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Merkmale und Ursache des aktuellen Antiziganismus Roma als Objekte von Diskriminierung und Vorurteilen 1 Die aktuelle Zuwanderung aus Süd- und Osteuropa provoziert eine Abwehr- und Feindseligkeit, in der sich unterschiedliche Motive verschränken. Von zentraler Bedeutung ist einerseits die wiederbelebte Furcht vor einer Armutswanderung, welche die Belastbarkeit der deutschen Gesellschaft, der Sozialsysteme und der Kommunen überfordert; angeheizt werden diesbezügliche Ängste und Ressentiments nicht zuletzt durch Bundesinnenminister Friedrich, der Einreiseverbote fordert und beschleunigte Asylverfahren angewiesen hat. Ande- rerseits wird die Zuwanderung aus Süd- und Osteuropa als Zuwanderung von Roma thematisiert und damit erhält die Debatte eine ei- gentümliche Färbung: Roma waren und sind Objekt von Diskursen und Vorurteilen, die ihnen unterstellen, sich den gesellschaftlichen Zwängen und Normen nicht anpassen zu wollen und zu können (s. Bogdal 2011). Migranten aus Süd- und Osteuropa, die als Roma gelten, werden dann nicht hilfsbedürftige Arme wahrgenommen, sondern als eine Gruppe, die parasitär an den Rändern der Gesellschaft zu lebt und diejenigen auszunutzen, die ihren Lebensun- terhalt durch Arbeit und im Rahmen der Rechts- ordnung bestreiten. Und sie werden verdächtigt, in „unsere“ Gesellschaft, in die Gesellschaft der ordentlichen und ehrbaren Bürger, nicht integ- rierbar zu sein. Diskriminierung und Armut Solche Zuschreibungen sind deshalb nicht einfach zu widerle- gen, weil sie im Fall der Roma, die aus Süd- und Osteuropa zu- wandern, ihre scheinbare Bestätigung in einer durch Diskriminie- rung und Armut sozial hergestellten Realität finden. Die soziale Logik des Vorteils besteht hier, wie in anderen Fällen darin, dass die Auswirkungen sozialer Verhältnisse als Eigenschaften derje- nigen „verstanden“ werden, die Objekt von Armut und Diskrimi- nierung sind. Es handelt sich um Migranten, die aus Gesellschaf- ten mit einem geringen Wohlstandsniveau, hoher Arbeitslosigkeit und einer massiven Armut stammen, die durch Sozialleistungen kaum reduziert wird. In diesen Gesellschaften unterliegen Roma einer folgenreichen Diskriminierung. Diese führt dazu, dass sie kaum Zugang zu regulärer Arbeit finden, einer hoher Anteil der Kinder nicht die Schule besuchen kann, Krankheiten nicht behan- delt werden sowie zu Wohnbedingungen, die zum Teil Slums glei- chen: Ansiedlungen aus Holz- und Steinhütten am Rand oder au- ßerhalb der Städte, ohne asphaltierte Straßen, Kanalisation, ohne funktionierende Müllentsorgung und ohne zureichende Energie- versorgung. In Serbien und im Kosovo – Länder, in denen wir im Sommer 2013 Roma-Siedlungen aufgesucht, Roma interviewt und Roma- NGOs besucht haben (s. Scherr/Scherr 2013) – heißt dies, dass reguläre Arbeit bei offiziellen Arbeitslosenquoten von 30% in Ser- bien, 40% im Kosovo für Roma die Ausnahme ist, denn sie sind die letzten, die einen Arbeitsplatz erhalten. Dies führt dazu, dass zahlreiche Roma überleben, indem sie – wenn überhaupt – mini- male Sozialleistungen durch Gelegenheitsarbeiten, als Tagelöhner, durch Müllsammeln und Betteln ergänzen. Krankheiten werden nicht behandelt, weil das Geld fehlt, um Medikamente zu bezah- len. Großfamilien leben auf äußerst beengtem Raum und haben Schwierigkeiten, das Geld aufzubringen, um diese im Winter zu heizen. Für mache ist es im Wortsinn eine Überlebensstrategie, im Winter nach Mitteleuropa zu fliehen. Andere hingegen schaf- fen es, sich trotz solcher Verhältnisse ein einigermaßen erträgli- ches Leben zu verschaffen, sei es, weil sie Land besitzen und Land- wirtschaft betreiben, sei es durch Geldüberweisungen emigrier- ter Familienangehöriger. Derartige Zustände sind inzwischen in einigen Reportagen be- schrieben worden (Mappes-Niedeck 2012; Waringo 2013a und b). Sie sind nicht ohne Folgen: Diejenigen – und das sind zweifel- los nicht alle Roma aus Süd- und Osteuropa und ohnehin nicht die deutschen Sinti – die versuchen, einer Situation zu entkommen, die durch Armut und Diskriminierung gekennzeichnet ist, sind auf die Bedingungen und Erwartungen, mit denen sie in Deutsch- land konfrontiert werden, schlecht vorbereitet. Vielfach mangelt es – als Folge von Armut und Diskriminierung – an ausreichen- Abstract / Das Wichtigste in Kürze Aufgezeigt wird die Verschränkung eines Diskurses, der sich gegen Armutsmigration richtet, mit antiziganistischen Konstrukten und Stereotypen. Keywords / Stichworte Roma, Diskriminierung, Migration. Albert Scherr *1958 Dr., Prof. Leiter des In- stituts für Soziolo- gie der Pädagogischen Hochschule Freiburg. [email protected] 41 Sozial Extra 11|12 2013: 41-44 DOI 10.1007/s12054-013-1095-x Durchblick Roma in Deutschland

Merkmale und Ursache des aktuellen Antiziganismus

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Page 1: Merkmale und Ursache des aktuellen Antiziganismus

Merkmale und Ursache des aktuellen Antiziganismus

Roma als Objekte von Diskriminierung und Vorurteilen1

Die aktuelle Zuwanderung aus Süd- und Osteuropa provoziert eine Abwehr- und Feindseligkeit, in der sich unterschiedliche Motive verschränken. Von zentraler Bedeutung ist einerseits die wiederbelebte Furcht vor einer Armutswanderung, welche die Belastbarkeit der deutschen Gesellschaft, der Sozialsysteme und der Kommunen überfordert; angeheizt werden diesbezügliche Ängste und Ressentiments nicht zuletzt durch Bundesinnenminister Friedrich, der Einreiseverbote fordert und beschleunigte Asylverfahren angewiesen hat. Ande-rerseits wird die Zuwanderung aus Süd- und Osteuropa als Zuwanderung von Roma thematisiert und damit erhält die Debatte eine ei-gentümliche Färbung: Roma waren und sind Objekt von Diskursen und Vorurteilen, die ihnen unterstellen, sich den gesellschaftlichen Zwängen und Normen nicht anpassen zu wollen und zu können (s. Bogdal 2011).

Migranten aus Süd- und Osteuropa, die als Roma gelten, werden dann nicht hilfsbedürftige Arme wahrgenommen, sondern als eine Gruppe, die parasitär an den Rändern der Gesellschaft zu lebt und diejenigen auszunutzen, die ihren Lebensun-terhalt durch Arbeit und im Rahmen der Rechts-ordnung bestreiten. Und sie werden verdächtigt, in „unsere“ Gesellschaft, in die Gesellschaft der ordentlichen und ehrbaren Bürger, nicht integ-rierbar zu sein.

Diskriminierung und ArmutSolche Zuschreibungen sind deshalb nicht einfach zu widerle-

gen, weil sie im Fall der Roma, die aus Süd- und Osteuropa zu-wandern, ihre scheinbare Bestätigung in einer durch Diskriminie-rung und Armut sozial hergestellten Realität �nden. Die soziale Logik des Vorteils besteht hier, wie in anderen Fällen darin, dass die Auswirkungen sozialer Verhältnisse als Eigenschaften derje-nigen „verstanden“ werden, die Objekt von Armut und Diskrimi-nierung sind. Es handelt sich um Migranten, die aus Gesellschaf-ten mit einem geringen Wohlstandsniveau, hoher Arbeitslosigkeit und einer massiven Armut stammen, die durch Sozialleistungen kaum reduziert wird. In diesen Gesellschaften unterliegen Roma einer folgenreichen Diskriminierung. Diese führt dazu, dass sie kaum Zugang zu regulärer Arbeit �nden, einer hoher Anteil der Kinder nicht die Schule besuchen kann, Krankheiten nicht behan-delt werden sowie zu Wohnbedingungen, die zum Teil Slums glei-chen: Ansiedlungen aus Holz- und Steinhütten am Rand oder au-ßerhalb der Städte, ohne asphaltierte Straßen, Kanalisation, ohne

funktionierende Müllentsorgung und ohne zureichende Energie-versorgung. In Serbien und im Kosovo – Länder, in denen wir im Sommer

2013 Roma-Siedlungen aufgesucht, Roma interviewt und Roma-NGOs besucht haben (s. Scherr/Scherr 2013) – heißt dies, dass reguläre Arbeit bei o�ziellen Arbeitslosenquoten von 30% in Ser-bien, 40% im Kosovo für Roma die Ausnahme ist, denn sie sind die letzten, die einen Arbeitsplatz erhalten. Dies führt dazu, dass zahlreiche Roma überleben, indem sie – wenn überhaupt – mini-male Sozialleistungen durch Gelegenheitsarbeiten, als Tagelöhner, durch Müllsammeln und Betteln ergänzen. Krankheiten werden nicht behandelt, weil das Geld fehlt, um Medikamente zu bezah-len. Großfamilien leben auf äußerst beengtem Raum und haben Schwierigkeiten, das Geld aufzubringen, um diese im Winter zu heizen. Für mache ist es im Wortsinn eine Überlebensstrategie, im Winter nach Mitteleuropa zu �iehen. Andere hingegen schaf-fen es, sich trotz solcher Verhältnisse ein einigermaßen erträgli-ches Leben zu verscha�en, sei es, weil sie Land besitzen und Land-wirtschaft betreiben, sei es durch Geldüberweisungen emigrier-ter Familienangehöriger.Derartige Zustände sind inzwischen in einigen Reportagen be-

schrieben worden (Mappes-Niedeck 2012; Waringo 2013a und b). Sie sind nicht ohne Folgen: Diejenigen – und das sind zweifel-los nicht alle Roma aus Süd- und Osteuropa und ohnehin nicht die deutschen Sinti – die versuchen, einer Situation zu entkommen, die durch Armut und Diskriminierung gekennzeichnet ist, sind auf die Bedingungen und Erwartungen, mit denen sie in Deutsch-land konfrontiert werden, schlecht vorbereitet. Vielfach mangelt es – als Folge von Armut und Diskriminierung – an ausreichen-

Abstract / Das Wichtigste in Kürze Aufgezeigt wird die Verschränkung eines Diskurses, der sich gegen Armutsmigration richtet, mit antiziganistischen Konstrukten und Stereotypen.

Keywords / Stichworte Roma, Diskriminierung, Migration.

Albert Scherr *1958

Dr., Prof. Leiter des In-stituts für Soziolo-gie der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

[email protected]

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der Bildung und beru�icher Quali�zierung, oft auch an deutschen Sprachkenntnissen. Es erfordert eine enorme Reorientierungs-leistung, sich von den Überlebensstrategien in den Herkunftslän-dern auf solche Strategien umzustellen, die hierzulande erfolg-reich und akzeptiert sind. Eine solche Umstellung wird durch befristete Aufenthaltstitel, Duldungen, fehlendem oder nachran-gigem Zugang zum Arbeitsmarkt, die Unterbringung in Sammel-unterkünften oder ein Wohnen in sozialen Brennpunkten und den Bedingungen ausbeuterischer Vermietungen zusätzlich erschwert. Es ist meines Erachtens erstaunlich, dass es gleichwohl einem re-

levanten Teil von Roma-Flüchtlingen gelingt, tragfähige Formen der Lebensbewältigung und -führung zu entwickeln2. Diejenigen, die als Arme und Arbeitslose sichtbar bleiben, sind aber geradezu ideale Objekte für antiziganistische Diskurse: Denn ihre Situati-on macht es leicht, die Auswirkungen von Armut, Diskriminie-rung und Prekarität als kollektive Eigenschaften „der Roma“ miss-zuverstehen, also den Prozess der Vorurteilsproduktion in Gang zu setzen. Die sozialen Ungleichheiten und die sozialen Kon�ik-te, insbesondere in unter�nanzierten Städten und Gemeinden, kommen hinzu: Nationalistische, fremdenfeindliche und rassisti-sche Diskurse können hier deshalb Resonanz �nden, weil der Kon-kurrenzkampf um gute Wohnungen, anständige Arbeitsplätze und ausreichende Sozialleistungen ohnehin zu viele Verlierer hervor-bringt. Hinzu kommt – und dies ist zweifellos ein heikles Thema – dass die Überlebensstrategien der Armutsbevölkerung histo-risch wie aktuell nicht nur sympathische, sondern auch problema-tische Formen annehmen (s. Chassé 1989). Diese werden schnell im Sinne der falschen Logik „Armut macht kriminell“ verallge-meinert (s. Scherr 2010) sowie auf der Grundlage tradierter an-tiziganistischer Vorurteile (s. Bogdal 2011) als Eigenschaften „der Roma“ behauptet. Damit ist zunächst auf die einige der erhebli-chen Schwierigkeiten hingewiesen, mit den Versuche konfrontiert sind, die Abwehr und Feindseligkeit gegen Migranten und Flücht-linge, die Roma sind, gegen Roma, die Flüchtlinge und Migran-ten sind, aufzubrechen.

Die immer erneute Erfindung der „Zigeuner“Es wäre zwar allzu einfach, jedenfalls in Deutschland, von einem

gänzlich ungebrochenen Antiziganismus auszugehen, der als Grund-lage einer regierungsamtlichen Politik beansprucht wird, die in der Bevölkerung verbreitete Ressentiments bedient. Gleichwohl aber sind es auch klassische antiziganistische Ressentiments und Stereo-type, die sich in den Auseinandersetzungen über die neue Zuwande-rung artikulieren. Diese sind – und dies stellt eine weitere Schwie-rigkeit für die Analyse der Situation dar – ohnehin nicht klar von den Zuschreibungen und Feindseligkeiten zu unterscheiden sind, die sich historisch und gegenwärtig auf die Armutsbevölkerung richten.Bevölkerungseinstellungen gegenüber Sinti und Roma sind bis-

lang nicht zureichend erforscht. Die verfügbaren aktuellen Daten weisen aber auf eine nach wie vor erhebliche Verbreitung ableh-nender Haltungen hin. So stimmen in der Studie ‚Gruppenbezo-gene Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2012: 39) z.B. 40 Pro-

zent der Befragten der Aussage zu, dass sie Probleme damit hät-ten, „wenn sich Sinti und Roma in meiner Gegend aufhalten“ und 44 Prozent der Aussage, „Sinti und Roma neigen zur Kriminali-tät“. 34 Prozent aller EuropäerInnen (31 Prozent in Deutschland) wäre es unangenehm, wenn ihre Kinder Roma als schulische Klas-senkameraden hätten (European Commission 2012). Die Hartnä-ckigkeit der antiziganistischen Diskurse und die anhaltenden Ver-breitung von Vorurteilen sind erklärungsbedürftig. Auch im Fall von Antiziganismus gilt, die grundlegende Einsicht

Theodor W. Adornos (1966), dass die Ursachen der Feindseligkeit nicht in den Eigenschaften der Diskriminierten, sondern in den sozialen und psychischen Strukturen zu suchen sind, die Bedarf für ein Objekt erzeugen, an dem eigene Unzufriedenheit, Ressen-timents, Aggressionen und Hass ausagiert werden können. Ras-sismen, Antisemitismus, Homophobie, die Abwertung von Ar-beitslosen und Obdachlosen, die Zustimmung zu rigiden Ord-nungsvorstellungen und eben auch Antiziganismus hängen deshalb eng miteinander zusammen, sie können als ein Syndrom der sog. „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ (Heitmeyer 2012) charakterisiert werden. Dieses ist Ausdruck sozialer Verhältnis-se, die einem erheblichen Teil der BürgerInnen mit Zwängen und Zumutungen konfrontiert und sie zugleich nicht befähigt, ihre Unzufriedenheit an diesen als politische Kritik zu artikulieren. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn jeweilige Minderheiten in politischen und medialen Diskursen als Bedrohung oder als So-zialparasiten inszeniert werden, wenn gegen sie gerichtet Feind-seligkeit also rational und gesellschaftlich erlaubt zu sein scheint. Gleichwohl ist Antiziganismus nicht zureichend verstanden,

wenn er nur als eine Ausprägung von Rassismus oder gruppen-bezogener Menschenfeindlichkeit unter anderen betrachtet wird. Denn unterschiedliche Ausprägungen verweisen auf je spezi�-sche soziale Konstellationen, Ideologien und Diskurse. Und dies ist auch folgenreich für die Ansatzpunkte der Kritik: Den biolo-gischen Rassismus kann man ganz einfach mit dem Hinweis da-rauf kritisieren, dass die Hautfarbe kein Indiz für Charakter und Intelligenz ist; das genügt zwar keineswegs, um die rassistische Denkmuster und Praktiken aufzubrechen, entzieht diesen aber die Möglichkeit einer rationalen Begründbarkeit. Ethnische und kul-turalistische Konstruktionen sind dagegen nicht in gleicher Weise kritisierbar; denn es lässt sich nicht in gleicher Weise behaupten, dass es keine Kulturen und Ethnien gibt, wie nachgewiesen wer-den kann, dass es – jenseits des Rassismus – keine Rassen gibt3.Historisch und systematisch lässt sich diesbezüglich im Hinblick

auf Antiziganismus zunächst feststellen: Die immer wieder erneu-te „Er�ndung der Zigeuner“ (s. Bodgal 2011) besteht in der Kons-truktion einer Gruppe, die sich in die Ordnung moderner Natio-nalstaaten und Ökonomien nicht einfügen kann und will, die sich den Zwängen und Restriktionen, denen „wir“ uns als rechtskon-forme Staatsbürger, als disziplinierte Arbeiter und Angestellte, als sesshafte Bürger von Dörfern oder Städten und als Mitglieder von Kleinfamilien unterwerfen, verweigert. Über „die Zigeuner“ wird weiter angenommen, dass sie über eine starke ethnisch-kul-

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turelle Identität und ein Gemeinschaftsgefühl verfügen, ausge-nommen von der modernen Zerstörung primärer Gemeinschafts-zugehörigkeiten sind. Die Liste der gängigen Vorurteile soll hier nicht fortgeführt werden. Die „Er�ndung der Zigeuner“ stellt, so Bogdal (2013: 17) tref-

fend, „die Kehrseite der Selbsterscha�ung des europäisches Kul-tursubjekts“ dar; sie erzeugt das Bild einer Minderheit, die sich außerhalb der bürgerlichen, arbeitsgesellschaftlichen und natio-nalen Ordnung bewegt. Dabei oszilliert das Verhältnis zwischen den Polen der romantischen Verklärung und der aggressiven Ab-lehnung. Dadurch ist die Konstruktion der „Zigeuner“ als Projek-tions�äche für die Unzufriedenheiten, die Ängste, aber auch die Sehnsüchte derjenigen entzi�erbar, die sich in eine Ordnung ein-fügen, die ihnen nicht nur Wohlstand, Sicherheit und Anerken-nung verspricht, sondern auch erhebliche Einschränkungen sowie die Bereitschaft zur Selbstdisziplinierung zumutet. Negativ aufge-löst wird diese Ambivalenz der „Zigeunerbilder“ dann, wenn nicht allein fehlende Anpassungswilligkeit angenommen, sondern ein parasitäres Ausnutzen „unserer“ Ordnung unterstellt wird: Als Merkmal „der Zigeuner“ gilt dann, dass sie wenig ehrbaren Beru-fen nachgehen, den Sozialstaat ausnutzen und sich durch Eigen-tumskriminalität bereichern. Analysiert man die Moderne mit Zygmunt Bauman (1992) als

Versuch, eine rationale Ordnung des Nationalstaates und der Ar-beitsgesellschaft zu scha�en, dann sind diejenigen, die als „Zigeu-ner“ gelten, ähnlich den Juden in der Vorstellungswelt des Anti-semitismus (vgl. Wippermann 1997), prototypische Fremde, die sich in diese Ordnung nicht einfügen lassen, die außerhalb dieser Ordnung stehen und auf diese deshalb mit Ablehnung – im natio-nalsozialistischen Ordnungsprojekt mit Vernichtung – oder aber mit romantischer Verklärung reagiert wird.

Was heißt es, über „die“ Sinti und Roma zu sprechen?Fragt man danach, was die Konstruktion der „Zigeuner“, die ge-

sellschaftlich zirkulierten Vorstellungen darüber, was sie angeb-lich kennzeichnet, in ihrer historisch älteren und neueren Varian-ten mit der Realität derjenigen zu tun hat, die sich als Sinti oder Roma bezeichnen, betritt man ein durchaus schwieriges Terrain. Wenn davon ausgegangen wird, dass es sich bei den unterschied-lichen Zuschreibungen um Vorurteile handelt, die wirkliche Ei-genschaften der Sinti und Roma nur allzu stark verallgemeinern und falsch bewerten bzw. die negativen Eigenschaften einseitig hervorheben, dann entsteht eine Argumentationsfalle: Die Fra-ge nach der grundsätzlichen Zulässigkeit antiziganistischer Sicht-weisen wird zur Frage, ob diese mehr oder weniger stark der Realität entsprechen. Um diese Argumentationsfalle – der Map-pes-Niedeck (2011) in seiner Studie nicht völlig entgeht -– zu ver-meiden, ist es von entscheidender Bedeutung, ganz grundsätzlich die Annahme zurückzuweisen, dass es sinnvoll und zulässig sei, „die Sinti und Roma“ als ein in sich homogenes Kollektiv zu be-trachten, dessen Angehörige zentral dadurch bestimmt sind, dass sie eben Sinti und Roma „sind“. Denn an den gängigen Vorurtei-

len stimmt nichts: Sie bilden keine gegebene Realität in ungenau-er Weise ab, sie erzeugen eine falsche, eine ideologische Wahr-nehmung dieser Realität.Damit sind zwei unterschiedliche Aspekte angesprochen:

1. die unbestreitbare Tatsache, dass die Lebenswirklichkeiten und das Selbstverständnis von Sinti und von Roma höchst un-terschiedlich sind. Dies gilt unter anderem in Hinblick auf die wirtschaftliche Lage, die Staatsangehörigkeit, die Diskrimi-nierungserfahrungen in den jeweiligen Kontexten, die gespro-chene Sprache (Romanes ist eine in sich vielfältig di�erenzier-te Sprachfamilie, die Roma-Sprachen sind ein Amalgam mit den nationalen bzw. regionalen Verkehrsprachen) sowie reli-giöse Zugehörigkeiten.

2. ist es unzulässig anzunehmen, eine Identi�kation als Sinti oder Roma könne als Master-Status betrachtet werden, der die Le-bensführung, das Selbstverständnis und die sozialen Bindun-gen umfassend de�niert. Denn sich als Roma zu verstehen, bedeutet keineswegs etwas anderes als sich z.B. als Katholik oder als Sozialdemokrat zu verstehen: Für manche schließt das weitreichende Überzeugungen, Verp�ichtungen und Bindun-gen ein, für andere handelt es sich um ein wenig bedeutsames Element der eigenen Identität unter anderen, das für das eige-ne Selbstverständnis nachrangig ist. Wiederum andere sehen sich veranlasst, sich von ihrer Herkunft und den Zumutun-gen der Traditionen mehr oder weniger stark zu distanzieren.

Dies alles sind unterschiedliche Weisen, mit der Möglichkeit und dem fundamentalen Recht umzugehen, die eigene Identität selbst zu de�nieren, also selbst zu entscheiden, wer man sein und als was man wahrgenommen werden möchte.4 Die Logik des Antiziganis-mus besteht demgegenüber – darin dem Antisemitismus vergleich-bar – vor allem darin, Roma nicht als autonomiefähige Individuen zu betrachten, sondern als Gruppenwesen, die durch ihre Abstam-mung und Zugehörigkeit bestimmt sind. In der Logik dieses „Grup-pismus“ (s. Brubaker 2007) wird dann alles, was an Verhaltens-weisen von Personen beobachtet wird, die als „Zigeuner“ wahrge-nommen werden, dadurch erklärt, dass es sich um eine Folge ihrer Wesenseigenschaften handelt, die dann rassistisch (Vererbung der Gene) oder ethnisch (Vererbung der Kultur) erklärt werden. Folgt man dieser Logik, dann ist ein „Zigeuner“ z.B. ein fahrender Händ-ler, weil ihm das „im Blut“ liegt oder Ausdruck der Kultur ist, die ihn geprägt habe. Arbeitet ein „Zigeuner“ dagegen als Facharbeiter in einer Fabrik und lebt auf Dauer in einer Mietskaserne, dann tut es das nicht weil, sondern obwohl er ein „Zigeuner“ ist. Mit dieser Argumentationslogik schottet sich der Antiziganismus gegen Infra-gestellungen ab, er ist empirisch nicht widerlegbar.

Perspektiven der KritikEs ist für Kritik des Antiziganismus unverzichtbar, die Konstruk-

tionslogik der „Zigeunerbilder“ aufzuzeigen und durchschaubar zu machen. Dem entspricht die Strategie des Zentralrats der deut-schen Sinti und Roma, die Geschichte und Gegenwart des Anti-ziganismus zu thematisieren sowie Menschen- und Bürgerrechte

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für Sinti und Roma einzufordern, weil sie diese wie jede/r ande-re auch beanspruchen können, ganz unabhängig davon, was es für Einzelne bedeutet oder nicht bedeutet, ein Roma zu sein. Gleich-wohl kann auch nicht bestritten werden, dass es Roma gibt, die sich – und dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrun-gen mit Diskriminierung und Verfolgung – als Angehörige einer Minderheit begreifen, die gute Gründe für Misstrauen und Ab-grenzung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und ihren Institu-tionen hat. Zu bestreiten ist auch nicht, dass ein Teil der Sinti in Deutschland (s. Strauss 2011) sowie noch mehr der osteuropäi-schen Roma in Folge anhaltender Diskriminierung in Situationen der Armut und der sozialen Ausgrenzung gedrängt ist, die nicht folgenlosen bleiben (s.o.)5.Es lässt sich insofern nicht durchhalten und es genügt für die Kri-

tik des Antiziganismus auch keineswegs, die positiven Elemente der Konstruktion „die Sinti und Roma“ zu akzeptieren – Sinti und Roma als Andere zu feiern, die „unsere“ Gesellschaft bereichern – und die Negativen abzulehnen. Denn damit wird, wenn auch in guter Absicht, immer wieder die Vorstellung verfestigt, „die Sinti und Roma“ seinen grundlegend anders als „wir“. Zudem ist es auch nicht tragfähig zu argumentieren, dass es sich durchgängig um blo-ße Zuschreibungen handelt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben und sich durch einen nüchternen Blick auf die Realität pro-blemlos widerlegen lassen. Denn die Geschichte und Gegenwart der Diskriminierung von „Zigeunern“ hat auch ihre eigene Realität gescha�en. Wer als „Zigeuner“ wahrgenommen wird, muss z.B. auch gegenwärtig noch mit mehr oder weniger o�ener Diskrimi-nierung rechnen. Für eine Kritik des Antiziganismus ist deshalb soziologische Aufklärung von erheblicher Bedeutung: Aufklärung darüber, wie durch Diskriminierung eine Realität hervorgebracht wird, die dann zu Vorurteilen führt, wenn die Folgen von Aus-grenzung und Benachteiligung als Eigenschaften derjenigen ver-kannt werden, die problematischen Lebensbedingungen unter-worfen sind. Der Satz, dass das Problem der Armen die Armut, das Problem der Reichen aber die Armen sind, gilt auch hier. Kri-tik des Antiziganismus besteht so betrachtet auch nicht zuletzt in der Skandalisierung von Diskriminierung, Ausgrenzung und Ar-mut sowie im Beharren auf der voraussetzungslosen Geltung von Menschen- und Bürgerrechten.

∑1. Der Text enthält einige Passagen, die zuerst in einem Beitrag für das Heft 1/04 der Zeit-schrift DAMID (Development and Migration in International Dialoque) verö�entlicht wurden.

2. Ich beziehe mich mit dieser Bemerkung auf Beobachtungen aus der Solidaritätsarbeit mit Roma in Freiburg; wissenschaftliche Studien zu den erfolgreichen Anpassungs- und Integra-tionsleistungen liegen meiner Kenntnis nach nicht vor.

3. Zu den Perspektiven der Kritik ethnischer Konstrukte s. Scherr 2000.

4. S. dazu grundlegend Baumann (1999: 58�.).

5. Entsprechend ist es Teil des Problems, dass die Situation der Armuts�üchtlinge aus Osteu-ropa nicht als solche, sondern als Problem mit Roma wahrgenommen wird und Proteste ge-gen die herrschende Politik entsprechend sich als Solidarität mit Roma, nicht generell mit Armuts�üchtlingen, de�nieren.

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