet. Diese Tatsache gab den Weg zu einem Temperaturbereich weit unter dem frei, der mit flüssigem Helium zugänglich ist.

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8 | Magnetische Kühlung

Nach der erfolgreichen Heliumverflüssigung im Jahr 1908 wandte sich Kamerlingh Onnes immer wieder Versuchen zu, tiefere Temperaturen zu erreichen. Die von ihm angewandte Methode war stets dieselbe; er verminderte den Dampfdruck des flüssigen Heliums immer weiter, indem er stärkere und mehr Pumpen ansetzte. Bei jedem Versuch kam er der äußersten Grenze näher, die auf diese Weise erreicht werden kann, aber mehr konnte er nicht tun. Helium ist das Gas mit den tiefsten kritischen Daten, und als es verflüssigt und der Dampf darüber bis zur Grenze der Pumpenleistung abgepumpt worden war, hatte die Geschichte der Gasverflüssigung ein Ende. Ein halbes Jahrhundert war seit Cailletet vergangen, und als Onnes im Februar 1926 starb, schien es, als hätte er den letzten möglichen Schritt auf dem Weg zum absoluten Nullpunkt getan. Aber nur zwei Monate später, am 9. April, verlas Professor Latimer von der University of California vor der American Chemical Society einen Artikel, in der eine völlig neue Kühlmethode beschrieben wurde. Er behandelte die Ideen eines jungen Dozenten aus Kanada, William Francis Giauque, der vorschlug, Temperaturen unterhalb jenen des flüssigen Heliums mit einer magnetischen Methode zu erreichen. Giauques vollständige Arbeit, in der seine Idee im einzelnen beschrieben ist, wurde am 17. Dezember zur Veröffentlichung eingereicht. Es war fast wieder wie im Fall von Cailletet und Pictet; denn einige Wochen vorher, am 30. Oktober, hatte Peter Debye völlig unabhängig von ihm denselben Vorschlag den Annalen der Physik zugesandt.

Zum Verständnis des Mechanismus der magnetischen Kühlung muß zunächst einiges über magnetische Wirkungen in der Struktur der Materie gesagt werden. Die enge Beziehung zwischen Elektrizität und Magnetismus war durch Maxwells elektrodynamische Theorie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in strenge Form gebracht worden. Nach dieser Theorie ist ein magnetisches Feld immer mit der Bewegung, insbesondere mit der Rotation einer elektrischen Ladung verbunden. Die

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Elektronen, die einen Teil der atomaren Struktur bilden, sind solche bewegten Ladungen, und sie sind auf zweierlei Weise mit magnetischen Feldern verknüpft: einmal durch ihr Umkreisen des Kerns und zum anderen durch die Rotation um ihre eigenen Achsen, den Spin. Diese Spins sind von besonderer Wichtigkeit bei der Beobachtung von Tief-temperaturerscheinungen.

Bei Temperaturen, bei denen die Spins noch ungeordnet sind, zeigen sie unregelmäßig in alle Richtungen. Wenn die Substanz jetzt in ein magnetisches Feld gebracht wird, sagen wir zwischen die Pole eines starken Magneten, werden Kräfte auf die Spins ausgeübt, die sie in die Feldrichtung auszurichten suchen. Der Grad, bis zu dem eine Substanz durch ein gegebenes Feld magnetisiert wird, heißt ihre Suszeptibilität. Der Ausrichtung der Spins durch ein äußeres Magnetfeld wirken die atomaren Schwingungen entgegen, die die Spins in Unordnung zu bringen suchen. Deshalb lassen sich die Spins leichter ausrichten, wenn die thermischen Schwingungen der Atome weniger stark sind, d. h. bei tiefen Temperaturen. Diese Tatsache war um die Jahrhundertwende von Pierre Curie entdeckt worden, der feststellte, daß die magnetische Suszeptibilität umgekehrt proportional zur absoluten Temperatur ist.

Nicht alle Substanzen zeigen ein derart einfaches Verhalten. In Wirklichkeit stehen in den meisten die Spins in starker Wechselwirkung miteinander, und anstatt ungeordnet in alle Richtungen zu zeigen, finden sie sich zu Paaren zusammen, die wie zwei Stabmagnete mit den entgegengesetzten Polen aneinanderhängen. Es gibt jedoch einige Kristalle, insbesondere die Salze der seltenen Erden und Metalle der Eisengruppe, die eine Struktur besitzen, in der einzelne Spins sehr isoliert sind. Diese Substanzen gehorchen dem Gesetz von Curie, und eine davon, Gadoliniumsulfat, hatten Onnes und Woltjer 1924 untersucht. Bei ihrem Experiment wollten sie vor allem sehen, ob sie die Spins bei etwa 1° K mit einem sehr starken Magnetfeld vollständig ausrichten könnten. Sie wählten deshalb Gadoliniumsulfat, weil sie festgestellt hatten, daß es dem Gesetz von Curie auch noch bei 1° K gehorcht.

Es war jedoch die volle Bedeutung dieser letzten Tatsache, die ihnen

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verborgen blieb, und gerade hier setzten Giauque und Debye mit ihren Überlegungen an. Solange eine Substanz dem Gesetz von Curie gehorcht, müssen die Spins in einem Unordnungszustand, d. h. auf alle Richtungen unregelmäßig verteilt sein. Ihre Entropie muß also noch hoch sein. Bei 1° K haben die thermischen Atomschwingungen im Kristallgitter des Gadoliniumsulfats praktisch aufgehört; die durch sie bedingte Entropie ist verschwindend klein. Das Spinsystem des Salzes ist jedoch noch in Unordnung und geht nicht in einen Zustand geringer Entropie über, bevor eine viel tiefere Temperatur erreicht ist. Das Salz ist wie der im letzten Kapitel erwähnte feste Wasserstoff eine jener Substanzen, die unterhalb 1° K noch eine wichtige Veränderung erfahren. Andererseits kann aber dem Spinsystem des Salzes bei 1° K ein hoher Ordnungszustand dadurch aufgezwungen werden, daß man es in ein starkes Magnetfeld bringt; und die auf diese Weise erzielbare Entropieabnahme sollte nach den Vorschlägen von Giauque und Debye nutzbar gemacht werden.

Im Prinzip folgt die Methode der magnetischen Kühlung etwa denselben Schritten wie Cailletets Sauerstoffverflüssigung, bei der das Gas erst komprimiert und dann expandiert wird. Der Unterschied ist nur, daß statt eines Gases ein Salz benutzt wird und ein Magnetfeld statt des Druckes. Am einfachsten kann man die magnetische Methode durch ein Diagramm erklären, in dem die Entropie des Salzes gegen die absolute Temperatur aufgetragen ist (Abb. 28).

Wir haben den Temperaturbereich von etwas über 1° K bis zum absoluten Nullpunkt gewählt. Die dick ausgezogene Kurve gibt die Entropie des Salzes außerhalb des Magnetfelds an. Bei 1° K und ein gutes Stück darunter ändert sich die Entropie wenig mit der Temperatur, d. h., sie ist völlig durch die Spins bestimmt, die in diesem Bereich unregelmäßig orientiert bleiben. Zu höheren Temperaturen hin steigt die Entropie an, weil sich jetzt die Gitterentropie bemerkbar macht. Die Gitterentropie ist gesondert durch eine punktierte Linie angegeben, die zu jener der Gesamtentropie parallel verläuft, d. h., die Entropie der Spins bleibt unverändert. Bei einer sehr tiefen Temperatur müssen sich die Spins auch ohne den Einfluß eines Magnetfelds entsprechend dem dritten Hauptsatz

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der Thermodynamik ordnen. Das geschieht dann, wenn die thermische Energie so klein wird, daß die Wechselwirkung der Spins sich gegen sie durchsetzt. Dieser Effekt macht sich in unserem Diagramm durch einen steilen Abfall der Entropie (ausgezogene Kurve) auf einen verschwindend kleinen Wert bemerkbar.

Als nächstes führen wir in das Diagramm die Kurven der Gesamtentropie des Salzes in einem äußeren Magnetfeld ein. Drei dieser (gestrichelten) Kurven sind angegeben, deren jede einer anderen Feldstärke entspricht. Da das Magnetfeld die Spins ausrichtet, befinden sie sich in größerer Ordnung als beim Feld Null, und unsere gestrichelten Kurven liegen deshalb alle unterhalb der ausgezogenen Kurve. An der Entropie 28 Das Entropiediagramm eines paramagnetischen Salzes zeigt, wie mit der magnetischen Kühlmethode sehr tiefe Temperaturen erreicht werden können.

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des Kristallgitters ändert sich natürlich durch das Einschalten des Magnetfelds nichts; ihr Einfluß ist daher bei allen gestrichelten Kurven gleich. Andererseits nimmt die Magnetisierung, d. h. die Ausrichtung der Spins, wie vom Curieschen Gesetz gefordert, mit fallender Temperatur zu. Folglich wird die Verminderung der Entropie gegenüber derjenigen beim Feld Null bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt immer ausgeprägter. Das Diagramm ist jetzt vollständig bis auf die Einzeichnung der Wirkungsweise der magnetischen Kühlung.

Mit flüssigem Helium als Kühlmittel ist die Temperatur des Salzes auf 1° K verringert, und ein Magnetfeld ist noch nicht angelegt. Wir befinden uns daher bei A in unserem Entropiediagramm. Die Magnetisierung des Salzes ohne Wärmeaustausch mit der Umgebung nennt man einen »adiabatischen« Prozeß, dessen Wesen darin besteht, daß die Entropie ungeändert bleibt. Wenn wir ein Feld der Stärke von 10 000 Oersted anlegen, erfolgt eine bestimmte Magnetisierung. Deren Effekt können wir in unser Diagramm einzeichnen, indem wir denjenigen Punkt auf der gestrichelten Kurve für 10 kOe aufsuchen, der zu demselben Entropiewert wie A gehört. Das ist B, und wir sehen, daß wir durch Magnetisierung des Salzes dessen Temperatur erhöhen würden.

Wir haben die magnetische Kühlung mit der Expansion eines Gases verglichen. Vor der Expansion muß das Gas komprimiert werden, und die Erwärmung des Salzes von A nach B ist auf die Magnetisierungswärme zurückzuführen, die der Kompressionswärme ganz analog ist, wie sie z. B. beim Heißwerden einer Fahrradpumpe in Erscheinung tritt. In einem Expansionskreislauf wird die Kompressionswärme durch das Kühlwasser abgeführt; im magnetischen Prozeß leistet dies das flüssige Helium. Deshalb wird dafür gesorgt, daß die Magnetisierungswärme bei 1° K abgeführt und daß das Salz auf dieser Temperatur gehalten wird, jedoch nicht bei A, sondern auf dem 10 kOe entsprechenden Punkt der Kurve, d. h. bei C. Hier beginnt jetzt der eigentliche Abkühlungsschritt.

Diese Abkühlung soll adiabatisch durchgeführt, d. h. der Wärmezu-strom zum Salz muß möglichst klein gehalten werden. Der Wärmeaus-tausch mit dem flüssigen Helium bei 1° K wird daher unterbrochen und das

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Salz thermisch völlig isoliert. Dann wird das Magnetfeld abgeschaltet. Wir müssen jetzt den Punkt im Diagramm aufsuchen, der auf der ausgezogenen Kurve für das Feld Null liegt und denselben Entropiewert wie C hat. Das ist Punkt D, der einer Endtemperatur Te weit unter 1° K entspricht. Giauque und Debye schlugen vor, daß auf diese Weise eine magnetische Abkühlung erreicht werden könnte.

Nach diesem ersten Vorschlag vergingen weitere sieben Jahre, bis die Ausrüstung beschafft war, mit der die Methode ausprobiert werden konnte. Das Leidener Laboratorium mit seinen umfangreichen kältetechnischen Einrichtungen war noch führend, aber nicht mehr als einziges. Tatsächlich wurde Leiden bei der magnetischen Kühlmethode knapp geschlagen. Die ersten Leidener Experimente wurden in einer Mitteilung vom 15. Mai 1933 veröffentlicht, aber Giauque in Berkeley (Kalifornien) hatte bereits von drei erfolgreichen Experimenten am 19. März sowie am 8. und 9. April berichtet. Die dabei erreichten Temperaturen waren 0,53° K bzw. 0,34° K und 0,25° K. Die Methode hatte sich zweifellos bewährt; ein neuer Temperaturbereich war erschlossen. Auf Berkeley und Leiden folgten bald Oxford und dann Cambridge. Heute ist die magnetische Kühlung in den Laboratorien der ganzen Welt zu einer klassischen Methode geworden. Technische Verbesserungen, höhere Magnetfelder und besser geeignete Salze erweiterten den mit der neuen Kühlmethode zugänglichen Bereich bald auf Temperaturen unterhalb 0,01° K.

Nach unserem Entropiediagramm mag es so scheinen, als ob es für ein bestimmtes Salz nicht viel Sinn hätte, sehr hohe Magnetfelder anzuwenden, da die Entropie bei den tiefsten Temperaturen so rasch abfällt. Ein viel höheres Feld würde deshalb wahrscheinlich keine beträchtlich tiefere Temperatur ergeben. Das ist tatsächlich der Fall, aber das Erreichen einer tieferen Temperatur an sich ist erst ein halber Erfolg. Man muß diese Temperatur auch lange genug aufrechterhalten können, um Experimente machen zu können. Das ist wie bei der Gasverflüssigung. Die tiefe Temperatur, die Callletet durch Sauerstoffexpansion erreichte, hielt sich nur einige Sekunden lang, bis der Tröpfchennebel verschwunden war.

Das Ideal der ruhig siedenden flüssigen Gase erreichte man erst, als

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beträchtliche Mengen dieser Gase verflüssigt waren, so daß sie nicht durch jeden kleinen Wärmezustrom wieder verdampft werden konnten. Um Temperaturen unter 1 ° K gewisse Zeit aufrechterhalten zu können, mußte man nicht nur den Wärmezustrom sehr klein machen, sondern auch einen hohen Grad der Spinausrichtung erzeugen.

In unserer Geschichte haben wir bereits gesehen, daß es in dem hier behandelten Bereich der Physik gewöhnlich zwei Erklärungsmöglichkeiten für dieselbe Erscheinung gibt. Die eine ist die strenge thermodynamische, die auf klare Ergebnisse führt, aber wenig über das Detail sagt. Die andere ist die mikroskopische, die die Vorgänge auf atomarer Grundlage zu deuten sucht und gewöhnlich zwar anschaulicher, aber nicht immer ebenso zuverlässig ist. Die Erklärung der magnetischen Kühlung, bei der wir uns auf das Entropiediagramm stützten, war thermodynamisch. Im mikroskopi-schen Bild dürfte leichter zu verstehen sein, was man tun muß, um die durch magnetische Kühlung erreichten tiefen Temperaturen längere Zeit aufrechtzuerhalten.

Betrachten wir zunächst den Fall ohne äußeres Feld. Obgleich die Spins in einem Salz wie Gadoliniumsulfat bei 1° K noch ungeordnet sind, müssen sie nach Nernsts Theorem bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt in eine regelmäßige Anordnung übergehen. Wir wollen hier nur einen der Wege betrachten, auf denen das geschehen kann, nämlich den der gegenseitigen magnetischen Wechselwirkung der Spins. Wir können sie uns als kleine Stabmagnete vorstellen, jeder mit Nord- und Südpol, die wir durch kleine Pfeile darstellen (Abb. 29). Bei 1° K zeigen sie ungeordnet in alle Richtungen. Wenn die Temperatur sinkt und die thermische Bewegung nachläßt, wirken Nord- und Südpol jedes Magneten auf die Pole seiner Nachbarn, und alle Magnete neigen dazu, sich in dieselbe Richtung einzustellen. Bei weiterer Temperaturerniedrigung nimmt diese spontane Ausrichtung zu, bis sie schließlich vollständig ist.

Betrachten wir jetzt denselben Vorgang umgekehrt von sehr tiefen Temperaturen ausgehend, dann sind zunächst alle Spins ausgerichtet. Durch Wärmezufuhr erwärmt sich zwar das Salz, aber es muß noch zusätzlich Energie aufnehmen, damit die Spinrichtungen in Unordnung

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geraten. Diese Energie macht sich in der spezifischen Wärme des Salzes bemerkbar, die deshalb in diesem Bereich groß sein muß. Sobald die Unordnung erst einmal hergestellt ist, ist keine weitere Zusatzenergie notwendig, und die spezifische Wärme nimmt wieder normale Werte an. Daraus folgt, daß die spezifische Wärme des Salzes dort ein Maximum hat, wo seine Entropie einen steilen Abfall zeigt. Natürlich wären wir mit Hilfe der Thermodynamik zu genau demselben Ergebnis gekommen, aber wir hätten wenig darüber erfahren, was mit den Spins geschieht.

Der unvermeidbare Wärmezustrom in ein mit flüssigem Helium gefülltes Dewar-Gefäß läßt einen Teil der Flüssigkeit verdampfen. Um tiefe Temperaturen aufrechtzuerhalten, müssen wir genug Flüssigkeit im Gefäß haben. In einem magnetisch abgekühlten Salz bringt ein Wärmezustrom die ausgerichteten Spins in Unordnung; diese müssen also anfangs hinreichend ausgerichtet sein, damit das Salz auf tiefen Temperaturen bleibt. Mit anderen Worten: Die Wärmekapazität bei tiefen Temperaturen muß groß genug sein, wenn wir das Salz gewisse Zeit kalt halten wollen. Zwar bringt ein starkes Magnetfeld das Salz nicht auf eine viel tiefere Temperatur als ein schwaches Feld, es richtet aber die Spins viel stärker aus. Die Entmagnetisierung von stärkeren Feldern aus führt das Salz also tiefer in die Anomalie der spezifischen Wärme hinein. Das heißt, die Wärmekapazität bei tiefen Temperaturen nimmt dadurch zu.

Giauques und Debyes Vorschlag der magnetischen Abkühlung machte der zwanzig Jahre dauernden Stagnation, in die die Annäherung an den absoluten Nullpunkt nach der Heliumverflüssigung geraten war, ein Ende. Theoretisch war der Weg zu einem unerforschten neuen Gebiet »magne-tischer Temperaturen« jetzt frei, aber niemand wußte, ob man ihn auch praktisch würde gehen können. Ohne zu ahnen, wie nahe sie der Lösung des Problems gewesen waren, hatten Kamerlingh Onnes und Woltjer durch ihre Untersuchungen des Gadoliniumsulfats die Arbeitssubstanz geliefert. Vier Dinge waren jetzt nötig: eine tiefe Ausgangstemperatur, ein starker Magnet, ein Wärmeschalter und vor allem eine viel bessere thermische Isolation als jemals vorher benutzt worden war.

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29 Die Zunahme der magnetischen Ordnung bei Temperaturverringerung wird anhand der Anordnung der Elektronenspins gezeigt.

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Kamerlingh Onnes hatte gezeigt, daß man eine Temperatur von 1° K und darunter tatsächlich viele Stunden lang aufrechterhalten kann. Er hatte das durch Abpumpen des Dampfes über flüssigem Helium in einem kleinen Dewar-Gefäß erreicht. Dieses Gefäß war von anderen umgeben, die – von innen nach außen – flüssiges Helium am Siedepunkt bzw. flüssigen Wasserstoff bzw. flüssige Luft enthielten. Um ein starkes Magnetfeld zu erzeugen, muß man die Polschuhe eines Elektromagneten möglichst nahe zusammenrücken. Ein Polzwischenraum, der einem sperrigen Kryostaten aus mehreren konzentrischen Gefäßen Platz bietet, ergibt ein für das Experiment zu schwaches Feld; deshalb waren besondere Kryostate nötig. Die Erzeugung eines starken Magnetfelds ist ein kostspieliges Unternehmen. Starke Elektromagnete, mit denen man Felder von, sagen wir, 10 000 Oersted in einem annehmbaren Volumen erreicht, erfordern eine Menge Eisen hoher Qualität, was sie nicht nur teuer, sondern auch schwerfällig macht. Die Alternative besteht darin, einen sehr starken Strom durch ein Solenoid, eine eisenfreie Spule, zu schicken und die dabei erzeugte Wärme durch schnell strömendes Öl oder Wasser abzuführen. Das ist technisch schwierig; außerdem braucht man ein Kraftwerk, das den für das Experiment benötigten starken Strom erzeugt. Beide Vorrichtungen, sowohl Eisenmagnete wie auch Solenoide, sind in Apparaturen für die magnetische Kühlung verwandt worden.

Den Wärmeschalter braucht man, um die Magnetisierungswärme des Salzes in das flüssige Helium bei 1° K ableiten und dann das Salz, wenn das magnetische Feld abgeschaltet wird, vom flüssigen Helium isolieren zu können. Die häufigste Lösung ist diejenige, die schon Dewar bei seiner Demonstration des Vakuumgefäßes benutzte (s. Kapitel 3). Er zeigte seinem Auditorium ein doppelwandiges Gefäß, in dem flüssige Luft ruhig siedete, weil der Raum zwischen den beiden Glaswänden evakuiert war. Als er den Evakuierstutzen abbrach, begann die Flüssigkeit heftig zu kochen und verdampfte rasch. Atmosphärische Luft war in den Raum zwischen den Wänden eingedrungen und hatte eine thermisch leitende Verbindung zwischen der Außenwand auf Zimmertemperatur und der flüssigen Luft hergestellt. Dasselbe Prinzip hatte Nernst in etwas

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weiterentwickelter Form bei seinen Messungen der spezifischen Wärme angewandt; es war in der Tieftemperaturforschung ganz gebräuchlich geworden. Anstatt einen Stutzen abzubrechen und atmosphärische Luft in das Vakuum eindringen zu lassen, benutzt man einen Hahn, durch den eine kleine Gasmenge, gewöhnlich Helium, eingelassen oder auch, wenn die Vakuumisolation wiederhergestellt werden soll, ausgepumpt werden kann. Schließlich ist für eine gute Wärmeisolation ein gutes Vakuum und eine geeignete Konstruktion des Kryostaten nötig, bei der jede Wärmestrahlung durch Reflektoren von der Experimentierkammer abgeschirmt wird.

Als Giauque und Debye 1926 ihre ersten Aufsätze über die Möglichkeit magnetischer Abkühlung veröffentlichten, war das Leidener Laboratorium nicht mehr das einzige der Welt, in dem flüssiges Helium zur Verfügung stand. Neue Tieftemperaturlaboratorien waren in verschiedenen Ländern entstanden, und zu dem neuen Temperaturbereich unter 1° K setzte ein Wettrennen ein, das jenem zur ersten Heliumverflüssigung ähnelte. Trotzdem vergingen sieben Jahre bis zur ersten erfolgreichen magnetischen Kühlung.

Das Rennen wurde, wie erwähnt, von Giauque, dem Erfinder des Verfahrens, gewonnen. Debye als Theoretiker nahm nicht teil daran. Am 12. April 1933 berichtete Giauque von seiner ersten, in Zusammenarbeit mit MacDougall an der University of California durchgeführten Versuchsreihe. Er hatte eine Probe aus Gadoliniumsulfat benutzt, sie bei einer Anfangstemperatur von 3,4° K magnetisiert und am 19. März 0,53° K erreicht. Durch diesen Anfangserfolg ermutigt, vergrößerte er die Pumpleistung, mit der er den Dampf über dem Helium in seinem Kryostaten entfernte, und am 8. April erreichte er, von 2° K ausgehend, 0,34° K. Ein dritter Versuch am folgenden Tag begann bei 1,5° K und führte zu einer Endtemperatur von 0,25° K. Die magnetische Kühlung war Wirklichkeit, und bereits bei diesen ersten Pionierexperimenten war die tiefste mit flüssigem Helium erreichbare Temperatur um zwei Drittel unterschritten worden.

Das war erst der Anfang. Schon einen Monat später meldete das Leidener Laboratorium, jetzt zu Ehren seines Gründers Kamerlingh-

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Onnes-Laboratorium genannt, die erste erfolgreiche Kühlung, bei der eine Temperatur von 0,27° K erreicht wurde. Das Leidener Experiment war mit Ceriumfluorid, einem anderen, ziemlich teuren Salz, durchgeführt worden. Als jedoch ein Jahr darauf das gerade errichtete Tieftemperatur-laboratorium in Oxford seine Arbeiten zur magnetischen Kühlung aufnahm, wurde jetzt Eisenammoniumalaun gewählt, eine ganz gewöhnliche Substanz, die als Blutstillmittel beim Rasieren viel benutzt wird. Bei diesen Experimenten wurde zum erstenmal eine zweite Substanz mit abgekühlt. Dem Salz hatte man nämlich Cadmiumpulver beigemischt, und es ließ sich zeigen, daß dieses Metall bei 0,56° K supraleitend wird. Wenige Jahre später begann man in Cambridge mit Entmagnetisierungs-experimenten, und nach dem Krieg wandten sich viele Laboratorien in aller Welt diesem Gebiet zu. Während anfangs die Untersuchung der im Kühlprozeß benutzten Salze im Vordergrund stand, ging man allmählich immer mehr dazu über, die Eigenschaften anderer auf magnetische Temperaturen abgekühlter Substanzen zu erforschen. In den fünfziger Jahren war die magnetische Kühlung zum Standardverfahren geworden, das keine größeren Schwierigkeiten mehr bot und einen Temperaturbereich bis hinab zu wenigen tausendstel Grad über dem absoluten Nullpunkt erschloß.

Bei diesen Experimenten geht man im wesentlichen genau wie die Pioniere in Berkeley, Leiden und Oxford vor. Abb. 30 zeigt eine schematische Darstellung. Das Salz S, gewöhnlich in Form einer Kugel oder eines Ellipsoids, wird von einem schwach wärmeleitenden Träger in einem Behälter P gehalten, der durch den Hahn H evakuiert werden kann. Dieser Behälter ist von einem Bad flüssigen Heliums umgeben, das unter vermindertem Druck bei etwa 1° K im Dewar-Gefäß siedet. Zunächst wird etwas Heliumgas in den Behälter geleitet und der Hahn geschlossen gehalten. Das Salz ist deshalb auch auf 1° K, da das Heliumgas Wärme gut leitet. Aber die Spins im Salz – durch kleine Pfeile dargestellt – sind bei dieser Temperatur noch in Unordnung; ihre Entropie ist noch hoch. In unserem Entropiediagramm in Abb. 28 (S. 178) befindet sich das Salz in diesem Stadium des Prozesses bei A. Als nächstes wird das Salz

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magnetisiert, und zwar gewöhnlich indem man den Kryostaten zwischen die Polschuhe eines starken Elektromagneten bringt (Abb. 30b). Das äußere Magnetfeld zwingt die Spins, die sich ja wie kleine Magnete verhalten, in die Richtung seiner eigenen Kraftlinien. Sie werden in der Feldrichtung ausgerichtet, ihre Entropie nimmt ab, und wir erreichen Punkt C im Entropiediagramm (S. 178). Die Anwendung eines Felds auf das Salz setzt jedoch, wie bereits erklärt, eine Magnetisierungswärme frei, und das Salz müßte sich im Entropiediagramm auf Punkt B zu bewegen. Diese Erwärmung des Salzes wird aber durch die Anwesenheit des Gases im Behälter P verhindert, das die Magnetisierungswärme in das flüssige Helium abführt. Die durch die Spinausrichtung erzeugte Wärme bringt also nur etwas Helium zusätzlich zum Verdampfen, und die Temperatur der ganzen Vorrichtung bleibt bei 1 ° K.

Jetzt ist die Apparatur fast zur magnetischen Kühlung bereit. Man muß nur noch dafür sorgen, daß dem abgekühlten Salz keine Wärme zuströmen kann. Die thermische Verbindung mit der übrigen Apparatur muß deshalb unterbrochen werden; das geschieht dadurch, daß der Hahn H geöffnet und der Innenraum von P mit einer Pumpe evakuiert wird (Abb. 30c).

Schließlich wird der Elektromagnet fortgenommen, und das Salz erreicht den Punkt D im Entropiediagramm, dem die erreichte tiefe Endtemperatur entspricht (Abb. 30d).

Nach dieser Entmagnetisierung kann man mit Experimenten am Salz oder irgendeiner mitabgekühlten Substanz beginnen. Wie lange Beobachtungen durchgeführt werden können, hängt natürlich vom Wärmezustrom zum Salz ab. Schon bei seinen allerersten Experimenten konnte Giauque sehr tiefe Temperaturen mehrere Stunden lang aufrechterhalten. Wie bemerkenswert das war, wurde einen Monat später beim ersten Leidener Experiment klar, als man die tiefe Temperatur nur wenige Minuten halten konnte. In den folgenden Jahren wurde an den verschiedenen Laboratorien viel Mühe darauf verwandt, die Wärmeisolation des Salzes weiter zu verbessern, und man konnte den Wärmezustrom auf 10-8 Watt (einen winzigen Energiefluß) reduzieren.

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30 Die vier aufeinanderfolgenden Stufen eines magnetischen Kühlversuchs.

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Auf wie kleine Wärmemengen es bei diesen Experimenten ankommt, zeigt eine seltsame Störung, die den ersten Experimentatoren lange zu schaffen machte. Häufig schien der Salzprobe aus einer unbekannten Quelle Wärme zuzuströmen. Diese Erwärmung machte genaue Messungen unmöglich und mußte näher untersucht werden. Das Rätselhafte an der Störung war, daß sie nur sporadisch auftrat und im allgemeinen tagsüber schlimmer zu sein schien als nachts. Den Schlüssel lieferte die Tatsache, daß die Erwärmung offenbar stärker war, wenn mechanische Pumpen in der Nähe des Kryostaten in Betrieb waren. Die Spur führte schließlich zu den feinen Nylonfäden, an denen das Salz zwecks Verminderung der Wärmeleitung aufgehängt war. Mechanische Stöße und der Betrieb der Maschinen – beides kam tagsüber häufiger vor – ließen die Nylonfäden vibrieren. Die bei der Vibration durch das Strecken der Fäden erzeugte Wärme reichte aus, das Experiment zu beeinträchtigen; die Störung verschwand, als man zu festen Trägern überging.

Die tiefste Abkühlung, die durch Entmagnetisieren eines paramagnetischen Salzes erreicht werden kann, hängt nicht nur von der Ausgangstemperatur und dem benutzten Magnetfeld ab, sondern vor allem von den magnetischen Eigenschaften der Arbeitssubstanz. In unserem Entropiediagramm (S. 178) sehen wir, daß der steile Abfall der Entropiekurve bei der Feldstärke Null die äußerste Grenze setzt. Dieser Abfall beruht, wie wir sahen, auf der Wechselwirkung der Spins unter-einander bei Temperaturen, bei denen die thermischen Schwingungen zu schwach sind, um eine regelmäßige Anordnung der Spins zu verhindern. Wiederum besteht große Ähnlichkeit mit der Abkühlung eines Gases in einer Expansionsmaschine. Auch dort bekommen bei sinkender Tempe-ratur allmählich die Anziehungskräfte die Oberhand, das Gas beginnt sich zu verflüssigen, und weitere Abkühlung durch Expansion wird unmöglich.

Die Analogie zwischen der magnetischen Kühlung und der durch Expansion geht sogar noch weiter. Mit Wasserstoff kann man in einer Expansionsmaschine tiefere Temperaturen erreichen als mit Luft, weil der Siedepunkt des Wasserstoffs viel tiefer liegt als der von Luft. Für noch tiefere Temperaturen muß man Helium verwenden. Ähnlich ist es bei den

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paramagnetischen Salzen, wo die Spinwechselwirkung für verschiedene Substanzen bei verschiedenen Temperaturen einsetzt. In Gadoliniumsulfat z. B. findet der rasche Entropieabfall etwa bei 0,2° K statt, in Eisenammo-niumalaun etwa bei 0,05° K und bei rund 0,003° K in Cerium-magnesiumnitrat. Dieser letzte Wert kann als untere Grenze paramagnetischer Kühlung angesehen werden.

Beim Vergleich der magnetischen Kühlung mit der durch Expansion darf man nicht vergessen, daß der oben besprochene Prozeß im wesentlichen einem einzigen Expansionsarbeitsgang entspricht, wie ihn Cailletet anwandte. Etwas kompliziertere magnetische Kühleinrichtungen, die einer abwechselnd wirkenden Expansionsmaschine mit Kolben entspre-chen, wurden auch benutzt, erwiesen sich aber als nicht besonders nützlich. Der Vorteil einer solchen magnetischen Maschine besteht nur darin, daß sie eine große Masse einer zweiten Substanz abkühlen kann. Da jedoch bei diesen sehr tiefen Temperaturen die Wärmekapazitäten anderer Substanzen gewöhnlich klein sind, verglichen mit der des Salzes, reicht eine einzige Entmagnetisierung in den meisten Fällen völlig aus. Mehr als eine einzige Entmagnetisierung ist jedoch dann von Nutzen, wenn sehr tiefe Tempe-raturen erzielt werden sollen; dafür sind Kühlvorrichtungen mit zwei oder sogar drei Entmagnetisierungsstufen benutzt worden. Für diese Zwecke nahm man verschiedene Salze mit zunehmend tieferen Temperaturen des endgültigen Entropieabfalls. Auch hier haben wir wieder eine enge Analogie zu den in Kapitel 2 beschriebenen Verflüssigungs»kaskaden«.

Als Giauque und Debye ihre neue Abkühlungsmethode vorschlugen, erhob sich die Frage, ob, und wenn ja, wie diese sehr tiefen Temperaturen gemessen werden könnten. Zum Glück erwies sich dies als eine Scheinfrage, d. h., die Antwort war bereits in ihr enthalten. Eine Abkühlung kann man nur mit Hilfe einer Substanz erreichen, deren Entropie sich noch mit der Temperatur ändert; und diese Entropieänderung kann gemäß dem zweiten Hauptsatz der Thermodynamik immer zur Bestimmung der absoluten Temperatur herangezogen werden. Anders ausgedrückt: Jeder Abkühlungsmechanismus liefert automatisch sein eigenes Thermometer.

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Wie die magnetische Abkühlung selbst ist auch ihre Thermometrie ganz analog zu der bei der Gasverflüssigung benutzten. Temperaturänderungen eines Gases bewirken Druck- und Volumenänderungen, und diese stehen zueinander nach den Gesetzen von Boyle und Gay-Lussac in der einfachen Beziehung: P • V = konst. • T. Die entsprechende Beziehung für ein para-magnetisches Salz ist das Curiesche Gesetz, das geschrieben werden kann: Suszeptibilität = konst./T. Das ist ebenfalls eine sehr einfache Formel, die vermuten läßt, daß auch die magnetische Thermometrie relativ einfach ist. Im Fall eines Gasthermometers wird die Druckänderung in einem gegebenen Gasvolumen gemessen, und diese ist dann direkt proportional zur absoluten Temperatur. Diese Art der Temperaturmessung ist sehr alt und wurde zuerst von Galilei und Amontons benutzt. Bei einem Salz braucht man nur seine magnetische Suszeptibilität zu messen, die gemäß dem Curieschen Gesetz umgekehrt proportional zur absoluten Temperatur ist.

Die Messung selbst ist verhältnismäßig einfach. Die Suszeptibilität ist die durch ein gegebenes Magnetfeld bewirkte Magnetisierung des Salzes, dividiert durch die magnetische Feldstärke. Praktisch erhält man sie, indem man ein kleines Magnetfeld einschaltet und die Feldstärke in der Probe mißt. Das kann man zum Glück tun, ohne ein magnetisches Meßgerät in das Salz selbst einzuführen. Wenn ein Strom durch eine lange Zylinder-spule A (Abb. 31) geschickt wird, entsteht in ihrem Innern ein homogenes Magnetfeld. Die Stärke dieses Feldes wird aus dem in der Sekundärspule B induzierten Strom bestimmt und vom Galvanometer G angezeigt. Die Sekundärspule besteht aus zwei gleichen Teilen B1 und B2, die jedoch entgegengesetzt gewickelt sind. Wenn also das Magnetfeld auf der ganzen Länge der Primärspule A dieselbe Stärke hätte, würde in der Sekundär-spule kein Strom fließen und das Galvanometer nicht anzeigen. Um als magnetisches Thermometer zu dienen, wird das Spulensystem so um den Kryostaten angeordnet, daß das Salz S in die Mitte von B1 kommt. Da nun das Salz eine paramagnetische Suszeptibilität besitzt, zieht es die magnetischen Kraftlinien in sich hinein, und folglich werden durch B1

insgesamt mehr Kraftlinien gehen als durch B2. In B1 wird daher ein

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stärkerer Strom induziert als in B2, und das Galvanometer zeigt gerade die Differenz an. Sie ist ein direktes Maß für die Suszeptibilität des Salzes und gemäß dem Curieschen Gesetz auch für das Reziproke der absoluten Temperatur.

Diese einfache magnetische Temperaturbestimmung bietet allerdings bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt zunehmende Schwierigkeiten, die jenen beim Gasthermometer nicht unähnlich sind. Wir haben bereits gesehen, daß, wenn ein Gas abgekühlt wird, sich von einer bestimmten Temperatur an Abweichungen von der einfachen Gleichung P • V = R • T zu zeigen beginnen, die von den Anziehungskräften der Gasmoleküle herrühren und die bevorstehende Verflüssigung ankündigen. Die Wechselwirkung zwischen den Spins im paramagnetischen Salz spielt eine ähnliche Rolle, die zu Abweichungen vom Curieschen Gesetz führt. Das bedeutet aber nicht, daß das magnetische Thermometer jetzt nutzlos wird. Man kann es immer noch benutzen, muß aber eine kompliziertere Formel als das Curiesche Gesetz heranziehen, die Korrekturen für die Spin-wechselwirkung enthält. Das entspricht genau dem Einsetzen der Van-der-Waals-Gleichung anstelle der einfachen Gasgesetze.

Die Anwendung dieser Korrekturen ist jedoch, da sie die genaue Kenntnis der komplizierten magnetischen Wechselwirkungen voraussetzt, ziemlich verwickelt und wird noch um so verwickelter, je tiefer die zu messende Temperatur ist. Man könnte jetzt meinen, der wahre Wert der tiefsten mit paramagnetischen Salzen erreichbaren Temperaturen bleibe deshalb immer unsicher. Aber zum Glück rettet uns wieder der zweite Hauptsatz der Thermodynamik. Dieser Satz enthält nämlich die Definition der absoluten Temperatur selbst. Wie Lord Kelvin vor mehr als einem Jahrhundert gezeigt hat, bestimmt man sie aus einem Kreisprozeß mit einer idealen Wärmekraftmaschine, den zuerst Sadi Carnot betrachtete. Eine solche Maschine leistet dadurch Arbeit, daß sie bei der absoluten Temperatur T1 die Wärmemenge Q1 aufnimmt und bei der tieferen Temperatur T2 die Wärmemenge Q2 abgibt.

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31 Das magnetische Thermometer

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Diese Wärmemengen und die absoluten Temperaturen stehen zueinander in der Beziehung: Q1/T1 = –Q2/T2. Daraus läßt sich bei Kenntnis von Q1, Q2 und T1 die tiefe Temperatur T2 bestimmen. Die Schönheit der thermodynamischen Gleichungen besteht nun darin, daß sie allgemein gelten und sich nicht auf ein spezielles physikalisches System beziehen. In unserem Fall wird nur gefordert, daß die Apparatur während der Messung keine anderen als die in der Gleichung berücksichtigten Wärmemengen aufnimmt oder abgibt.

Im Fall der magnetischen Temperaturen läßt sich diese letzte Bedingung leicht erfüllen. Da ohnehin der Wärmezustrom zum Salz möglichst klein gehalten wird, kommt der zur Temperaturmessung nötige thermodynamische Kreisprozeß einem »idealen« sehr nahe. Dieses Experiment kann man auf verschiedene Arten durchführen, die sich nur in technischen Einzelheiten unterscheiden und alle auf demselben Prinzip beruhen, nämlich Wärmemengen zu messen und sie zu einer bekannten absoluten Temperatur aus dem bereits erforschten Bereich in Beziehung zu setzen. Bekannt ist natürlich die höhere Temperatur T1, in unserem Fall der Ausgangspunkt der Entmagnetisierung im Bereich flüssigen Heliums. Sehr genau meßbare Wärmemengen können dem Salz entweder durch eine elektrische Heizung oder durch Bestrahlung mit γ-Strahlen zugeführt werden.

Die thermodynamische Bestimmung der absoluten Temperatur erlaubt uns eine absolut zuverlässige Aufteilung des neuerforschten Temperaturbereichs unter 1° K, ist aber eine lästige Prozedur, die man nicht gern bei jedem Experiment wiederholen möchte. Statt dessen kann man jedoch für jedes Salz einmal eine sehr sorgfältige thermodynamische Bestimmung ausführen und aus den Ergebnissen dann die bereits erwähnten Korrekturen errechnen. Bei allen weiteren Untersuchungen mit demselben Salz braucht man nun nur noch die magnetische Suszeptibilität zu messen, d. h. das Galvanometer abzulesen, und die Korrekturen der thermodynamisch bestimmten Wertetabelle zu entnehmen. Damit die verschiedenen Experimente vergleichbar sind, muß die Salzprobe eine einfache geometrische Gestalt haben, deshalb wird sie gewöhnlich in Form

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einer Kugel oder eines Ellipsoids hergestellt, doch hat die gewählte Form natürlich keinerlei Einfluß auf den Ablauf des Experiments.

Wie schon erwähnt, ging es bei den meisten Untersuchungen unterhalb 1° K um die Eigenschaften der Salze selbst. Mit Hilfe der thermo-dynamischen Temperaturskala konnte man nicht nur die wahren magne-tischen Suszeptibilitäten messen, sondern auch die spezifischen Wärmen. Am interessantesten ist die Untersuchung der Mechanismen, durch die die Spins bei den tiefsten Temperaturen miteinander in Wechselwirkung treten. Bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt versagt das Curiesche Gesetz allmählich, und die magnetische Suszeptibilität bleibt nicht mehr der absoluten Temperatur proportional. Schließlich ändert sich die Suszeptibilität rasch (und gewöhnlich auf komplizierte Weise), was eine tiefgreifende Änderung im System der Spins andeutet. Eine derartige Änderung kennzeichnet gemäß dem Theorem von Nernst immer das Einsetzen einer regelmäßigen Anordnung im Spinsystem, die der regelmäßigen Anordnung der Atome im Kristallgitter entspricht, wenn sie ihr auch nicht ähnelt. Bei den Spins handelt es sich nämlich nicht um eine Ordnung der Positionen, sondern um eine solche der Richtungen. Die Forschung beschäftigt sich hauptsächlich mit Einzelheiten dieser Anordnung wie auch mit der Art, wie sie sich einstellt. Dafür können wir zwei Beispiele anführen: Die Spins können sich entweder durch unmittelbar aufeinander ausgeübte magnetische Kräfte ausrichten, etwa wie eine Anzahl nahe zusammengebrachter Kompaßnadeln, oder durch das elektrische Feld des atomaren Gitters. Im ersten Fall handelt es sich um einen kooperativen Effekt, der auf der Wechselwirkung vieler Spins untereinander beruht, während unter dem Einfluß des Kristallfelds jeder Spin gesondert ausgerichtet wird, aber in derselben Richtung wie alle anderen. Diese Änderungen im Ordnungsgrad sind Entropieänderungen und müssen sich in der spezifischen Wärme des Salzes bemerkbar machen. Man kann die Messung der spezifischen Wärme tatsächlich benutzen, um zu erfahren, welche Art der Ausrichtung in einem bestimmten Salz statt-findet. Kooperative Effekte pflegen bei Temperaturänderung rasch einzu-setzen, d. h., die gegenseitige Wechselwirkung führt zu einer Art Lawine

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im Übergang zwischen Ordnung und Unordnung, und wir haben ein scharfes Maximum der spezifischen Wärme zu erwarten. Die Wirkung des Gitterfelds auf die einzelnen Spins verursacht andererseits eine allmähliche 32 Die spezifische Wärme von Eisenammoniumalaun zeigt zwei verschiedene Mechanismen der Spinordnung an.

Änderung der spezifischen Wärme. In einigen Salzen finden beide Ausrichtungsvorgänge statt, allerdings bei verschiedenen Temperaturen. Als Beispiel zeigt Abb. 32 die spezifische Wärme von Eisenammonium-alaun. Bei Abkühlung des Salzes macht sich eine allmähliche Ordnung der Spins unter Einfluß des Kristallfelds bei 0,2° K bemerkbar und führt zu einem breiten Maximum bei 0,09° K. Darauf folgt ein scharfes Maximum bei 0,04° K, das die kooperative Ordnung andeutet. Suszeptibilitäts-messungen haben gezeigt, daß das Salz unter 0,04° K eine magnetische Hysterese ähnlich der von Eisen bei Zimmertemperatur aufweist.

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Bei den meisten Untersuchungen einer zweiten Substanz, die mittels Entmagnetisieren eines Salzes unter 1° K abgekühlt wurde, handelte es sich um die Fortsetzung von Beobachtungen oberhalb 1° K. Am Ende des vorangehenden Kapitels wurde z. B. erwähnt, daß fester Wasserstoff eine starke Anomalie der spezifischen Wärme zeigt, die bei den tiefsten damals erreichbaren Temperaturen noch ansteigt. Mittels magnetischer Kühlung konnte man diese Erscheinung jetzt bis zu viel tieferen Temperaturen verfolgen, und man fand eine ganz unerwartete Kurve mit einem großen Maximum. Auf ähnliche Weise hat die magnetische Kühlung Supraleitfähigkeit in vielen weiteren Metallen offenbart, wie auch neue Einzelheiten jenes seltsamen Verhaltens flüssigen Heliums, das wir in Kapitel 10 behandeln werden.

Die magnetische Kühlung hat darüber hinaus zu einer völlig neuen Erscheinung geführt, nämlich der Ausrichtung von Atomkernen. Das durch diese Experimente eröffnete Gebiet gehört zur Kernphysik, und die Tieftemperaturtechnik hat hier nur die Rolle einer Magd für die Kernforschung gespielt. Die Ergebnisse sind jedoch so wichtig, daß wir über diese Arbeiten kurz berichten sollten; außerdem sind sie eng mit der Erzeugung noch tieferer Temperaturen verbunden.

Genau wie die Elektronen haben auch die Kernteilchen, also Protonen und Neutronen, Spins, die dem Atomkern eine Art Rotationssinn um seine eigene Achse verleihen. Nach gewissen Beobachtungen und aus theoretischen Überlegungen mußte man erwarten, daß die von einem radioaktiven Kern emittierte Strahlung in bestimmten Richtungen bezüglich dieser Spinachse auftreten würde. Da die Spinachsen der einzelnen Kerne unter normalen Bedingungen willkürlich in alle Richtungen zeigen, beobachtet man bei der Strahlung keinen Richtungseffekt. Wenn die Achsen der Kerne andererseits alle in eine Richtung ausgerichtet werden können, dann wird auch die Strahlung in wohldefinierten Richtungen von der radioaktiven Probe emittiert. Eine solche Ausrichtung der Kerne erreicht man, indem man von dem magnetischen Moment ihrer Spins Gebrauch macht. Infolge der geringen Größe der Kernteilchen ist dieses aber etwa tausendmal kleiner als das der

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Elektronen, und das macht ihre Ausrichtung selbst bei den tiefsten erreichbaren Temperaturen viel schwieriger. Tatsächlich braucht man bei 0,01° K ein äußeres Magnetfeld von etwa 50 000 Oersted, um überhaupt eine Kernausrichtung zu erzeugen.

Obwohl diese Methode ungeheure experimentelle Schwierigkeiten bereitet, hat man mit ihr zumindest etwas Erfolg gehabt. Wir müssen bedenken, daß das zur Erzeugung von 0,01° K benutzte Salz sorgfältig von dem für die Kernausrichtung nötigen starken Magnetfeld abgeschirmt werden muß, damit es sich nicht wieder erwärmt. Zum Glück gibt es einige sehr elegante Kniffe, mittels deren man die Kernausrichtung leichter erreichen kann als mit »roher Gewalt« (wie man die oben erwähnte Methode scherzhaft nennt). Am leichtesten läßt sich der Kniff erklären, der auf dem Magnetfeld der Elektronenspins beruht. Aus unserer Abb. 31 (S. 193), die die Wirkungsweise des magnetischen Thermometers zeigt, geht hervor, daß das paramagnetische Salz die magnetischen Kraftlinien anzieht. Also ist das magnetische Feld im Innern stärker als das umgebende äußere Feld. Diese inneren Felder können sogar sehr stark sein; z.B. erzeugt ein äußeres Feld von nur 1000 Oersted bei 0,5° K im Salz ein Feld von nicht weniger als 500 000 Oersted.

Das Experiment wird mit einem Salz durchgeführt, dessen Ionen radioaktive Kerne haben. Die Entmagnetisierung von einem starken Feld aus beginnt, wie üblich, bei etwa 1° K; das äußere Feld wird aber nicht ganz abgeschaltet, sondern bei 1000 Oersted belassen, und jetzt liegen alle Spinachsen der radioaktiven Kerne in derselben Richtung, nämlich der des äußeren Feldes, ausgerichtet. Nun bringt man Meßgeräte für die Kernstrahlung in verschiedene Positionen zu der Probe und bestimmt die Richtung der von ihr ausgesandten Strahlung. Zu den wichtigen so erhaltenen Ergebnissen gehört der Beweis für die Nichterhaltung der Parität bei schwacher Wechselwirkung, eine Theorie, für die Yang und Lee 1957 den Nobelpreis bekamen.

Die Existenz eines von Kernspins herrührenden Paramagnetismus war 1936 von den beiden russischen Physikern Schubnikow und Lasarew in Charkow entdeckt worden. Selbstverständlich faßte man nach der

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erfolgreichen Abkühlung mit Hilfe von Elektronenspins eine weitere Abkühlung zu noch tieferen Temperaturen durch Entmagnetisierung von Kernspins ins Auge. Tatsächlich wurde die Möglichkeit der Kernkühlung zuerst Mitte der dreißiger Jahre von Gorter in Leiden sowie von Kurti und Simon in Oxford diskutiert. Im Prinzip ist die Methode sehr einfach, da sie nichts als eine Wiederholung dessen darstellt, was mit Elektronenspins in paramagnetischen Salzen bei höheren Temperaturen bereits gelungen war. Die praktische Durchführung ist jedoch wegen der Kleinheit der Kernspins äußerst heikel. Die große Schwierigkeit, die gerade im Zusammenhang mit der Rohe-Gewalt-Methode der Kernausrichtung erwähnt wurde, wird bei der nuklearen Kühlung noch viel größer. Die nukleare Arbeitssubstanz muß nicht nur mit einem entmagnetisierten paramagnetischen Salz auf etwa 0,01° K abgekühlt, sondern danach auch thermisch isoliert und selbst von einem Feld von mindestens 50000 Oersted aus entmagnetisiert werden.

Bei den begrenzten Mitteln, die der Forschung Ende der dreißiger Jahre zur Verfügung standen, gab es für die Durchführung eines so ehrgeizigen Projekts keine Hoffnung, aber in den späten vierziger Jahren wurde die Lage günstiger. Der verstorbene Sir Francis Simon brachte in Oxford mit größter Mühe die nötige Ausrüstung zusammen und machte sich zusam-men mit Kurti und anderen Mitarbeitern an die langwierige Vorbereitung des Experiments. 1956 hatte Simon kurz vor seinem Tode die Genugtuung, das erste erfolgreiche Experiment noch zu erleben. Die gemessene Temperatur betrug weniger als 0,000016° K, also weniger als zwei hunderttausendstel Grad über dem absoluten Nullpunkt.

Diese unglaublich tiefe Temperatur konnte nur für einen Augenblick erzeugt werden; nach etwa einer Minute hatte sich die nukleare Kühlsubstanz wieder auf die Ausgangstemperatur der Entmagnetisierung erwärmt. Trotzdem erscheint der Erfolg des Experiments im Rückblick fast wie ein Wunder. Nur allmählich wurde klar, daß außer den vorausgesehenen Schwierigkeiten eine Menge weiterer Hindernisse der Kernkühlung im Weg standen.

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33 u. 34 Nukleare Kühlung. Schema der Apparatur (links) und das graphische Ergebnis des Versuchs (unten). Die Kurve gibt den beobachteten Ausschlag des magnetischen Thermometers an, das in absoluten Temperaturen geeicht worden ist.

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Das im Experiment von 1956 angewandte Prinzip ähnelt sehr der zweistufigen Kühlkaskade, die mit verschiedenen paramagnetischen Salzen in jeder Stufe erfolgreich arbeitete. Jetzt aber mußte die erste Stufe allein so viel leisten wie vorher die zweistufige Kaskade, während in der Kernstufe von einem äußerst starken Magnetfeld aus entmagnetisiert werden mußte. Da man bei dem Pionierexperiment sogar die leistungsfähigen magnetischen Anlagen bis zum Äußersten ausnutzte, entschloß man sich, auf den Wärmeschalter zwischen den beiden Stufen zu verzichten. In Abb. 33 ist das Experiment schematisch dargestellt. A ist das paramagnetische Salz, das die erste magnetische Kühlstufe bildet. Es ist mit der nuklearen Kühlsubstanz B über C verbunden. M1 und M2 sind die beiden wassergekühlten Spulen zur Erzeugung starker Magnetfelder. Weder der Kryostat noch die übrigen Instrumente sind gezeigt. Metallisches Kupfer wurde sowohl als nukleare Kühlsubstanz B als auch für das Verbindungsstück C gewählt. Man benutzte eine große Zahl sehr feiner Kupferdrähte, deren obere Enden in das paramagnetische Salz A gepreßt und deren untere Enden zu einigen Windungen gebogen waren, die B bildeten. Die Vorteile dieser Anordnung bestanden darin, daß Kupfer und Salz guten Wärmekontakt hatten und die Erwärmung durch Wirbelströme beim Entmagnetisieren durch die feine Verteilung des Kupfers vermieden war.

Zuerst wurde die Elektronenspinstufe A entmagnetisiert und durch Wärmeleitung über C die Kernstufe B auf etwa 0,02° K abgekühlt. Dann wurde die Kernstufe vom Stärkstmöglichen Feld aus, das nur wenig unter 30000 Oersted lag, entmagnetisiert. Wenige Sekunden nach dem Verschwinden dieses Felds begann man mit der Messung der Kernsuszeptibilität. Die Abb. 34 zeigt die Ergebnisse und die nach dem Curieschen Gesetz berechneten Temperaturen. Wie bereits erwähnt, steigt die Temperatur der Kernstufe nach der Entmagnetisierung rasch, so daß nach etwa einer Minute von der Kernkühlung fast nichts mehr übrig ist. Wir entnehmen dem Diagramm, daß bei Beginn der Kernsuszeptibilitätsmessung, wenige Sekunden nach Abschalten des Feldes, die Temperatur von 0,000022° K abgelesen wurde; durch

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Extrapolation auf den Beginn des Experiments kann als tiefster Punkt 0,000016° K gefolgert werden.

Zunächst dachte man, der rasche Temperaturanstieg sei nur auf das Fehlen eines Wärmeschalters in C zurückzuführen und der Wärmestrom vom Salz über die Kupferdrähte zur Kernstufe erwärme diese so rasch. Es schien daher, als würde der Einbau eines wirksamen Wärmeschalters, wie er bereits bei der erfolgreichen zweistufigen Entmagnetisierung paramagnetischer Salze benutzt worden war, hier Abhilfe schaffen. Erst während der Experimente in dieser Richtung offenbarten sich die wirklichen Schwierigkeiten der Kernkühlung. Diese Hindernisse sind viel grundlegender als bloße technische Unzulänglichkeit und etwas entmutigend. So erreichte man denn auch trotz großer Anstrengungen in Oxford und an der Pennsylvania State University seit 1956 keine entscheidende Verbesserung des ersten Kühlexperiments. Andererseits hat man eine Menge wertvoller Informationen gesammelt, aus denen hervorgeht, daß der Weg zur nuklearen Kühlung lang und kostspielig sein wird und man wahrscheinlich nicht so tiefe Endtemperaturen erreichen wird, wie zuerst erwartet.

Um das alles zu verstehen, müssen wir uns mit dem Temperaturbegriff näher beschäftigen. Die Temperatur eines Gases haben wir in früheren Kapiteln durch die kinetische Energie der Moleküle (und die eines festen Körpers durch die Schwingungen der Atome) beschrieben. Zusätzlich sahen wir, daß auch die Suszeptibilität der Spins ein Maß für die Temperatur ist. In dem für die nukleare Kühlstufe benutzten Kupfer kommen alle drei Erscheinungen vor: die Atomschwingungen, die Kernspins und auch die kinetische Energie des entarteten Elektronengases. Nun haben wir stillschweigend angenommen, daß sich aus allen drei jederzeit dieselbe Temperaturmessung ergeben müßte. Bei normalen Temperaturen und bei denen flüssigen Heliums stimmt das zwar, aber nur weil der Energieaustausch zwischen Spins, Elektronen und Kristallgitterschwingungen ohne Verzug erfolgt. Experimente mit paramagnetischen Salzen unter 1° K haben gezeigt, daß der Energieaustausch zwar nicht ganz so rasch geht, aber im allgemeinen noch

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rasch genug, um die Temperaturbestimmung nicht zu verfälschen. Das ändert sich jedoch erheblich bei noch tieferen Temperaturen.

Bei 0,00002° K ist der Energieaustausch der Kernspins mit den Elektronen und Gitterschwingungen, verglichen mit der Beobachtungszeit, ein sehr langsamer Vorgang, der zu einer völlig anderen Deutung des Experiments von 1956 führt, als man zuerst angenommen hatte. Die Kernspins folgen bei Entmagnetisierung unmittelbar der Änderung des äußeren Felds und gehen in einen Zustand über, der 0,000016° K entspricht, aber Elektronen und Gitter bleiben auf der Ausgangstemperatur. Man steht also der seltsamen Tatsache gegenüber, daß die Kupferprobe gleichzeitig zwei verschiedene Temperaturen besitzt, nämlich 0,000016° K für die Spins und 0,02° K für Elektronen und Gitter. Dann erwärmt der allmähliche Energieaustausch zwischen den Spins und dem Rest der Substanz die Spins wieder bis zur Ausgangstemperatur.

Aus den Ergebnissen aller bisherigen Experimente müssen wir schließen, daß bis jetzt nur das System der Kernspins, jedoch nie die ganze Substanz auf sehr tiefe Temperaturen abgekühlt wurde. Die nächste Frage lautet natürlich, ob auch Elektronen und Gitter abgekühlt werden können. Sie ist nicht so einfach zu beantworten. Zunächst muß man bedenken, daß mit den bis jetzt angewandten Ausgangstemperaturen und Magnetfeldern nur ein kleiner Bruchteil der Kernspinentropie beseitigt werden konnte. Für einen weiteren Fortschritt sind tiefere Ausgangstemperaturen und vor allem viel stärkere Magnetfelder unbedingt nötig. Zweitens muß man einen sehr wirksamen thermischen Schalter zwischen die primäre Kühlstufe und die nukleare Kühlsubstanz bauen; und hier stößt man auf eine neue Schwierigkeit. Wie wirksam dieser Schalter auch sein mag, er läßt immer noch eine kleine Wärmemenge durch, und da der Energieaustausch zwischen den Spins und dem Rest der Substanz so schlecht ist, besteht die Gefahr, daß Wärme rascher von außen in den Rest der Substanz dringt als von dieser in das kalte Kernspinsystem.

Wir können diese ziemlich komplizierten Probleme und die möglichen Mittel und Wege ihrer Lösung hier nicht näher erläutern. Gegenwärtig ist es wahrscheinlich, daß mehr Erfahrung in der Technik der Kernkühlung

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und stärkere Magnetfelder es schließlich ermöglichen werden, eine Substanz als Ganzes auf etwa 0,0001° K abzukühlen und bei diesen Temperaturen mit ihr zu experimentieren.

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9 | Supraleitung

Welche Überraschungen der neue und erst teilweise erforschte Bereich der magnetischen Kühlung auch noch für uns bereithalten mag, sie können kaum jene übertreffen, die bereits im Temperaturbereich des flüssigen Heliums zum Vorschein gekommen sind. Kamerlingh Onnes tat den ersten Blick auf die seltsame neue Welt der Superflüssigkeiten (Suprafluide), als er 1911 die Supraleitung entdeckte. In den mehr als fünfzig Jahren, die seitdem vergingen, ist unsere Kenntnis dieser rätselhaften Erscheinung sehr gewachsen, und wir sind auch einer theoretischen Deutung viel näher gekommen. Trotzdem verstehen wir noch lange nicht, was diese offenbar grundlegend neue Erscheinungsform zusammenhängender Materie wirklich bedeutet. Wie wir gerade sahen, konnte die Existenz so ungewöhnlicher Erscheinungen wie der Nullpunktsenergie oder der Gasentartung theoretisch vorausgesagt werden, aber wir müssen zugeben, daß wir auch mit unserer heutigen Kenntnis niemals die Suprafluide hätten voraussagen können. Ohne Anleitung durch eine Voraussage oder Theorie war die Erforschung der Suprafluide ein blindes, richtungsloses Abtasten nach neuen Informationen. Wegen dieser großen Unsicherheit bei der Suche nach den Teilen des Puzzlespiels bildet ihre Geschichte das erregendste Kapitel bei der Suche nach den Wegen zum absoluten Nullpunkt.

Kamerlingh Onnes war genial, aber als nüchterner Denker brauchte er einige Zeit, bis er das ganze Ausmaß seiner Entdeckung zu erfassen begann. Natürlich suchte er zunächst nach einer Verbindung zwischen der Supraleitung und den bekannten physikalischen Erscheinungen. Eine Zeitlang hoffte er, der Widerstandsabfall des Quecksilbers wäre das, was er halbwegs erwartet hatte, mußte aber bald erkennen, daß er auf etwas völlig Unbekanntes gestoßen war. Mit den vagen Theorien des elektrischen

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Widerstands, die es damals gab, hätte man zur Not einen ziemlich raschen Abfall mit der Temperatur erklären können. Onnes versuchte es auch, mußte es aber aufgeben, als sich erwies, daß der Widerstand plötzlich und diskontinuierlich verschwindet.

Onnes erkannte jetzt, daß er es mit einem völlig neuen Zustand der Materie zu tun hatte, und ging daran, ihn zu erforschen. In seinen allerersten Experimenten hatte er versucht zu bestimmen, wie klein der Widerstand des Quecksilbers geworden war; nun mußte er sich fragen, ob er vielleicht völlig verschwunden sei. Das führte sofort zu einer mißlichen Prinzipienfrage. In der Physik kann man immer feststellen, ob eine Größe sehr groß oder sehr klein ist; aber nie kann man sagen, daß sie unendlich oder Null ist. Man kann höchstens feststellen, daß sie größer oder kleiner ist als ein sich aus dem Experiment ergebender Äußerstwert. Im Fall der Supraleitung mußte daher die Genauigkeit vergrößert werden, mit der ein sehr kleiner Widerstand weit unter der Meßgrenze konventioneller Instrumente gemessen werden konnte. Hier war Onnes in seinem Element. Innerhalb von drei Jahren hatte er eine geniale Methode gefunden, die bis heute nicht überholt ist.

Onnes baute eine Spule aus supraleitendem Bleidraht, wie in Abb. 35 gezeigt, die durch einen sinnreichen supraleitenden Schalter S1 kurzgeschlossen werden konnte. Bei offenem S1 wurde die Spule durch normalleitende Kupferdrähte mit Strom aus einer Batterie bei Zimmertemperatur gespeist. Dieser Strom konnte durch Öffnung des Schalters S2 unterbrochen werden. Das Experiment begann mit geschlossenem S2, aber bei offenem S1. Dabei floß Strom aus der Batterie durch die supraleitende Spule, wo er ein Magnetfeld erzeugte, wie aus der Ablenkung einer Kompaßnadel außerhalb des Dewar-Gefäßes festgestellt werden konnte. Dann wurde S1 geschlossen und S2 geöffnet, d. h., die supraleitende Spule war jetzt kurzgeschlossen, und gleichzeitig war die Stromversorgung aus der Batterie unterbrochen. Die Kompaßnadel wies noch dieselbe Ablenkung wie vorher auf und zeigte dadurch an, daß noch Strom durch die Spule floß, obwohl keine Energie mehr von der Batterie aufgenommen wurde. Die Ursache für dieses seltsame Phänomen liegt

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darin, daß die Spule keinen elektrischen Widerstand besitzt und der Strom daher verlustlos durch den gänzlich supraleitenden Kreis fließen kann. Dieser »Dauerstrom«, wie er bald genannt wurde, lieferte Kamerlingh Onnes eine äußerst empfindliche Methode zur Messung jeder kleinsten Spur eines Widerstands, der in der supraleitenden Bleispule verblieben sein könnte. Wenn der Strom Energie verliert, muß er im Lauf der Zeit allmählich abnehmen, und das würde sich durch eine Änderung der Magnetnadelablenkung bemerkbar machen. Bis nach einigen Stunden das flüssige Helium im Dewar-Gefäß schließlich verdampft war und die Spule aufhörte, supraleitend zu sein, wurde auch nicht die geringste Abnahme der Nadelablenkung festgestellt; der Dauerstrom war unverändert geblieben. Aus diesem Experiment konnte Onnes schließen, daß der Widerstand der supraleitenden Bleispule höchstens ein Hundertmilliardstel des bei Zimmertemperatur üblichen Widerstands betragen konnte.

Kurz darauf wiederholte Onnes das Experiment in noch einfacherer Form. Er benutzte einen einzigen geschlossenen Bleiring, den er im Feld eines außerhalb des Dewar-Gefäßes angebrachten Magneten mit flüssigem Helium abkühlte. Wenn jetzt der Magnet fortgenommen wird, können die magnetischen Kraftlinien den Ring nicht verlassen, da er supraleitend ist und jede Änderung des magnetischen Flusses durch Induktion eines Dauerstroms im Ring kompensiert wird. Nach dem obigen Vorgang blieb also ein Ring zurück, der Strom führte und ein Bündel magnetischer Kraftlinien gefangenhielt. Die Existenz dieses Dauerstroms kann wieder an der Ablenkung einer Kompaßnadel festgestellt werden.

In Abb. 36 werden in zwei solchen Ringen induzierte Dauerströme eindrucksvoll demonstriert. Läßt man eine Bleikugel in diese Ringe hineinfallen, dann induziert das durch die Ringe erzeugte Magnetfeld auch in der Oberfläche der Kugel Dauerströme. Diese Ströme laufen in derselben Richtung wie jene in den Ringen, und vermittels der entsprechenden Magnetfelder wird die Kugel von den Ringen abgestoßen. Daher schwebt die Kugel schließlich im Raum über den Ringen in einem Abstand, an dem diese magnetische Abstoßung dem Gewicht der Kugel gleich geworden ist.

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35 Kamerlingh Onnes' Demonstration des verschwindenden elektrischen Widerstands in einem Supraleiter.

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Einen ähnlich spektakulären Effekt liefert ein kleiner Stabmagnet, den man an einer Kette in eine Schale aus supraleitendem Blei hinabläßt (Abb. 37). Wenn sich der Magnet der Schale nähert, bemerken wir, daß die Kette schlaff wird; schließlich sehen wir den Magneten frei über der Schale schweben. In diesem Falle induzieren die Kraftlinien des Magneten Dauerströme in der Bleioberfläche, die genau das Feld des Magneten kompensieren. Der kleine Stabmagnet »sieht« deshalb sein eigenes magnetisches Spiegelbild, das sich unterhalb der Bleioberfläche im selben Abstand befindet wie er selbst oberhalb. Die Nord- und Südpole des Spiegelbilds stoßen die des wirklichen Magneten ab, der sich daher der Schale nicht weiter nähern kann.

Kamerlingh Onnes' Experimente mit Dauerströmen sind seitdem wieder von ihm selbst und dann von anderen mit empfindlicheren Meßvor-richtungen und längerer Dauer wiederholt worden. Die längste Zeit, während der ein Dauerstrom aufrechterhalten wurde, betrug etwa zwei Jahre, und er würde noch heute fließen, wenn nicht ein Transport-arbeiterstreik die Versorgung mit flüssigem Helium unterbrochen hätte. Selbst nach zwei Jahren war keine Schwächung des Stroms zu bemerken, und wir können einen Supraleiter mit gutem Recht als einen widerstandslosen Leiter ansehen.

Kamerlingh Onnes kam schon sehr früh auf die Idee, eine supraleitende Spule zur Erzeugung sehr starker Magnetfelder zu benützen. Bei der Besprechung der magnetischen Abkühlung wurde die Erzeugung starker Magnetfelder als große technische Schwierigkeit erwähnt. Die dafür normalerweise nötigen starken Ströme erzeugen eine ungeheure Wärme in den Magnetspulen, die durch Kühlwasser abgeführt werden muß, dessen Zirkulationsgeschwindigkeit begrenzt ist. Die Verwendung von Bleispulen wie die in Abb. 35 (S. 209), die verlustlos arbeiten, schien großartige Möglichkeiten zu bieten. Verlustfreie, supraleitende Transformatoren und andere elektrische Maschinen ohne Widerstand eröffneten herrliche Aussichten. Natürlich wären enorme Mengen flüssigen Heliums nötig, aber dieser Preis würde für die erzielbare Energieersparnis nicht zu hoch sein.

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36 Die Bleikugel schwebt im Raum, nur gehalten durch Dauerströme.

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Leider hatte dieser Traum bald ein Ende. Untersuchungen in Leiden zeigten, daß die Supraleitung zusammenbricht, wenn eine bestimmte kritische Magnetfeldstärke überschritten wird. Diese »magnetische Schwelle« war ziemlich niedrig und lag nie über einigen wenigen 100 Oersted, also weit unterhalb dessen, was selbst bescheidene elektrische Maschinen erfordern. Trotz dieser entmutigenden Enthüllung endet die Geschichte der Supraleitung in starken Feldern hier nicht, aber ihre Fortsetzung ließ noch vierzig Jahre auf sich warten. Inzwischen wurde bald entdeckt, daß die Schwellen von Magnetfeld und Strom in Wirklichkeit ein und dieselbe Sache sind, da die kritische Feldstärke, die Supraleitung in einem Draht zerstört, genau dieselbe ist, die durch den in ihm fließenden kritischen Strom erzeugt wird.

Die ganze Zeit ging die Suche nach neuen Supraleitern weiter. Bald stellte man fest, daß außer Quecksilber und Blei auch Zinn, Indium, Thallium und Gallium supraleitend sind. Es sind dies alles Metalle mit ziemlich ähnlichen physikalischen Eigenschaften wie niedrigem Schmelz-punkt und geringer Härte. Als sich in den zwanziger Jahren weitere Laboratorien der Suche anschlössen, wandte sich Meißner in Berlin einer Gruppe von Metallen zu, die hart sind und hohe Schmelzpunkte haben, und fand darunter eine neue Reihe von Supraleitern; u. a. Tantal, Niob, Titan und Thorium. Bei Ausdehnung der Beobachtungen in die Nähe von 1° K und besonders bei den magnetisch erzeugten Temperaturen stieß man auf eine Menge weiterer supraleitender Elemente, wie Aluminium, Cadmium, Zink, Osmium, Ruthenium und viele andere. In den meisten Fällen brauchten die Proben nicht sehr rein zu sein, um den Effekt zu zeigen; aber in anderen wurde Supraleitung erst entdeckt, als äußerst reine Materialien verfügbar wurden. Heute kennen wir viel mehr Supraleiter als nicht supraleitende Metalle, und es ist umstritten, ob jene, die bis jetzt kein Zeichen von Supraleitung gezeigt haben, es nicht bei noch tieferen Temperaturen tun dürften.

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37 Ein Stabmagnet, der in eine supraleitende Schale hinabgelassen worden ist, wird von seinem eigenen magnetischen Spiegelbild unterhalb der Schale abgestoßen.

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Begründete derartige Zweifel hat man nur bei einigen normalen Metallen; dazu gehören z. B. die einwertigen, etwa Gold oder Natrium, und einige wenige zweiwertige, wie Magnesium und Calcium. Andere Nicht-Supraleiter wie z. B. Eisen, Kobalt, Nickel und die seltenen Erden haben starke innere Magnetfelder, die wahrscheinlich die Supraleitung unterdrücken, und werden daher – soweit wir das jetzt übersehen können – immer normalleitend bleiben.

Man hoffte, aus dem Vorkommen der Supraleitfähigkeit in gewissen Metallen Hinweise für das Verständnis der Supraleitung zu bekommen. Zuerst glaubte man, bestimmte Atome könnten supraleitend sein und andere nicht, aber diese Idee erwies sich bald als falsch, als man nämlich Supraleitung in der Verbindung Au2Bi und sogar in CuS entdeckte, obgleich ihre Komponenten (Gold, Wismut; Kupfer, Schwefel) nicht supraleitend sind. Überdies zeigte sich, daß nur gewöhnliches weißes Zinn supraleitend ist, während die graue Modifikation des Metalls normalleitend bleibt. Die beiden Modifikationen unterscheiden sich nur in der Struktur des Kristallgitters, das im ersten Fall tetragonal und im zweiten kubisch ist. Diese Tatsachen zeigten, daß die Ursache der Supraleitfähigkeit eher in dem freien Elektronengas als in der Natur des Atoms gesucht werden muß. Auch heute, nachdem unzählige Experimente einige Hinweise über den Zusammenhang zwischen Kristallstruktur, Zahl der freien Elektronen und Supraleitfähigkeit gegeben haben, ist die Korrelation noch nicht gut genug, um bei der Aufklärung der Supraleitung viel helfen zu können.

Eine weitere Andeutung dafür, daß die Supraleitfähigkeit ihren Ursprung in irgendeiner besonderen Anordnung der freien Elektronen hat, liefert die Tatsache, daß die Erscheinung auf tiefe Temperaturen beschränkt ist. Die mit jedem Übergang und so auch mit dem zur Supraleitfähigkeit verbundene Energie kann ganz allgemein durch die Größe k • T abgeschätzt werden, wobei T in diesem Fall die Sprungtemperatur ist. Da man über 20° K keinen Supraleiter fand, sind T und damit die Energie zu klein, als daß man sie einem Vorgang im Innern des Atoms zuschreiben könnte. Tatsächlich zeigen nur einige Legierungen eine Sprungtemperatur nahe 20° K, während die Sprungtemperaturen der

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reinen Metalle alle unter 10° K liegen. Als sich die Supraleitungsforschung auf die neu errichteten

Tieftemperaturlaboratorien ausgedehnt und so an Umfang zugenommen hatte, war schon 1933 immer klarer geworden, daß unserer Kenntnis noch etwas Wichtiges fehlte. Was es eigentlich war, konnte man nicht unmittelbar sehen, vieles allerdings deutete auf das magnetische Verhalten. Gewisse, in Leiden vorgenommene Untersuchungen des Übergangs (zur Supraleitung) von Drähten in einem Magnetfeld lieferten Ergebnisse, die einigen früheren direkt zu widersprechen schienen. Eine weitere Unstimmigkeit ergab sich aus Onnes' Hoffnung, starke Magnetfelder zu erzeugen. 1930 hatten de Haas und Voogd festgestellt, daß Drähte aus einer Blei-Wismut-Legierung noch in Magnetfeldern von 20 000 Oe supraleitend blieben. Als ich drei Jahre darauf den ersten Heliumverflüssiger Englands im Clarendon Laboratory installierte, schien diese Legierung genau das richtige Material, um damit einen supraleitenden Magneten zu konstruieren. Es wurde daraus eine Spule angefertigt, aber sie lieferte nicht das erwartet starke Feld.

Während wir uns noch die Köpfe darüber zerbrachen, was an unserem Magneten wohl versagt hatte, meldeten Meißner und Ochsenfeld sowie Heidenreich in Berlin eine Entdeckung, die alle Vorstellungen von der Supraleitung völlig über den Haufen warf. Um ihre Bedeutung zu verstehen, müssen wir uns die Schwellenwertkurve näher anschauen, die die Grenze des supraleitenden Zustands im Magnetfeld-Temperatur-Diagramm angibt (Abb. 38). Die durch diese annähernd parabolische Kurve eingeschlossene Fläche ist das Gebiet, in dem das Metall supraleitend ist, während es bei höheren Temperaturen oder Magnetfeldern jenseits der Kurve normal leitet. Am »Sprungpunkt« Tc reicht bereits ein verschwindend kleines Feld zur Unterdrückung der Supraleitung aus. Dieser Punkt ist natürlich von Metall zu Metall verschieden, z. B. 4,1° K bei Quecksilber, 0,56° K bei Cadmium und 9° K bei Niob. Wenn die Temperatur unter Tc sinkt, bleibt das Metall supraleitend auch in einem Magnetfeld, und das maximale Feld H0, dem die Supraleitung am absoluten Nullpunkt widerstehen kann, ist wiederum von Substanz zu

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Substanz verschieden. Für die eben erwähnten Metalle sind die Werte 400 bzw. 30 bzw. 1700 Oersted.

Betrachten wir jetzt, wie sich das Magnetfeld in der Nähe einer Metallkugel verhält, deren elektrischer Widerstand verschwindet, wenn wir sie unter Tc abkühlen. Da die Abkühlung (von A nach B) bei äußerem Feld Null durchgeführt wird, sind keine Änderungen zu erwarten. In B steigern wir die Feldstärke um die Kugel herum von 0 auf einen Wert C unterhalb des kritischen Werts. Da die Kugel jetzt supraleitend ist, wird der Anstieg der äußeren Feldstärke durch Dauerströme in ihrer Oberfläche kompensiert, und kein magnetischer Fluß kann in sie eindringen. Daher bauschen sich die magnetischen Kraftlinien um den Äquator der Kugel herum aus; diese lokale Zunahme des magnetischen Flusses kann leicht durch ein geeignetes Instrument nachgewiesen werden. Wird die Kugel jetzt in einem konstanten äußeren Feld von C nach D erwärmt, dann verschwinden die Dauerströme in ihrer Oberfläche beim Passieren der Schwellenwertkurve, und der magnetische Fluß dringt in sie ein, bis bei D das Feld innen und außen gleich ist.

Etwas völlig anderes ist jedoch zu erwarten, wenn die Kugel denselben Kreislauf umgekehrt durchmacht. Steigt das Feld von A nach D, so dringen die Kraftlinien in die Kugel ein, da sie normal leitend ist. Bei Abkühlung im konstanten Feld von D nach C wird die Kugel zwar supraleitend, aber da wir das äußere Feld nicht ändern, ist keine magnetische Wirkung zu erwarten. Andererseits macht sich die Supraleitfähigkeit im magnetischen Verhalten der Kugel bemerkbar, wenn jetzt das Feld von C auf Null bei B absinkt. Wenn die Kraftlinien das Metall zu verlassen suchen, wird diese magnetische Änderung durch Dauerströme in der Kugeloberfläche kompensiert, die den Fluß am Entweichen hindern. Bei B sollte die Kugel also als magnetischer Dipol, ähnlich einem Stabmagneten, zurückbleiben.

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38 u. 39 Die Wirkungen verschwindenden Widerstands und verschwindender magnetischer Induktion.

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Bis 1933 nahm man allgemein an, daß ein Supraleiter sich tatsächlich so verhält; ein frühes Experiment in Leiden schien diese Annahme zu stützen. Leider war jedoch die damals benutzte Kugel hohl gewesen, ein wichtiger Umstand, den alle übersehen zu haben scheinen. Erst als von Meißner mit Ochsenfeld und Heidenreich entsprechende Experimente an massiven Körpern (es wurden Zylinder, keine Kugeln, verwendet) richtig ausgeführt wurden (vgl. wieder Abb. 38 u. 39), kamen die wahren magnetischen Eigenschaften des supraleitenden Zustands zum Vorschein. Der Kreis ABCD ergibt tatsächlich das erwartete magnetische Verhalten, der umgekehrte Kreis ADCB aber führt zu einem höchst überraschenden Effekt. Im Abschnitt DC verbleibt der magnetische Fluß nicht im Metall, sondern wird beim Passieren der Schwellenwertkurve vollkommen aus ihm hinausgedrängt. Dementsprechend bleibt in der Kugel bei der Verminderung der äußeren Feldstärke von C nach B kein Fluß zurück, und bei B ist kein magnetischer Dipol.

Der neue, von Meißner entdeckte Effekt besteht in der spontanen Verdrängung des magnetischen Flusses aus dem Metall, wenn es supraleitend wird. Das Auftreten dieser Erscheinung führt auch zu einer neuen Symmetrie des magnetischen Verhaltens, da es offenbar gleich ist, in welcher Richtung der Kreis durchlaufen wird. Wir haben uns deshalb mit dem Experiment selbst so eingehend beschäftigt, weil man nur auf diese Weise verstehen kann, daß das Verschwinden des elektrischen Widerstands allein nicht zur Erklärung des Meißner-Effekts ausreicht. Beim Übergang zum supraleitenden Zustand verschwindet also nicht nur der Widerstand, sondern auch die magnetische Induktion.

Im ersten Jahr nach der neuen Entdeckung versuchten viele, die beiden Effekte mit Hilfe von Maxwells elektrodynamischen Gleichungen miteinander zu verknüpfen. Aber bald wurde klar (das steht bereits in Meißners und Heidenreichs Arbeit), daß alle derartigen Versuche zum Scheitern verurteilt waren, da die entscheidenden Gleichungen in diesem Fall unbestimmt wurden. Die Supraleitung konnte offenbar nicht im Rahmen der gewöhnlichen Elektrodynamik verstanden werden und erforderte eine völlig neue Theorie. Diese wurde bald darauf von Fritz und

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Heinz London geschaffen, die aus Nazideutschland nach Oxford emigriert waren. Der Ansatz ihrer Arbeit ergab sich aus der Dissertation von Heinz London, in der er die Eindringtiefe eines Dauerstroms in die supraleitende Oberfläche berücksichtigt hatte. Er war zu einem interessanten Ergebnis gelangt, das wir noch besprechen werden. Zusammen mit seinem älteren Bruder kam er gerade in England an, als der Meißner-Effekt entdeckt wurde, was seiner Arbeit neues Gewicht verlieh. Sein Bruder Fritz half ihm jetzt mit seinem hervorragenden theoretischen Können. Im Clarendon Laboratory ging es gerade sehr hektisch zu, da die Experimentatoren weitere Ergebnisse zum Meißner-Effekt lieferten, die endlose Diskussionen zwischen ihnen und den Theoretikern auslösten. Dank dieser engen Zusammenarbeit gelang es den Londons, in weniger als zwei Jahren nach der Entdeckung des Meißner-Effekts eine neue Elektrodynamik für Supraleiter zu formulieren.

Das Wesentliche an dieser Elektrodynamik ist eine neue Gleichung für den Zusammenhang zwischen Strom und Magnetfeld, die Maxwells wohlbekannte Beziehung zwischen Strom und elektrischem Feld ersetzt. Abgesehen davon, daß sie die elektromagnetischen Erscheinungen der Supraleitung verständlich beschreiben, besitzen die Gleichungen der Londons eine tief befriedigende Symmetrie. In der gewöhnlichen Elektrodynamik ist ein konstanter Strom mit einem konstanten Magnetfeld verbunden, aber ein konstantes Magnetfeld führt nicht zu einem Strom. Damit in einem normalen Leiter ein Strom entsteht, muß sich das Magnetfeld zeitlich ändern; das führt notwendig zur Asymmetrie der elektrodynamischen Gleichungen. Im Supraleiter andererseits ist die Beziehung zwischen einem konstanten Strom und einem konstanten Magnetfeld, wie die Londons zeigten, symmetrisch, und zwar deshalb, weil ein konstantes Feld auch einen konstanten Strom bewirkt. Das sind die zuerst von Kamerlingh Onnes demonstrierten Dauerströme und die Ströme des Meißner-Effekts, die in einem Metall auftreten, wenn es im konstanten Magnetfeld zum supraleitenden Zustand abgekühlt wird.

Die seltsame Erscheinung der Supraleitung bietet also wegen ihrer schönen Symmetrie ein viel einfacheres Bild als die normale elektrische

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Leitung. Die Symmetrie wird zerstört, wenn wir die Nähe des absoluten Nullpunkts verlassen. Hätte Faraday seine Experimente an der Royal Institution mit supraleitenden Bleidrähten in flüssigem Helium statt mit Kupferdrähten bei Zimmertemperatur durchgeführt, dann hätte er die Gesetze der elektromagnetischen Induktion so klar und einfach entdeckt, daß er sie als grundlegend angesehen hätte. Was wir normale elektrische Leitung nennen, wäre ihm dann als eine komplizierte Abweichung erschienen.

Die Verdrängung des magnetischen Flusses aus dem Metall bei Abkühlung über die Schwellenwertkurve hinweg führt zu einer weiteren wichtigen Folge des Meißner-Effekts; man kann hier nämlich die Thermodynamik anwenden. Beim Verdrängen und Zurückkehren des magnetischen Flusses beim Obergang zwischen C und D in Abb. 38 u. 39 wird Arbeit geleistet, genau wie bei der Expansion oder Kompression eines in einem Zylinder eingeschlossenen Gases. Die thermodynamischen Beziehungen sind, wie wir gesehen haben, so allgemein, daß es völlig gleichgültig ist, ob die Arbeit gegen einen Kolben oder eine magnetische Feldstärke geleistet wird. Es ist interessant, daß schon vor Entdeckung des Meißner-Effekts allgemein vermutet wurde, daß man die Supraleitung thermodynamisch behandeln könnte. Der vollständige Formalismus war in der Tat von Gorter in Holland kurz vor Meißners Entdeckung ausgearbeitet worden. Die Voraussagen der Formeln zu prüfen war die nächste Aufgabe für die Experimentatoren in Leiden, Oxford und Charkow.

Bei dieser Arbeit wurde der erste Anhaltspunkt zum Verständnis des Versagens unserer Blei-Wismut-Magnetspule für hohe Felder gefunden. Während in reinen Metallen die thermischen Effekte wie die spezifische Wärme und die latente Übergangswärme gut mit den mittels der Thermodynamik aus der Schwellenwertkurve vorausgesagten Werten übereinstimmten, war dies für die Legierungen nicht der Fall. Wegen der äußerst hohen Schwellenwerte konnte man sehr ausgeprägte thermische Effekte in den Legierungen erwarten, aber bei den Experimenten in Oxford wie in Charkow war davon nichts zu sehen. Wieder zeigte sich deutlich, daß unserer Kenntnis des supraleitenden Zustands etwas Wichtiges fehlte,

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und insbesondere, daß sich Legierungen ganz anders als reine Metalle zu verhalten schienen.

Diese reichhaltige Information ließ ganz klar nähere magnetische Untersuchungen supraleitender Legierungen geraten erscheinen. Das Jahr 1934 war sehr arbeitsreich für die Experimentatoren in Oxford, Charkow und Leiden, die sich alle mit fast denselben Problemen beschäftigten und mit ähnlichen Methoden arbeiteten. Ihre jeweiligen Methoden waren aber doch noch verschieden genug, um eine gegenseitige Prüfung der Ergebnisse zu gestatten. Dieser Arbeitseifer führte dazu, daß die Zusammenhänge ziemlich klar zutage getreten waren, als Anfang 1935 in der Royal Society in London eine Konferenz stattfand. Die Legierungen zeigten tatsächlich ein ganz anderes Verhalten als die reinen Metalle. Statt daß sie das Magnetfeld bis zum Erreichen der Schwellenfeldstärke völlig aus dem Metall ausschlossen, ließen die Legierungsproben den magnetischen Fluß bereits bei einem relativ schwachen Feld eindringen. Wenn die Kraftlinien jedoch die Legierungen durchsetzten, fand nicht dasselbe plötzliche Verschwinden des supraleitenden Zustands wie in reinen Metallen statt. Man stellte fest, daß das Eindringen des magnetischen Flusses in die Probe ein allmählicher Vorgang ist, der sich über einen weiten Feldbereich erstreckt, währenddessen die Probe elektrisch supraleitend bleibt. Das Ergebnis kann in einem Diagramm (Abb. 40) ähnlich dem für reine Metalle dargestellt werden. Der Unterschied besteht darin, daß bei einer Legierung die Schwellenkurve durch einen weiten Bereich allmählichen Eindringens des Flusses ersetzt wird.

Was diese eigenartige Erscheinung zu bedeuten hatte, sah man nur langsam ein, und die Früchte derartiger Untersuchungen wurden erst dreißig Jahre später geerntet. Kehren wir nun zum Gegenstand der ebenfalls 1934 veröffentlichten Doktorarbeit von Heinz London zurück. Unsere frühere Behauptung, daß ein Magnetfeld in der Oberfläche eines Supraleiters Dauerströme induziert, ist zwar zur Erklärung der beschriebenen Erscheinungen gut geeignet, aber dennoch etwas grob. Ein Strom besteht aus bewegten Elektronen, die einander abstoßen. Wir

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können deshalb nicht annehmen, daß der Dauerstrom in der geometrischen Oberfläche des Metalls fließt; er muß sich bis zu einer gewissen Tiefe in das Metall hinein erstrecken. Diese Eindringtiefe berechnete Heinz London zu etwa 10-5 cm; natürlich dringt auch das Magnetfeld genauso tief in das Metall ein.

Das eigentlich supraleitende Volumen einer Metallprobe ist deshalb ein ganz klein wenig geringer als ihr geometrisches Volumen, da man noch die 10-5 cm dicke Haut abziehen muß. Selbstverständlich ist diese Abweichung gewöhnlich zu klein, um an Proben normaler Größe festgestellt werden zu können, aber bei dünnen Metalldrähten oder –schichten wird sie wichtig (s. Abb. 41). Dann entsteht eine seltsame Schwierigkeit. Wir haben gesehen, daß die mit dem Übergang zwischen dem supraleitenden und normalen Zustand des Metalls verbundene Energie durch die Arbeit bei Verdrängung des Magnetfelds aus dem Volumen der Probe gegeben wird. Da dies eine thermodynamische Grundgröße ist, kann sie nicht von der Gestalt der Probe abhängen. Hat das Metall also die Form eines feinen Drahts, dessen Querabmessungen, verglichen mit der Eindringtiefe, nicht groß sind, dann ist das Volumen, aus dem der magnetische Fluß verdrängt wird, entsprechend kleiner als in einer kompakten Probe. Daraus folgt, daß die einzige Möglichkeit, denselben Wert für die Übergangsenergie zu erhalten, darin besteht, das Schwellenwertfeld entsprechend zu erhöhen.

Diese Folgerung aufgrund der Londonschen Elektrodynamik ist deshalb besonders interessant, weil sie eine Prüfung der Theorie durch ein direktes Experiment ermöglicht. Es gab da gewisse Schwierigkeiten. Die Technik der Herstellung sehr dünner Drähte war damals noch nicht sehr weit. Überdies mußte das Metall frei von Verunreinigungen sein, um nicht Legierungseigenschaften zu haben. Dennoch wurde der Versuch 1937 in Oxford von dem jungen Amerikaner Rex Pontius durchgeführt, dem die Herstellung so feiner Bleidrähte gelungen war, daß ihr Durchmesser mit der berechneten Eindringtiefe vergleichbar wurde. Das Ergebnis war äußerst befriedigend, da nicht nur eine größere Schwellenfeldstärke beobachtet wurde, sondern diese auch noch genau die von der Theorie vorausgesagte Größe hatte.

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So ermutigend dieser Beweis der Theorie war, führte er doch zu einer weiteren unangenehmen Frage. Das Experiment hatte unzweideutig gezeigt, daß ein feiner Draht noch bei viel höheren Feldstärken supraleitend ist als das kompakte Material. Warum, so können wir fragen, tritt der Meißner-Effekt überhaupt auf? Warum teilt sich das in ein Magnetfeld gebrachte Metall nicht statt dessen in ein System feiner normal- und supraleitender Bereiche auf, deren jeder dann bis hinauf zu sehr hohen Feldstärken supraleitend bleiben könnte?

Zum Glück war die Antwort auf diese Frage aus einem anderen Zweig der Physik, nämlich vom Verhalten der Wassertropfen her, wohlbekannt. Zwei oder mehrere kleine Tröpfchen vereinigen sich, wenn sie miteinander in Berührung kommen, immer zu einem größeren Tropfen. Der umgekehrte Vorgang, eine spontane Aufteilung eines Tropfens in eine Anzahl von Tröpfchen, findet nicht statt. Für diese Erscheinung ist natürlich die Oberflächenspannung verantwortlich, die zu einem Energiegewinn bei Verminderung der Gesamtoberfläche führt. Eine gegebene Wassermenge hat in Form eines einzigen kugelförmigen Tropfens die kleinstmögliche Oberfläche. Ein spontaner Zerfall in Tröpfchen kann nicht vorkommen, weil ein solcher Vorgang zu einer größeren Oberfläche führen und daher Energie erfordern würde.

Wenden wir diese Überlegungen auf die Supraleitung an, so müssen wir folgern, daß die Existenz des Meißner-Effekts auf eine positive Oberflächenspannung an der Grenze zwischen den supra- und normalleitenden Zuständen im Metall hindeutet. Der magnetische Fluß wird insgesamt aus der Probe verdrängt, weil zuviel Energie zur Bildung der großen Oberfläche zwischen all den feinen supra- und normalleitenden Bereichen nötig wäre. Gleichzeitig erhalten wir eine Erklärung für das seltsame Verhalten der supraleitenden Legierungen; sie sind offenbar Metalle mit negativer Oberflächenenergie. Jetzt wurde auch das Versagen des Oxforder Magneten für starke Felder klar. Er war unter der Annahme konstruiert worden, daß sich die Legierung, aus der er bestand, wie ein reines Metall verhielt; und diese Annahme war unberechtigt gewesen.

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41 Eindringen des magnetischen Flusses in einen dicken und einen dünnen supraleitenden Draht. Im dünnen Draht verschwindet die magnetische Induktion nirgends vollständig.

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So weit kam die Forschung bereits Mitte der dreißiger Jahre, aber etwa zwanzig Jahre mußten noch vergehen, bis man diese andere Art der Supraleitung, wie sie die Legierungen zeigen, wirklich zu verstehen begann. Auch heute ist unser Wissen darüber noch unvollständig. Diesmal lagen eher zu viele als zu wenige neue Ergebnisse vor, und die Wege der Forschung verwirrten sich hoffnungslos. Ganz am Anfang der Untersuchungen war offenbar geworden, daß nicht nur Beimischungen, sondern jede Art von Gitterfehlern das Supraleitungsverhalten beeinflussen. Die Sache wurde noch komplizierter dadurch, daß die harten Supraleiter wie Tantal und Niob für diese Einflüsse viel empfänglicher schienen als die weichen wie Blei oder Zinn. In Oxford fand man, daß die Gitterfehler ein Netzwerk supraleitender Stromfäden im Metall schufen, und jetzt erhob sich die Frage, ob die Probe nach Beseitigung der Gitterfehler zu dem herkömmlichen Verhalten mit einer scharfen Schwellenwertkurve zurückkehren würde.

Leider ist es äußerst schwierig, eine homogene Legierung ohne Gitterfehler herzustellen. Von allen in den dreißiger Jahren an der Tieftemperaturforschung beteiligten Laboratorien verfügte Schubnikows Gruppe in Charkow offenbar über die besten metallurgischen Hilfsmittel. Aber diese Untersuchungen fanden wahrscheinlich 1937 ein Ende, als Schubnikow verhaftet wurde, und zwar auf Vorwürfe hin, die sich später als grundlos erwiesen und von denen er postum rehabilitiert wurde. In Oxford verzeichnete man einen Erfolg, als man feststellte, daß sich eine genügend saubere Tantalprobe wie ein weiches Metall verhält; aber es war ein Erfolg in der falschen Richtung, da er von der Arbeit an Legierungen ablenkte. Überdies verlagerten dort wie in Leiden die gerade entdeckten Eigenschaften des supraflüssigen Heliums den Schwerpunkt des Forschungsinteresses.

Der Krieg kam dazwischen, und erst in den frühen fünfziger Jahren fand Pippard in Cambridge einen theoretischen Grund dafür, warum die Oberflächenspannung in Legierungen negativ sein könnte. Aber noch war das vorhandene experimentelle Material zu verwirrend, als daß man diesen Fortschritt hätte ausnutzen können. 1957 veröffentlichte Abrikosow in

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Moskau eine vollständige Theorie dieser Art der Supraleitung und machte einige Voraussagen über das Verhalten einer »idealen« supraleitenden Legierung. Er legte seine Arbeit auf einer Tieftemperaturkonferenz in Moskau vor, der ersten, an der eine kleine Anzahl Physiker aus Oxford und Cambridge teilnahmen. Es war eine höchst anregende Tagung, auf der sich Leute, die ihre Arbeiten gegenseitig mehr als zwei Jahrzehnte lang verfolgt hatten, zum erstenmal persönlich trafen. Es war erstaunlich zu sehen, wie sehr die Forschung auf demselben Gebiet uns verbunden hatte; in wenigen Stunden entstanden zwischen uns enge und dauerhafte Freundschaften. Der erste Toast wurde zum Gedenken an Schubnikow ausgebracht, auf dessen Arbeit sich Abrikosows Theorie weitgehend stützte. Schubnikows Witwe und Kollegin, Olga Trapesnikowa, wurde Zeugin des Erfolgs der letzten Forschungsarbeiten ihres Mannes. Abrikosow wurde wegen seiner Theorie in die Sowjetische Akademie der Wissenschaften gewählt, aber es vergingen noch fünf Jahre, bis sie nachgeprüft werden konnte.

Dann erst standen die ersten guten Einkristallproben von Legierungen, hergestellt im Services Electronics Research Laboratory in England, zur Verfügung. Ihre Untersuchung zeigte, daß sie tatsächlich alle von Abrikosow vorausgesagten Eigenschaften aufwiesen. Diese Metalle sind seitdem als Supraleiter zweiter Art bekannt geworden.

Wir haben uns nicht nur deshalb so lange bei den Fragen der Eindring-tiefe, kleiner Abmessungen und der Oberflächenspannung aufgehalten, weil sie zum Verständnis dieser neuen Art von Supraleitung wichtig sind, sondern auch, weil sie zu einer Entwicklung geführt haben, die wahrscheinlich eine große technologische Bedeutung bekommen wird. Kamerlingh Onnes' Hoffnungen, starke Magnetfelder mit supraleitenden Spulen herzustellen, wurden durch seine eigene Entdeckung der niedrigen Schwellenwerte zunichte gemacht, durch die Entdeckung der hohen Schwellenwerte der Legierungen wiederbelebt und erneut enttäuscht durch das Versagen der Oxforder Spule. Ein Vierteljahrhundert ohne weiteren Fortschritt verging bis zum nächsten Versuch. Inzwischen hatten sich die allgemeinen Bedingungen sehr geändert. Der Preis für Heliumgas war stark gefallen. Heliumverflüssiger wurden kommerziell hergestellt mit dem

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Ergebnis, daß viele Laboratorien, besonders in Amerika, jetzt kältetechnische Forschungseinrichtungen zur Verfügung hatten. Überdies wurde nach der wertvollen Lehre des Zweiten Weltkriegs viel bereitwilliger Geld für Forschungszwecke ausgegeben. Alle diese Faktoren zusammen mußten dazu führen, daß irgend jemand festzustellen versuchen würde, wieweit man wirklich Supraleiter zur Erzeugung von Magnetfeldern verwenden könnte.

Da die Legierungen nutzlos schienen, griff man zu einem reinen Metall. Die Wahl fiel natürlich auf Niob, da es die höchste Sprungtemperatur (9° K) und den höchsten Schwellenwert besitzt. Außerdem standen seit dem Krieg ziemlich reine Niobdrähte zur Verfügung. Das Ergebnis der ersten Experimente war genauso überraschend wie das mit der Oxforder Spule erzielte, aber im entgegengesetzten Sinn. Das erreichbare Feld lag erheblich höher als erwartet. Man erinnerte sich der 25 Jahre zurückliegenden Oxforder Arbeiten, bei denen festgestellt worden war, daß sich gedehntes Tantal und Niob etwa wie Legierungen verhalten. Das war ein wichtiger Hinweis, und so wandte man sich wieder den Legierungen zu, aber nun denen harter Metalle. Anders als ihre knauserigen Konkurrenten in der Alten Welt hatte die amerikanische Elektroindustrie kältetechnische Laboratorien eingerichtet; jetzt kam ihnen diese Investition zugute. Bell Telephone Laboratories, General Electric und Westinghouse konnten über Nacht leistungsfähige Forschungsteams auf das Problem supraleitender Magnete ansetzen, und nach drei Jahren (1963) wurde die erste supraleitende Spule, die 100 000 Oe erzeugte, in Betrieb genommen (Abb. 42).

Die dabei verwandte Legierung entspricht etwa einer intermetallischen Verbindung von Niob und Zinn, aber auch andere Kombinationen, wie z. B. Niob-Zirkonium und Molybdän-Rhenium, haben gute Ergebnisse gezeitigt. Auf dem kältetechnischen Forschungsgebiet, wo man in jedem Fall flüssiges Helium benutzt, haben Magnete aus diesen Legierungen bereits die experimentellen Methoden revolutioniert. Immer mehr werden teure wassergekühlte Spulen aus Kupferdraht, die man zur magnetischen Abkühlung benutzte, durch relativ kleine supraleitende Magnete ersetzt.

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Die großen Generatoren, die zur Stromversorgung der konventionellen Spulen nötig gewesen waren, machten einer Reihe normaler Autobatterien Platz, die genug Energie für die supraleitenden Spulen liefern. Auch die Zahl dieser Batterien kann dank einer anderen supraleitenden Vorrichtung, »Flußpumpe« genannt, auf ein Minimum reduziert werden.

In ihrer einfachsten Form besteht die Flußpumpe aus einer an einem Ende offenen supraleitenden Drahtschleife, über die ein kurzes Stück Draht im Kontakt mit ihr bewegt werden kann (Abb. 43). Am Anfang wird ein mäßiges Magnetfeld, wie es etwa ein normaler Labormagnet erzeugt, über die ganze Fläche der Schleife hergestellt, und der Draht liegt über ihren Enden (1). Die von Schleife und Draht eingeschlossene Fläche A ist jetzt also von einem geschlossenen supraleitenden Kreis umgeben. Wird der Draht über die Schleife bewegt, dann verkleinert sich die Fläche A, aber kein magnetischer Fluß kann diesem schrumpfenden supraleitenden Ring entweichen. Statt dessen wird darin ein Dauerstrom erzeugt. Bei (2) ist der ganze vorher in A enthaltene Fluß jetzt auf die viel kleinere Fläche A' konzentriert, und ein zweiter Querdraht wird über die Enden der Schleife gelegt. Dann (3) wird dieser zweite Draht über die Schleife bewegt und der erste abgenommen. Kurz vor der Abnahme war der ganze ursprünglich in A enthaltene Fluß in A' und der in der Fläche A–A' enthaltene Fluß zwischen den Querdrähten eingefangen. Wenn der erste Draht beseitigt wird, kann sich der durch ihn eingefangene Fluß ein wenig ausdehnen; aber sobald der zweite Draht in dieselbe Lage gebracht worden ist (4), entspricht der gesamte in der Fläche A' konzentrierte Fluß dem ursprünglich in A + (A–A') enthaltenen. Inzwischen ist der erste Draht wieder über die Enden der Schleife gelegt, und der ganze Vorgang kann wiederholt werden. Bei jedem Arbeitsgang der Flußpumpe steigt die magnetische Feldstärke. Die für diese Kompression des magnetischen Flusses benötigte Energie besteht in der Arbeit, die man beim Verschieben des Drahts gegen die magnetische Kraft leistet. Eine Grenze ist der Pumpe nur durch den Schwellenwert des Materials gesetzt, aus dem Schleife und Querdraht hergestellt sind.

Viele Varianten einer solchen Flußpumpe sind ausprobiert worden. Sie

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alle sind über unser einfaches Schema hinaus etwas weiterentwickelt, arbeiten aber nach demselben Prinzip. Die Beugung der Schleife wird durch eine supraleitende Spule ersetzt, der so Schritt für Schritt, ausgehend von einem ganz schwachen Magnetfeld, Energie zugeführt werden kann. Das Flußpumpen wird besonders in Zukunft nützlich sein, wenn supraleitende Spulen zur Erzeugung starker Magnetfelder in großen Volumina betrieben werden müssen. Die Verwendung supraleitender Magnete in der Tieftemperaturforschung ist nämlich nur ein Vorge-schmack kommender Dinge.

Es gibt eine Reihe höchst wichtiger technologischer Probleme, die bisher nicht erfolgreich angegangen werden konnten, weil ihre Anforderungen über die Leistung konventioneller Magnete hinausgehen. Dazu gehören z. B. die Beherrschung thermonuklearer Reaktionen, d. h. die kontrollierte Freisetzung der Fusionsenergie der Wasserstoffbombe, und magnetohydrodynamische Methoden, um Wärme direkt in elektrische Energie umzuwandeln. Bisher konnte man die dafür benötigten starken und ausgedehnten Magnetfelder noch nicht herstellen. Die Schwierigkeit liegt darin, daß die Wärme, die ein Strom in den Kupferdrahtwindungen eines konventionellen Magneten erzeugt, mit dem Quadrat dieses Stroms anwächst; denn schließlich kommt man dahin, daß man noch so viel Kühlwasser durch den Magneten pumpen kann, ohne diese Wärme wirksam zu beseitigen. In der supraleitenden Spule wird überhaupt keine Wärme erzeugt, da der elektrische Widerstand Null ist. Zwar braucht man gewaltige Gefäße mit flüssigem Helium, um darin die großen supraleitenden Spulen kühlen zu können, aber das ist ein geringer Preis für diese neuen Methoden der Energieerzeugung vermittels höchster Magnetfelder, die man sonst nicht anwenden könnte.

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42 Ein supraleitendes Solenoid, mit dem man Magnetfelder von 100 000 Oersted erzeugen kann.

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Als die ersten erfolgreichen Legierungsproben untersucht wurden, stand man noch ganz unter dem Einfluß von Abrikosows jüngster Arbeit. Deshalb hielt man diese Proben für reine Supraleiter zweiter Art. Das erwies sich zum Glück als nicht richtig; denn die Herstellung kilometerlanger reiner Drähte zweiter Art hätte sich als ein ungeheures und vielleicht unlösbares metallurgisches Problem herausgestellt. Statt dessen stellte man fest, daß ein Magnetdraht,, um geeignet zu sein, nur stark gedehnt zu werden braucht, so daß der Strom in Fasern fließen kann, wie man es bereits nach den alten Oxforder Experimenten gefordert hatte.

In den letzten Jahren fragte man sich oft, ob wir supraleitende Magnete ein Vierteljahrhundert früher gehabt hätten, wenn die Experimente in Oxford und Charkow in den späten dreißiger Jahren fortgesetzt worden wären. Ich glaube, daß die Antwort darauf ein entschiedenes Nein ist. Damals gab es weder die kältetechnischen Möglichkeiten, noch benötigte man solche Magnete. Jeder, der damals den Aufwand von Hunderttausenden von Mark für eine solche Entwicklung vorgeschlagen hätte, wäre für verrückt gehalten worden. Erst mußten der Krieg, das Düsenflugzeug, das Penicillin und die Atombombe kommen, um die Menschheit an kostspielige Forschung zu gewöhnen.

Außer der Magnetherstellung gibt es noch andere Gebiete, auf denen die Supraleitung wichtig werden kann, aber hier können wir nur ein paar davon kurz erwähnen. Supraleitende Vorrichtungen können sich als Computerbauelemente nützlich erweisen, sowohl für die Rechenprozesse als auch zur Datenspeicherung. Insbesondere Computergedächtnisse sind schwer zu bauen, vor allem wenn die gespeicherte Information rasch zugänglich sein soll. Dauerströme sind vielleicht die beste Lösung. Der erwähnte Schwebemagnet könnte der Vorläufer reibungsloser supraleitender Lager sein. Diese wiederum könnten zu einem sehr dauerhaften Kreiselkompaß führen, der genaue Navigation in Atom-U-Booten und Raumfahrzeugen ermöglichen würde.

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43 Schematische Darstellung der Wirkungsweise einer Flußpumpe.

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Statt uns jedoch in technologische Spekulationen zu verlieren und um unsere Geschichte der Supraleitung abzuschließen, kehren wir zu den Grundproblemen zurück, deren wichtigstes, das wir bisher übergangen haben, die Frage nach einer Erklärung ist. Es ist das schwierigste all dieser Probleme. Wenn wir auch heute erheblich klarer sehen als vor zehn Jahren, so stehen wir doch erst am Anfang.

Seit der Entdeckung der Supraleitung wurden natürlich viele verschiedene Theorien zu ihrer Erklärung vorgeschlagen; es waren jährlich etwa zwei bis drei, und das 25 Jahre lang. Alle Arten neuer Axiome, von unausgegorenen bis zu höchst verfeinerten, wurden formuliert, die alle eins gemeinsam hatten: Sie paßten nicht zu den Tatsachen.

Schließlich verkündete Felix Bloch, der so viel für unser Verständnis der Elektronen im Metall getan hat, ein eigenes Axiom, das lautete: »Jede Theorie der Supraleitung kann als falsch bewiesen werden.« Und für lange Zeit erwies sich dieses Axiom als das einzig richtige.

Ganz allmählich näherte man sich jedoch der Lösung, indem man eine Anzahl Versuche als unmöglich verwarf und mehr aus den Experimenten lernte. Die Londonsche Elektrodynamik und die Thermodynamik trugen viel zur Klärung bei. Z. B. konnte man aus einem Oxforder Experiment schließen, daß die Entropie eines Dauerstroms Null ist. Das ließ sofort eine kleine Lücke zwischen den verfügbaren Energiezuständen an der Fermi-Oberfläche (siehe Kapitel 7) vermuten, und wenige Jahre später konnte die Existenz dieser Lücke durch eine Reihe eleganter Experimente in Kalifornien gezeigt werden. Schon vorher hatte die tiefe Temperatur, bei der Supraleitung auftritt, klargemacht, daß die beteiligte Energie sehr klein ist. So wurde der Weg für die Theoretiker Schritt für Schritt vorgezeichnet, und man brauchte nur noch einen elektronischen Prozeß im Metall zu finden, der diese Bedingungen erfüllt und zu den anderen bekannten Erscheinungen der Supraleitung paßt. Das war eine ungeheure Aufgabe, die hervorragende Kenntnis der elektronischen Erscheinungen in Metallen, große Vertrautheit mit mathematischen Methoden, vor allem aber eine glänzende und dabei kontrollierte Phantasie erforderte.

Den, wie es heute scheint, entscheidenden Schritt taten 1950 Fröhlich in

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Liverpool und Bardeen in Illinois gleichzeitig und unabhängig voneinander. Die Grundidee ihrer Theorien ist, daß der zur Supraleitung führende Mechanismus auf einer durch die Gitterschwingungen vermittelten Wechselwirkung der Elektronen untereinander beruht. Grob gesagt, rührt die Supraleitung von dem Einfluß her, den die Anwesenheit von Leitungselektronen auf die atomaren Schwingungen ausübt. Nehmen wir der Einfachheit halber an, wir hätten es mit einem Metall zu tun, in dem jedes Atom ein freies Elektron geliefert hat. Der Kristall besteht also aus einem Gitter positiver Ionen, d. h. Atomen, die je ein Elektron verloren haben, und einem »Gas« aus gleich vielen freien Elektronen, die sich unregelmäßig durch dieses Kristallgitter bewegen. Ein negatives Elektron, das von positiven Ionen des Gitters umgeben ist, bewirkt, daß letztere zu ihm hingezogen werden. Diese schwache lokale Kontraktion des Kristallgitters hat zwei Folgen: Erstens werden weitere Elektronen angezogen – und das führt zur Supraleitung –, und zweitens werden die Schwingungen der positiven Ionen beeinflußt. Fröhlich sagte aufgrund dieser beiden Effekte voraus, daß sich in der Supraleitung die Masse der schwingenden Ionen bemerkbar machen sollte.

Zum Glück war die Kerntechnik so weit fortgeschritten, daß Isotope (Atome desselben Elements mit verschiedener Masse) einiger supraleitender Metalle getrennt werden konnten. Ohne daß Fröhlich es wußte, war das Experiment sogar schon in zwei amerikanischen Laboratorien im Gang. Die Ergebnisse zeigten eine kleine Änderung der Sprungtemperatur, mit der Ionenmasse, wie er sie vorausgesagt hatte. Natürlich wurde dieses Ergebnis als äußerst ermutigend angesehen, da zum erstenmal eine theoretische Voraussage einer Supraleitungserscheinung stimmte.

Aber für die theoretische Deutung der Supraleitung war es eher das Ende vom Anfang als der Anfang vom Ende. Das Experiment hatte bewiesen, daß die von Fröhlich vermutete Art der Wechselwirkung zwischen Elektronen und Gitterschwingungen die entscheidende war, aber von dort war es ein weiter Weg, bis gezeigt werden konnte, daß ein besonderer Mechanismus dieser Art wahrscheinlich Supraleitung bewirkte.

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Es scheint, daß sich an der »richtigen« anziehenden Wechselwirkung Elektronenpaare beteiligen, deren Partner jeweils dieselbe Geschwindigkeit in entgegengesetzten Richtungen und gleichzeitig entgegengesetzte Spins haben. Die mathematische Behandlung dieser Theorie bringt schwierige Probleme mit sich, die Bardeen, Cooper und Schrieffer in Amerika sowie Bogoljubow in Rußland auf etwas verschiedenen Wegen überwunden haben. Die Theorie ist jetzt so weit entwickelt, daß sie die meisten beobachteten Erscheinungen erklären, aber noch keine brauchbaren Voraussagen machen kann. Das überrascht nicht, da wir noch lange nicht die kleinen Wechselwirkungen zwischen Elektronen in einem Metall verstehen, die dieser Theorie zugrunde liegen. Es scheint so, als sei die besondere Art Wechselwirkung, die zu der spektakulären Erscheinung der Supraleitung führt, richtig erkannt, aber es kann noch andere, gleich wichtige Arten geben, deren Wirkungen weniger ins Auge springen. Erst weitere Untersuchungen an Metallen und wahrscheinlich bei noch tieferen Temperaturen können da Klarheit schaffen.

Der Laie ist vielleicht enttäuscht, daß sich die Ursache eines so auffälligen Phänomens wie der Supraleitung im atomistischen Rahmen nur als eine lächerliche kleine Wechselwirkung zwischen Elektronen und Gitterschwingungen herausgestellt hat. Dieses Gefühl hatten auch viele Physiker, die der Hoffnung gewesen waren, die Supraleitung könnte ein neues Grundprinzip der Natur offenbaren. Tatsächlich war man in den Jahren vor Fröhlichs Vorschlag geneigt gewesen, nach einer neuen, noch unentdeckten Art Wechselwirkung zwischen den Elektronen zu suchen.

Vielleicht ist dieses Gefühl der Enttäuschung voreilig. Erstens wissen wir noch nicht, ob die Fröhlichsche Wechselwirkungsart nicht vielleicht näher am absoluten Nullpunkt für das allgemeine Verhalten von Metallen sehr wichtig wird. Zweitens suchen wir neue Offenbarungen vielleicht in der falschen Richtung, wenn wir in der atomistischen Theorie der Supraleitung nach ihnen fahnden. Tatsächlich liefert die Theorie des festen Zustands selbst eine Art Parallele. Auch dort gibt die schwierige und etwas umständliche atomistische Theorie der Anziehungskräfte nur eine schwache Andeutung vom eindrucksvollen Schauspiel des Schmelzern, d.

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h. des plötzlichen Zusammenbruchs des regelmäßigen Kristalls zur gestaltlosen Flüssigkeit. Die auffälligen Merkmale des kristallinen Zustands, seine elastischen, optischen und akustischen Eigenschaften sind makroskopische Phänomene. Sie beruhen auf der regelmäßigen Anordnung der Atome, aber bezeichnender als die Natur der interatomaren Kräfte ist der Ordnungszustand, die Wiederholung dieser Regelmäßigkeit über weite Strecken hinweg.

Auch bei der Supraleitung zieht das makroskopische Phänomen des Dauerstroms unsere Aufmerksamkeit auf sich, und es liegt nahe, dahinter eine tiefere Bedeutung zu suchen, die vielleicht ein neues Ordnungsschema enthüllt. Daß eine Art Ordnung entsteht, wenn Supraleitung einsetzt, wissen wir. Sie äußert sich in einem steilen Entropieabfall beim Abkühlen des Metalls unter die Temperatur, bei der der elektrische Widerstand verschwindet. Noch eindrucksvoller ist das bereits erwähnte experimentelle Ergebnis, daß die Entropie eines Dauerstroms Null ist. Dieser Effekt läßt außerdem vermuten, daß wir es hier mit einer Manifestation der Energiequantelung im makroskopischen Bereich zu tun haben. Tatsächlich ergibt sich daraus, daß der Strom anhält und mit der Zeit nicht nachläßt, ein einfaches Argument dafür, daß der Strom in ähnlicher Weise gequantelt sein muß wie die Bahn eines Elektrons um den Kern. Diese makroskopische Quantelung war schon seit einiger Zeit vermutet und ihre Größe von Fritz London als hc/e vorausgesagt worden, wobei c die Lichtgeschwindigkeit und e die Ladung des Elektrons ist. Diese einzelnen Flußquanten sind klein, aber mit den äußerst verfeinerten modernen magnetischen Meßmethoden noch feststellbar. 1961 wurde dieses schwierige Experiment gleichzeitig in Kalifornien und Deutschland mit verschiedenen Methoden erfolgreich durchgeführt. Es wies schlüssig nach, daß Dauerströme nur in ganzen Vielfachen des Flußquantums vorkommen können.

Wenn die Supraleitung allein stünde, könnten wir trotz ihrer außergewöhnlichen Erscheinungen an ihrer grundlegenden Bedeutung für das Verständnis zusammenhängender Materie zweifeln. Aber diese seltsamen Erscheinungen kommen noch einmal und auch bei tiefen

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Temperaturen vor, aber in zusammenhängender Materie anderer Form, nämlich in flüssigem Helium selbst. Bevor wir uns wieder der zentralen Frage unserer Untersuchung, der Natur des Ordnungsschemas, zuwenden, müssen wir zunächst die Suprafluidität von Helium betrachten.

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10 | Suprafluidität

Im Rückblick muß es unbegreiflich erscheinen, daß dreißig Jahre vergangen sein sollen zwischen der ersten Verflüssigung des Heliums und der Entdeckung seiner auffälligsten Eigenschaft, der Suprafluidität. Während dieser dreißig Jahre wurden in Laboratorien überall in der Welt Tausende von Experimenten mit flüssigem Helium angestellt, und bei vielen müssen die Physiker beobachtet haben, daß die Flüssigkeit ihr Aussehen in seltsamer Weise änderte, wenn sie abgekühlt wurde. Man hat Gründe genug zu der Annahme, daß Kamerlingh Onnes an jenem denkwürdigen 10. Juli 1908 diese Erscheinung sah. Als fast ein Vierteljahrhundert später McLennan, Smith und Wilhelm sie in der Literatur erwähnten, kamen sie immer noch nicht auf die naheliegende Folgerung. Sie beschrieben das Kochen des flüssigen Heliums unter vermindertem Druck, das auftrat, als die Temperatur durch den Bereich des von Onnes entdeckten Dichtemaximums fiel, und sagten wörtlich: »… das Erscheinungsbild der Flüssigkeit unterlag einer auffälligen Veränderung, und die stürmische Aufwallung verschwand augenblicklich. Die Flüssigkeit wurde sehr ruhig …« (S. Abb. 44.) Wiederum, wie im Fall der Supraleitung, war es die Ungeheuerlichkeit der Entdeckung, die verhinderte, daß sie gemacht wurde. Die richtige Folgerung hätte ein Physikstudent der Anfangssemester ziehen können, aber welcher reife und erfahrene Physiker wagte im Ernst zu vermuten, daß die Wärmeleitfähigkeit der Flüssigkeit plötzlich auf das Millionenfache gestiegen war. Trotzdem war genau das der Fall.

Gehen wir für einen Augenblick zurück zu den Experimenten von Dana und Onnes aus dem Jahr 1924, die in Kapitel 4 erwähnt wurden. Kurz unterhalb der Temperatur des Dichtemaximums von 2,2° K hatten sie für

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die spezifische Wärme Werte gefunden, die so hoch waren, daß sie sie nicht zu veröffentlichen wagten. Sie waren überzeugt, daß irgendeins ihrer Meßinstrumente versagt hätte. Dana mußte nach Amerika zurück, und Onnes starb kurz darauf. Es vergingen weitere sechs Jahre, bevor die Frage der spezifischen Wärme des flüssigen Heliums von seinem Nachfolger Willem Hendrik Keesom und dem deutschen Gastforscher Klaus Clusius geklärt wurde. In der Mitteilung Nr. 219 des Leidener Laboratoriums veröffentlichten sie ihre Ergebnisse, die eine gewaltige Anomalie in der spezifischen Wärme zeigten. Da der Verlauf der Kurve dem griechischen Buchstaben λ ähnelt, ist die Anomalie als Lambda-Punkt bekannt geworden. Dieses Maximum der spezifischen Wärme liegt bei genau derselben Temperatur wie das Dichtemaximum (siehe Abb. 45).

Keesom erfaßte sofort, daß dies auf eine grundlegende Änderung in der Natur der Substanz hindeuten muß, und viele Forscher vermuteten begreiflicherweise, daß Helium doch einen Tripelpunkt besäße und die Phase unterhalb 2,2° K tatsächlich kristallin sei. Zugegeben, es war beweglich. Es sind aber Fälle bekannt, in denen die Kristallebenen so glatt sind, daß sie fortwährend gleiten und den Eindruck von Beweglichkeit hervorrufen. Flüssiges Helium, so folgerten sie, müsse infolge seines niedrigen Siedepunkts ideal rein und könnte der Extremfall eines solchen »flüssigen Kristalls« sein. Diese Erklärung erwies sich, so elegant und verblüffend sie war, als falsch. Die regelmäßige Anordnung eines Kristallgitters muß sich in einem regelmäßigen Beugungsbild von Röntgenstrahlen offenbaren. Als jedoch ein paar Jahre später Taconis in Leiden Helium unterhalb des Lambda-Punkts Röntgenstrahlen aussetzte, zeigte sich kein derartiges Beugungsbild. Man mußte also annehmen, daß die Substanz unter- wie oberhalb dieser Temperatur eine Flüssigkeit ist, allerdings eine solche, die bei 2,2° K eine tiefgreifende Umwandlung erfährt. Um was für eine Umwandlung es sich handelt, konnte Keesom nicht sagen. Er konnte nur zwischen zwei Flüssigkeitsarten unterscheiden, der oberhalb und der unterhalb des Lambda-Punkts. Erstere nannte er Helium I und letztere Helium II, eine Bezeichnungsweise, die beibehalten wurde und die auch wir im folgenden verwenden werden. Das bedeutet

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auch, daß das Zustands-diagramm des Heliums von dem jeder anderen Substanz verschieden ist. Es gibt keinen Tripelpunkt, weil die Schmelzkurve bei 25 Atmosphären aufhört, sich mit der Temperatur zu ändern (Abb. 46). Folglich verschwindet die latente Schmelzwärme, und der Schmelzvorgang wird bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt zu einem rein mechanischen Vorgang, der nur durch Druckänderung bewirkt werden kann. Die flüssige Phase erstreckt sich bis 0° K und ist in die zwei Bereiche des He I und He II geteilt.

Auf diese beiden Flüssigkeitsarten bezogen sich die oben zitierten Bemerkungen der Gruppe aus Toronto, und unter diesen Umständen muß es noch außergewöhnlicher erscheinen, daß weder diese Gruppe noch sonst jemand die Bedeutung der genannten Beobachtung erkannte. Schlimmer noch: Drei Jahre später gelangte Keesom nicht nur in den Besitz des bestmöglichen Schlüssels für die Aufklärung des Torontoer Geheimnisses, sondern veröffentlichte ihn sogar. Aber vorerst wurde er von ihm selbst und allen anderen übersehen.

Zusammen mit seiner Tochter Anna Petronella hatte Keesom die Messungen der spezifischen Wärme mit größerer Genauigkeit wiederholt. Beim Passieren des Lambda-Punkts bemerkten sie, daß das Aussehen ihrer Ergebnisse sich plötzlich änderte, was sie richtig auf einen Anstieg der Wärmeleitung zurückführten. Den Zusammenhang mit den Bemerkungen von McLennan und seinen Mitarbeitern erkannten sie jedoch nicht. Der nächste Schritt der beiden Keesoms bestand in der genauen Bestimmung der Wärmeleitfähigkeit des He II. Dafür bauten sie eine für schlechte Wärmeleiter geeignete Apparatur herkömmlicher Art. Als diese Apparatur versagte, war es schließlich klargeworden, daß die Wärmeleitung von He II sehr groß sein muß.

Es ist bezeichnend, daß die Idee einer enormen Wärmeleitfähigkeit des flüssigen Heliums erst aufkam, als sie unausweichlich geworden war. Daß eine Nichtleiter-Flüssigkeit plötzlich ein besserer Wärmeleiter werden sollte als Kupfer oder Silber, konnte man aufgrund der bis dahin bekannten physikalischen Erscheinungen einfach nicht verstehen. Als diese Tatsache erst einmal hingenommen war, zeigte sich, daß das Tor zu neuen

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Entdeckungen geöffnet war. Man hatte eine Stufe ähnlich jener der ersten Andeutung der Supraleitung erreicht, mit der Ausnahme, daß jetzt eine ganze Reihe erfahrener Tieftemperaturlabors in Aktion traten, wo seinerzeit Leiden allein auf weiter Flur gewesen war. Die nächsten Jahre brachten eine wahre Forschungslawine. Man schrieb jetzt 1936, und als die neuen Entdeckungen gemacht wurden, begleiteten beunruhigende Nachrichten aus Deutschland den Fortschritt der Forschung. Der Schatten des Krieges fiel über Europa, und naturwissenschaftliche Forschung wurde zu einem Wettlauf mit der Zeit. Die meisten überraschenden Eigenschaften des He II wurden in weniger als zwei Jahren entdeckt, und man fand ein brauchbares Modell, das alle zugehörigen Erscheinungen zu erklären vermochte. Praktisch stehen alle diese Ergebnisse, die experimentellen wie die theoretischen, in jenem berühmten Band 141 der Zeitschrift Nature. 44 Flüssiges Helium über (links) und unter (rechts) dem Lambda-Punkt. Das Sieden hört auf, und supraflüssiges Helium läuft durch die feinen Poren im Boden des über dem Heliumbad aufgehängten Gefäßes.

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45 Am Lambda-Punkt zeigen Dichte und spezifische Wärme flüssigen Heliums Maxima.

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Auf jeden, der damals nicht mit von der Partie war, machen die ineinandergreifenden Zeugnisse, die in dem Band dargestellt sind, den Eindruck hoffnungsloser Verwicklung. Indes, nichts wäre falscher. Die Art, wie dieses Problem in Angriff genommen wurde, ist ein hervorragendes Beispiel für beste wissenschaftliche Zusammenarbeit. Der Wettstreit zwischen den verschiedenen Laboratorien war scharf, aber sie hielten sich gegenseitig vollkommen über den jeweils erzielten Fortschritt auf dem laufenden, oft per Telefon und durch persönliche Treffen. Dabei kam es zu Diskussionen, die der Zuverlässigkeit der einzelnen Methoden unbarmherzig, aber immer mit konstruktiver Kritik auf den Grund gingen.

Die erste Untersuchung, die zu einer neuen Entdeckung führte, erschien zunächst ganz harmlos. Allen, Peierls und Uddin hatten in Cambridge eine genial einfache Methode gefunden, nach der die Leidener Messungen der Wärmeleitfähigkeit mit größerer Genauigkeit wiederholt werden konnten. Die Keesoms hatten ein langes, mit flüssigem Helium gefülltes Rohr benutzt und den Temperaturabfall längs des Rohrs mit elektrischen Thermometern gemessen. Die Cambridger Anordnung (Abb. 47a) bestand nur aus einem Glaskolben, der über ein Rohr an seinem Boden mit dem Bad aus flüssigem Helium in Verbindung stand. Der Kolben enthielt eine elektrische Heizung, und wenn diese eingeschaltet wurde, strömte die Wärme durch das Helium im Rohr in das Bad. Die Temperaturdifferenz an den Enden des Rohrs wurde durch den Dampfdruckunterschied der Flüssigkeit im Kolben und im Bad angezeigt. Dieser konnte einfach aus der Höhendifferenz abgelesen werden, da das Gewicht der entsprechenden Säule flüssigen Heliums gleich der Dampfdruckdifferenz ist.

Mit Hilfe dieser einfachen, aber sehr empfindlichen Apparatur bestätigte die Cambridger Gruppe nicht nur den in Leiden gefundenen starken Wärmetransport, sondern entdeckte noch eine wichtige zusätzliche Tatsache. Zum Unterschied von jedem normalen Wärmeleitungsvorgang war der Wärmestrom durch das He II nicht proportional zur Temperaturdifferenz. Je kleiner man diese Differenz machte, um so größer wurde die »Leitfähigkeit«. Sie erreichte Werte, die jene des He I um das Millionenfache überstiegen. Das war eine bedeutende Entdeckung. Wäre

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man ihr damals nachgegangen, so hätte sie vielleicht zu Untersuchungen geführt, die erst mehr als zehn Jahre später durchgeführt wurden. Das Ergebnis erwies sich schließlich als völlig richtig. Sehr bald nach seiner Veröffentlichung jedoch zogen die Autoren selbst es in Zweifel; etwas ganz Unvorhergesehenes war geschehen. 46 Zustandsdiagramm von Helium mit der Lambda-Linie, die He I und He II voneinander trennt

Als die Messungen zu immer kleineren Temperaturdifferenzen hin

ausgedehnt wurden, stellte man fest, daß der Abstand der beiden Niveaus nicht nur geringer wurde, sondern sogar sein Vorzeichen umkehrte. Mit anderen Worten: Das Flüssigkeitsniveau innerhalb des Kolbens stieg ein wenig über das des Bades außerhalb hinaus. Hätte man dies weiterhin auf eine Dampfdruckdifferenz zurückgeführt, so hätte es bedeutet, daß die im Kolben geheizte Flüssigkeit sich abkühlte, und das war offenbar Unsinn.

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Der nächste Schritt bestand darin, den Kolben oben mit einer Öffnung zu versehen und so das Experiment unter der Bedingung zu wiederholen, daß der Dampfdruck über beiden Oberflächen gleich war. Das Ergebnis war verblüffend: Bei Erwärmung stieg das Niveau im Kolben wiederum (Abb. 47b). Ein ganz neuer Effekt war entdeckt worden, der nur bei He II und bei keiner anderen Flüssigkeit vorkommt: Wenn Wärme zugeführt wird, fließt Flüssigkeit auf die Wärmequelle zu.

Man bemerkte bald, daß die Niveaudifferenz zunahm, wenn das Rohr zwischen Kolben und Bad verengt wurde. Schließlich ging man zu einer großen Zahl von sehr feinen Kanälen über, indem man das Rohr mit Pulver füllte, so daß die Flüssigkeit durch eine Vielzahl kleiner Zwischenräume fließen mußte. Man erzielte auf diese Weise nicht nur eine große Niveaudifferenz, sondern wenn man das obere Ende des Kolbens zu einer Spritzdüse ausgezogen hatte, sah man einen Strahl flüssigen Heliums herausschießen (Abb. 47c). Dieses recht augenfällige Schauspiel führte zu der Bezeichnung »Springbrunnenphänomen«. Wir werden davon jedoch passender als vom thermomechanischen Effekt sprechen. Dieser Ausdruck zeigt an, daß wir es mit einer durch Wärme hervorgerufenen Bewegung von Masse, eben der Flüssigkeit, zu tun haben. Da offenbar war, daß der thermomechanische Effekt die Ergebnisse der ursprünglichen Wärmeleitfähigkeitsmessung beeinflußt haben mußte, konnte man ihnen nicht trauen, und eine Zeitlang schien es, als sei die Nichtproportionalität zwischen Wärmestrom und Temperaturdifferenz, die man in Cambridge entdeckt hatte, auf eine solche Verfälschung zurückzuführen. Die nächste Wärmeleitfähigkeitsmeßreihe, diesmal aus Leiden, zeigte jedoch, daß das Cambridger Ergebnis trotz allem richtig und verläßlich war.

Der Ausdruck »thermomechanisch« läßt sofort an eine Wärmemaschine und an die Möglichkeit denken, die Gleichungen der Thermodynamik anzuwenden. Das wurde tatsächlich im folgenden Jahr von Heinz London getan, der die Arbeit zur Hebung des flüssigen Heliums im »Springbrunnen« zu der dafür erforderlichen Wärme in Beziehung setzte. Unterdessen fiel uns ein, einmal zu untersuchen, ob diese Wärmemaschine wie andere umkehrbar sei. In Oxford wurde daher eine Apparatur gebaut,

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die dem He II ermöglichte, durch ein System enger Kanäle von einem höheren zu einem niederen Niveau zu fließen. Das Durchflußrohr war doppelwandig wie ein Dewar-Gefäß, damit kein störender Wärmezufluß stattfinden konnte, und an den Ausflußenden der engen Kanäle wurde ein sehr empfindliches Thermometer angebracht (Abb. 48). Als man das He II durch dieses Rohr hindurchschickte, fand man, daß die ausfließende Flüssigkeit sich abkühlte. Dieser mechanokalorische Effekt ist das genaue Gegenteil des thermomechanischen Effekts, den man in Cambridge beobachtet hatte. Ihr Verhältnis zueinander wird am besten in einer schematischen Darstellung (Abb. 49) zweier Gefäße mit He II deutlich, die durch ein enges Röhrchen verbunden sind. Man sieht sofort, daß ein eindeutiger und umkehrbarer Zusammenhang zwischen Massen- und Wärmefluß besteht. Sie sind einander entgegengerichtet.

So erstaunlich diese thermischen Effekte bei He II waren, sie nahmen dennoch keineswegs die volle Aufmerksamkeit der auf diesem Gebiet Arbeitenden in Anspruch. Ein anderer bemerkenswerter Vorgang hatte zwischen den Cambridger Wärmeleitfähigkeitsmessungen und der Beobachtung des thermomechanischen Effekts stattgefunden: die Entdeckung der Suprafluidität.

In einigen Laboratorien hatte man festgestellt, daß Gefäße mit flüssigem Helium, die nicht vollkommen dicht waren, unterhalb des Lambda-Punkts sehr viel mehr leckten als oberhalb. Manchmal konnte eine Apparatur, die über 2,2° K ganz dicht schien, bei weiterer Abkühlung stark zu lecken anfangen und unbrauchbar werden. Die Keesoms, die durch diesen irritierenden Vorgang bei ihren Messungen der spezifischen Wärme gestört wurden, vermuteten, die Viskosität von He II könnte geringer sein als die von He I. Zwei direkte Messungen dieser Größe, die kurz darauf in Toronto und Leiden durchgeführt wurden, zeigten beide, trotz gewisser Unterschiede, daß die Viskosität unter dem Lambda-Punkt abnahm. Die beobachtete Abnahme war zwar beträchtlich, konnte jedoch nicht mit der gewaltigen Zunahme der Wärmeleitung verglichen werden. Bei beiden Messungen wurde die innere Reibung aus der Dämpfung der Bewegung eines Zylinders oder einer Scheibe bestimmt, die in der Flüssigkeit

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Drehschwingungen ausführten. Anfang 1938 veröffentlichte Nature dann nebeneinander zwei Artikel,

einen von Kapitza in Moskau und einen von Allen und Misener in Cambridge. Beide beschrieben Viskositätsexperimente, in denen die Flüssigkeitsreibung aus dem durch feine Kapillaren oder einen engen Schlitz zwischen zwei Platten stattfindenden Fluß bestimmt worden war. Das Ergebnis war dasselbe; der Fluß war fast überhaupt nicht viskos und stieß auf um so geringeren Widerstand, je enger die zu durchströmende Öffnung war. Kapitza schlug für diese neue Erscheinung die Bezeichnung Suprafluidität vor (s. Abb. 44 auf S. 241).

Obgleich die Suprafluidität eine seltsame und unerwartete Eigenschaft von He II war, zeigte sie doch mit seiner hohen Wärmeleitfähigkeit insofern eine gewisse Ähnlichkeit, als ihre Größe von den Versuchsbedingungen abhing. Während die Schwingungsexperimente ergaben, daß die Viskosität unter dem Lambda-Punkt auf etwa ein Zehntel ihres ursprünglichen Werts gesunken war, zeigte sie sich in den Schlitzen in der Größenordnung von einem Millionstel. Überdies wurde, als ob diese verwirrende Vielfalt und Kompliziertheit neuer Effekte bei He II noch nicht genügte, kurz darauf ein weiterer hinzugefügt.

Schon 1922 hatte Kamerlingh Onnes bei einem seiner Versuche, sehr tiefe Temperaturen zu erreichen, bemerkt, daß sich die Flüssigkeitsniveaus in zwei konzentrischen Dewar-Gefäßen beide auf dieselbe Höhe einstell-ten, eine Erscheinung, die er der Destillation von einem Gefäß ins andere zuschrieb. Er ging kurz auf seine Beobachtung ein, die aber nicht weiter beachtet wurde. Ich ahnte gewiß nicht, daß irgendein Zusammenhang damit bestehen könnte, als zehn Jahre später meine kalorimetrischen Mes-sungen durch eine Heliumschicht verdorben wurden, die sich offenbar auf festen Oberflächen gebildet hatte. Ähnlichen Schwierigkeiten stand Rollin 1936 in Oxford gegenüber, der wie Kamerlingh Onnes tiefe Temperaturen durch Abpumpen des Dampfs über flüssigem Helium zu erreichen suchte. Er kam zu dem Schluß, daß sich auf den Wänden seiner Apparatur ein Oberflächenfilm aus Helium gebildet hätte, und da die hohe Wärme-leitfähigkeit von He II gerade entdeckt war, schrieb er die Schwierigkeiten

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mit seinem Kryostaten dem Wärmezufluß längs dieses Heliumfilms zu. Zwei Jahre später kam Lasarew in Charkow zum selben Schluß.

Etwa zur gleichen Zeit – es war jetzt 1938 – wollten J. G. Daunt, einer meiner Schüler, und ich einmal sehen, ob Onnes' lange vergessener Destillationsversuch wiederholt werden könnte. Wir füllten zwei kleine, oben durch ein Rohr verbundene Glasgefäße verschieden hoch mit He II. Nichts Aufregendes passierte, und wir wollten gerade das Experiment abbrechen, als wir nach über einer halben Stunde bemerkten, daß das untere Niveau um wenige Millimeter gestiegen war. Als nächstes vergrößerten wir die verbindende Oberfläche zwischen den zwei Helium-II-Reservoirs, indem wir viele feine Drähte in das Rohr legten. Jetzt nahm der Flüssigkeitsübergang zwischen den Gefäßen merklich zu.

47 u. 48 Unten: Die Entdeckung des thermomechanischen

Effekts (a und b) und der Heliumspringbrunnen (c). Rechts: Der mechanokalorische Effekt.

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49 Schematische Darstellung des thermomechanischen (links) und des mechano-kalorischen Effekts (rechts).

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Plötzlich schien alles zusammenzupassen. Es lag keine Destillation vor,

sondern das Helium wurde über einen Oberflächenfilm entlang transportiert. Überdies war nicht die Wärmeleitfähigkeit des Films groß, sondern ein längs ihm erfolgender tatsächlicher Flüssigkeitsfluß. Der Wärmezustrom in die Kryostate war nicht ein Leitfähigkeitseffekt, sondern war auf den durch den Film die Gefäßwände hinauf vermittelten Transport und die anschließende Verdampfung in dem wärmeren oberen Bereich zurückzuführen. Ein Teil dieses Dampfs kondensierte dann wieder auf die Flüssigkeit und brachte die Verdampfungswärme mit sich.

Im nächsten Schritt mußte unzweideutig die Existenz eines solchen Massenübergangs gezeigt werden. Das konnte man leicht tun, indem man einen kleinen Glasbecher in die Flüssigkeit hängte (Abb. 50a). Bald sah man, wie der kleine Becher sich mit Flüssigkeit füllte, bis die Niveaus innen und außen gleich hoch waren. Ein umgekehrter Fluß fand statt, wenn der Becher ein wenig angehoben wurde. Als wir ihn schließlich ganz aus der Flüssigkeit herauszogen, konnten wir kleine Tropfen am Boden des Bechers sich bilden sehen, die in regelmäßigen Zeitabständen in das Bad zurückfielen. Ganz unabhängig von dem erstaunlichen Schauspiel selbst zog die Regelmäßigkeit unsere Aufmerksamkeit auf sich, und tatsächlich stellten wir fest, daß die Entleerung und Füllung des Bechers immer gleich

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schnell erfolgte, unabhängig vom Niveauunterschied, der Weglänge oder der Höhe des Becherrandes über der Oberfläche.

Wir erkannten jetzt, daß uns der Oberflächenfilm durch einen glücklichen Zufall das reinste Beispiel für Suprafluidität geliefert hatte. Wir stellten fest, daß der Film nur 50 bis 100 Atome dick war, viel dünner als die engsten bis dahin benutzten Schlitze oder Kapillaren. Das charakteristische Merkmal des Superflusses war demnach der völlig reibungslose Transport, der mit einer »kritischen Geschwindigkeit« stattfand, die nur von der Temperatur abhing und am Lambda-Punkt verschwand. Die Ähnlichkeit mit der Supraleitung war so verlockend, daß sie einen Vergleichsversuch nahelegte, der leicht mit zwei konzentrisch angeordneten Bechern durchgeführt werden konnte (Abb. 50b). Wenn der Doppelbecher aus der Flüssigkeit gehoben wurde, mußte der Film vom inneren in den äußeren Becher und von dort in das Bad laufen. Es zeigte sich, daß keine Niveaudifferenz zwischen den beiden Bechern, d. h. kein Unterschied der potentiellen Energie, bestand, ganz analog dem Fehlen des elektrischen Potentialabfalls entlang eines supraleitenden Drahts. Leider ist es viel schwieriger, auch einen Dauerstrom in flüssigem Helium herzustellen, aber neueste Experimente deuten seine Existenz an.

Mit der Entdeckung des »Überlaufens« durch den feinen Helium-II-Film haben wir das Ende einer hektischen Beobachtungsserie erreicht. Wenden wir uns deshalb von dem verwirrenden Irrgarten der experimen-tellen Ergebnisse ab und den Deutungsversuchen zu. Nach seinem Erfolg bei den Supraleitern nahm sich Fritz London der Probleme des flüssigen Heliums an, und sein erster Versuch, den er noch in Oxford machte, stützte sich auf den Vergleich mit einem Kristall, womit er einer damals bestehenden Tendenz folgte. London übernahm dann eine Professur an der Sorbonne, wo ihn die ersten Nachrichten von den seltsamen Transport-phänomenen des He II erreichten. In dem denkwürdigen Band 141 der Nature veröffentlichte er seine kühne und neue Theorie, die bis heute umstritten geblieben ist. Von seiner früheren, auf einem Kristall basieren-den Deutung war er zum anderen Extrem des idealen Gases übergegangen. Hier lieferte wieder eine lang vergessene Arbeit den Schlüssel.

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50 Bewegung und »Überlaufen« von Helium II vermittels der dünnen Helium-II-Schicht (a) und ihre Anwendung zur Demonstration verschwindender Reibung (b).

Einstein kam während seiner Arbeiten über die Gasentartung, die wir in

Kapitel 7 besprachen, zu einem höchst erstaunlichen Schluß. Seine Rechnung zeigte, daß ein der Bose-Statistik gehorchendes ideales Gas bei Abkühlung auf sehr tiefe Temperaturen eine eigenartige Wandlung durchmachen muß; man erreicht einen Punkt, an dem einige der Teilchen »kondensieren«. Die von Einstein vorausgesagte Kondensation führt jedoch nicht zu einem Kristall, da sie nicht im Lage-, sondern im Geschwindigkeitsraum stattfindet. Welche Art von Erscheinungen diese hypothetische Geschwindigkeitskondensation bewirken könnte, wurde nie klar. Zwei Jahre später kamen Zweifel an der Gültigkeit von Einsteins

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Folgerungen auf, und da ohnehin keines der bekannten Gase, die der Bose-Statistik gehorchten, zu entarten schien, geriet die ganze Sache in Vergessenheit.

London kam auf Einsteins ursprünglichen Artikel zurück und berechnete die sich aus einer solchen Kondensation ergebende spezifische Wärme. Sie zeigte ein Maximum, das jedoch nicht dem am Lambda-Punkt ähnelte. Aber flüssiges Helium ist ja auch, wie London richtig bemerkte, weit von einem idealen Gas entfernt. Andererseits macht die von der Nullpunktsenergie herrührende geringe Dichte die Flüssigkeit zu etwas Gasähnlichem. Alles in allem war London äußerst vorsichtig, behandelte seine Idee nur als einen vorläufigen Vorschlag und enthielt sich jedes Versuchs, die Transporteffekte zu erklären. Nur am Ende steht die kurze Anmerkung, sein Modell könne in dieser Hinsicht von Interesse sein. Aber wo erfahrene Professoren kaum einen Schritt wagen, pflegen junge Theoretiker voranzustürzen. London hatte seine Arbeit mit Lazio Tisza, einem am College de France arbeitenden Ungarn, diskutiert, und Tisza hatte einige bemerkenswerte Schlüsse gezogen, die er bald darauf noch im selben Band von Nature veröffentlichte.

Kühn wandte er Londons Vorschlag buchstäblich auf die Beobachtungen an He II an. Wenn die Flüssigkeit unter den Lambda-Punkt abgekühlt wird, teilt sie sich (nach Tisza) in zwei Anteile auf, den normalen und den suprafluiden. Die normale Komponente ist mit He I identisch, die suprafluide aber besteht aus »kondensierten« Atomen. Sie erscheint zuerst bei 2,2° K, und bei weiterer Abkühlung wächst ihr Anteil auf Kosten der normalen Komponente, bis am absoluten Nullpunkt die ganze Flüssigkeit suprafluid ist. He II wird also in diesem sogenannten »Zwei-Flüssigkeiten-Modell« als Mischung einer normalen und einer suprafluiden Komponente betrachtet, deren Mischungsverhältnis sich mit der Temperatur ändert (Abb. 51). Bei den physikalischen Eigenschaften dieser Mischung, die er aus seinem Modell folgerte, erlebte Tisza einen großen Triumph.

Die suprafluide Komponente ist reibungsfrei, da sie keine Energie abgeben kann, und daraus ergeben sich ganz neue hydrodynamische

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Eigenschaften. Die normale Komponente andererseits verhält sich genau wie He I. Bei den Viskositätsmessungen z. B. dämpft offenbar die normale Flüssigkeit die Bewegung der schwingenden Scheibe, und der Viskositätsabfall unter dem Lambda-Punkt zeigt nur, daß der Anteil der normalen Komponente abnimmt. Wenn man jedoch enge Schlitze oder Röhrchen benutzt, kommt die normale Komponente kaum hindurch, die suprafluide dagegen reibungslos.

Auch der thermomechanische Effekt (Abb. 49 auf S. 250) läßt sich jetzt erklären. Wenn dem rechten Gefäß Wärme zugeführt wird, verwandelt sich suprafluide in normale Flüssigkeit; weitere Superflüssigkeit läuft von links nach rechts durch die Kapillare, um den Konzentrationsunterschied zu kompensieren. Der andere Weg, diesen Unterschied auszugleichen, ist wegen der Reibung in der Kapillare gesperrt: Normale Flüssigkeit kann nicht von links nach rechts fließen. Insgesamt fließt also Flüssigkeit zur Wärme hin. Wenn man den Vorgang umkehrt und He II durch eine Kapillare preßt, läßt sich eine Abkühlung messen, da nur der suprafluide Anteil hindurchkommt. Deshalb ist die Konzentration normaler Flüssigkeit links geringer, und das entspricht einer tieferen Temperatur.

Das Zwei-Flüssigkeiten-Modell bot sogar eine Erklärung für die hohe Wärmeleitfähigkeit, bei der bereits Kapitza einen Konvektionsprozeß vermutet hatte! Tisza wies darauf hin, daß, da Temperaturänderungen immer Konzentrationsänderungen bedeuten, es sich um jene Energie handelt, die erforderlich ist, um Heliumatome von der Energie Null zum He-I-Zustand anzuregen. Bei Konvektion würde also nicht nur die spezifische Wärme der Flüssigkeit, sondern auch diese hohe Anregungsenergie transportiert.

Als Tiszas Arbeit veröffentlicht wurde, war London zuerst wütend über die hastige Auswertung seines eigenen vorsichtigen Vorschlags. Er sah auch klarer als jeder andere die physikalische Unmöglichkeit, zwei Flüssigkeiten aus derselben Art von Atomen bestehen zu lassen, die ja per definitionem identisch sein müssen. Darüber hinaus hatte Tisza für die suprafluide Komponente Eigenschaften postuliert, die keineswegs aus der Bose-Einstein-Kondensation folgerten. Andererseits hatte Tisza durch eine

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zumindest logische Deutung so unglaublich erfolgreich Klarheit in das verwirrende Durcheinander experimenteller Ergebnisse gebracht, daß sogar London diese Deutung als wichtig anerkennen mußte. Überdies hatte Tisza sein Modell für Voraussagen benutzt, die sich als richtig erwiesen. Erstens sah er den mechanokalorischen Effekt voraus, bevor die Experimente veröffentlicht wurden. Wie oben erwähnt, konnte dieser Effekt einfach als thermodynamische Umkehrung des thermomechanischen Effekts erwartet werden, und die Voraussage war ziemlich sicher. Die zweite Voraussage ging viel weiter. Er wies darauf hin, daß ein dem He II zugeführter Wärmeimpuls, der zu einem momentanen Anstieg der Konzentration normaler Flüssigkeit führt, sich als thermische Welle durch die Flüssigkeit ausbreiten sollte.

Als Tiszas zweite Arbeit erschien, in der er diese Voraussage machte, war der Krieg ausgebrochen, und überall, außer in Rußland, hörte die Arbeit an flüssigem Helium auf. Wegen der schlechten Verbindungen mußte man auf die russischen Veröffentlichungen lange warten. Dennoch konnten wir schließlich feststellen, was die Russen erreicht hatten, bevor auch sie in den Krieg hineingezogen wurden. Zunächst hatte Kapitza 1940 einen langen Artikel geschrieben, der viele, teils sehr schöne Experimente enthielt. In einem der eindrucksvollsten war der Wärmeleitungsvorgang untersucht worden. Einem doppelwandigen Glasgefäß, das mit dem Heliumbad über ein Rohr verbunden war (Abb. 52), wurde elektrisch Wärme zugeführt. Der Rohrmündung gegenüber war ein Windflügel als Flußindikator angebracht. Als man die Heizung einschaltete, wurde der Windflügel von einem aus dem Rohr kommenden Strom bewegt. Dieser Strom konnte mit Hilfe des Zwei-Flüssigkeiten-Modells als Strom normaler Flüssigkeit erklärt werden, die an der Heizung erzeugt und aus dem Rohr ausgestoßen wurde, während ein reibungsloser Superflüssig-keitsstrom zur Kompensation in das Gefäß floß. Aber weder diese Erklärung noch Tiszas Aufsatz werden erwähnt; sie waren offenbar unbekannt. Statt dessen versuchte Kapitza, sich einen Gegenstrom entlang der Wände und in der Mitte des Rohrs vorzustellen.

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51 Das Zwei-Flüssigkeiten-Modell

Sieben Monate später berichtigte Kapitza in einer zweiten Arbeit diese

Erklärung und deutete seine Beobachtungen aufgrund des Zwei-Flüssigkeiten-Modells. Tisza, dessen erster Aufsatz offenbar inzwischen angekommen war, wurde erwähnt, aber Kapitza schrieb die wahre Erklärung einer Theorie von L. D. Landau zu, die zur selben Zeit veröffentlicht wurde. Landaus Theorie, für die er zwanzig Jahre später den Nobelpreis erhielt, lieferte die so notwendige physikalische Begründung für den unvernünftigen Erfolg von Tiszas Zwei-Flüssigkeiten-Modell. Nach Landau existiert nur eine Flüssigkeit, nämlich flüssiges Helium. Wenn man seine Temperatur vom absoluten Nullpunkt an erhöht, wird thermische Energie in Form von Schwingungsquanten, sogenannten »Phononen«, zugeführt. Diese gequantelten Schwingungen der Heliumatome wandern durch die Flüssigkeit ungefähr wie Lichtquanten (Photonen) durch den Raum. Tatsächlich werden die Phononen oft als

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»QuasiTeilchen« beschrieben, da sie mathematisch wie Teilchen behandelt werden können. Die Teilchennatur der Phononen erscheint beim flüssigen Helium besonders deutlich. In Kapitzas Experiment werden sie an der Heizung erzeugt, wandern durch das Rohr und treffen schließlich auf den Windflügel, dem sie ihre Bewegungsenergie mitteilen. Kurz, Tiszas normale Komponente entspricht den durch die tatsächlich bestehende Flüssigkeit wandernden Quasi-Teilchen, während die tatsächlich bestehende Flüssigkeit Tiszas suprafluider Komponente entspricht. Landaus Theorie stützt sich nicht auf die Bose-Einstein-Kondensation, obgleich die Bose-Statistik wichtig zu sein scheint. Im wesentlichen soll die Theorie die Bedingungen in der Nähe des absoluten Nullpunkts beschreiben, und sie liefert keine Erklärung für den Lambda-Punkt. Außer Phononen, die aus der Festkörpertheorie wohlbekannt sind, postulierte Landau die Existenz von »Rotonen«, einer anderen Art thermischer Anregung, die er als Elementarquanten der Wirbelbewegung einführte. Verschiedene Experimente haben im letzten Jahrzehnt ohne Zweifel gezeigt, daß solche Anregungen im Helium existieren, aber ihre wirkliche Natur ist noch etwas rätselhaft.

Die Landausche Theorie lieferte nicht nur eine überzeugende und elegante Deutung des He II, sondern auch ein interessantes Beispiel für die Arbeitsweise der Physik. Während Tiszas erste Arbeit Moskau offenbar etwa 1941 erreicht hatte, war die zweite nicht angekommen. Aufgrund seiner eigenen Theorie hatte auch Landau eine neue Form der Wellenbewegung in flüssigem Helium postuliert, aber in seinem Formalismus ähnelte sie den akustischen Erscheinungen, und deshalb nannte er sie »zweiter Schall«. Tatsächlich wurden die ersten, allerdings erfolglosen Versuche, sie zu entdecken, mit akustischen Methoden unternommen. Erst als E. M. Lifschitz Landaus Formel neu interpretiert hatte, erkannte man die thermische Natur der Wellen. Ihre Existenz wurde 1944 von Peschkow experimentell bewiesen, und eine spätere Ausdehnung der Beobachtungen auf Temperaturen unter 1° K erwies, daß Landaus, nicht Tiszas Standpunkt der richtige war.

In einer Hinsicht machte die Landausche Theorie eine falsche

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Voraussage, nämlich über die kritische Geschwindigkeit des Superflusses. Die Tatsache, daß der reibungslose Fluß zusammenbricht, wenn eine gewisse Geschwindigkeit der Supraflüssigkeit überschritten wird, kann durch Umwandlung von mechanischer Energie in Wärme, d. h. durch Erzeugung von Phononen oder Rotonen, erklärt werden. Leider zeigten die Experimente, daß die Suprafluidität bereits bei viel kleineren Geschwindigkeiten zusammenbricht, als zur Erzeugung dieser Quasi-Teilchen nötig sind. Es mußte ein anderer Weg gefunden werden, auf dem die Flüssigkeit mechanische Energie abgeben kann.

Der Fehler lag in den Eigenschaften, die die Landausche Theorie dem supraflüssigen Helium zuschrieb; denn diese schlossen Turbulenz aus. Tatsächlich war Turbulenz in der Supraflüssigkeit sehr häufig beobachtet, ihre Bedeutung aber irgendwie übersehen worden. Jetzt ist klar, daß die Abhängigkeit der Wärmeleitung vom Wärmestrom, die man ursprünglich in Cambridge beobachtet, dann aber irrtümlich bezweifelt hatte, ein Anzeichen für Turbulenz ist. Einen weiteren Beweis erbrachte eins der 1940 gemachten Experimente Kapitzas. 1949 lieferte Onsager den Schlüssel zum Verständnis dieser Erscheinungen, aber sein wichtiger Hinweis wurde nur als Diskussionsbemerkung auf einer Konferenz in Florenz gemacht und daher nicht allgemein bekannt.

Erst als Feynman 1955 in Kalifornien Onsagers Idee einen langen Artikel widmete, begann man ihre volle Bedeutung für die Erklärung der Suprafluiditätserscheinungen zu erfassen. Onsager und Feynman postulierten, daß die Supraflüssigkeit Wirbel bilden könne und daß diese großen Wirbel, deren jeder unzählige Atome enthielte, gequantelt sein müßten. Energie könne dann abgegeben werden, wenn die Wirbel mit Phononen und Rotonen in Wechselwirkung treten. Da so viele Atome an der Bildung dieser makroskopischen Quantenwirbel teilnehmen, ist die Energie pro Atom viel kleiner als jene, die zur Erzeugung eines einzelnen Phonons oder Rotons nötig ist. So ermöglichen es die Wirbel, dem Fluß der Supraflüssigkeit bereits bei viel kleineren Geschwindigkeiten als den von der Landauschen Theorie vorausgesagten Energie zu entnehmen.

Die Zirkulation des Suprafluids wurde in diesem Kapitel bereits

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erwähnt, als wir im Zusammenhang mit dem Doppelbecher-Experiment die Möglichkeit eines Dauerstroms der Flüssigkeit im He II diskutierten. Einige im letzten Jahrzehnt durchgeführte Experimente machen eine solche makroskopische Quantenzirkulation wahrscheinlich, obwohl kein Experiment so eindeutige Schlüsse erlaubt, wie man sie gern hätte. Dennoch zweifelt niemand ernsthaft an der Existenz der Erscheinung. Aber reibungsloser Fluß und Dauerströme sind nicht die einzigen Merkmale, in denen He II einem Supraleiter ähnelt. Wie beim Übergang eines Metalls in den supraleitenden Zustand, so tritt auch bei Helium ein steiler Entropieabfall auf. Überdies zeichnet sich ein suprafluider Fluß genau wie ein elektrischer Dauerstrom durch verschwindende Entropie aus. 52 Kapitzas Demonstration des Gegenstroms in He II

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Zunächst könnte es seltsam erscheinen, daß zwei so verschiedene Dinge wie Heliumatome und freie Elektronen in einem Metall so ähnliches Verhalten zeigen sollten. Ich glaube jedoch, es ist gerade diese Tatsache, die auf die grundlegende Bedeutung der Suprafluide im allgemeinen Erscheinungsbild zusammenhängender Materie hinweist. Wären wir mit der Existenz des festen Zustands nicht so sehr vertraut, dann würde uns auch überraschen, daß die verschiedenen Atome und Moleküle, die ganz unterschiedliche Arten von Kräften aufeinander ausüben, immer Kristalle bilden. Auch hier sind Erscheinungsbild eines Kristalls und seine Grund-eigenschaften im wesentlichen dieselben, ob er nun aus Kupferatomen, Wasserstoffmolekülen oder aus so phantastisch komplizierten Einheiten wie Proteinen besteht.

Die Kristalle mit ihrer Härte und ihren deutlichen Schmelzpunkten verdanken diese gemeinsamen Eigenschaften der regelmäßigen Anordnung ihrer Einzelbausteine. Der dritte Hauptsatz der Thermodynamik verlangt, daß die Entropie bei Annäherung an den absoluten Nullpunkt verschwindet, d. h. die Substanz in einen geordneten Zustand übergeht. Ein Teilchensystem befindet sich aber nur dann im geordneten Zustand, wenn die Teilchen nebeneinander regelmäßig angeordnet sind, d. h., sie müssen einen Kristall bilden. Ich habe in dieser sehr allgemeinen Behauptung absichtlich »nebeneinander« gesagt, um klarzumachen, daß es hier nur um die regelmäßige Anordnung im Positionsraum geht. Das ist die einzige Art von Raum, die wir aufgrund unserer alltäglichen Erfahrung begreifen können, aber das bedeutet nicht, daß es keinen anderen Raum gibt, in dem die Teilchen regelmäßig angeordnet sein können.

Wie wir früher sahen, ist das »Nacheinander« in den Gesetzen der Physik genauso wichtig wie das »Nebeneinander«. Tatsächlich drückt die Grundbehauptung der Quantenphysik, die Unbestimmtheitsrelation, die Plancksche Konstante durch eine Kombination von Position und Geschwindigkeit aus. Keins von beiden hat für sich allein Bedeutung; wie Schloß und Schlüssel erhalten sie erst zusammen einen Sinn.

Es ist natürlich müßig, entscheiden zu wollen, ob die Position oder die Geschwindigkeit in der Beschreibung der physikalischen Welt wichtiger

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ist. Sie sind beide notwendig und völlig gleichwertig. Unsere Erörterung der Gasentartung in Kapitel 7 hat gezeigt, daß der Geschwindigkeitsraum genauso wichtig ist wie der Positionsraum. Es erscheint daher selbstverständlich, daß sich diese Gleichwertigkeit in der Bedeutung auch auf die Ordnungszustände in den beiden Räumen erstreckt. Das allgemeine Erscheinungsbild des Kristalls beruht auf der Tatsache, daß er den höchstgeordneten Zustand im Positionsraum darstellt. Man vermutet deshalb, daß das besondere Erscheinungsbild der Supraflüssigkeiten auf einem ebenso geordneten Zustand im Geschwindigkeitsraum beruht. Die wahre Natur dieses Ordnungsschemas bleibt noch dunkel, aber es muß bedeutsam erscheinen, daß die seltsamen neuen Eigenschaften, die wir an den Suprafluiden beobachten, alle mit Bewegungszuständen zu tun haben.

Wenn wir die ziemlich weitreichende Annahme machen, daß die suprafluide Materie ein Gegenstück zu den festen Körpern ist, nämlich zusammenhängende Materie, die in Geschwindigkeiten statt in Positionen »kondensiert« ist, dann erhebt sich noch eine Grundfrage. Wird bei weiterer Annäherung an den absoluten Nullpunkt alle Materie entweder kristallin oder suprafluid werden? Für den menschlichen Verstand, der an Symmetrien Freude hat, ist die Idee verlockend, aber die Frage kann in diesem Stadium noch nicht beantwortet werden. Wir wissen nicht, ob nicht alle Metalle schließlich supraleitend werden, und wir besitzen keine Theorie, die gut genug wäre, um wohlbegründete Voraussagen zu machen. Darüber hinaus sind die nicht supraleitenden Metalle nicht der einzige Stein des Anstoßes auf unserem Weg zur »universellen Kondensation«.

Außer den gewöhnlichen Heliumatomen, deren Kerne aus zwei Protonen und zwei Neutronen bestehen, gibt es noch andere mit nur einem Neutron, die somit eine ungerade Anzahl Spins besitzen Und deshalb statt der Bose-Einstein- der Fermi-Dirac-Statistik gehorchen müssen. Das macht einen Vergleich der beiden Isotope besonders interessant. Leider ist jedoch nur jedes zehntausendste Heliumatom ein leichtes. Nun läßt sich aber manchem Schlechten etwas Gutes abgewinnen, und so stellt die Atomindustrie nicht nur Atombomben her, sondern erzeugt auch leichte Heliumisotope. Als das klar wurde, ergab sich die interessante Aussicht,

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flüssiges leichtes Helium untersuchen zu können und herauszufinden, ob es suprafluid ist. 1949 hatte man genug leichtes Helium zur Verfügung, um einen winzigen Tropfen verflüssigen zu können, und den phantastischen Prophezeiungen vieler Theoretiker zum Trotz war das Experiment ein Triumph für van der Waals. Aufgrund des alten Gesetzes der korrespondierenden Zustände, an dem eine Korrektur für die Nullpunktsenergie angebracht worden war, sagte de Boer aus Amsterdam die Dampfdruckkurve der neuen Flüssigkeit richtig voraus, und zwar mit erstaunlicher Genauigkeit. Ihr Siedepunkt liegt 1° tiefer als der des normalen Heliums.

Ebenfalls gemäß dem Gesetz der korrespondierenden Zustände mußte man den Lambda-Punkt bei etwa 1,5° K erwarten. Man fand aber keine Anomalie der spezifischen Wärme und keine Suprafluidität, was andeutete, daß der Unterschied in der Statistik von grundlegender Bedeutung ist. Fritz London erlebte diese Ergebnisse noch, die zwar seine Theorie nicht bestätigen konnten, ihr aber auch nicht widersprachen. Seitdem ist leichtes Helium ein fruchtbares Forschungsgebiet geworden, auf dem sich die Eigenschaften einer Fermi-Flüssigkeit zum Unterschied von der durch normales Helium repräsentierten Bose-Flüssigkeit offenbarten. Während das magnetische und thermische Verhalten der Fermi-Flüssigkeit sehr interessant ist, fehlt ihr der spektakuläre Aspekt des He II – zumindest bis jetzt.

Man erinnere sich, daß auch die Metallelektronen eine Art Fermi-Flüssigkeit sind, die supraleitend werden kann. Es ist daher nicht ausgeschlossen, daß leichtes Helium einen ähnlichen Effekt zeigt oder sogar richtige Suprafluidität. Wie es bei unserer begrenzten Kenntnis der Quantenflüssigkeiten nicht anders zu erwarten ist, sind die Voraussagen hinsichtlich dieser hypothetischen Erscheinungen sehr spekulativ. Zunächst hatte man gedacht, eine solche »korrelierte Phase« würde in leichtem Helium überhaupt nicht vorkommen, in späteren Arbeiten vermutete man jedoch, daß sie bei einer Temperatur von etwa 0,1° K auftreten könnte. Man fand dort nichts, und seitdem hat sich in den letzten Jahren ein amüsanter Wettstreit zwischen den Theoretikern, die immer

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neue Gründe entdecken, warum der Übergang bei noch tieferen Temperaturen stattfinden sollte, und den Experimentatoren entwickelt, die nichts finden, wenn sie so weit kommen. Mit jedem neuen Schritt auf den absoluten Nullpunkt zu wurde die Arbeit schwieriger, und bis 1964 hatte man bei dem letzten fruchtlosen Versuch nur eine Temperatur von 0,008° K erreicht.

Deshalb erregte es großes Aufsehen, als im Frühjahr 1964 Peschkow in Moskau die Entdeckung einer Anomalie der spezifischen Wärme bei 0,005° K bekanntgab. Im September trug er seine Arbeit auf einer internationalen Konferenz in Columbus, Ohio, vor und berichtete nicht nur von einem Maximum der spezifischen Wärme leichten Heliums, sondern auch von einer Andeutung von Suprafluidität. Nach seinem Vortrag widersprach Wheatley aus Urbana, Illinois, diesem Ergebnis und teilte mit, daß er und seine Mitarbeiter bei dieser Temperatur noch nichts gefunden hätten. Experimente in diesem Bereich verlangen auch dem bestausge-rüsteten und erfahrensten Tieftemperaturlaboratorium das Äußerste ab. Peschkow hatte unterhalb der Temperatur flüssigen Heliums nicht weniger als drei aufeinanderfolgende magnetische Kühlstufen benutzt, um in seinen Untersuchungsbereich zu gelangen. Beobachtungen bei wenigen tausend-stel Grad über dem absoluten Nullpunkt werden wahrscheinlich von einigen Faktoren beeinflußt, die bis jetzt noch weithin unerforscht sind, und der Unterschied zwischen den in Rußland und Amerika angewandten Methoden war groß genug, abweichende Ergebnisse möglich zu machen.

Vielleicht ist es ganz angemessen, daß wir unsere Geschichte im Zeichen dieser Unsicherheit abschließen. Sie zeigt, daß die Erforschung der tiefsten Temperaturen noch nicht zu Ende ist. Auch wenn der Streit über das Verhalten leichten Heliums bei 0,005° K entschieden sein wird – und das wird bald sein –, bleibt noch das Problem der nicht supraleitenden Metalle. Sollte am Ende die Vorstellung der universellen Kondensation sich als zutreffend herausstellen, dann wird sie von grundlegender Bedeutung sein. Sie könnte eine neue Formulierung des dritten Hauptsatzes der Thermodynamik rechtfertigen, die viel weiter gehen würde als jene, die wir bis jetzt gekannt haben.

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Nachwort

Der Autor ist Herrn W. J. Green für Einzelheiten über Dewars Tätigkeit sowie jenen Kollegen und wissenschaftlichen Instituten zu Dank verpflichtet, die es ihm ermöglichten, Teile dieses Buchs am Corner See (im Sommer) und in Äquatorialafrika (im Winter) zu schreiben.

Für die Reproduktionsrechte der unten aufgeführten Illustrationen (die Ziffern beziehen sich auf die Seiten, auf denen die Abbildungen erscheinen) sei den folgenden Personen und Institutionen gedankt: Clarendon Laboratory, Oxford University, Fotos Cyril Bland (Frontispiz, 196, 222); Académie des Sciences, Institut de France (60, Cailletet); Prof. H. Niewodniczanski (60, Wroblewski, Olszewski); The Royal Society, Foto John Freeman (60, Andrews); Prof. J. Muller, Foto Jean Arland (60, Pictet); The Royal Institution of GreatBritain (60, Dewar); Kammerlingh Onnes Laboratorium, Universität Leiden (61, Kammerlingh Onnes); Prof. Giauque (61, Giauque); Radio Times Hulton Picture Library (61, Einstein); Prof. Debye (61, Debye); The Royal Institution of Great Britain, Foto John Freeman (68/69); Prof. V. Peshkov (107); A. D. Little Inc., Cambridge, Mass. (194); General Electric Co., Schenectady, N. Y. (212). Die Diagramme wurden von Design Practitioners Limited gezeichnet.

K.M.

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Literaturhinweise

Die Bibliographie des Autors ist für den Benutzer der deutschen Ausgabe geringfügig erweitert worden. Liegt keine deutsche Obersetzung vor, so ist die vom Autor genannte Ausgabe angeführt.

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