Menschheit und Individualität - KOBRAnbn:de:hebis:... · Karlheinz Fingerle Zur bildungspolitischen Rezeption Wilhelm von Humboldts Aus: Menschheit und Individualität Zur Bildungstheorie

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  • Karlheinz Fingerle

    Zur bildungspolitischen Rezeption Wilhelm von Humboldts

    Aus:

    Menschheit

    und Individualitt

    Zur Bildungstheorie und Philosophie

    Wilhelm von Humboldts

    Herausgegeben von Erhard Wicke, Wolfgang Neuser und

    Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

    Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 1997

    (Studien zur Philosophie und Theorie der Bildung; Band 38.

    Hrsg. von Otto Hansmann und Winfried Marotzki)

    ISBN 3-89271-714-1

    Band 38 ist eine Verffentlichung des Fachbereiches

    Erziehungswissenschaft, Humanwissenschaften und der

    Interdisziplinren Arbeitsgruppe Philosphische Grundlagenprobleme

    der Universitt Gesamthochschule Kassel

  • Zur bildungspolitischen RezeptionWilhelm von Humboldts

    Karlheinz Fingerle

    Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts und dieBildungspolitik

    Uns erscheint es heute selbstverstndlich, Wilhelm von Humboldt als Bil-dungspolitiker zu bezeichnen und danach zu fragen, wie Humboldt durch seinDenken und Handeln auf die Bildungspolitik spterer Generationen gewirkthabe. Die Worte "Bildungspolitik" und "bildungspolitisch" wurden allerdingserst in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts allgemein gebruchlich. HorstBahro behauptet, das Wort erscheine erstmals mit den Reformanstzen inSchule und Hochschule zu Beginn der sechziger Jahre.1 Die Verffentlichun-gen Hellmut Beckers2 und Ralf Dahrendorfs3 knnten als Belege fr die Ver-wendung des Wortes "Bildungspolitik" in einer Diskussion genannt werden,die nicht nur eine Fachffentlichkeit ansprach.Die Wrter "Bildungspolitik" und "bildungspolitisch" finden wir jedoch

    schon sehr viel frher in der Literatur.4 Hier seien Belege genannt, die zu-gleich fr die Auseinandersetzung mit dem Erbe Humboldts wichtig sind:Paul Luchtenberg behauptete in seinem Vortrag ,,Die Berufsschule im geisti-

    gen Ringen der Gegenwart" im Juni 1952 in der Paulskirche vor dem Deut-schen Verband der Lehrer an berufsbildenden Schulen, "das wesentlich litera-risch-sthetisch fundierte humanistische Bildungsideal der deutschen Klassik"habe an Anziehungskraft verloren, "seitdem das Zeitalter der Technik zwangs-lufig eine Hinwendung zu den Realien mit sich brachte". Und er fgt an:

    1 Horst Bahro, "Bildungspolitik", in: Handlexikon zur Politikwissenschaft, hg. v. Wolf gangW. Mickel in Verb. mit Dietrich Zitzlaff, Bonn 1986,36-40; hier besonders: 36.

    2 Hellmut Becker, Quantitt und Qualitt. Grundfragen der Bildungspolitik, Freiburg 1962.3 Ralf Dahrendorf, Bildung ist Brgerrecht. Pldoyer fr eine aktive Bildungspolitik, Ham-burg 1965.

    4 Tatschlich wurde das Wort ,,Bildungspolitik" schon vor vielen Jahrzehnten benutzt. Einewort- und begriffsgeschichtliche Untersuchung ist ein Desiderat. - Ein frher Beleg fr dieVerwendung des Wortes ,,Bildungspolitik" ist zum Beispiel zu finden bei Friedrich Paul-sen, Pdagogik, 6. u. 7. Aufl., Stuttgart/Berlin 1921,216-219.

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  • ,,Folgerichtig entstanden in den Realschulen und Polytechniken die Bildungsanstalten, in de-nen die Bildungsziele dieses naturwissenschaftlich-technischen Realismus allem nur litera-

    risch-sthetischen Bildungsstreben entgegengesetzt wurden. Es konnte nicht ausbleiben, dasich ein Spannungsverhltnis zwischen den Institutionen entwickelte, die sich als Bastionen

    verschiedener Bildungsgehalte bettigten; es lste die bildungspolitischen Kmpfe aus, in de-nen Gymnasium und Universitt die ihnen seit alters anvertrauten Bildungsprivilegien vertei-digten.,,5

    Es folgen bei Luchtenberg Ausfhrungen ber den Bedeutungszuwachs desberuflichen Bildungswesens.Whrend in dem vorstehenden Zitat Wilhelm von Humboldt nur indirekt

    angesprochen wird, kennzeichnet Ernst Lichtenstein in seinem Referat anl-lich der ersten Hochschulreifetagung in Tutzing im Jahre 1958 HumboldtsKonzeption als "bildungspolitisch":

    ,,Die vllige Verschmelzung von Schulleistung und Staatsprivilegierung, des Reife- und des

    Berechtigungsmotivs in den Abiturordnungen von 1812 und 1834, die die Monopolstellungdes Gymnasiums begrnden, zeigt dann die Bindung des Hochschulreifegedankens an zwei

    widerspruchsvolle Voraussetzungen:

    a) an die Humboldtsche bildungspolitische Konzeption des idealen Zusammenhangs von

    Sprachenbildung und philosophischen Studien, Gymnasium und Universitt,b) an die Vorstellung von der behrdlich verwalteten und restlos reglementierten Staats-

    schule, die den Schler fr vorgeschriebene Planziele ,fertigmacht' [... ]Die Auflockerung des Hochschulreifebegriffs am Ende des Jahrhunderts hat dann sowohlbildungs- wie staatspolitische Grnde: [...]"6

    Bildungspolitik als Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen gab esallerdings schon sehr viel lnger, ohne da das Wort "Bildungspolitik" ver-wendet wurde. Hufig steht dafr der 'umfassendere Begriff der Kulturpolitikoder aber auch die Bezeichnung Schulpolitik, allerdings mit einem Begriffs-inhalt, der ber den engeren Bereich des Schul- und Unterrichtswesens hinaus-weist. So definiert Eduard Spranger in seiner Studie ber Die wissenschaft-lichen Grundlagen der Schulverfassungslehre und Schulpolitik:

    5 Paul Luchtenberg, "Die Berufsschule im geistigen Ringen der Gegenwart", Vortrag auf der2. Haupttagung des Deutschen Verbandes der Lehrerschaft an berufsbildenden Schulen am5. Juni 1952 in der Paulskirche in Frankfurt am Main, hg. v. der Zentral stelle zur Erfor-schung und Frderung der Berufs-Erziehung, Bonn o. J. [1952], 9-24; auszugsweise nach-gedruckt in: Gnter Ptzold (Hg.), Berufsschuldidaktik in Geschichte und Gegenwart.Richtlinien, Konzeptionen, Reformen, Bochum 1992,63-77; Zitate: 73.

    6 Ernst Lichtenstein, ,,zur Entwicklung des Hochschulreifebegriffs", Zeitschrift fr Pd-agogik4 (1958),319-329; nachgedruckt in: Hans-Georg Herrlitz (Hg.), Hochschulreife inDeutschland, Gttingen 1968, 29-38; Zitat: 31 f., Hervorhebungen von mir.

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  • "Schulpolitik ist nun derjenige Teil der praktischen Politik, der auf die Stellung der Schuleoder allgemeiner: ,des Bildungswesens' im Staate gerichtet ist, wobei der Sprachgebrauch

    wiederum keinen Unterschied macht, ob diese Politik von verantwortlichen Staatsmnnern

    oder von Gruppen im Staat oder von einzelnen Staatsbrgern gemacht wird [...] Der Versuch

    einer wissenschaftlichen Begrndung der Schulpolitik fhrt somit unvermeidlich in die Theo-rie der Schulorganisation und der Schulverwaltung zurck. Anders ausgedrckt: die Theorieder Schulpolitik setzt die Schulverfassungslehre und Schulverwaltungslehre voraus.,,7

    In diesem Sinne ist die Arbeit Eduard Sprangers aus dem Jahre 1910, Wilhelmvon Humboldt und die Reform des Bildungswesens ,8 eine der ersten Arbeitenzur wissenschaftlichen Bildungspolitik und ber den Bildungspolitiker Wilhelmvon Humboldt. Dies wird gesttzt durch folgende Beurteilung Humboldtsdurch Eduard Spranger:

    ,,Aber Humboldt war noch mehr: er war ein Organisator im hheren Sinne des Worts, und

    gerade ein solcher mute in diesem Augenblick an die Spitze der Verwaltung treten, wo es

    sich darum handelte, dem Staat berhaupt erst Einflu auf die Gesamtheit der Schulen zuverschaffen. Fast wichtiger also als Humboldts pdagogische Ideen sind seine Verwaltungs-grundstze. Es war sein Schicksal, da er nicht,die individuelle Bildungsfreiheit durchsetzensollte, wie er 1792 gefordert hatte, sondern die Zeit ihm die genau entgegengesetzte Aufgabestellte: Verstaatlichung des Unterrichtswesens.,,9

    Karl-Ernst Jeismann kritisiert, da Spranger "schon eine verengte Betrach-tungsweise, in der Ideen- und Verwaltungsgeschichte dominieren", erkennenlasse,1o doch hebt er auch hervor, da bei Spranger im Gegensatz zu anderenVertretern der historischen Pdagogik das "Bewutsein vom ,Zusammenhangzwischen Politik und Pdagogik' [... ] stets erhalten blieb".11 Allerdings habesich, so bemerkt er vorher, von Wilhelm Dilthey ber Friedrich Paulsen bis zuEduard Spranger "die Auffassung des Verhltnisses von Politik und Pdagogikzunehmend ,etatistisch' verengt".12 Auch habe Spranger in seiner "Beschrei-bung des Humboldtschen Humanittsbegriffs" durch Verinnerlichung den

    7 Eduard Spranger, ,,Die wissenschaftlichen Grundlagen der Schulverfassungslehre undSchulpolitik", zuerst erschienen in: Abhandlungen der Preuischen Akademie der Wissen-schaften, Jahrgang 1927, Philosophisch-historische Klasse, Nr. 3, Berlin 1928; Wieder-abdruck: Bad Heilbrunn/Obb. 1963; Zitat: 2 I.

    8 Eduard Spranger, Wilhelm von Humboldt und die Reform des Bildungswesens, Berlin1910.

    9 Ebd., 68.10 Karl-Ernst Jeismann, Das preuische Gymnasium in Staat und Gesellschaft. Die Ent-

    stehung des Gymnasiums als Schule des Staates und der Gebildeten, 1787-1817, Stuttgart1974, 16, Anm. 7.

    11 Ebd., 17.12 Ebd., 15 f.

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  • Forderungen nach politischer Gleichberechtigung und Teilnahme aller Brgerdie "politische Schrfe" genommen.13 Erst in dieser Deutung sei "Humboldteigentlich zum vermeintlichen Stifter und Schutzpatron einer gesondertenhheren Bildung geworden". 14Nachdem die politische Funktion von Bildung wiederentdeckt wurde, 15

    wird die Verwendung des Begriffs Bildungspolitik und der davon abgeleitetenBegriffe zur Selbstverstndlichkeit. So spricht Helmut Schelsky davon, daHumboldt zum "staatlichen Bildungs- und Hochschulpolitiker wurde". 16 Cle-mens Menzes Studie Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts hat im zwei-ten Teil die berschrift "Bildungspolitik und Bildungsverwaltung"17Da und wie die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts gescheitert ist,

    beschreibt Menze ausfhrlich im vierten Teil seines Buches. Dies ist nicht erstein Ergebnis der Arbeit von Ulrich Hbner ber Wilhelm von Humboldt unddie Bildungspolitik.18 Auf der vierten Umschlagseite des Buches von Hbnersteht als Fazit: "Das Preuische Bildungssystem des 19. Jahrhunderts mu sichandere Grndungsvter als Wilhelm von Humboldt suchen." Dies ist zwar inder berspitzung falsch, aber in der Tendenz richtig. Haben doch alle sorgfl-tigen Interpreten Humboldts immer wieder falsche Etikettierungen zurckge-wiesen. Gleichwohl kann auch gescheiterte Bildungspolitik Gegenstand wissen-schaftlicher Studien sein. Und die aktuelle Bildungspolitik darf fragen, welcheder Intentionen unter anderen historischen Bedingungen wieder aufgegriffenwerden sollten. Genau dies schien jenseits aller akademischen Diskurse aucheine Absicht der Verffentlichungen ber Humboldt zum Ende des 19. und zuBeginn des 20. Jahrhunderts gewesen zu sein.Auch die Denkschriften zu Schul- und Universittsreformen der sechziger

    Jahre unseres Jahrhunderts lieen sich von dieser Denkfigur leiten, die sicheinerseits in die historische Kontinuitt stellen, indem Ziele und Konzeptionenfestgehalten werden, andererseits angesichts der neuen Situation Distanz ge-sucht wird. Da Verpflichtung auf Tradition und Distanzierung von ihr oft garnicht den Ideen und politischen Zielen Humboldts, sondern dem Humboldt-

    13 Karl-Ernst Jeismann, Das preuische Gymnasium, 16. Diese Einschtzung gilt der SchriftEduard Spranger, Wi/helm von Humboldt und die Humanittsidee, Berlin 1909.

    14 Karl-Ernst Jeismann, Das preuische Gymnasium, 16.15 Ebd., 17.

    16 Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Idee und Gestalt der deutschen Universittund ihrer Reformen, Reinbek bei Hamburg 1963, 148.

    17 C1emens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover u. a. 1975.18 U1rich Hbner, Wilhelm von Humboldt und die Bildungspolitik Eine Untersuchung zum

    Humboldt-Bi/d als Prolegomena zu einer Theorie der Historischen Pdagogik, Mnchen1986 (zugel. Diss., Univ. Mnchen, Fak. fr Psychologie und Pdagogik).

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  • Bild spterer Interpreten, insbesondere Eduard Sprangers, oder gar dem All-tagSverstndnis angeblich Humboldtscher Bildungstraditionen gelten, ist fr dieWirkung in der Bildungspolitik unerheblich. Nicht ein quellenkritisches Einge-hen. und Widerlegen der mehr oder weniger kultivierten Miverstndnisse istfr die Analyse der Bildungspolitik angemessen, sondern die Einsicht, daauch falsche, lngst widerlegte Auffassungen politisch wirksam sein knnen.Politik untersucht die Prozesse und Strukturen der Macht. Fr diese ist es aberunerheblich, ob eine bestimmte Aussage ber Humboldt und seine Universittoder sein Gymnasium nun wahr oder falsch ist. Verbandspolitischund partei-politisch kann es gerade von Vorteil sein, alte Miverstndnisse und Hum-boldt-Bilder zu pflegen. Doch darf man nicht immer unterstellen, da dies inder Absicht geschieht, bewut irrezufhren. Fr die RezeptionsgeschichteHumboldtscher Vorstellungen zur Universitt ist festzustellen, da geradeInanspruchnahme und Distanzierung ubiquitr sind. Ich will dies hier nichtweiter ausfhren, weil die weiteren Ausfhrungen dieses Beitrags jenen Aspek-ten gelten sollen, die oben schon in dem Zitat Paul Luchtenbergs angesprochenwurden: Bildung und Beruf, Bildungstheorie und Berufsbildungstheorie, Gym-nasium und berufliche Schulen.

    Berufsbildung als Thema der Bildungspolitik und derBildungstheorie

    Humboldt war kein Gegner der Berufsbildung. Seine Forderung war allerdings,allgemeine Menschenbildung und Berufsbildung nicht zu vermischen, sonderndie erstere im Sinne einer humanen Fundierung der letzteren vorausgehen zulassen. Clemens Menze hat dies in folgenden Stzen deutlich herausgestellt:

    ,,Humboldt wendet sich keineswegs gegen Berufs- und Spezialschulen. Dieser hufig gegen ihngeuerte Vorwurf ist unhaltbar. Zwar besteht er auf einer reinlichen Scheidung zwischen all-gemeinbildenden und speziellen Schulen. Das bedeutet jedoch nicht, da die speziellen Schulenkeine bildende Wirkung haben und lediglich gesonderten Abzweckungs-, ja sogar Abrichtungs-tendenzen folgen. Gerade weil sie auf das allgemeinbildende Schulwesen folgen. ist eine solcheihnen keineswegs fremde Intention. sofern man sie rein fr sich betrachtet, ausgeschlossen. Denndarin besteht ja die Grundbedeutung des allgemeinbildenden Schulwesens, da es den jungenMenschen in den Stand setzt, sich auf sich selbst zu stellen und in Freiheit seine Entscheidungtreffen zu knnen [...] Der Sinn des allgemeinbildenden Schulwesens liegt somit darin, da esden jungen Menschen vor unmenschlichen Inanspruchnahmen immunisiert, nicht aber, da es denBeruf berhaupt aus dem Bildungsdenken eliminiert."19

    19 Clemens Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, 126 f.

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  • Im Gegensatz zu solchen Interpretationen wurde in der bildungspolitischenDiskussion oft ein Zerrbild humboldtscher Bildungsauffassung gezeichnet. Sobehauptete der frhere bayerische Kultusminister Hans Maier, da in der Bil-dungsreform der sechziger und siebziger Jahre unseres Jahrhunderts Humboldteinen "Pyrrhussieg" errungen habe.2oDie Reformen bewirkten, so behauptet Maier, "eine Restauration der Hum-

    boldtschen Bildungsidee mit ihrem Pathos der Distanz zur Welt der Arbeit, derGeschfte und Berufe".21 Sie standen "im Zeichen einer (nur) quantitativenErweiterung des Bildungswesens bei Erhaltung, ja Verhrtung einer traditiona-listischen Bildungsidee" . Die "Idee Humboldtscher allgemeiner Bildung" seinur "sozialisiert, ohne die Minderbewertung beruflicher Bildung aufzuhe-ben".22

    Die Argumentation trifft zwar nicht die von den Interpreten der Original-schriften Humboldts herausgearbeitete Bildungsauffassung Humboldts, dochdie immer wieder in Festreden und Verbandstellungnahmen beschworenenInhalte des Gymnasiums. Die realisierten Reformen des Gymnasiums dersechziger und siebziger Jahre werden in diesen Stzen auch nicht angemessenbeschrieben - auch nicht die Inhalte der programmatischen Verffentlichungenzur Gymnasialreform.23 Zutreffend ist, da Reformen die Berufsbildung ver-nachlssigten.24 Doch dafr die Bildungsidee Humboldts verantwortlich zumachen, ist eine Fehleinschtzung.

    20 Hans Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, Osnabrck 1972, 2. Aufl. 1973. Hierbesonders der Abschnitt ,,Humboldts Pyrrhussieg", 10-14. Josef Derbolav deutet dieAusfhrungen Hans Maiers als ,,zeitkritisch und utopisch-antizipativ"; s. JosefDerbolav,"Entwurf einer bildungspolitischen Rahmentheorie", in: JosefDerbolav (Hg.), Grundlagenund Probleme der Bildungspolitik. Ein Theorieentwurf, Mnchen/Zrich 1977, 17-66,hier: 63. Klaus Westphalen meint dazu, Maier habe "das humanistische Bildungsprinzipabgeschrieben"; s. Klaus Westphalen, Gymnasialbildung und Oberstufenreform, Donau-wrth 1979, 29. - Hans Maier hat die Aussage, da ,,Humboldts neuhumanistische Bil-dungsidee mit der Bildungsreform der 70er Jahre ihren - allerdings wohl letzten - Pyrr-hussieg errungen" habe, vierzehn Jahre spter wiederholt; s. Hans Maier, ,,Allgemeinbil-dung in der arbeitsteiligen Industriegesellschaft", Schulreport. Tatsachen und Meinungenzur Bildungspolitik in Bayern (1986), H. 4, 1-3; Zitat: 1. Allerdings behandelt die sptereVerffentlichung nicht so direkt die Vernachlssigung der beruflichen Bildung in denReformen.

    21 Hans Maier, Zwischenrufe zur Bildungspolitik, 12 f.22 Ebd.23 Vgl. Karlheinz Fingerle u. Erhard Wicke, "Die neugestaltete gymnasiale Oberstufe ohnebildungstheoretische Legitimation. Ein Literaturbericht", Zeitschrift fr Pdagogik 28(1982), H. 1, 93- I 10.

    24 Als Beleg fr den hier angesprochenen Zeitraum sei genannt: W. Dietrich Winterhager,Lehrlinge - die vergessene Majoritt, Weinheim/Berlin/Basel 1970.

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  • Zu den unter allgemeinen Pdagogen kaum bekannten Tatsachen gehrt, daschon zu Beginn unseres Jahrhunderts die neuhumanistische Bildungstheoriezur Legitimation der Berufsschule dienen sollte. Unter denjenigen, die eineBerufsbildungstheorie entwickelten, ist vor allem Eduard Spranger zu nennen,der auf der Grundlage seiner eigenen Humboldt-Interpretation eine bildungs-theoretische Grundlegung der Berufsschule lieferte. Er bezeichnete die ersteForm der ,,Allgemeinbildung", an der jeder Mensch teilhaben mu, als "grund-legende Bildung", das Zentrum der darauffolgenden "Allgemeinbildung" seider Beruf. Die dritte Allgemeinbildung folge zeitlich der Berufsbildung: "DerWeg zu der hheren Allgemeinbildung fhrt ber den Beruf und nur ber denBeruf.,,25 Die Argumentation Sprangers sttzt sich u. a. auf die Einsicht, daein weiter Begriff der Berufsschule zu whlen sei. Auch die Universittenverbinden Berufsbildung mit allgemeiner Bildung.26 "Aus dem Kern der Be-rufsbildung wchst der Mantel der Allgemeinbildung hervor, auf der wissen-schaftlichen Stufe, aber auch auf allen anderen.''27 Spranger knpft in seinemBeitrag fr Alfred Khnes Handbuchfr das Berufs- und Fachschulwesen mitdem Titel Berufsbildung und Allgemeinbildung an seine einflureiche Hum-boldt-Interpretation an, indem er die Begriffe "Individualitt", "Universalitt"und "Totalitt" dazu verwendet, einen Bildungsbegriff zu bestimmen, der das"Wesen der Bildung nicht nur auf intellektuelle Kultur" beschrnkt.28 Fr dieBerufspdagogik war diese "klassische" Berufsbildungstheorie, die vorgab, andie neuhumanistische Bildungstheorie anzuschlieen, aber ihr kritisches Poten-tial preisgab, lange eine "schwere Hypothek", weil sie in ihrer konkreten

    25 Eduard Spranger, "Grundlegende Bildung, Berufsbildung, Allgemeinbildung", jetzt in:Eduard Spranger, Grundlegende Bildung - Berufsbildung - Allgemeinbildung, besorgt u.eingeleitet v. Joachim H. Knoll, 2. Aufl., Heidelberg 1968,8-23; Zitat: 10,Hervorhebungim Original.

    26 Ebd., 14.27 Ebd., 19.28 Eduard Spranger, "Berufsbildung und Allgemeinbildung", jetzt in: Eduard Spranger,

    Grundlegende Bildung - Berufsbildung- Allgemeinbildung, 24-45; Zitat: 25 f. Vgl. auchdie folgenden Ausfhrungen in Herwig Blankertz, Die Geschichte der Pdagogik. Vonder Aufklrung bis zur Gegenwart, Wetzlar 1982, 209: "Spranger, der einer der bedeu-tendsten Humboldt-Forscher seiner Zeit war, nutzte die Kategorien der Individualitt,Universalitt und Totalitt zum Aufbau einer Berufsbildungstheorie. Die Berufung aufHumboldt und die Pdagogik der Deutschen Klassik zum Zwecke der pdagogischenDisqualifizierung der Berufsausbildung war von da an illegitim: Die Theorie der Bildungdurch den Beruf war selber humanistisch begrndet [] Dieser Ansatz bestimmte danndas Selbstverstndnis der Berufsschule und ihrer Lehrer; er behielt die Oberhand, weil dieBerufsbildungstheorie in der planmigen Ausbildung von Berufsschullehrern eine wichti-ge Stellung erhielt, wenn auch oft genug nur als Rechtfertigungslehre fr den Zustand,dessen Bedingungen undurchschaut hingenommen waren."

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  • Gestalt, die hier nicht referiert werden kann, "letztlich auf einer antiindustriel-len, kosmologisch-organologischen Gesellschaftstheorie" beruhte.29Herwig Blankertz hat in seiner Habilitationsschrift Berufsbildung und Utili-

    tarismus30 diese kulturkritischen und restaurativen Aspekte der SprangerschenBerufsbildungstheorie allerdings anders bewertet. Er sieht sie offensichtlich alsakzidentiell an und versucht, die zentralen Einsichten der Argumentation ausden kulturphilosophischen und psychologischen Auffassungen so herauszul-sen, da sie als bleibende Einsichten festgehalten werden knnen, ohne sichauf die obsolet gewordenen Annahmen Sprangers einzulassen.31Zentrale Einsichten seiner Interpretation sind in den folgenden Stzen aus

    dieser Schrift zusammen gefat:

    "Unsere Berufsschule steht nicht auf philanthropischem, sondern auf neuhumanistischemBoden - das drfte man wahrscheinlich sogar konstatieren, wenn kein Eduard Spranger zumSelbstverstndnis dieser Schule beigetragen htte.''32

    ,,Allgemeinbildung als Form befreit Berufsbildung vom Vorwurf banausischer Geistesart,

    weil sie ihr in der Voraussetzung der individuellen Werthaltung das Ziel anweist, in dessenunendlicher Realisierung der Mensch allein die Freiheit und Wrde seiner selbst als einesmoralischen Wesens zu gewinnen vermag."33

    Nach einer Interpretation des Herr-Knecht-Verhltnisses (anschlieend an einHegel-Marx-Kapitel von Heinrich Weinstock) sieht sich Blankertz im systema-tischen Ertrag seiner - ,,zugegebenermaen - etwas beranstrengten Interpreta-tion der neuhumanistisch-sprangerschen Berufsbildungstheorie" besttigt.34Er hlt als Ergebnis fest:

    ,,Allgemeinbildung ist als Genus Begriff fr Bildung schlechthin, nmlich dasjenige, was fralle besondere Bildung voraus und zum Ziele gesetzt werden mu, also das, was aller Bil-

    dung gemeinsam, bereinstimmend und mithin ,allgemein' zukommt. Damit ist weiter

    29 Karlwilhelm Stratmann, ,,Berufs- und Wirtschaftspdagogik", in: Hans-Hermann Groot-hoff (Hg.), Die Handlungs- und Forschungsfelder der Pdagogik. Differentielle Pd-agogik, Teil 2, Knigstein/Ts. 1979 (Erziehungswissenschaftliches Handbuch, Bd. V, 2),285-337; Zitate: 303.

    30 Herwig Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus. Problemgeschichtliche Untersuchun-gen [1963], Reprint: WeinheimIMnchen 1985.

    31 Ebd., 112 sagt Blankertz: ,,Damit soll gewi nicht die eigentmlich Sprangersche kultur-philosophische Ausgestaltung des Gedankens geleugnet werden; davon braucht in unseremZusammenhang berhaupt nicht die Rede zu sein und mag darum auf sich beruhen,ebenso wie die ganz unbestreitbare Orientierung am handwerklichen Berufsbegriff. "

    32 Ebd., 107.33 Ebd., 112 f.34 Ebd., 121.

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  • gesagt, da man ,Allgemeinbildung' niemals als solche erstreben kann, sondern immer nurber eine jeweils bestimmte; Allgemeinbildung als solche zu gewinnen ist das Verkehrte

    dessen, was sie eigentlich will. Der Weg der Bildung fhrt notwendigerweise ber die Arbeitam besonders bestimmten Gegenstand, doch wird der Gegenstand in seiner Besonderheit

    angewiesen durch die historisch bedingten Mchte des Lebens, die als solche auerhalbpdagogischer Zustndigkeit bleiben. "35

    Peter Zedler hat die in dieser Schrift und spteren Arbeiten von Blankertz zurhistorischen Pdagogik vertretene Deutung der Intention Humboldts disku-tiert.36 Historisch sei es selbstverstndlich nicht belegbar, da die Ausgren-zung des Berufs aus der allgemeinen Menschenbildung nur eine "zeitpunkthaftvertrgliche Antwort" auf die utilitaristische Pdagogik der damaligen Zeitgewesen sei.37 Ebenso, wie es unmglich sei, "diese Deutung der IntentionHumboldts" historisch zu belegen, sei es unbeweisbar, da im Sinne einer"Dialektik der Aufklrung" die "neuhumanistische Bildungstheorie zu der inihr aufgehobenen regulativen Idee der Mndigkeit in Widerspruch" geratenmute.38

    Zedler arbeitet scharf die zentralen Annahmen heraus, die fr die Blankertz-sehen Interpretationen der Neuhumanisten und der Gestaltung und Entwicklungdes Bildungswesens zentral sind:

    "Lt man die Frage beiseite, ob der neuhumanistischen Bildungstheorie der von Blankertzunterstellte Anspruch tatschlich zu eigen war und bergeht man die damit im Zusammen-

    hang stehenden Probleme einer Unterscheidung von berzeitlichem Theoriegehalt und zeit-

    verhafteter Meinung, so ist insbesondere die Annahme der Vertrglichkeit der funktionalenAnforderungen an das Schulwesen mit der Idee der Mndigkeit eine mit mehreren Fragezei-

    chen behaftete Option. Fr Blankertz' gesamte historische Interpretation der Theoriegeschich-

    te wie auch fr die daraus gezogenen praktischen Konsequenzen im Modellversuch Kolleg-

    stufe ist es jedoch zentral, funktionale Anforderungen an das Bildungswesen zugleich alsBedingung einer erfolgreichen Sicherung von Mndigkeit zu akzeptieren."39

    35 Herwig Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus, 121 f.36 Peter Zedler, "Bildungstheorie in praktischer Absicht. Kritische Theorie und pdagogischeTheorietradition bei Herwig Blankertz", in: Gnter Kutscha (Hg.), Bildung unter demAnspruch von Aufklrung. Zur Pdagogik von Herwig Blankertz, WeinheimIBasel 1989,45-68.

    37 Ebd., 63.38 Ebd., 64.39 Ebd., 65.

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  • Erinnerung an die kritische Qualitt des Bildungsbegriffs:Kollegschule Nordrhein- Westfalen

    Die Ausfhrungen ber die bildungs theoretischen Prmissen der Kollegstufe(Kollegschule) Nordrhein-Westfalen in der ersten Planungsempfehlung ausdem Jahre 1972 stellen einen Teil einer Programmschrift dar, der als Gesamt-ergebnis von Kommissionsberatungen selbstverstndlich Kompromicharakterhat. Dieser Abschnitt der Verffentlichung trgt die Handschrift von HerwigBlankertz. Erinnert wird an die Rede von der "allgemeinen Menschenbildung" ,die schon in der Humboldt-Svernschen Reform von 1810 in Preuen vor-bereitet worden sei.40 Daran schliet sich der Satz an: "Die kritische Qualittdes Bildungsbegriffs, die Idee der Menschheit ohne Status und berforderung,blieb indessen ein uneingelstes Versprechen."4I Die allgemeinen Lernzieleder Kollegschule werden in diesem Horizont bestimmt:

    "Der Umkreis solcher allgemeiner Lernziele ist im wesentlichen definiert durch zwei Mo-

    mente.Das erste Moment ist bedingt durch die Lebenssituation in der technischen Zivilisation;

    es drckt sich didaktisch aus in der- Wissenschaftsorientiertheit des Lernens, d. h. da alle Bildungsinhalte in ihrer Bedingtheit

    und Bestimmtheit durch die Wissenschaften erkannt und entsprechend vermittelt werden.

    Das zweite Moment ist bedingt durch die seit der Aufklrung freigesetzte Tendenz zur Mn-digkeit des Menschen, zu der sich unsere Republik als demokratisch organisiertes Gemeinwe-sen bekennt, und mit der die deutsche Bildungstradition in ihren besseren Mglichkeitendurchaus bereinstimmt; es drckt sich didaktisch aus im

    - Prinzip der Kritik, d. h. alle Inhalte der fachlichen Lernziele sind mit Voraussetzungen,Implikationen und Konsequenzen zu lehren, so da dem Lernenden die Mglichkeit desWiderspruchs gegen die ihm zugemutete Intentionalitt offen bleibt.''42

    Die Kollegschule hat in Nordrhein- Westfalen den Versuch gewagt, die vonZedler bezeichneten Prmissen und die allgemeinen Lernziele der Wissen-schaftspropdeutik und Kritik in konkreten Bildungsgngen einzulsen, dieeinerseits den bildungstheoretischen Intentionen verpflichtet blieben, anderer-seits den Jugendlichen und jungen Erwachsenen die Berechtigungen verleihensollten, die auch sonst in unserem Bildungssystem erreicht werden knnen. Bei

    40 Kollegstufe NW, Strukturfrderung im Bildungswesen des Landes Nordrhein-Westfalen.Eine Schriftenreihe des Kultusministers, Heft 17, Ratingen/Kastellaun/Dsseldorf 1972;hier besonders der Abschnitt aus der "Empfehlung der Planungskommission": ,,Diebildungstheoretischen Prmissen des Kollegstufenmodells", 19-25.

    41 Ebd., 20 f.42 Ebd., 22 f.

    160

  • jeder Kritik der Kollegschule mu diese Situation bercksichtigt werden.43

    Die Einlsbarkeit der bildungspolitischen Versprechen dieses Schulmodells ltsich nur unter den historisch-gesellschaftlichen Bedingungen der Gegenwartbeantworten. Der Autor dieses Beitrags schtzt die Situation so ein, da diebisherigen Anstze der Verwirklichung der Kollegschule gezeigt haben, dadas Konzept realisierbar ist. Dabei gilt es jedoch, bei jedem Bildungsgang derKollegschule die Erinnerung an die bildungspolitische Intentionalitt als eineniemals voll einlsbare zu bewahren.Andere Autoren sehen die Situation anders. Clemens Menze kommt bei

    seinen berlegungen zur Kritik und Metakritik humanistischer Bildung zu derAussage, da "im originren Allgemeinbildungskonzept des Humanismus niestrittig gewesen sei, da [...] der gebildete Mensch zugleich und in einemMensch und Brger sei".44 Weder der "unbegrndete Anspruch auf sozialeExklusivitt durch funktions lose Selbststilisierung" noch die "Reduktion aufden bloen Funktionalismus" seien angemessen. Daraus leiteten die einen dieForderung ab, da Brgerbildung auf die Menschenbildung, berufliche Bildungauf die allgemeine Bildung folgen msse. Nicht die vollstndige Trennung,sondern die zeitliche Aufeinanderfolge seien zu fordern. An dieser Forderungsei auch angesichts der Modelle zum Zwecke der Integration allgemeiner undberuflicher Bildung festzuhalten. Die Erhaltung des gegliederten Schulwesenssei die angemessene Antwort. Die anderen wollten die Abschaffung diesesBildungswesens, weil sich angesichts der technischen Zivilisation kein Kriteri-um mehr finden lasse, zwischen allgemeinbildenden und berufsbezogenenInhalten zu unterscheiden und deren zeitliche Aufeinanderfolge zu bestimmen.Hier sieht Menze die Gefahr, da die Schule "zwischen Wissenschaftsorientie-rung und Berufspropdeutik einerseits und der alten Forderung nach Allge-meinbildung andererseits" zerrieben werde.45Dietrich Benner interpretiert Humboldt so, da er mit der Mglichkeit, vom

    allgemein-bildenden Unterricht "in das brgerliche Leben berzugehen undsich fr brgerliche Berufe zu qualifizieren", als erster "mit beruflichen Bil-dungs gngen abgestimmte allgemeinbildende Bildungsgnge entworfen und

    43 Hier soll nicht ber die Fragen der Realisierung des Modells geschrieben werden. EineBibliographie, die auch Beitrge der Kritiker der Kollegschule enthlt, ist zum Beispielzu finden in: Adolf Keil u. a., Berufsqualifizierung und Studienvorbereitung in der Kol-legschule. Zur Weiterentwicklung des didaktisch-curricularen Konzepts aus berufs- undwirtschaftspdagogischer Sicht, Soest 1989, 287-300.

    44 Clemens Menze, "Der pdagogische Humanismus in der Diskussion der Gegenwart", in:Hermann Rhrs u. Hans Scheuerl (Hg.), Richtungsstreit in der Erziehungswissenschaftund pdagogische Verstndigung, Frankfurt a.M. u. a. 1989,257-271; Zitat: 269.

    45 Ebd., 269 f.

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  • durchzusetzen versucht" habe.46 Von Humboldt her sei allerdings die ganzanders konzipierte Doppelqualifikation der Kollegschule Nordrhein-Westfalen

    "dahingehend zu kritisieren, da das Bewhrungsfeld allgemeinbildenden Unterrichts niemals

    in einem einzelnen Beruf liegen kann, sondern viel weiter ist und sich auf die Mitwirkungder Heranwachsenden an der menschlichen Gesamtpraxis bezieht. Im KollegschulmodellNordrhein-Westfalen wrde Humboldt einen Rckfall in die Reformkonzepte der pdago-

    gischen Aufklrung erblickt haben, weil die Doppelqualifikation im Sinne der Kollegschule

    NW sich damit begngt, Qualifikationen fr zwei brgerliche Berufe unterschiedlicher Wer-tigkeit gleichzeitig zu vermitteln. ,"47

    Gegen diese Argumente wre zu halten, da Schul- und Ausbildungsberufe derGegenwart nicht identisch sind mit Erwerbsberufen, sondern selbst didaktischeKonstruktionen sind. Ihre Identifikation mit brgerlichen Berufen ist falsch.Unter den didaktischen Kriterien Gestaltung und Kritik werden von BremerBerufspdagogen seit Jahren Ausbildungsgnge entworfen, die im Medium desBerufs gerade die Gestaltung der menschlichen Gesamtpraxis intendieren.Schlielich sei die Position Jrgen Zabecks kurz vorgestellt, der einen prin-

    zipiellen Unterschied zwischen Berufsausbildung und Wissenschaftspropdeutik,,nicht auf der Ebene der Inhalte, sondern auf der der Einstellungen" sieht:

    ,,- Die Berufsausbildung legt die Voraussetzung dafr, da der Berufsttige partielle undtemporre Bindungen an Funktionen eingehen kann.

    - Zentrales Ziel der Wissenschaftspropdeutik auf der gymnasialen Oberstufe ist hingegen,

    die Befangenheit in ganzheitlichen Lebenssituationen aufzulsen und die kategoriengelei-tete, methodengebundene und rational kontrollierte Distanzierung von einer vorgegebenenRealitt einzuben. "48

    46 Dietrich Benner, Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtlicheStudie zum Begrndungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform, 2. korr. Aufl.,WeinheimIMnchen 1995, 184.

    47 Ebd., 235, Anm. 100.

    48 Jrgen Zabeck, "Was heit ,allgemein' in beruflichen Ausbildungsinhalten? DidaktischeAspekte berufsqualifizierender Bildungsgnge", in: Werner Heldmann (Hg.), Studierfhig-keit durch berufliche Ausbildung? Sinn und Ziel wissenschaftspropdeutischerGrundbil-dung, Kongrebericht, 37. Gemener Kongre, 26. Sept. - 28. Sept. 1986, Krefeld o. J.,46-68.

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  • Schlsselqualifikationen:Bildungspolitische Antworten auf den Wegen der Tradition?

    Da 'solche Distinktionen nicht leicht durchzuhalten sind, zeigt die Diskussionber die sogenannten Schlsselqualifikationen. Helmut Heid stellt sie in die"Tradition der Errterungen allgemeiner und formaler Bildung" .49 Und erbemerkt: "Schon Humboldt scheint Anla gehabt zu haben, die Be-Sonderungund den sachlichen wie zeitlichen Vor-Rang allgemeiner Bildung - wie manheute sagen wrde - mit arbeitsmarktpolitischen und personalwirtschaftlichenArgumenten zu begrnden."50Die Rckfragen, die Heid im Anschlu an eine Diskussion der Aussagen

    ber Schlsselqualifikationen stellt, zeigen, da die Unterscheidungen Zabecksfr die knftige Diskussion ber Berufsbildung wenig helfen:

    "Schlsselqualifikationen sollen Anpassungen an aktuell gegebene Anforderungen verhindern,aber Anpassungsfhigkeit an Unvorhersehbares frdern. Wie geht das zusammen?

    Kritikfhigkeit und Kreativitt sind Kennzeichen eines Handelns, das vom blichen, vom

    Erwarteten abweicht. Das Unkonventionelle, das Unerwartete, vielleicht sogar das Uner-wnschte, zumindest das Unbequeme wren die Idealformen erfolgreicher Schlsselqualifi-zierung. Die Frage also: Worin besteht das Erfolgskriterium zur Identifizierung von Kritik-fhigkeit, und wer bestimmt dieses Kriterium?"51

    Es sei daran erinnert, da "Schlsselqualifikationen" in Berufsausbildungenvermittelt werden sollen. Das Reden von funktionaler Einpassung in speziali-sierter Berufsausbildung scheint angesichts dieser Formulierungen der Ver-gangenheit anzugehren. Sind nicht vielleicht Wissenschaftspropdeutik undKritik die angemessenen allgemeinen Lernziele solcher Schlsselqualifizie-rung? Die Beantwortung dieser Frage ist nicht leicht. Die alten Begriffe passennicht mehr. Neue werden in Massen produziert, so da Verstndigung fastunmglich wird. 52

    49 Helmut Heid, "Schlsselqualifikationen - ideologiekritische Anmerkungen zu einerberufspdagogischen Konzeption", in: Christoph Metzger u. Hans Seitz (Hg.), Wirtschaft-liche Bildung. Trger, Inhalte, Prozesse, Zrich 1995, 49-65; Zitat: 50.

    50 Ebd. - Heid zitiert dazu eine Stelle aus dem ,,Bericht der Sektion des Kultus und Unter-richt an den Knig" vom Dezember 1809.

    51 Ebd., 62 f.52 Heid spricht von der "Massenproduktion programmatischer Konzepte (die Anzahl Wn-schenswerter Schlsselqualifikationen ist bis September 1994 auf 624 angewachsen)";ebd., 63.

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