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Essay Menschenwürde und Folterverbot Eine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots Heiner Bielefeldt

Menschenwürde und Folterverbot · Essay Menschenwürde und Folterverbot Eine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots Heiner Bielefeldt

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Menschenwürde und FolterverbotEine Auseinandersetzung mit den jüngstenVorstößen zur Aufweichung des Folterverbots

Heiner Bielefeldt

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Deutsches Institut für MenschenrechteGerman Institute for Human Rights

Zimmerstr. 26/27D-10969 BerlinPhone (+49) (0)30 – 259 359 0Fax (+49) (0)30 – 259 359 59info@institut-fuer-menschenrechte.dewww.institut-fuer-menschenrechte.de

Gestaltung: iserundschmidt Kreativagentur für PublicRelations GmbH Bad Honnef – Berlin

Essay No. 6März 2007

ISBN 978-3-937714-41-7 (PDF)

Impressum Der Autor

PD Dr. Heiner Bielefeldt ist Direktor desDeutschen Instituts für Menschenrechte.

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Essay

Menschenwürde und FolterverbotEine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößen zur Aufweichung des Folterverbots

Heiner Bielefeldt

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Menschenwürde und Folterverbot

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Krieg oder Kriegsgefahr, innenpolitischeInstabilität oder ein sonstiger öffentlicherNotstand, dürfen nicht als Rechtfertigungfür Folter geltend gemacht werden.“1

Bekanntlich hat allerdings in den letztenJahren weltweit und auch in Deutschlandeine Diskussion darüber eingesetzt, obunter bestimmten Umständen nicht dochdie Anwendung von Folter gerechtfertigt sei.Im Hintergrund steht die Erfahrung terro-ristischer Bedrohung seit dem 11. Septem-ber 2001, die weltweit Anlass zu verschärf-ten sicherheitspolitischen Maßnahmenwurde und vielerorts auch zu rechtspoliti-schen Forderungen nach einer Relativierungdes Folterverbots geführt hat. In Deutsch-land entzündete sich die Diskussion vor allemam Fall des Vizepräsidenten der FrankfurterPolizei, Wolfgang Daschner, der im Herbst2002 einem Kindesentführer Folter an-

I. Zum Stand der Debatte in Deutschland

Das Verbot der Folter und grausamer, un-menschlicher oder erniedrigender Behand-lung beziehungsweise Bestrafung gehörtzu den wenigen Menschenrechtsnormen, die„absolute“, ausnahmslose Rechtsgeltungbeanspruchen. Dass das Folterverbot keineAusnahmen zulässt, ist in den Menschen-rechtsabkommen der Vereinten Nationen,in den Genfer Konventionen zum humani-tären Völkerrecht sowie in der EuropäischenMenschenrechtskonvention und in anderenregionalen Menschenrechtsabkommenunzweideutig geregelt. Auch in Notstands-situationen gilt es ohne Abstriche. Exem-plarisch zitiert sei aus der Antifolterkon-vention der Vereinten Nationen von 1984,die in Artikel 2 klarstellt: „Außergewöhn-liche Umstände gleich welcher Art, sei es

Menschenwürde und FolterverbotEine Auseinandersetzung mit den jüngsten Vorstößenzur Aufweichung des Folterverbots

1 Zitiert nach Christian Tomuschat (Hg.), Menschenrechte. Eine Sammlung internationaler Dokumentezum Menschenrechtsschutz, Bonn 2. Aufl. 2002, S. 292. Ausdrücklich geregelt ist die Notstandsfestigkeitdes Verbots der Folter und anderer Formen grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlungoder Bestrafung in Artikel 7 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürger-liche und politische Rechte von 1966 beziehungsweise in Artikel 3 in Verbindung mit Artikel 15 derEuropäischen Menschenrechtskonvention von 1950.

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Menschenwürde und Folterverbot

Nach wie vor hält eine klare Mehrheit derer,die sich – zumal in der Rechtswissenschaft– zum Thema äußern, an der Absolutheitdes Folterverbots fest.3 Dass sich vor allemauch Menschenrechtsorganisationen wieamnesty international nachdrücklich zumabsoluten Folterverbot bekennen, kannnicht überraschen.4 Die Gegner dieser Posi-tion bilden aber schon lange keine kleineMinderheit mehr. Außerdem beanspruchensie, für eine schweigende Mehrheit in derBevölkerung zu sprechen, und sehen sichintellektuell und moralisch in der Offen-sive. Dabei werden im Einzelnen rechtunterschiedliche Positionen vorgetragen:Selten kommen in Deutschland bislang Plä-doyers für eine ausdrückliche öffentlich-rechtliche Normierung staatlicher Folter-befugnisse zum Zwecke der Gewinnung

drohte, um ihm Informationen über dasVersteck des (wie sich dann herausstellensollte: bereits ermordeten) Kindes abzu-zwingen. Der Strafprozess gegen Daschnervor dem Frankfurter Landgericht endete imDezember 2004 mit einem milden Urteil,nämlich einer Verwarnung mit Strafvorbe-halt, in dem das Gericht zugleich aber dasabsolute Folterverbot bekräftigte.2 Mehrals zwei Jahre nach dem strafprozessua-len Abschluss des Falls Daschner ist dieDiskussion zum Thema in der allgemeinenpolitischen Öffentlichkeit vorerst abgeklun-gen. In verschiedenen Wissenschaftsdiszi-plinen – Rechtswissenschaft, Politikwissen-schaft, politischer Philosophie, Soziologie –geht sie unterdessen weiter und manifestiertsich in einer wachsenden Zahl von Publika-tionen.

2 Vgl. Susanne Baumann, Der „Fall Daschner“, in: Jahrbuch Menschenrechte 2006, Frankfurt a.M. 2005, S. 322-324.

3 Aus der Fülle neuerer Literatur seien nur exemplarisch genannt: Thomas Bruha / Christian J. Tams, Folterund Völkerrecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006, S. 16-22; Jens Meyer-Ladewig, EuropäischeMenschenrechtskonvention. Handkommentar, 2. Aufl. Baden-Baden 2006, S. 59ff.; Christoph Grabenwarter,Europäische Menschenrechtskonvention. Ein Studienbuch, 2. Aufl. München 2005, S. 134ff.; Ulrike Davy,Darf Deutschland wirklich ausnahmsweise foltern? Eine europäische Antwort, in: Constance Grewe /Christoph Gusy (Hg.), Menschenrechte in der Bewährung. Die Rezeption der Europäischen Menschen-rechtskonvention in Frankreich und Deutschland im Vergleich, Baden-Baden 2005, S. 177-204; HelmuthSchulze-Fielitz, Kommentar zu Artikel 104 GG, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3,2000, Art. 104, Rn. 54f., S. 683-710, bes. S. 706ff.; Wolfgang Schild, Folter einst und jetzt, in: PeterNitschke (Hg.), Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat. Eine Verortung, Bochum 2005, S. 69-93; Christoph Enders, Die Würde des Rechtsstaats liegt in der Würde des Menschen. Das absolute Verbotstaatlicher Folter, in: Nitschke (Hg.), a.a.O., S. 133-148; Mathias Hong, Das grundgesetzliche Folterverbotund der Menschenwürdegehalt der Grundrechte – eine verfassungsjuristische Betrachtung, in: GehardBeestermöller / Hauke Brunkhorst (Hg.), Rückkehr der Folter. Der Rechtsstaat im Zwielicht?, München 2006,S. 24-35; Hauke Brunkhorst, Folter, Würde und repressiver Liberalismus, in: Beestermöller / Brunkhorst (Hg.),a.a.O., S. 88-100; Klaus Günther, Darf der Staat foltern, um Menschenleben zu retten?, in: Beestermöller /Brunkhorst (Hg.), a.a.O., S. 101-108; Reinhard Marx, „Globaler Krieg gegen Terrorismus“ und territorialgebrochene Menschenrechte, in: Kritische Justiz 2006, S. 151-178.

4 Vgl. das Manifest der deutschen Sektion von amnesty international (vom 26.09.2005) „Nein zur Folter,Ja zum Rechtsstaat“.

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bot. Deshalb könnten sich, so Erb, auchPolizeibeamte auf das Notwehrrecht beru-fen, um ggf. Gewaltanwendung bis hin zurFolter positiv zu rechtfertigen. Erb gehtnoch einen Schritt weiter, indem er rechts-politisch sogar einen Vorrang des Notwehr-rechts gegenüber dem Folterverbot be-hauptet, dessen absolute Formulierung erals einen Irrweg und als sicherheitspoliti-sche Selbstabdankung des Staates kritisiert.9

Wiederum eine andere Position beziehenAutoren wie Dieter Birnbacher10 und UweSteinhoff,11 die zwar an der Ausnahmslosig-keit des rechtlichen Folterverbots festhalten,gleichwohl aber eine moralische Rechtfer-tigung der Folter in bestimmten Fallkon-stellationen für möglich halten. Der damitgesetzte Konflikt zwischen moralischer undrechtlicher Ordnung wird dabei gelegent-lich in Analogie zum „zivilen Ungehorsam“verstanden, in dem der Handelnde aus

lebensrettender Informationen zu Wort.Seit langem steht der ÖffentlichrechtlerWinfried Brugger für diese Position,5 dersich inzwischen – wenn auch oft vorsich-tiger formuliert – einige seiner Kollegenangeschlossen haben.6 Der Philosoph RainerTrapp hat kürzlich eine Monographie vor-gelegt, in der er detailliert gesetzliche Re-gelungen für die (wie er es nennt) „selbst-verschuldete finale Rettungsbefragung“vorschlägt und begründet.7 Einen anderenWeg rechtlicher Rechtfertigung der Folterschlägt der Strafrechtler Volker Erb ein,indem er sich auf das Notwehrrecht imStrafgesetzbuch bezieht, das auch fürstaatliche Amtsträger gelte.8 Das Notwehr-recht, das die Berechtigung zur Nothilfezugunsten bedrohter Dritter einschließt,findet nach Erb seine Schranke lediglichim Verhältnismäßigkeitsprinzip, nicht jedochin einer absoluten Norm wie dem Folterver-

5 Vgl. Winfried Brugger, Darf der Staat ausnahmsweise foltern?, in: Der Staat 35 (1996), S. 67ff.; ders.,Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?, in: Juristenzeitung 55 (2000), S. 165ff.; ders., Freiheit und Sicherheit. Eine staatstheoretische Skizze mit praktischen Beispielen,Baden-Baden 2004, S. 56ff.; ders., Einschränkung des absoluten Folterverbots bei Rettungsfolter?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 36/2006, S. 9-15.

6 Vgl. z.B. die Neukommentierung von Artikel 1 Absatz 1 (Menschenwürde) durch Matthias Herdegen, in:Maunz/Dürig u.a. (Hg.), Grundgesetzkommentar (Ergänzungslieferung, München 2003), Rdnr. 45; FabianWittreck, Menschenwürde und Folterverbot. Zum Dogma von der ausnahmslosen Unabwägbarkeit desArt. 1 Abs. 1 GG, in: Die Öffentliche Verwaltung 56 (2003), S. 873-882; Steen Olaf Welding, Die Folter alsMaßnahme in Notfällen. Zur Rechtfertigung einer exekutiven Abwägungskultur, in: Recht und Politik 39(2003), S. 222-227; Hans Hofmann, in: Schmidt-Bleibtreu / Klein, Kommentar zum Grundgesetz, 10. Aufl.2004, Artikel 1, Rdnr. 17; Christian Starck, in: Mangoldt / Klein (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 5. voll-ständig neu bearbeitete Auflage, hg. von Christian Starck, Art. 1 Abs. 1, Rdnr. 79.

7 Rainer Trapp, Folter oder selbstverschuldete Rettungsbefragung?, Paderborn 2006.8 Vgl. Volker Erb, Folterverbot und Notwehrrecht, in: Nitschke (Hg.), a.a.O., S. 149-167; ähnlich Georg

Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, Berlin 2006.9 Vgl. Erb, a.a.O., S. 161. 10 Vgl. Dieter Birnbacher, Ethisch ja, rechtlich nein – ein fauler Kompromiss? Ein Kommentar zu R. Trapp,

in: Wolfgang Lenzen (Hg.), Ist Folter erlaubt? Juristische und philosophische Aspekte, Paderborn 2006, S. 135-148.

11 Vgl. Uwe Steinhoff, Warum Foltern manchmal moralisch erlaubt, ihre Institutionalisierung durch Folter-befehle aber moralisch unzulässig ist, in: Wolfgang Lenzen (Hg.), a.a.O., S. 173-197.

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dass Folter in jedem Fall eine Missachtungder Menschenwürde bedeutet. Beide Prä-missen, aus deren Synthese sich die Abso-lutheit des Folterverbots ergibt, werden –entweder je für sich oder auch gemeinsam –in den jüngsten Vorstößen zur Aufweichungdes Folterverbots mit unterschiedlichenArgumenten bezweifelt.

Im vorliegenden Text setze ich mich mit denAnfragen an das Folterverbot in mehrerenSchritten auseinander: Zunächst gilt es,die Bedeutung des unbedingten Vorrangsder Menschenwürde zu klären (II). An-schließend geht es darum zu zeigen, dassFolter mit der gebotenen Achtung derMenschenwürde in keinem Fall kompatibelsein kann (III) und dass das Folterverbotdeshalb nur als absolutes Verbot denkbarist (IV). Im Weiteren beschäftige ich michmit einer möglichen Konfliktkonstellation,in der die Würde des (mutmaßlichen) Tätersgegen die Würde des Opfers steht (V). Nacheiner Auseinandersetzung mit dem Ein-wand, das ausnahmslose Folterverbot seiAusdruck eines lebensfremden oder garlebensfeindlichen moralischen Absolutis-mus (VI), enden die Ausführungen mit eini-gen kurzen Anmerkungen dazu, wie manüber das Thema Folterverbot jenseits vonTabuisierung und Enttabuisierung ange-messen sprechen kann (VII).

moralischer Überzeugung den Bruch mitdem positiven Recht – einschließlich allerdamit gegebenen persönlichen Risiken –auf sich nimmt.12 Der Verweis auf den zivi-len Ungehorsam ist allerdings insofern ver-fänglich, als solche Akte historisch gerademit dem Ziel durchgeführt und begründetwurden, die bestehende Rechtsordnung zuverändern, den wahrgenommenen Wider-spruch zwischen moralischer und rechtlicherOrdnung also aufzuheben.

Thema des vorliegenden Essays ist der Um-gang mit dem Begriff der Menschenwürde,wie er sich in den neuesten Positionierungengegen die Absolutheit des Folterverbotsfeststellen lässt. Die Menschenwürde ist fürdie Begründung des Folterverbots schlecht-hin konstitutiv.13 Insofern versteht es sichvon selbst, dass auch die Befürworter einerRelativierung des Folterverbots sich mitdiesem Thema mehr oder weniger detail-liert befassen. In komplementären Argu-mentationsstrategien werden dabei diebeiden Prämissen, auf denen die rechtlicheund rechtsethische Begründung des Folter-verbots beruht, in Frage gestellt. Die erstePrämisse besagt, dass der Menschenwürdeein unbedingter normativer Vorrang ge-bührt, da sie, wie es in Artikel 1 Absatz 1des Grundgesetzes heißt, als „unantastbar“zu achten ist. Die zweite Prämisse lautet,

12 Vgl. z.B. Dietmar von der Pfordten, Ist staatliche Folter als fernwirkende Nothilfe ethisch erlaubt?, in:Lenzen (Hg.), a.a.O., S. 149-172, hier S. 169.

13 Zwar werden auch verschiedene pragmatische Argumente für das Folterverbot vorgebracht, etwa dieErfahrung, dass Folter zur Gewinnung lebenswichtiger Informationen wenig tauglich sei; sie können eine„absolute“ Verbotsnorm letztlich aber nicht begründen. Die Absolutheit des Folterverbots gründet deshalbausschließlich in der gebotenen Achtung der Menschenwürde.

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Würde nicht weiter.“16 Auch Rainer Trapphält das Postulat der unbedingten Achtungder Menschenwürde für eine gleichermaßenlebensfremde wie lebensfeindliche Ideolo-gie; als eine absolute Forderung drohe esgeradezu zu einem „Moloch“ zu geraten,„dem äußerstenfalls auch beliebig vieleUnschuldige als Opfer darzubringen sind“.17

In den zitierten Positionierungen werdenMenschenwürde und Lebensschutz alsRechtsgüter kategorial auf ein und dersel-ben Ebene verortet, weshalb sie potenziellin Konkurrenz zueinander zu stehen schei-nen. Das Postulat der Unantastbarkeit –und von dorther auch der Unabwägbarkeit– der Menschenwürde wirkt sich unter die-ser impliziten Prämisse dahingehend aus,dass im Falle einer Kollision zwischen Men-schenwürde und Lebensschutz letzteremvon vornherein überhaupt kein eigener nor-mativer Stellenwert zukommt. Der unbe-dingte Vorrang der Menschenwürde hätte,sofern man sie eben als ein Rechtsgut unterRechtsgütern versteht, in der Tat zur Folge,dass dadurch der Wert aller anderen Rechts-güter – und ergo auch des Lebensrechts –vernichtet würde. Jeder vernünftige Menschmüsse doch, schreibt Trapp, „das schreien-de Unrecht in aller Deutlichkeit erkennen,das jene absolute … Bevorzugung der Men-schenwürde vor allen anderen Rechtsgüternhier zur Folge hätte“.18 Deshalb unterneh-

II. Die Menschenwürde als Prä-misse rechtlicher Kommunikation

In seinen Nachbetrachtungen zum FallDaschner mahnt Wolfgang Lenzen eineNeubestimmung des Verhältnisses von Men-schenwürde und Lebensschutz an. Er be-zeichnet das Gebot der unbedingten Ach-tung der Menschenwürde als eine „HeiligeKuh“ und spricht sich dafür aus anzuerken-nen, „dass die ominöse Menschenwürdekeineswegs pauschal das höchste, unan-tastbare und am meisten zu schützendeGut darstellt“.14 Sein Aufsatz mündet in dasPlädoyer: „Für Politiker und Verfassungs-rechtler ist es einfach an der Zeit, die Men-schenwürde von ihrem allzu hohen Sockelherunterzuholen und ohne Wenn und Aberden Spruch des Bundesverfassungsgerichtszu akzeptieren, dass das Leben einesunschuldigen Menschen einen Höchstwertdarstellt.“15 Ähnliche Vorbehalte gegen denherausgehobenen normativen Status derMenschenwürde finden sich in der aktuellenLiteratur zum Folterverbot häufig. So betontPeter Nitschke: „Das Recht auf Existenz-sicherung ist auch ein Menschenrecht.Vielleicht sogar das oberste: Ohne Sicher-heit der Existenz können alle weiterenRechte gar nicht zum Einsatz kommen.Wenn die personalen Träger der Würde desMenschen ausgelöscht werden, hilft die

14 Wolfgang Lenzen, („)Folter(”), Menschenwürde und das Recht auf Leben – Nachbetrachtungen zum FallDaschner, in: Lenzen (Hg.), a.a.O., S. 199-224, hier S. 215.

15 Ebd., S. 217.16 Peter Nitschke, Die Debatte über Folter und die Würde des Menschen – eine Problemskizze, in: Nitschke

(Hg.), a.a.O., S. 7-34, hier S. 11.17 Trapp, a.a.O., S. 143.18 Ebd., S. 166f.

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Die Prämisse, auf der die vorgetrageneKritik beruht, nämlich dass die Menschen-würde ein Rechtsgutdarstellt und von dort-her in Kollision zu anderen Rechtsgüterngeraten kann, ist jedoch problematisch. Derunbedingte Vorrang der Menschenwürde,wie er durch den Begriff der Unantastbar-keit markiert wird, ergibt nämlich erst dannSinn, wenn man die Achtung der Würdekategorial auf einer anderen Ebene fest-macht. Sie ist kein Rechtsgut,19 sondernhat den Status einer unhintergehbaren Prä-misse rechtlichen Denkens und Argumen-tierens überhaupt.20 Als Anspruch wechsel-seitiger Respektierung der Menschen alsRechtssubjekte bildet sie das Apriori derRechtsgemeinschaft und des Rechtsstaats.Die Achtung der Würde ist deshalb als Prä-misse immer (zumindest implizit, unaus-gesprochen) mit im Spiel, wenn rechtlicheNormen konstituiert, angewendet und ggf.auch gegeneinander abgewogen werden.Sie macht zuletzt das eigentlich „Rechtli-che“ der Rechtsnormen und des Umgangsmit ihnen aus. Insbesondere fundiert siedie Menschenrechte, die in Artikel 1 desGrundgesetzes explizit aus dem Postulatder unantastbaren Menschenwürde begrün-det werden:21 Die Achtung, die jedem Men-

men er und andere Kritiker des absolutenFolterverbots eine Dekonstruktion des Begriffsder unantastbaren Würde, deren Ziel darinbesteht, auch die Menschenwürde für Ab-wägungen insbesondere gegen den gebote-nen Schutz menschlichen Lebens zu öffnen.

Sofern man die Menschenwürde als einRechtsgut unter anderen Rechtsgüternauffasst, sie also kategorial auf derselbenEbene wie den Lebensschutz und sonstigehohe Rechtsgüter verortet, hat die Aus-zeichnung der Würde durch das spezifischeMerkmal der „Unantastbarkeit“ beziehungs-weise der „Unabwägbarkeit“ in der Tat dieethisch kontraintuitive Wirkung, alle ande-ren Rechtsgüter im Konfliktfall zu entwerten.Während sonstige Rechtsgüter im Kolli-sionsfall mit der Maßgabe gegeneinanderabgewogen werden können, einen mög-lichst schonenden Ausgleich aller in Kon-kurrenz stehenden rechtlichen Belange zuerreichen, ist bei einem – unterstellten –Konflikt mit der Menschenwürde ein solcherAusgleich von vornherein nicht möglich, sodass am Vorrang der Menschenwürde imFalle eines Falles scheinbar sämtliche recht-lichen Güter, Werte und Belange zunichtewerden.

19 Sie ist auch, anders als dies in der herrschenden Auffassung in der Literatur vertreten wird, kein Grund-recht neben anderen Grundrechten. Vgl. überzeugend Tatjana Geddert-Steinacher, Menschenwürde alsVerfassungsbegriff. Aspekte der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 1. Abs. 1 Grund-gesetz, Berlin 1990, bes. S. 164ff. Vgl. auch Micha H. Werner, Menschenwürde in der bioethischen Debatte –eine Diskurstopologie, in: Matthias Kettner (Hg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt a.M. 2004,S. 191-220.

20 Vgl. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?,Frankfurt a.M., erweiterte Aufl. 2005, S. 62.

21 Vgl. Artikel 1 Absatz 1 und 2: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützenist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen undunveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens undder Gerechtigkeit in der Welt.“

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überhaupt erst positiv konstituiert. Nur deran die Achtung der Menschenwürdegebundene Rechtsstaat kann die Gewähr-leistung des Schutzes menschlichen Lebensals eine menschenrechtliche Aufgabe ver-stehen und durchführen. Genau darinunterscheidet sich der menschenrechtlicheLebensschutz, wie ihn der Rechtsstaat ge-währleistet, von den Schutzmaßnahmen,die womöglich auch eine Mafiaorganisationfür ihre Klientel wirksam ergreifen könnte.

Die Unabwägbarkeit der Menschenwürdeimpliziert, dass der Rechtsstaat auch inseinem Einsatz für den Schutz menschli-chen Lebens (und andere Rechtsgüter) stetsim Modus des Respekts der Menschen-würde verfahren muss, der sich konkret inder Einhaltung der Menschenrechtebewährt. Obwohl es keinen direkten Ant-agonismus zwischen Menschenwürde undLebensrecht geben kann, ist es deshalbdurchaus möglich, dass Konflikte zwischendem Menschenrecht auf Leben und anderen,ebenfalls in der Würde begründeten Men-schenrechten entstehen. Das einschlägigeBeispiel bietet das Folterverbot, das, indemes staatliche Maßnahmen zum Lebens-schutz einerseits positiv menschenrechtlichorientiert, ihnen andererseits auch defini-tive Grenzen setzt. Die von Lenzen, Nitschke,Trapp und anderen aufgeworfene Fragenach dem Stellenwert des Lebensrechts in

schen aufgrund seiner inhärenten Würdegeschuldet ist, manifestiert sich in men-schenrechtlichen Freiheitsgewährleistungen,die – da die Würde keine interne Abstufun-gen zulässt – jedem Menschen nach Maß-gabe der Gleichheit zukommen.22

Die Achtung der Würde bildet somit dasDefinitionsmerkmal des Rechtsstaats, derdie Bindung an die Menschenwürde nicht(auch nicht punktuell) abstreifen kann,ohne sich selbst als Rechtsstaat aufzuge-ben. In diesem Sinne ist die Unantastbarkeitder Menschenwürde wörtlich zu verstehen:Mit ihr steht und fällt die Rechtsstaatlich-keit. Relativierungen der Menschenwürdesind einer rechtlichen Rechtfertigung ebendeshalb von vornherein unzugänglich, weildie Achtung der Würde die unhintergeh-bare Prämisse rechtlicher Kommunikationüberhaupt darstellt.23

Es ist folglich verfehlt, das Recht auf Lebendurch die Unabwägbarkeit der Menschen-würde relativiert oder gefährdet zu sehen,wie dies in den zitierten exemplarischenÄußerungen von Lenzen, Nitschke undTrapp der Fall ist. Es gibt keinen potenziel-len Antagonismus zwischen Menschen-würde und Lebensschutz. Im Gegenteil: DasRecht auf Leben wird in seinem menschen-rechtlichen Charakter durch die geboteneAchtung der Würde eines jeden Menschen

22 Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt 1998, S. 68ff. Dass der Begründungs-zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten nicht platonisierend als inhaltlicherAbleitungszusammenhang verstanden werden kann, betont zu Recht Christoph Menke, Von der Würdedes Menschen zur Menschenwürde: Das Subjekt der Menschenrechte, in: WestEnd. Neue Zeitschrift fürSozialforschung, 3. Jg. (2006), S. 3-21.

23 Diese Einsicht findet auch Ausdruck in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, der u.a. die Menschenwürdeals rechtlich unüberwindliche Schranke jeder Verfassungsänderung statuiert.

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Mit Kants Worten: „Im Reich der Zweckehat alles entweder einen Preis oder eineWürde. Was einen Preis hat, an dessenStelle kann auch etwas anderes als Äquiva-lent gesetzt werden; was dagegen überallen Preis erhaben ist, mithin kein Äquiva-lent verstattet, das hat Würde.“28

III. Negierung der Würde in der Folter

Dass Folter in jedem Fall eine Missachtungder Menschenwürde darstellt, weil sie demBetroffenen seinen Anspruch auf Respek-tierung als Rechtssubjekt und ergo alsSelbstzweck aberkennt, wird in einigen derjüngst erschienenen Publikationen bestrit-ten. Matthias Herdegen hält es „im Einzel-fall“ für möglich, „dass die Androhung oderZufügung körperlichen Übels, die sonstigeÜberwindung willentlicher Steuerung oderdie Ausforschung unwillkürlicher Vorgängewegen der auf Lebensrettung gerichtetenFinalität eben nicht den Würdeanspruchverletzen“.29 Mit Blick auf den Zweck derErzwingung lebensrettender Informationendurch Folter schreibt Birnbacher: „Der derschmerzhaften Befragung Unterworfenewird nicht – im Sinne der juristischen‚Objektformel’ – zu einer bloßen Sache oderzum Spielball von Willkür, Mutwillen und

möglichen Krisensituationen bleibt des-halb bestehen (und wird uns in den weiterenAbschnitten dieses Aufsatzes noch beschäf-tigen). Sie ist allerdings falsch formuliert,da sie eine direkte Konkurrenz zwischenWürde und Lebensrecht des Menschenunterstellt, die so nicht besteht.24

Die Menschenwürde ist die unhintergehbarePrämisse nicht nur der rechtlichen Kommu-nikation, sondern auch jeder moralischenKommunikation und Reflexion. Sowenigdie Würde ein Rechtsgut unter anderenRechtsgütern ist, sowenig stellt sie einenmoralischen Wert neben anderen Wertendar.25 Als zumindest implizite Prämissejedes moralischen „Wertens“ steht sie selbstjenseits aller Werte. Kant verortet sie aufein und derselben Ebene mit dem Prinzipmoralischer Gesetzgebung überhaupt: demkategorischen Imperativ. Der grundlegendemoralische Imperativ („handle nur nachder Maxime, durch die du zugleich wollenkannst, dass sie ein allgemeines Gesetzwerde“26) kann deshalb auch als Prinzip derAchtung der Menschenwürde formuliertwerden: „Handle so, dass du die Menschheitsowohl in deiner Person, als in der Personeines jeden anderen jederzeit zugleich alsZweck, niemals bloß als Mittel brauchst.“27

Während alle anderen Werte im Konfliktfallgegeneinander abgewogen werden können,gilt dies für die Würde deshalb gerade nicht.

24 Vgl. unten, Abschnitt V.25 Vgl. Schild, a.a.O., S. 81. 26 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe, Bd. IV, S. 421.27 Ebd., S. 429.28 Ebd., S. 434.29 Herdegen, a.a.O., Rdnr. 45.

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Betroffenen zielen. Es geht nicht, wie etwain der Beugehaft oder in vielen anderenZwangsmaßnahmen des Staates, lediglichdarum, einem Menschen unangenehmeKonsequenzen seines normwidrigen Han-delns (oder Nicht-Handelns) aufzuerlegen,die seine Willensentscheidung beeinflussensollen, ohne den Willen unmittelbar zu bre-chen. Es geht auch nicht darum, die äußereHandlungsfreiheit des Menschen (also phy-sische Manifestationen seines Willens)durch polizeiliche Maßnahmen wie bei-spielsweise Fesselungen einzuschränkenoder im Extremfall – einem Todesschuss –ganz zu unterbinden.33 Vielmehr bestehtdie Stoßrichtung der Folter genau darin,die physische und psychische Verletzbarkeitdes Menschen strategisch zur unmittelba-ren Brechung seiner inneren Willensfrei-heit auszunutzen. Deshalb ist die Folter diedirekte Negation der Subjektstellung desMenschen und ergo seiner Würde.

Dieses spezifische Merkmal der Folter kommtauch in Trapps Konzeption der „selbstver-schuldeten Rettungsbefragung“ zum Tragen.Wenn Trapp dennoch von einer „Entschei-dungsfreiheit“ des Betroffenen spricht,erweist sich diese Wortwahl als sophisti-sches Verschleierungsmanöver. Nachgeradezynisch ist die Behauptung, der der schmerz-haften Befragungsprozedur unterworfeneMensch erlitte lediglich den „Nachteil, vordie Wahl zwischen freiwilliger und erzwun-

Grausamkeit gemacht. Er behält vielmehrdie Freiheit, sich durch Preisgabe der zurRettung erforderten Information jederzeit– nicht nur im Vorfeld, sondern auch wäh-rend der Prozedur – zu entziehen.“30 Nochweiter geht Trapp, wenn er behauptet: „Beirechtzeitiger Kooperation wäre der Gefol-terte sogar während der gesamten Folterniemals bloßes Objekt staatlichen Handelns.Er könnte während jenes ganzen Zeitraumsbestimmen, ob die Folter überhaupt beginntbeziehungsweise ab wann sie beendet wird.Auch der zunehmende, die Motivlage immerstärker in eine Richtung hin veränderndeDruck hebt die Entscheidungsfreiheit nichtvöllig auf.“31 Trapp ersetzt den negativbelegten Begriff der Folter für die ihn inter-essierenden Krisenkonstellationen, bei denenes um Lebensrettung geht, deshalb durchden (schon im Titel seiner Monographiehervorgehobenen) Begriff der „selbstver-schuldeten Rettungsbefragung“.

Wie Birnbacher und Trapp im Ernst von der„Entscheidungsfreiheit“ eines der Folterunterworfenen Menschen sprechen kön-nen, bleibt allerdings unerfindlich. Dennfest steht, dass sowohl die „gewaltsamelebensrettende Kooperationserzwingung“,wie Birnbacher sie nennt,32 als auch dieTrappsche „selbstverschuldete Rettungs-befragung“ Zwangsmaßnahmen vorsehen,die erklärtermaßen unmittelbar auf dieAusschaltung der Willenssubjektivität des

30 Birnbacher, a.a.O., S. 141. 31 Trapp, a.a.O., S. 127.32 Birnbacher, a.a.O., S. 140.33 Zur Differenz zwischen Folter und polizeilicher Zwangsanwendung zur Unterbindung bestimmter

Handlungen vgl. Günther, a.a.O., S. 106.

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tertem kann nur Mittel extrem einseitigerEinflussnahme unter Einschluss des Rück-griffs auf Gewalt sein, nicht aber denCharakter einer Anerkennung der Rechts-subjektivität des Gefolterten annehmen, dersonst eben nicht mehr mit Folter bedrohtoder ihr unterworfen werden dürfte.

Die knappste Definition der Folter hat JörgSplett vorgelegt, indem er sie als „Aufhe-bung der Willensfreiheit (auf physischemoder psychischem Weg) bei Erhaltung desBewusstseins“ bezeichnet.36 Die beidenKomponenten – Aufhebung der Willens-freiheit und Erhaltung des Bewusstseins –sind dabei zusammen zu sehen. Anders alsetwa bei einer ärztlichen Operation unterNarkose, in der Willensaufhebung und Be-wusstseinsaufhebung miteinander einher-gehen, besteht die Besonderheit der Folter-situation darin, dass der Betroffene dieAusschaltung seiner Willensfreiheit bewussterlebt und erleben soll. Er wird gleichsamZeuge seiner eigenen Verdinglichung zueinem vollends manipulierbaren Bündelvon Schmerz, Angst und Scham und sollgenau daran zerbrechen. Die Folter bedeutetdeshalb eine unmittelbare und vollständigeNegierung der Achtung der Menschenwürde.„Die Demütigung des einen Menschen, seineEntwürdigung durch den anderen Menschen,den Folterer (sowie die Organisation, die hin-ter ihm steht) …, ist etwas Entsetzliches

gener Pflichterfüllung gestellt zu werden“.34

Denn die vermeintliche Wahlfreiheit kannin dieser Situation nichts anderes als die„Freiheit“ zum Zusammenbruch sein, die ent-weder unter unerträglichen Schmerzen oderaus Angst vor solchen Schmerzen früheroder später beinahe zwangsläufig erfolgt. Undgenau dies ist erklärtermaßen die Intentionder vorgeschlagenen Zwangsmaßnahmen.

Auch zwischen Folterer und Folteropferbesteht eine Art von Interaktion, die aller-dings durch eine extreme Asymmetrie ge-kennzeichnet ist. Denn dem Folterer stehtneben Einschüchterung, Drohung, Verspre-chungen, psychologischen Tricks und ande-ren Maßnahmen auch der Rückgriff aufunmittelbare Gewalt offen; darin bestehtder spezifische Charakter der Foltersituation.„Die Ungleichheit der Positionen“, schreibtNorbert Brieskorn, „ist allein etwas derartAbartiges …, dass das menschliche Bezie-hungsverhältnis zu einer Karikatur seinerselbst verkommt.“35 Dass der Folterer beimEinsatz seiner Mittel strategisch auf dasVerhalten des zu Folternden reagiert, heißtdeshalb gerade nicht, dass diesem die Stel-lung eines respektierten Subjekts eingeräumtwürde, das ernsthaft darüber „bestimmen“könnte, „ob die Folter überhaupt beginntbeziehungsweise ab wann sie beendet wird“,wie Trapp es formuliert. Die kommunikativeInteraktion zwischen Folterer und Gefol-

34 Trapp, a.a.O., S. 166.35 Vgl. Norbert Brieskorn, Folter, in: Beestermöller / Brunkhorst (Hg.), a.a.O., S. 45-54, hier S. 52.36 So Jörg Splett in einem unveröffentlichten Manuskript, zitiert bei Gerhard Beestermöller, Folter –

Daumenschrauben an der Würde des Menschen. Zur Ausnahmslosigkeit eines absoluten Verbotes, in:Beestermöller/ Brunkhorst (Hg.), a.a.O., S. 115ff., hier S. 123.

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IV. Die Ausnahmslosigkeit desFolterverbots

Ein vielfach vorgebrachter pragmatischerEinwand gegen die Aufweichung des Folter-verbots besteht in der Befürchtung einesDammbruchs: Wenn der Staat sich erst ein-mal darauf eingelassen habe, für bestimmteKrisensituationen vom strikten Folterverbotabzugehen, werde dies ein Anlass für immerneue und weitergehende Ausnahmen sein.40

Nun trifft das Dammbruchargument die In-tentionen der Relativierer des Folterverbotsinsofern nicht, als sie für sich in Anspruchnehmen, alternative rechtsstaatliche Grenz-ziehungen zu etablieren. Bildhaft gespro-chen: Sie wollen mit der Relativierung desFolterverbots nicht alle Dämme brechenlassen, sondern die rechtsstaatlichen Dämmelediglich ein gutes Stück weit zugunstenlebensrettender staatlicher Sicherheits-maßnahmen verschieben.

Trapp, dessen Ausführungen diesbezüglichdie bislang größte Detailschärfe aufweisen,schlägt eine Rechtsnorm zur Ermöglichungder „selbstverschuldeten Rettungsbefra-gung“ vor, in der richterliche und medizi-nische Aufsicht ebenso geregelt sind wie

für das Opfer wie für die Folterer – dennbeide finden sich zerstört wieder – in ihrenmenschlichen Gefühlen, ihrem Würdebe-wusstsein und ihren Beziehungen.“37

Ein Staat, der sich als Rechtsstaat der Ach-tung der Menschenwürde verpflichtet weiß,kann unter keinen Umständen eine Er-mächtigung zum Einsatz der Folter oderanderer Formen grausamer, unmenschlicherund erniedrigender Behandlung oder Bestra-fung vorsehen. Weder kann er seine öffent-lich-rechtlichen Normen für die Ermögli-chung von Folter in Krisensituationen öffnen;noch kann er das Folterverbot unter Rück-griff auf die Figur strafrechtlicher Recht-fertigung von Notwehr und Nothilfe relati-vieren.38 Zu Recht schreibt Christoph Enders:„Eine Existenz ohne Recht kann eine Über-lebensstrategie des Einzelnen und wohlauch von Staaten sein, aber niemals dieSache eines Rechtsstaats. Und wer eine –auch nur punktuelle – Existenz ohne Rechtpropagiert, verabschiedet sehenden Augesnicht nur den Rechtsstaat, sondern negiertdamit die allein in ihm als Ordnungsprin-zip anerkannte Würde des Menschen.“39

37 Brieskorn, a.a.O., S. 52.38 Darüber hinaus hat der Staat weitere Pflichten zur aktiven Bekämpfung von Folter (von der Verpflichtung

zur strafrechtlichen Verfolgung von Foltervorwürfen über die Statuierung von Beweisverwertungsverboten,den Schutz vor Ausweisung oder Abschiebung in eine potenzielle Foltersituation bis hinein zur Ausschöpfungpräventiver Möglichkeiten), die hier nicht näher erörtert werden können.

39 Enders, a.a.O., S. 148.40 Vgl. in diesem Sinne Ralf Poscher, Menschenwürde im Staatsnotstand, in: Petra Bahr/ Hans Michael

Heinig (Hg.), Menschenwürde in der säkularen Verfassungsordnung. Rechtswissenschaftliche und theo-logische Perspektiven, Tübingen 2006, S. 215-231.

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kraft die von ihm postulierten Grenzziehun-gen haben. Nehmen wir beispielsweise dasPostulat, dass die Zwangsmaßnahmen„keine bleibenden körperlichen Schädenhervorrufen“ dürfen. Wie verbindlich kanndiese (um von Trapps euphemistischer Spra-che abzugehen) folterimmanente Grenz-ziehung sein, wenn der Staat um des Pri-mats der Gefahrenabwehr erst einmal dazuübergegangen ist, überhaupt Zwangsmaß-nahmen zum Zwecke unmittelbarer Willens-brechung vorzusehen und ggf. tatsächlichzu ergreifen? Kann man sich ernsthaft vor-stellen, dass in einer Situation, in der dererhoffte Zusammenbruch eines mutmaß-lichen Terrorhelfers womöglich kurz bevor-steht, die Folterer, bildhaft gesprochen, dieDaumenschreiben nicht doch noch überdie erlaubte Grenze hinaus enger ziehenwürden, um endlich ans Ziel zu kommen?Jan Philipp Reemtsma formuliert es drastisch:„Warum soll man einem Menschen, denman legitimer- und legalerweise windel-weich prügelt, damit er das Versteck einerBombe oder einer Geisel preisgibt, wenner das nicht tut, nicht die Arme brechen?Und warum, wenn er immer noch nichtspricht … ihm nicht die Fingernägel ausreißen,die Genitalien zerquetschen, Zigaretten inseinen Augen ausdrücken?“42 Bei Trapp fin-den sich zu solchen Fragen keine näherenAusführungen. Zwar postuliert er die ge-nannte Grenze für den Einsatz der Folter,nennt aber keine Gründe dafür, warumdiese Grenze eigentlich gelten soll. Er führtauch nicht aus, wie die gesetzte Grenze

die Video-Aufzeichnung des Zwangsein-satzes zum Zwecke späterer Beweislegungund ggf. Aufarbeitung. Die der Zwangsbe-fragung unterzogene Person müsse auf-grund von Indizienlage oder Geständnismit an Sicherheit grenzender Wahrschein-lichkeit über die unmittelbar notwendigelebensrettende Information verfügen. Außer-dem will Trapp dem Gewalteinsatz verbind-liche Grenzen ziehen: „Die äußerstenfallseingesetzten Zwangsmittel dürfen hierbeia) nicht stärker als für die Erreichung desnachstehenden Zwecks erforderlich sein,b) an jener Person keine bleibenden kör-perlichen Schäden hervorrufen oder garabsehbar ihr Leben bedrohen, c) keine Dritt-personen gegen deren Willen einbeziehen,und d) müssen dem alleinigen Zweck dienen,die befragte Person zu Handlungen zu ver-anlassen, die diese 1) ohne den Einsatzjener Zwangsmittel nicht zu tun bereit ist,und die 2) ex-ante mit hoher Wahrschein-lichkeit erforderlich und geeignet sind, min-destens eine dritte Person aus einer lebens-bedrohlichen Lage zu befreien, die alleinoder in Mittäterschaft durch vorherigesmoralwidriges Handeln der befragten Per-son kausal allererst herbeigeführt wurde.“41

Trapp erhebt den Anspruch, dass die so de-finierte und mit einigen weiteren Kautelenversehene „selbstverschuldete Rettungs-befragung“ rechtsstaatlich möglich sei, alsonicht zu einem allgemeinen rechtsstaat-lichen Dammbruch führe. Es stellt sichallerdings die Frage, welche Überzeugungs-

41 Trapp, a.a.O., S. 44.42 Jan Philipp Reemtsma, Folter im Rechtsstaat?, Hamburg 2005, S. 120f.

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che Drittpersonen auszuweiten? Wiederumgeht es nicht darum, ein „hidden curricu-lum“ in Trapps Ausführungen zu unterstellen.Bezweifelt werden muss indessen die prin-zipielle Möglichkeit, in einem Argumenta-tionszusammenhang, in dem die unbedingteGeltung der Achtung der Menschenwürdeexpressis verbis bestritten worden ist, über-haupt noch irgendwelche starken norma-tiven Gesichtspunkte zur Folterbegrenzungplausibel vorzubringen.

Ähnliches ist bezüglich des Verhältnismäßig-keitsprinzips zu sagen, auf das Brugger sichberuft, um die von ihm für manche Krisen-situationen befürwortete Anwendung derFolter normativ zu kanalisieren. Auch imFall des Foltereinsatzes, schreibt er, „giltselbstverständlich der Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit: Die List steht vor der Täu-schung, die Drohung vor der Anwendung;bei der Anwendung sind geringere vor inten-siver eingreifenden Mitteln auszuwählen“.44

Das Verhältnismäßigkeitsprinzip hat bei derggf. notwendigen Balancierung kollidie-render menschenrechtlicher Ansprüche sei-nen sinnvollen (allerdings auch von vorn-herein begrenzten!) Ort. Als Mittel einergleichsam folterimmanenten Abwägungund Grenzziehung aber muss es deshalbversagen, weil durch die Folter die unhin-tergehbare Prämisse rechtlicher Kommu-nikation – die unbedingte Achtung der Men-schenwürde – durchbrochen wird. OhneRückbindung an die Achtung der Menschen-würde verliert deshalb auch das rechts-

dem Druck einer Foltersituation, in der sichdie Folterer einer enormen Erfolgserwar-tung ausgesetzt sehen dürften, faktischstandhalten soll. Wie sollte er auch, nach-dem er den Stellenwert der Menschen-würde gezielt relativiert hatte, in der Lagesein, überzeugende Gründe dafür angeben,dass die Vermeidung bleibender körperli-cher Schäden nun als eine verbindliche undwirksame Schranke für die Intensität desZwangseinsatzes fungieren kann?

Als weitere Einschränkung postuliert Trapp,dass „keine Drittpersonen gegen deren Wil-len“ in die Zwangsbefragung einbezogenwerden dürfen. Es soll hier nicht bezwei-felt werden, dass Trapp es mit dieser Grenz-ziehung ernst meint. Wohl aber stellt sichdie Frage, ob er im Rahmen seines Ansatzesdafür plausible Gründe anführen kann. Erbekennt sich dazu, die Ausweitung desZwangs auf unschuldige Dritte (Familien-angehörige, Freunde oder sonstige Personen,die auf den mutmaßlichen Täter Einflussnehmen könnten) für ethisch unzulässigzu halten, merkt aber ergänzend an: „Diesehätten es dann allerdings ethisch mit zuverantworten, wenn infolge des Scheiternsaller den Behörden dann noch verbleiben-den Methoden der Rettungsversuch amEnde misslingt.“43 Könnte nun nicht, so wärezu fragen, die hier von Trapp angesprochenemögliche „ethische Mitverantwortung“Dritter am Scheitern einer Rettungsaktiondie Einbruchstelle dafür werden, die Zwangs-maßnahmen schließlich doch noch auf sol-

43 Trapp, a.a.O., S. 51.44 Vgl. Brugger, Einschränkung des absoluten Folterverbots …a.a.O., S. 15.

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anderen Worten: Auf dem „slippery slope“,auf den Trapp und Brugger sich mit der Rela-tivierung des Folterverbots begeben, gibt eskein Halten mehr, so dass die von ihnenunternommenen Versuche einer rechts-staatlichen Rechtfertigung und zugleichHegung der Folter scheitern müssen.

V. Achtungspflicht und Schutz-pflicht des Staates

Wie alle Menschenrechte hat auch das Rechtauf Leben seinen Grund in der Menschen-würde. Die Achtung und der Schutz derWürde, nach Artikel 1 Absatz 1 des Grund-gesetzes „Verpflichtung aller staatlichenGewalt“, manifestiert sich deshalb konkretauch in staatlichen Achtungs- und Schutz-pflichten zugunsten des Lebensrechts. DerStaat ist gehalten, alle ihm zu Gebote stehen-den Mittel zum Schutz menschlichen Lebenseinzusetzen. Die Anwendung von Foltersteht ihm als Rechtsstaat aber nicht zurVerfügung, weil sie mit der Prämisse vonRechtlichkeit und Rechtsstaatlichkeit nichtkompatibel ist. Von daher ist es möglich,dass zwischen der Verpflichtung zum staat-lichen Lebensschutz und dem Verbot derFolter eine normative Konkurrenz entsteht.

staatliche Verhältnismäßigkeitsprinzip seininneres Maß. Es büßt seine Maßstabsfunk-tion ein und gibt keinen Halt und keineOrientierung mehr.45 Eine staatliche Folter-befugnis im Rahmen der rechtsstaatlichenVerhältnismäßigkeit wäre schon begrifflichein Monstrum und in der Praxis nichts an-deres als ein Freibrief für staatliche Willkür.46

Als Zwischenergebnis dieser Überlegungenist festzuhalten: Die Verschiebung derrechtsstaatlichen Dämme, für die Trapp,Brugger und andere Relativierer des Folter-verbots plädieren, funktioniert (einmal ab-gesehen von den zu erwartenden verhee-renden Folgen einer etwaigen Umsetzungin der Praxis) schon in der Theorie nicht.Die Vorstellung, dass es jenseits des Folter-verbots moralische oder rechtliche Kriteriengeben könnte, mit denen man die Foltereinerseits erlauben und andererseits zugleichverbindlich in Grenzen halten könnte, istoffenkundig absurd. Der Schritt zur Folterführt so gesehen nicht nur zu einem Damm-bruch; es ist der Schritt in ein rechtsstaat-liches Niemandsland, in dem keine Mög-lichkeit mehr besteht, überhaupt nochwirksame Dämme gegen staatliche Willkürzu errichten, weil die vorgeschlagenenalternativen normativen Grenzlinien keineinnere Plausibilität aufweisen können. Mit

45 Dies verkennt Nitschke, wenn er die Menschenwürde dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit unterstellt(a.a.O., S. 19).

46 Der oberste Gerichtshof in Israel hat deshalb in seinem Urteil vom 6. September 1999 die staatlicheBilligung sogenannten „gemäßigten physischen Zwangs“ zum Zwecke von Informationsgewinnung imKampf mit potenziellen Terroristen verworfen und sich dabei auf das absolute Folterverbot berufen. Vgl. Albrecht Weber, Menschenrechte. Texte und Fallpraxis, München 2004, S. 96ff. Menschenrechts-gruppen innerhalb und außerhalb Israels hatten zuvor beklagt, dass aus der unter bestimmten Auflagenerteilten staatlichen Genehmigung zum Einsatz von Zwangsmitteln bei Verhören beinahe der Regelfallim Umgang mit palästinensischen Polizeihäftlingen geworden war.

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Bruggers Begriff des „Unentschieden“ unter-stellt, dass in der genannten Krisensituationein Konflikt zwischen zwei Rechtsgüternbesteht, der eine Abwägung erforderlichmacht. Die Würde ist jedoch nicht einemdinglichen „Gut“ vergleichbar, das sich mitanderen Gütern (und sei es der Würde einesanderen Menschen) auf die Waage legenließe und dem man, wenn die Waage sichnicht in Richtung einer eindeutigen Ent-scheidung neigt, andere, zusätzlicheGewichte beifügen könnte. Angemessenbeschreiben lässt sich der Konflikt deshalbnicht als ein solcher zwischen konkurrie-renden Rechtsgütern – Würde des Opfersgegen Würde des Täters –, sondern alsWiderspruch zwischen staatlicher Schutz-pflicht und staatlicher Achtungspflichtbezüglich der Menschenwürde, die beidein Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzesverankert sind; dies macht die besondereSchwierigkeit und Dramatik einer solchenKonfliktlage aus.

Die beiden grundlegenden staatlichen Pflich-ten sind gleichursprünglich und gleicher-maßen verbindlich: Weder kann sich derRechtsstaat unter Berufung auf die Ach-tungspflicht von seiner Schutzpflicht zu-gunsten der Menschenwürde dispensiertsehen, noch kann er umgekehrt mit Verweisauf seine Schutzpflicht gegen das Gebot derAchtung der Würde verstoßen. Ein Unter-schied zwischen beiden Pflichten bestehtallerdings darin, dass dem Staat bei der

In diesem Fall handelt es sich zwar nicht –wie in den eingangs zitierten Äußerungenvon Lenzen, Nitschke und Trapp unterstellt– um einen direkten Konflikt zwischenLebensrecht und Menschenwürde, weileben auch das Menschenrecht auf Leben inder Achtung der Würde begründet ist. DerKonflikt besteht vielmehr zwischen zweiMenschenrechtsnormen (Recht auf Lebenund Folterverbot), die beide zuletzt auf dieAchtung der Menschenwürde zurückgehen –wobei der innere Zusammenhang zwischenMenschenwürde und Folterverbot so unauf-löslich ist, dass das Folterverbot keine Aus-nahmen und keine Abwägungen zulässt.

Wie aber wäre eine mögliche Fallkonstella-tion zu bewerten, bei der staatlich einge-setzte Folter dem Zweck dienen soll, dieFolter durch Dritte – etwa die Folterungeiner durch Terroristen entführten Geisel –zu verhindern oder zu beenden? Bruggerhält es für evident, dass spätestens in einemsolchen Fall die Berufung auf die Menschen-würde normativ zu einem „Unentschieden“führe, so dass andere Gesichtspunkte zumTragen kommen müssten. Ausschlaggebendsei in einer solchen Situation der Vorrangdes Opfers und seiner Würde vor der Würdedes Täters: „Zwar würde durch die Folterdie Würde des Entführers verletzt, aber ineiner solchen Situation von Würde gegenWürde kann und muss die Rechtsordnungsich auf die Seite des Opfers stellen und demTäter die Preisgabe des Verstecks zumuten.“47

47 Brugger, Einschränkung des absoluten Folterverbots …a.a.O., S. 14. Vgl. ähnlich Wittreck, a.a.O.; Birnbacher, a.a.O., S. 142; Trapp, a.a.O., S. 167; Steinhoff, a.a.O., S. 185; vorsichtig zustimmend auchHorst Dreier, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2004, Art. 1, Rn. 133.

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gestellt, mit der Würde des Menschen injedem Fall unvereinbar, weshalb das Folter-verbot auch in sicherheitspolitischen Kri-senlagen unverbrüchlich gilt.

Sowenig ein Rechtsstaat auf Geiselnahmeantworten kann, indem er seinerseits Men-schen (etwa Verwandte oder mutmaßlicheSympathisanten der Terroristen) in Geisel-haft nimmt, sowenig kann er terroristi-schen Folterpraktiken eigene Folter oderFolterdrohung entgegensetzen. Wer in die-ser Bindung des Staates eine Schwäche(oder gar eine strukturelle Unterlegenheitgegenüber „zu allem bereiten“ Terrorgrup-pen) sieht, hat nicht verstanden, worin dieStärke des Rechtsstaats besteht. Ernst Bendabetont: „Dass so der staatlichen Gefahren-abwehr und erst recht präventiven Maß-nahmen gegen befürchtete, aber noch nichteingeleitete terroristische Angriffe klareGrenzen gesetzt sind, könnte nur der bekla-gen, dem um eines legitimen Ziels willenjedes Mittel recht ist. Es ist die Aufgabedes Rechtsstaatsprinzip, dieser Irrmeinungentgegenzutreten.“50

VI. Moralischer Absolutismus?

Die hier vertretene Position wird in der Lite-ratur gelegentlich als „moralischer Absolu-tismus“ bezeichnet und, um mit Uwe Stein-

Wahrnehmung seiner Schutzpflicht einGestaltungsspielraum bleibt, während dieAchtungspflicht seinem Handeln unüber-schreitbare Grenzen setzt, die den staatli-chen Gestaltungsspielraum definitiv be-schränken. Aus dieser Differenz resultiertdann aber, dass im beschriebenen Konflikt-fall die Achtungspflicht keinesfalls zugun-sten der Schutzpflicht relativiert werdenkann.48 Mit dem Festhalten am strikten Fol-terverbot ist der Staat keineswegs zur Un-tätigkeit verurteilt, sondern kann die ihmzu Gebote stehenden Mittel – im Rahmenseiner (faktischen und rechtlichen) Mög-lichkeiten – aktiv für den Schutz eines vonTod und Folter bedrohten Entführungsopferseinsetzen. Ein Vorrang der Schutzpflicht49

hieße demgegenüber, dass die Achtungs-pflicht im besagten Fall durch staatlicheAnwendung von Folter gänzlich suspendiertwürde. Dies aber wäre rechtsstaatlich un-möglich.

Nicht einmal die Schutzpflicht zugunstender von Dritten bedrohten Menschenwürdekann deshalb Maßnahmen rechtfertigen,durch die der Staat – und sei es auch nurpunktuell – die Achtung der Menschen-würde aufkündigen würde; denn auch beider Erfüllung der menschenrechtlichen Auf-gabe des Lebensschutzes bleibt der Staatan die Achtung der Würde – als die Prämissejeder Rechtlichkeit – notwendig gebunden.Der Einsatz von Folter wäre aber, wie dar-

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48 Vgl. in diesem Sinne auch Hong, a.a.O., S. 30ff.49 Dafür treten z.B. ein: Starck, a.a.O., Rdnr. 79; Wagenländer, a.a.O., S. 155ff. 50 Ernst Benda, Wer stark ist, foltert nicht. Im Kampf gegen den Terror genügen die Mittel des wehrhaften

Rechtsstaats, in: Die Welt, 26. Juli 2004.

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Dass dem Staat aus seiner Bindung an dieMenschenrechte in diesem Sinne auchsicherheitspragmatische Vorteile erwachsenkönnen, bildet zwar nicht die eigentlichenormative Begründung für die Menschen-rechte und das Folterverbot; deren Statuskann nicht davon abhängig gemacht wer-den, dass die plausiblerweise zu erwartendensicherheitspolitischen Gewinne tatsächlicherfolgen. Gleichwohl wäre es empirisch falschund politisch unverantwortlich, die Achtungder Menschenrechte und insbesondere desFolterverbots in einen abstrakten Gegen-satz zu sicherheitspolitischen Erfordernissenzu stellen. „Es ist nicht gut“, mahnt Benda,„wenn von den mit der Terrorbekämpfungbetrauten Stellen der Eindruck gefördertoder auch nur toleriert wird, die zur Siche-rung der rechtsstaatlichen Ordnung desGrundgesetzes dem staatlichen Handelngezogenen Schranken seien zwar hinzu-nehmen, doch sie verhinderten oder er-schwerten eine wirksame Gefahrenabwehr.Andere Staaten, die solche Grenzen nichtoder nur in geringerem Maße kennen, sindnicht effektiver oder erfolgreicher.“54

Das Eintreten für das absolute Folterverbotschließt im Übrigen das Verständnis füretwaige tragische Dilemma-Situationenkeineswegs aus. Dies sei gegen den Vor-wurf des moralischen Rigorismus gesagt. Esist möglich, dass Menschen in Grenzsitua-tionen geraten und dann in einer Weisehandeln, die sich zwar nicht rechtlich oder

hoff zu sprechen, als „ein gefährlicher undirriger Standpunkt“ entlarvt.51 Im Verdiktdes moralischen Absolutismus klingen näher-hin zwei voneinander unterscheidbare, aberoft miteinander verbundene Vorwürfe an:Zum einen sei ein ausnahmsloses Folter-verbot wirklichkeitsfremd, naiv und unrea-listisch. Zum anderen steht diese Positionim Verdacht eines normativen Rigorismus,der die Menschen überfordere und dadurchselbst ungerecht werde.52 Beide Vorwürfehatte einst schon Arnold Gehlen in seinerStreitschrift gegen die moderne „Hyper-moral“ vereint.53

Zunächst zum Einwand der Wirklichkeits-fremdheit: Die strikte Bindung des Staatesan die Menschenrechte im allgemeinenund an das ausnahmslose Folterverbot imbesonderen stellt keineswegs nur ein Hin-dernis für staatliche Sicherheitspolitik dar.Sie verleiht dem sicherheitspolitischen Han-deln des Staates moralische Glaubwürdig-keit, Verlässlichkeit und Legitimität undwird damit selbst die wichtigste Quelle fürpolitisches Vertrauen. Das Vertrauen derMenschen in den Rechtsstaat wiederumist eine unverzichtbare „Ressource“ auch derSicherheitspolitik (wie insbesondere zahlrei-che aktuelle Gegenbeispiele aus der Praxisder internationalen Terrorismusbekämpfungillustrieren, in denen Vertrauensverluste,die sich bis hin zu Verschwörungsängstenauswachsen können, enorme Gewaltbereit-schaft freisetzen).

51 Steinhoff, a.a.O., S. 187.52 Erb vermeint in der Ausnahmslosigkeit des Folterverbots sogar den „Geist des Totalitarismus“ zu erkennen,

weil eine abstrakte Norm darin höher gestellt werde als individuelles menschliches Leben (a.a.O., S. 165). 53 Vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, 5. Aufl. Wiesbaden 1986.54 Benda, a.a.O

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tung einer absoluten Norm ein Tabu statu-ieren und damit jede rationale Diskussionblockieren. „Ganz besonderen Erfolg“, sopolemisiert Trapp, „verspricht jenes … Tabui-sieren im argumentfreien Raum bei empfind-samen Gemütern, zu deren Vorzügen nichtprimär die Fähigkeit zählt, die sie leitendenWerturteile vernünftig begründen zu kön-nen …“.57 Während der Begriff des Tabusbeziehungsweise der Tabuisierung in allerRegel negativ konnotiert ist, belegt RalfPoscher den Begriff mit einem affirmativenSinngehalt. Er sieht in den Folterpraktikenvon Abu Ghraib einen Beleg dafür, dassnicht erst eine ausdrückliche staatlicheFolterermächtigung, sondern „bereits dieUnsicherheit über die Geltung des Folter-verbots“ dazu führt, dass unter dem Druckvon Kriegs- und Krisensituationen Folterfaktisch stattfindet.58 Poscher spricht sichangesichts der nachweisbaren Gefahreneines Dammbruchs deshalb für die „recht-liche Tabuisierung“ der Folter aus, wie sie imabsoluten Folterverbot enthalten sei.59

Handelt es sich beim Folterverbot dem-nach um ein Tabu? Der Begriff des Tabusbeziehungsweise der Tabuisierung ist irre-führend, da das Folterverbot durchauseinen sinnvollen Gegenstand von Argu-mentation und Diskurs bildet. Auch Poscherbezieht sich ja auf Erfahrungsgründe, umsein Plädoyer für die Tabuisierung der Folterzu untermauern. Ein argumentativ begrün-

moralisch rechtfertigen, eventuell aber ent-schuldigen lässt.55 So ist es sicherlich denk-bar, dass der Staat zum Beispiel gegenübereinem Polizeibeamten, der in einer tatsäch-lich eingetretenen ausweglosen Konflikt-situation zu Mitteln der Folter gegriffen hat,die Umstände seines Handelns strafmilderndberücksichtigt. Freilich sollte man dabei Vor-sicht walten lassen: Es darf nicht dazu kommen,dass durch einen voreiligen Strafverzichtder Eindruck erweckt wird, der Staat würdeden Einsatz von Folter stillschweigend dochbilligen oder gar ermutigen (wie dies in vie-len Staaten der Welt geschieht). Wer Folteranwendet oder ihren Einsatz befiehlt, musswissen, dass er dafür in jedem Fall vor Gerichtgestellt wird, wie dies auch die Antifolterkon-vention der Vereinten Nationen vorschreibt.56

Nur ein öffentlicher Strafprozess kann dieFrage klären, ob tatsächlich eine tragischeDilemma-Situation vorgelegen hat, in derdie Anwendung von Folter zwar nicht ge-rechtfertigt wäre (dies ist prinzipiell un-möglich), vielleicht aber im konkreten Fallrückwirkend entschuldigt werden könnte.

VII. Zwischen Tabuisierung undEnttabuisierung

Den Verteidigerinnen und Verteidigern desausnahmslosen Folterverbots wird nichtselten vorgehalten, dass sie mit der Behaup-

55 Vgl. Schild, a.a.O., S. 92.56 Vgl. Artikel 4 der UN-Antifolterkonvention. 57 Trapp, a.a.O., S. 223. 58 Poscher, a.a.O., S. 219.59 Ebd., S. 220.

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Menschenwürde und Folterverbot

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Die Unhintergehbarkeit der Menschen-würde hat auch eine emotionale Seite. Siemanifestiert sich zum Beispiel in einer Artintuitiver Scheu, sich argumentativ aufsolche fiktiven Szenarien einzulassen, diedarauf abzielen, die unbedingte Achtungder Menschenwürde zu unterminieren. Der-artige Gedankenexperimente spielen in derDebatte um das Folterverbot eine zentraleRolle. Um eine moralische Erlaubnis zumeventuellen Foltereinsatz herzuleiten, kon-struiert etwa Uwe Steinhoff eine Entschei-dungssituation, in der ein Diktator einenGefangenen vor die Wahl stellt, entwedereinen von zehn Mitgefangenen zu tötenoder einen Gefangenen zwei Stunden langzu foltern; ein Ausweg aus dieser Entschei-dungslage soll nicht möglich sein, weil derDiktator im Weigerungsfall androht, allezehn Gefangenen zu töten. Steinhoff meint,mit diesem Gedankenexperiment die bloßeRelativität des Folterverbots aufweisen zukönnen.61 Die intuitive emotionale Abwehrdagegen, sich auf ein solches konstruiertesSzenario argumentierend einzulassen, hatnichts mit Blauäugigkeit oder intellektuel-lem Unvermögen zu tun. Man mag sogareinräumen, dass die von Steinhoff konstru-ierte makabere Situation Realität werdenkönnte. Im Blick auf eine solche Eventua-lität positiv eine normative Kriteriologieerarbeiten zu wollen, die es möglich machensoll, Würdeverletzungen bilanzierend gegen-einander aufzurechnen, ist jedoch ein mon-ströses Unterfangen; es führt rechtlich undethisch ins Abseits. In der emotionalen

detes und in der Diskussion als sinnvollaufweisbares „Tabu“ ist aber kein eigent-liches Tabu mehr. Und dennoch trifft derBegriff des Tabus einen wichtigen Aspektim Umgang mit dem Thema: Denn im Folter-verbot geht es unmittelbar um die Achtungder Menschenwürde, die ihrerseits den Sta-tus einer unhintergehbaren Prämisse recht-licher und moralischer Kommunikationüberhaupt hat. Daher ist das Thema Folter-verbot eben nicht ein Debattengegenstandwie jeder andere. Es ist zwar, genau genom-men, kein Tabu, weist aber doch gewisseÄhnlichkeiten mit einem Tabu auf.

Die Achtung der Menschenwürde ist in demSinne „unhintergehbar“, als sie nicht vonetwaigen übergeordneten Prämissen her be-gründet werden kann, sondern den letztenReferenzpunkt rechtlicher und moralischerArgumentation überhaupt bildet. Alle Ver-suche, die Menschenwürde direkt zu „be-gründen“, enden daher unvermeidlich inTautologien. Während sich eine Begründungder Menschenwürde, streng genommen,als undurchführbar erweist, ist es allerdingssehr wohl möglich, den Stellenwert derWürde für Recht und Moral reflexiv unddiskursiv zu klären. Eine solche Klärunggeschieht in der Weise eines Nach-Denkens,insofern sie notwendig Bezug nimmt auf jene„immer schon“ vorausgesetzte Prämisse nor-mativer Kommunikation, deren im wahrstenSinne des Wortes „grundlegender“ Stellen-wert sich auch darin zeigt, dass sie sich ihrer-seits nicht von außen begründen lässt.60

60 Zur Struktur einer solchen Argumentation vgl. Heiner Bielefeldt, Symbolic Representation in Kant’s PracticalPhilosophy, Cambridge 2003, S. 40ff.

61 Vgl. Steinhoff, a.a.O., S. 177.

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Menschenwürde und Folterverbot

verständnis von Aufklärung, wollte man imNamen vermeintlich aufklärerischer „Ent-tabuisierung“ alle Befangenheiten in derRede über Folter abstreifen.

Das Folterverbot ist ein sehr spezielles Thema,betrifft es doch unmittelbar das Selbst-verständnis des Rechtsstaats. Darüber zusprechen und politisch zu streiten, ist sinn-voll. Es zu zerreden, wäre hingegen fatal.Es gehört zu den schwierigsten Aufgabender Menschenrechtsbildung, das Folter-verbot in einer solchen Weise zu erörtern,dass Zweifel und Anfragen offen zu Wortkommen können, ohne dass das Folter-verbot in der Beliebigkeit der widerstrei-tenden Meinungen hängen bleibt. Voraus-setzung dafür ist, dass sich alle Beteiligtenjederzeit vor Augen halten, über welche Rea-lität sie sprechen, wenn sie sich auf eineDebatte über Folter einlassen.

Weigerung, sich auf derartige Gedanken-spiele einzulassen, könnte man in der Tateine gewisse Entsprechung zu jenem Gefühlder Scheu sehen, das den Menschen über-fällt, wenn er an ein Tabu rührt.

Eine solche Empfindung der Scheu ist demUmgang mit dem Thema Folter angemes-sen, und sie sollte kultiviert werden. Diesschließt die Bereitschaft zur diskursivenErörterung strittiger Fragen im Zusammen-hang des Folterverbots keineswegs aus. Dievon Trapp und anderen konstruierte Entge-gensetzung von tabuisierenden Denkver-boten und diskursiver Unbefangenheit isteine Scheinalternative. Denn über Folterkann man nicht zugleich angemessen undunbefangen reden. Und mag es einerseitsauch unangebracht sein, eine Kontroverseüber das Folterverbot zu „tabuisieren“, sowäre es andererseits ganz gewiss ein Miss-

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