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Druckversion - Missing Link: Migration in die Industrie 4.0 – Flüchtlinge als Software-Entwickler gegen Fachkräftemangel | heise online 17.02.19, 11J20 Missing Link: Migration in die Industrie 4.0 – Flüchtlinge als Software- Entwickler gegen Fachkräftemangel 17.02.2019 08)45 Uhr Valerie Lux “Es ist, als würde ich einen Diamanten in der Hand halten.” Wie Flüchtlinge in Europa die Wende zur Industrie 4.0 gestalten. Anne Kjaer Riechert, eine Mittdreißigerin, steht im Gedränge und hat ihr Unternehmensteam verloren. Gerade wollte man Burritos essen gehen, aber eine Sekunde zu lang hat sie auf die E-Mails auf ihrem Smartphone geschaut. Der FC Bayern München hat gerade angekündigt, sie gerne treffen zu wollen, um eine Kooperation mit ihrer IT-Schule auszuloten. Hinter ihr liegt eine anstrengende Podiumsdiskussion, viele Fragen von https://www.heise.de/newsticker/meldung/Missing-Link-Migration-in-die-Industrie-4-0-Fluechtlinge-als-Software-Entwickler-gegen-43101 1

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Missing Link: Migration in die Industrie 4.0 – Flüchtlinge als Software-Entwickler gegen Fachkräftemangel17.02.2019 08)45 UhrValerie Lux

“Es ist, als würde ich einen Diamanten in der Hand halten.” Wie Flüchtlinge in Europa die Wende zurIndustrie 4.0 gestalten.

Anne Kjaer Riechert, eine Mittdreißigerin, steht im Gedränge und hat ihr Unternehmensteam verloren. Geradewollte man Burritos essen gehen, aber eine Sekunde zu lang hat sie auf die E-Mails auf ihrem Smartphonegeschaut. Der FC Bayern München hat gerade angekündigt, sie gerne treffen zu wollen, um eine Kooperationmit ihrer IT-Schule auszuloten. Hinter ihr liegt eine anstrengende Podiumsdiskussion, viele Fragen von

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JournalistInnen, in zwanzig Minuten ist der nächste Termin. Riechert ist in diesen Tagen viel gefragt, denn ihrePerson verkörpert die Lösung für die zwei wichtigsten Fragen Deutschlands. Ach was, die zwei wichtigstenFragen Europas: Wie soll man mit der Migration umgehen? Und wie meistert man die digitale Transformation?

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Anne Kjaer Riechert

Riechert hat im Jahr 2015 in Berlin die erste Programmierschule nur für Flüchtlinge gegründet.AsylbewerberInnen erhalten schnell und unkompliziert ein dreimonatiges Training in den wichtigstenProgrammiersprachen. Die Kompetenzen die für die Entwicklung der Industrie 4.0. relevant sind. Von Java zuPython, von Internet of Things (IoT) zu Netzwerksicherheit, von Seminaren zur Datenschutzgrundordnung biszu Roboteranwendungen – alle Kurse sind strikt auf die Bedürfnisse des aktuellen Arbeitsmarkt ausgerichtet,um möglichst schnell den wachsenden Bedarf an Software-Entwicklern für deutsche Unternehmen zu stillen.

Über 900 geflüchtete AbsolventInnen haben in den letzten zwei Jahren ihren Abschluss gemacht. Der Erfolgihrer Schule, der "Digital School of Integration", kurz: ReDi, war so überwältigend, dass Riechert und ihr Team,das fast ausschließlich aus Frauen besteht, so eben eine zweite Schule in München eröffnet haben.

Agilität – Charaktermerkmal einer Flucht

Eine Stunde vorher sitzt Riechert zum Interviewtermin auf einem Ledersessel des "Mindspace", eines neuenCoWorking-Space in München. Silberne Luftröhren hängen von den Decke, hinter ihrem Sessel befindet sicheine Glasfront an der Fußgänger vorbei hasten. Frau Riechert, sind Flüchtlinge die besseren Programmierer?"Es ist offensichtlich, dass Flüchtlinge traumatische Kriegserfahrungen mit sich tragen, den Verlust vonFamilienangehörigen erlitten haben. Wer das einmal durchgemacht hat, und immer noch in der Lage ist einenAlltag zu haben, hat zwangsläufig eine gewisse Resilienz erworben. Das Schlimmste was im Leben passierenkann, ist bereits passiert."

Um sieben Uhr früh stand das erste Meeting des Tages auf dem Programm. Es galt den Start der neuenSpendenkampagne für einen speziellen Programmierkurs für geflüchtete Frauen vorzubereiten, gerade hat sie

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über das Thema eine Podiumsdiskussion hinter sich. "Diese Resilienz von MigrantInnen, die sie nachDeutschland mitbringen, kann man auch 'agile Kompetenz' nennen", fährt sie fort, "also die Bereitschaft sichneuen Verhältnissen anzupassen. Veränderung ist für MigrantInnen keine Katastrophe mehr, sie sind flexibel.Insofern ist es für geflüchtete Menschen einfacher, sich an die Anforderungen von Unternehmen anzupassen,die an der Schwelle zur vollständigen Digitalisierung ihrer Betriebsabläufe stehen."

Riechert spricht nicht mit der Stimme einer wütenden Aktivistin auf einer Pro-Flüchtlings-Demonstration. Siehat einfach ein Problem gesehen und bietet eine Lösung an. Und in der Tat: Agilität ist eines der Schlagworte,mit dem Unternehmen sich momentan landauf und landab auseinandersetzen. Wer agile Mitarbeiter hat, istagiler auf dem Markt, kann neue Trends frühzeitig erkennen und sich dem Wettbewerb anpassen. Agilbedeutet: MitarbeiterInnen müssen schneller umdenken, ChefInnen auch. Doch die Anforderung an Agilitätkann in vielen mittelständischen Unternehmen in Deutschland, mit eher konservativer Belegschaft und starrenHierarchien, auch Ängste auslösen.

Sind veränderungsbereite Migranten als Mitarbeiter das Tor zu Umsatzwachstum? Namhafte Firmen, wiebeispielsweise das deutsche IT-Mittelstandsunternehmen Klöckner, stellen der Redi-Schule bereitsRäumlichkeiten und Dozenten bereit. Alleine in Deutschland gaben im Jahr 2016 laut demMittelstandsbarometer knapp 50 Prozent der befragten Unternehmen an, dass der Mangel an geeignetenFachkräften zu Umsatzeinbußen führe. "Europa steht dabei vor einem gravierenden Problem. Denn wegen deranhaltend niedrigen Kinderzahlen schrumpfen vielerorts die Bevölkerungen. Praktisch flächendeckend gehenimmer mehr Menschen in Rente, während immer weniger von unten in den Arbeitsmarkt nachrücken", heißt esin der 2017 veröffentlichten Studie des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung. Jedes Land in Europahat dasselbe Problem: Die Politik kann keine Garantie für die zukünftigen Renten übernehmen. Durch denGeburtenrückgang wird es keine Beitragszahler mehr geben. Gleichzeitig jedoch sucht fast jedesUnternehmen in Europa händeringend Software-Entwickler. Mit einer steigenden Zahl von Migranten mitProgrammierkenntnissen hätte man zwei arbeitsmarktpolitische Fliegen mit eine Klappe geschlagen:Rentengarantie und der Fachkräfteüberfluss.

Die digitale Transformation: Digitize or die

Die digitale Transformation ist nicht nur für die deutsche Industrie relevant. Auch Firmen imDienstleistungssektor müssen ihre Arbeitsspeicher in die Cloud verlagern, aus Datenschutzgründen Expertenfür Datensicherheit anstellen, ihre Websites warten oder Datenströme in ihrer Buchhaltung bündeln. Die

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wenigen auf dem deutschen Markt vorhandenen EntwicklerInnen können aufgrund des Fachkräftemangelssich mittlerweile Gehälter im sechsstelligen Bereich aussuchen. Das wiederum führt zu sinkenden Gewinnenvon Unternehmen.

"Wer sein Unternehmen nicht vollständig mit Programmierern digitalisiert, den wird der Markt fressen, so wieein Hai einen Menschen in einem Happs verschlingt", warnte Keynote-Speaker Stefan Engeseth mit markigenWorten auf der letzten CeBit: "Digitize or die [1]." In einer radikal darwinistisch-ökonomischen Lesartverdeutlichte Engeseth, dass ein Hai auf unvorhergesehene Art und Weise sein Opfer tödlich angreife und nuraufgrund dieser Strategie überlebe. Analog zur Geschäftswelt bedeutet dies: Dem KMU-Unternehmen, das diedigitale Revolution verschläft, werden bald beißfreudige Start-Ups, die Haie, mit schnelleren digitalen Mittelndas Fürchten lehren.

Was steht also der Umsetzung einer breiten Bildungsoffensive für Geflüchtete in Europa im Weg? Es sind:konservative Regierungen. Wer das verstehen will, muss nach Österreich fahren. Ein paar hundert KilometerBahnfahrt von München entfernt, in Wien, führt Stefan Steinberger durch seinen Unterrichtsraum in einerehemaligen Industriehalle. Der junge Mann führt durch einen mit Neonröhren beleuchteten Raum und sprichtmit leiser Stimme. Etwa dreißig SchülerInnen sitzen in mehreren Reihen vor einem Beamer, die Jalousien sindheruntergelassen um den Raum zu verdunkeln.

New Austrian Coding School

Der Gründer der Wiener Programmierschule "New Austrian Coding School", Stefan Steinberger, hat vor zweiJahren begonnen, den Zustand "österreichische IT-Fachkräfte" mit dem Problem "Migration" in einemUnternehmen miteinander zu verknüpfen. Doch die rechtskonservative Regierung unter Sebastian Kurzmachte Steinberger beinahe einen Strich durch die Rechnung. "Als die rechtspopulistische FPÖ 2017 neu vonKurz in die Regierungskoalition aufgenommen wurde, mussten wir jedes Mal das Wort "Flüchtling" aus unserenAnträgen für staatliche Fördergelder für die Programmierschule streichen, heikles Unterfangen." Flüchtlinge,die erfolgreich den österreichischen Arbeitsmarkt unterstützen? "Undenkbar für die FPÖ, die einen Großteilihrer Stimmen auf der Angst vor Flüchtlingen einsammelt", erklärt Steinberger. Auch sonst seien Steuergelderfür Ausländer ohne nationale Staatsbürgerschaft vielen Einheimischen in Österreich nicht vermittelbar.

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Stefan Steinberger

Im Wiener Unterrichtsraum ist es lauter geworden. Der heutige Dozent Fabian Wurm, ein Informatikstudent,gestikuliert ausladend und erklärt den technischen Aufbau von Datenbankstrukturen. Auf derBeamerprojektion sieht man Listen mit Musikstücken, von Beethovens "Ode an die Freude" bis zum Beatles-Song "Imagine". Die SchülerInnen sind angehalten die Lieder zu klassifizieren und einer Datenbank richtigzuordnen. Die ZuhörerInnen bilden eine bunte Mischung: Es gibt ältere TeilnehmerInnen mit tiefenSorgenfalten, die neben jungen Männern im Hoodie sitzen, eine Frau trägt ein Kopftuch mit

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Zebrastreifenmuster, manche Männer tragen Stehkragen und Anzugjacket.

In der Klasse herrscht rege Beteiligung. Kaum ein Satz von Wurm vorne vergeht, ohne dass jemand von denSchülerInnen die Hand hebt und eine Frage stellt. Wurms Antwort ist beinahe jedesmal dieselbe "Deine Frageführt in eine fortgeschrittene Richtung, das werde ich später erklären." Man merkt: Die TeilnehmerInnen wollenwirklich verstehen und sind gedanklich oft schon weiter.

Weltverbesser sind jetzt Social Entrepreneurs

Anne Kjaer Riechert und Stefan Steinberger kennen sich nicht. Zwischen ihren Heimatorten liegen knapp 500Kilometer und zwei Landesgrenzen. Beide hatten wundersamerweise dieselbe Idee zur selben Zeit. WieRiechert gehört Steinberger zu der Kohorte der "Social Entrepreneurs". "Der Profit unseres Unternehmens istfür uns zweitrangig, wir wollen einen Unterschied machen", sagt Steinberger. "To make a difference" –dieselbe Formulierung nutzt auch Riechert während der Podiumsdiskussion bei der Spendenveranstaltung fürdas Frauenprogramm in München.

Nach was genau charakterisiert sich Social Entrepreneurship? Das "soziale Unternehmertum" bezeichnet dasunternehmerische Wirken einer aufstrebenden Elite, für die Einkommensgenerierung mit demgesellschaftlichen Sinn ihres Unternehmens Hand in Hand gehen. Der Unternehmensbegriff wurde in denachtziger Jahren geprägt und kennzeichnet vor allen Dingen flache Hierarchien und nur das nötigeexistenzsichernde Einkommen ihrer Mitarbeiter, ohne Bonuszahlungen und Prämien. Gleichzeitig werden dieWaren und Dienstleistungen auf den freien Markt angeboten. Oft werden soziale Unternehmen zusätzlichanteilig auch aus öffentlichen Geldern unterstützt. Alle erwirtschafteten Gewinne werden reinvestiert undgelangen nicht in die eigene Tasche der Geschäftsführer, ein kooperativer Führungsstil steht im Mittelpunkt.

Einer der bekanntesten Social Entrepreneurs ist Mohammad Yunus, der die genossenschaftliche GrameenBank gründete, die Frauen in Entwicklungsländern für ihre wirtschaftliche Selbstständigkeit mit Mikrokreditenunterstützt. Yunus erhielt dafür den Friedensnobelpreis. "Die Struktur des Kapitalismus muss durch sozialeUnternehmen vervollständigt werden" begründete Yunus die Idee der Social Entrepreneurship. Viele SocialEntrepreneurs, wie der Österreicher Steinberger, gründen mit ihrer Vision erst einen Verein, wandeln diese umzu gemeinnützigen GmbHs und haben schlussendlich nach ein paar Jahren eine rentable Firma aufgebaut.

Programmieren als Klavierspiel

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Doch profitabel ist Steinbergers Schule noch nicht. Dafür geben die TeilnehmerInnen umso begeisterteresFeedback. "Programmieren ist für mich wie Musik", erzählt die 17-jährige Leen Raslan nach derUnterrichtstunde. Die junge Syrerin vergleicht ihren Unterricht mit ihrem Klavierspiel. "Jede Note ist wie eineProgrammierzeile und wenn du sie kombinierst ergibt sich ein Lied daraus", sagt die junge Frau. "Es ist wirklichspannend: Seitdem ich den logischen Aufbau einer Programmiersprache erlerne, merke ich, wie sich meineGedankengänge irgendwie verändern. Auf einmal kann ich in meinem Suchen nach Lösungen im Alltag mehrPerspektiven als vorher integrieren. Irgendwie macht mich das Programmieren weiser", sagt sie und lacht.Während ihres arabischen Abiturs hat sie einen schulischen Roboterkurs besucht. In der österreichischenProgrammierschule, kann sie

nun ihre Kenntnisse erweitern. Ihr Vater, ein Landwirtschaftsingenieur mit jahrzehntelanger Berufserfahrung inIndustrieprojekten, sitzt mir ihr zusammen im Unterricht. "Als ich von diesem Programmierkurs gehört habe,war es für mich, als würde ich einen Diamanten in der Hand halten. Ich wusste, ich würde ihn nie wiederloslassen wollen", sagt Badi Raslan. Alle seine Einnahmen aus seiner Ingenieurstätigkeit hatte er in seinHeimathaus in Syrien gesteckt. Das Haus ist nun von IS-Kriegern okkupiert. Aus diesem Grund beantragte erzusammen mit seiner Tochter einen Asylstatus in Österreich. Badi und und Leen Raslan bewarben sichunabhängig voneinander bei der Schule und durchliefen unterschiedliche Assessment-Center. Erst als sie dieZusage erhielten, wurde ihnen klar, dass sie die nächsten neun Monate gemeinsam die Schulbank drückenwürden. "Was für ein Wunder", lacht Raslan.

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Räumlichkeiten der New Austrian Coding School

Wer sich mit den TeilnehmerInnen unterhält bekommt schnell den Eindruck, dass viele die Kursinhalte mit denverschiedenen logischen Operatoren als schwierig empfinden. "Sehr anstrengend", und "sehr kompliziert"lautet der gemeinsame Kanon. Im gleichen Atemzug werden aber auch "große Hilfsbereitschaft" derLehrenden und "das unglaubliche Gemeinschaftsgefühl" unter SchülerInnen und DozentInnen benannt. Dasgemeinsame Schicksal der Lernenden schweißt zusammen. Die neun Monate sind wahrhaft kein Spaziergang:Jeden Tag wird von 9 bis 17 Uhr unterrichtet, danach müssen Hausaufgaben gemacht werden und jedenFreitag wird das Gelernte in einer Klausur abgeprüft.

Eine Kirgisin erzählt, dass sie dennoch ihrer Zukunft als Entwicklerin ein wenig mit Sorgen entgegen schaue,da sie nach ihrem Abschluss auf dem Arbeitsmarkt mit einheimischen Österreichern konkurriere. "Ich glaube,

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da bin ich im Nachteil." Gründer Steinberger bestätigt später im Einzelgespräch, dass auf den SchülerInnen eingroßer Druck laste: Sie müssen sich in kurzer Zeit alle relevanten Informatikkompentenzen aneignen,Prüfungen bestehen und danach sofort sich um einen Arbeitsplatz bemühen. Und es bleibt nicht nur bei einerSprache: der Kurs wird auf Englisch unterrichtet, wer arbeiten möchte, muss Deutsch können.

Die einheimische Sprache kennen jedoch viele SchülerInnen durch ihren offiziellen Asylstatus, dem erfolgtenSprachkurs und der Aufnahme in das österreichische Sozialsystem bereits. Sind sie nicht offiziell anerkannt,können sie von dem Staat in ihrer neunmonatigen Ausbildungszeit an der New Austrian Coding School nichtfinanziell unterstützt werden.

Weltsprache Software-Entwicklung?

Auch die dreizehn Kurse an der Münchener ReDi-Schule werden in englischer Sprache unterrichtet, dieweltweite Sprache der Programmierer. Die Chefin der neuen Münchener Filiale, Sophie Jonke, führt durch dieSeminarräume in der dritten Etage in einem Münchener Industriequartier. Nebenan sind die Räumlichkeitendes Social Impact Lab, das gezielt soziales Unternehmertum in Deutschland fördert.

"Wer Englisch und eine Programmiersprache kann, ist eigentlich schon bereit für die nächste Migration",erklärt Jonke. Wer beide Sprachen beherrscht, finde überall auf der Welt einen Arbeitsplatz. Durch eineGlastür sieht man wie drei TeilnehmerInnen von einer Dozentin, eine pensionierte Software-Entwicklerin vonSiemens, in Java unterrichtet werden. Im Gegensatz zum wienerischen Bootcamp-Vollzeitkurs, werden die inder ReDi-Schule die Kurse nur zweimal in der Woche am Abend unterrichtet. Wer den offiziellen Asylstatus inDeutschland genießt, muss wöchentlich verpflichtend ebenfalls fünfzehn Stunden einen deutschenSprachkurs besuchen, sodass nur am Abend Zeit für die digitale Kompetenzen bleibt.

Die ReDi-Schule selektiert BewerberInnen nicht nach ihrem Aufenthaltsstatus. "Bei uns kann jeder lernen,unabhängig ob man gesetzlich als Flüchtling anerkannt ist oder nicht", sagt Jonke. Die Bürowände sind mitbunten Zetteln beklebt, die die Namen aller Mitarbeiter tragen und mit ihren Aufgaben beschriftet sind. JonkesKollegen kommen aus Spanien, Brasilien und Mexiko, ihr Team ist ebenso multikulturell wie ihre SchülerInnen,deren Unterricht sie koordinieren. In einem kleinen Eckraum stapeln sich Tassen und Geschirr. "Hier kochtHasan immer für alle, er ist einer unserer vielen Freiwilligen", erzählt Jonke.

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Sophie Jonke im ReDi-Büro

Der unschlagbare Vorteil der ReDi-Schule in München: Sophie Jonke kann sich auf ein breites Netz vondeutschen Freiwilligen und Unterstützern verlassen. Ausländische wie auch deutsche Ehrenamtliche putzen,kochen und organisieren Ausflüge. Das hat auch die Verwaltung bemerkt. "Das Erfolgsrezept von ReDi liegtdefinitiv auch in dem Engagement von 150 freiwilligen Fachleuten begründet" sagt Petra Schütt, Leiterin desFachgebiets Strukturwandel der Stadt München. Das stetig wachsende Netzwerk ist eine der großen Stärkenvon ReDI, so Schütt. Auch Jonke hat zuerst als Freiwillige für ReDi in Berlin angefangen, als die Stadt Münchenfinanzielle Unterstützung für eine zweite ReDi-Schule anbot, wurde Jonke gefragt ob sie in ihre Heimatstadtzurückkehren wolle.

Die bürokratischen Helden der Verwaltung

Das ReDi in München eine zweite Filiale eröffnet hat, ist einem Zufall zu verdanken: die Leiterin des MünchnerBeschäftigungs- und Qualifizierungsprogramms, hatte einen Zeitungsartikel über Anne Kjaer Riechert gelesen."Da haben wir uns gedacht: Was für ein tolles Projekt. Und gerade München hat einen unheimlichen Bedarf anSoftware-Entwicklern", erzählt die zuständige Mitarbeiterin Petra Schütt.

Nach einem ersten Treffen in München mit Anne Kjaer Riechert beantragte die Verwaltung im Stadtrat dieFörderung für eine ReDi-Schule in München. "Das war eine sehr unkonventionelle Maßnahme. Aber die Schulehat uns einfach überzeugt", sagt Schütt. Schließlich machte der Münchner Stadtrat unter einerRegierungskoalition aus CSU und SPD 300.000 Euro als Förderung für zwei Jahre locker. In der Redi-Schulewird Schütts Team unter vorgehaltender Hand "unsere bürokratischen Helden" genannt. "Ich bin noch nie aufso viel tolle und kreative Menschen wie in der Münchener Verwaltung gestoßen", sagt Anne Kjaer Riechert."Andere Städte sind viel zurückhaltender. Die sehen Flüchtlinge eher als Belastung, während MünchenNeuankömmlinge als Chance sieht."

Ein paradiesischer Zustand, von dem die New Austrian Coding School weit entfernt war. "Wir mussten langeGespräche führen mit dem österreichischen Arbeitsmarktservice. Es hat ungefähr ein Jahr und sehr, sehr vieleTermine gedauert bis wir das Okay erhalten haben. Im Grunde war es unsere Beharrlichkeit und wohl auch einwenig Glück, bis wir jedes Mal in den Gesprächen die verschiedenen Personen, Abteilungen und Ebenen von

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der Fördermöglichkeit der Ausbildung an der New Austrian Coding School überzeugen könnten." Einfach siehtanders aus.

Petra Schütt von der Stadt München gerät richtiggehend ins Schwärmen, wenn sie von derProgrammierschule erzählt. "Das Tolle ist bei ReDi einfach: Da ist so viel Elan drin. Die vermitteln so vielHoffnung. Und sie erreichen sehr viele TeilnehmerInnen, das ist nicht selbstverständlich." Hat sie einen Tippfür die Stadtverwaltungen anderer Städte? "Ich denke das Wichtigste ist, dass die Spitze, die Leitung derVerwaltung, für innovative neue Ansätze ist. Dann ist vieles möglich."

Der Vorteil von ReDi sei, dass bei der Schule jede und jeder mitmachen kann, Deutsche wie Ausländer, mitoder ohne Arbeit. Die Schule sei nicht nur auf ausschließlich staatlich anerkannte Asylbewerber undJobcenter-Kunden beschränkt. "Für uns war klar: Die TeilnehmerInnen müssen eine Aussicht auf einen Job inMünchen haben und dann hier arbeiten," sagt Schütt. "Von den 68 TeilnehmerInnen des ersten ReDi Kurseskonnten 38 eine qualifizierte Ausbildung oder einen Job beginnen und das ist schon ein beachtlicher Erfolg",sagt Schütt und erwähnt noch einmal die große Anzahl von Unternehmen, die ReDi mit allen möglichenRessourcen unterstützen.

Die digitale Revolution ist weiblich

"Wir werden gerade quasi von TeilnehmerInnen überrannt", erzählt Jonke. In Österreich war es nicht anders."Im ersten Durchgang mussten wir 21 TeilnehmerInnen aus aus 140 Bewerbern auswählen. Mittlerweile habenwir rund 50 Absolventen", sagt Steinberger. Eines ist Jonke und Kjaer Riechert aber schon damals aufgefallen."Als wir aber gemerkt haben, dass nur 10 Prozent unserer Absolventen in den letzten Jahren weiblich waren,war uns klar, wir müssen etwas tun. Deswegen haben wir das spezielle Frauenprogramm "Digital Women" aufdie Beine gestellt."

Auch hier: ein exponentielles Teilnehmerinnenwachstum. "Zwanzig Plätze hatten wir, 50 Frauen sind bei derersten Veranstaltung gekommen." Jonke stellt ihre freiwllige Assistentin Alejandra Ramirez vor. Ramirez ist fürdie Betreuung des Digital Women Programms zuständig. "Viele unserer TeilnehmerInnen haben zuhause nochnicht einmal einen Laptop", erklärt sie, "deswegen können sie nur hier im Seminarraum lernen. Ich denke aberauch, es ist für viele Frauen wichtig, erst einmal in einer geschützten weiblichen Gruppe sich an neuetechnische Kompetenzen heranzuwagen." "Es ist wirklich ein Selbstbewusstsseinschub für unsereTeilnehmerInnen, wenn sie auf einmal merken, hoppla, sie können mit Technik umgehen. Manchmal habe ich

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das Gefühl, unsere weiblichen TeilnehmerInnen sind sogar noch eine Extraportion motivierter als unseremännlichen Schüler."

In Deutschland würden meisten geflüchteten Frauen nur Pflegeberufe oder Kinderbetreuungstätigkeitenangeboten, ergänzt Jonke, "mit Computeranwendungen haben diese Frauen nicht gerechnet. Sie sind oft sehrdankbar, eine Möglichkeit von uns zu erhalten, sich von der traditionellen Heim- und Hausarbeit weg zuentwickeln." Die ReDi-Schule bietet eine Betreuung für Kinder während der Kurse an.

"Das ist ein großer Erfolg. Manche Frauen bringen sogar ihre Töchter und alle ihre Freundinnen mit in dieKurse." Jonke seufzt. "Es ist toll, dass wir nur innerhalb eines Jahres so stark angewachsen sind. Aber wirmerken auch: Unsere finanziellen Ressourcen sind deswegen schon lange aufgebraucht. Wir brauchen soganz dringend Laptops und deutlich mehr bezahlte personelle Unterstützung."

Die verzweifelte Suche der Unternehmen nach Fachkräften

Ein Unternehmen, das bereits kräftig in ReDi investiert, ist Microsoft. Magdalena Rogl ist Head of DigitalChannels bei Microsoft in München. Die ehemalige Kinderkrankenschwester ist zur Podiumsdiskussion mitAnne Kjaer Riechert im Mindspace gekommen. Während sie der Debatte zuschaut und in einer Wortmeldungsagt, dass sie die das "Einfach-machen-Potential" von ReDi sehr inspirierend finde. Sie finde es einfachwichtig, dass sich die digitale Welt öffnet und mehr Diversität zulasse, sagte sie nach der Veranstaltung.

Viele ihrer Kollegen arbeiten jetzt als Dozenten in der ReDi-Schule. Spezielle Seminare für die Entwicklung von"Internet of Things" finden direkt in den Veranstaltungsräumen der Münchener Microsoft-Zentrale statt. DerKonzern stellt seine Mitarbeiter drei Tage im Jahr bei voller Bezahlung frei, in denen sie sich ehrenamtlich fürReDi engagieren können. Experten von Microsoft haben den TeilnehmerInnen in Workshops gezeigt, wie sieIoT-Lösungen mit der hauseigenen Plattform Azure [2] entwickeln können und wie man eine holographischeBrille im industriellen Kontext anwenden kann.

Über die "HoloLens [3]" können Probleme, die beispielsweise bei der Wartung von Maschinen auftreten, perVideo erläutert werden. Die Anwendung der Brillen steht kennzeichnend für die Wende zur Industrie 4.0. DieKooperation mit ReDi ist für Microsoft eine Win-Win-Situation: "Natürlich picken wir uns schon die Goldperlenwährend der Kurse raus, fördern Talente und ermutigen sie, sich bei uns zu bewerben. Wir sind ständig auf derSuche nach neuen Fachkräften", sagt Rogl munter und beißt ein Stück Brezel ab.

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Ein weiterer ReDi-Kurs in München zu Netzwerksicherheit wird seit zwei Jahren von Cisco unterstützt. "DasUnternehmen hat sich selbstständig an uns gewandt, weil sie, wie alle anderen auch, verzweifelt nach neuenFachkräften suchen", erzählt Sophie Jonke. "Also bieten sie jetzt mit unseren TeilnehmerInnen Kurse zuCybersecurity an." Und auch hier ist der Erfolg durchschlagend: "Mittlerweile wurden siebzehn von unserenSchülerInnen von Cisco als Praktikanten beschäftigt, und drei als Vollzeitkräfte eingestellt" sagt Jonke.

Google stellt ReDI ebenfalls seine MitarbeiterInnen als Dozenten ehrenamtlich zur Verfügung. Cisco, Microsoftund Google – sind das nicht Konkurrenten? "Vielleicht ist das unsere neue Art von kooperativen Kapitalismus",sagt Anne Kjaer Riechert und klingt dabei wie Grameen Bank Gründer Yunus. "Es gibt wegen derDigitalisierung so unfassbar viel zu tun, dass sich IT-Unternehmen gar nicht mehr leisten können, inKonkurrenz miteinander zu treten. Bei uns packen Sie alle ehrenamtlich miteinander mit an."

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Anne Kjaer Riechert (Zweite von Links) und Ihr Team

Ein weiteres Merkmal der digitalen Wirtschaft im 21. Jahrhundert fällt auf: Ob ein Bewerber Autodidakt ist,oder ein Hochschuldiplom in der Tasche hat, ist für viele IT- Unternehmen nicht mehr wichtig. Hauptsache dieBewerberIn kann programmieren und schafft das Assessment-Center. Ob mit oder ohne Zertifikat ist in Zeitendes Fachkräftemangels zweitrangig.

Integration durch gemeinsames Lernen

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Die Wiener Programmierschule "New Austrian Coding School" hieß am Anfang "Refugee Codes", doch dannhabe man sich entschlossen, keine Österreicher auszuschließen, erzählt Steinberger. Jetzt biete man auch fürEinheimische die Programmierkurse an und habe die Schule umbenannt, das sei sowieso besser für dieIntegration der TeilnehmerInnen. Bislang befindet sich jedoch erst ein Österreicher unter den 30 SchülerInnen.Anne Kjaer Riechert hat nach einem Jahr dieselbe Neuausrichtung ihrer Schule vorgenommen wie Steinberger,wieder eine parallele Entwicklung wie von Zauberhand, ohne, dass sich die beiden abgesprochen hätten. "VonKritikern wurde uns vorgeworfen, dass Ausländer so viel erhalten würden und Deutsche nichts. Irgendwannhaben wir uns tatsächlich gefragt, warum wir eigentlich nicht auch Deutsche in unsere Kurse Schule einladen.Und genau das haben wir jetzt gemacht", erzählt Riechert.

Eine Schule, in der jeder kostenlos programmieren lernen kann, unterstützt gleichermaßen von Steuergeldernund einer Investition von Unternehmen: Machen die gemeinwohlorientierten Private Public PartnershipsSchule, wird ein neues Kapitel in der Geschichte der Wirtschaft aufgeschlagen. Weg von der sozialenMarktwirtschaft hin zum kooperativen Kapitalismus.

Beide Schulen kämpfen aber noch um ihre Existenzsicherung, denn aus privaten Einnahmen können sie sichnoch nicht vollständig finanzieren. "Aber wir arbeiten dran" sagt Steinberger nachdrücklich. DasEinnahmenmodell von ReDi und der New Austrian Coding School ist denkbar einfach: Unternehmen mitdringendem Bedarf an Software-Entwicklern gehen Partnerschaften mit der Schule ein und übernehmen einenTeil der Ausbildungskosten der SchülerInnen. 10.000 Euro kostet das für eine Firma in Wien. Dennoch könnensich Steinbergers SchülerInnen ihr IT-Wunsch-Unternehmen selbst aussuchen. 90 Prozent seiner Absolventenhaben bislang einen Arbeitsplatz als EntwicklerInnen gefunden, erzählt Steinberger stolz.

Kooperativer Kapitalismus

Bei der ReDi-Schule in München beträgt die Gebühr für ein Unternehmen dagegen um ein Vielfaches mehr."Eine Platinmitgliedschaft kostet ab 100.000 Euro pro Jahr" erzählt Riechert. Doch wer das als deutschesUnternehmen zahlt, erhält in München eine garantierte Zusage der Weitervermittlung der Absolventen an ihrePersonalabteilung. "Wir schicken dann unsere besten Talente zu unseren Investoren", sagt Riechert.

Die ReDi-Schule konnte von Beginn auf viele unternehmerische Unterstützung zählen, Facebook, Coca-Colaund Deloitte beteiligten sich mit Spenden oder Partnerschaften. In Österreich ist es andersherum: Mit denUnternehmenspatenschaften hapert es bislang noch ein bisschen, deswegen der übernimmt der

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österreichische Staat noch von den meisten TeilnehmerInnen die Ausbildungskosten "Ich denke aber, das wirdnicht lange so bleiben. Unsere Schule ist noch wenig bekannt, ich glaube, viele Unternehmen die Fachkräftesuchen, wissen gar nicht, dass es uns gibt" sagt Steinberger. "Dennoch wäre es für uns die schlimmste Krise",sagt Steinberger, "wenn diese finanzielle Förderung vom Arbeitsmarktservice wegfallen würde".

Dabei sei es eine Win-Win-Rechnung für eine politische Gemeinschaft, "denn Österreich besitzt durch unsweniger Arbeitslose, wir leisten Integrationsarbeit, da wir die Geflüchteten in den Arbeitsmarkt einbinden,"sagt Steinberger, "tatsächlich ist der Staat ist eigentlich unser bester Kunde."

Erfolgreiche Zusammenarbeit von Geisteswissenschaftlerinnen und EntwicklerInnen

Herr Steinberger, können Sie eigentlich programmieren? Steinberger lacht. "Niemand von unsSchulorganisatoren kann programmieren. Das ist auch gar nicht nötig. Wir stellen nur die Infrastruktur undRessourcen bereit." Programmierkompetenzen hat auch Gründerin Riechert nicht. Es fällt auf, dass keineProgrammierer als gründungswillige Social Entrepreneurs auftreten. Steinberger ist Absolvent der Wirtschafts-und Sozialwissenschaften, Riechert studierte Friedens-und Konfliktforschung in Tokio und leitete dann das"Stanford Peace Lab" in Berlin.

Vielleicht braucht man als Social Entrepreneur mehr eine Vision und ein Leitbild als Detailkenntnisse desFachbereichs, in dem man ein Unternehmen gründet. Ein Aspekt, der GeisteswissenschaftlerInnen vonInformatikerInnen unterscheidet. Während Entwickler stets bemüht sind, möglichst genau den Programmcodeeinzugeben und dabei keine Tippfehler zu machen, sind SozialwissenschaftlerInnen trainiert das "großeGanze" zu erkennen, die systemischen Zusammenhänge in der Welt zu überblicken. Die fruchtbareKombination von akribischen InformatikerInnen und visionären Geisteswissenschaftlern, so scheint es, birgt insich revolutionäres Potential.

Wieso hat sich der 29-Jährige entschieden, die New Austrian Coding School zu gründen? Was macht ihn sorisikofreudig? Steinberger denkt nach. "Ich war der Erste in meiner Familie, der studiert hat, und ich glaube, ichhatte schon immer einen starken Gerechtigkeitssinn", sagt er langsam. "Gleichzeitig hatte ich auch irgendwieimmer den Drang Verantwortung zu übernehmen. Und ich bin sehr stur. Wenn ich etwas will, dann arbeite ichTag und Nacht dafür".

Ein Schüler, ein junger arabischer Mann kommt lachend näher, schwingt sich auf das Sofa neben ihn und packtSteinberger bei den Schultern. Beide grinsen sich an. "Das ist auch etwas", sagt Steinberger, "dass mich

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glücklich macht. Zu sehen, wie die TeilnehmerInnen in den Kursen aufblühen. Wir bieten ihnen eine festeTagesstruktur, eine Gemeinschaft, einen sinnvollen Bildungszweck. Es ist krass wie manche TeilnehmerInnenhier mit gebückten Rücken verschüchtert anfangen und jeden Tag immer aufrechter gehen und froher wirken",sagt er.

Dasselbe sagt auch die pensionierte Siemens-Entwicklerin und Dozentin von ReDi-Schule in München, es seiso schön, zu sehen, wie nach einer Duchbeißphase ihre SchülerInnen neues Selbstvertrauen durch denErwerb neuer Fähigkeiten erhielten.

Der Erfolg von Social Entrepreneurs: Agil durch flache Hierarchien

Aller Anfang war schwer, zum ersten Pilotkurs der New Austrian Coding School im Jahr 2016, kam exakt nurein TeilnehmerInnen. "Wir mussten da noch etwas an unserem Marketing feilen" lacht Steinberger. Um dieEcke in der Küche steht ein Marmeladenglas auf dem "Feedback" in handgeschriebener Schrift steht. FlacheHierarchien, kurze Wege: Das Zeichen eines agilen Unternehmens im 21. Jahrhunderts.

"Ja, konstruktive Kritik ist uns sehr wichtig", bestätigt Steinberger. "Und ganz besonders wichtig ist unsererCommunity Manager. Denn wenn unsere SchülerInnen Schwierigkeiten mit dem Arbeitsmarktservice haben,auf einmal ihre Miete nicht bezahlen können oder ähnliches, dann wirkt sich das auf ihr Lernverhalten aus.Deswegen beschäftigen wir einen Quasi-Sozialarbeiter, der als Ansprechpartner für alle da ist, und hilft,Probleme zu lösen."

Es klingt logisch: Nur wer nicht ständig an sein Überleben denken muss, hat die Ruhe sich auf Bildung zukonzentrieren. Vielleicht ist dies der Grund, warum die vielbeschworenen MOOC – die Massive Open OnlineKurse – nur bedingt genutzt werden, obwohl die Informatik-Vorlesungen von renommierte Universitäten wieHarvard oder dem Massachusetts Institute of Technology angeboten werden. Ihre Abbrecherquote liegt beiüber 90 Prozent, ein klassischer Frontalunterricht im Videoformat, ohne die Möglichkeit der Interaktionzwischen DozentInnen und SchülerInnen.

Theoretisch könnten Flüchtlinge schon vor ihrer Migration, während der Flucht oder im einemAsylunterbringungszentrum Onlinekurse auf ihrem Smartphone belegen. Doch kaum einer tut es. Vielleicht,weil man auf der Flucht nur an sein Überleben im Hier und Jetzt und nicht an das Leben und die Zeit danachdenkt. Vielleicht weil der Anreiz einer Gemeinschaft mit realen Personen fehlt, in der man sich über die Fächeraustauschen und gegenseitig helfen kann. Wer einmal den Kurs mit der regen Beteiligung um Fabian Wurm

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gesehen hat und die kollegiale Atmosphäre in der Mittagspause erlebt hat, weiß warum.

Programmieren lernen in einem Nicht-EU-Land

Doch warum muss man überhaupt erstmal eine Flucht durchmachen, um eine Ausbildung zur EntwicklerIn imvom Fachkräftemangel gebeuteltem Europa finden? Die Antwort auf die Frage findet sich in der Schweiz.Direkt neben dem Rheinufer, in einer schmalen Straße, befindet sich das Philosophicum. Ein Künstlerhaus dasnoch direkt aus dem Mittelalter stammt: krumme Treppen, schiefe Wänden und Holzbalken an der Decke. Imhöchsten Stock, im Festsaal steht Christian Hirsig vor einem Beamer und hält sein Smartphone in die Höhe.Der orangene Lichtschimmer des Displays erhellt den Raum. Hirsig steht vor circa zwanzig Anwesenden.

"Auf der Flucht habt ihr sicher viele Traumata erlebt", sagt Hirsig. "Deswegen habe ich für euch mehrerekostenlose Lizenzen für einen App-Meditiaionskurs mit organisiert." Hirsig ist Gründer der NGO"Powercoders". Auch er ist kein Programmierer. Hirsig ist der dritte im Bunde der Social Entrepreneurs für IT-Akadamien für Migranten. Hirsig, Steinberger, Riechert, alle drei hatten unabhängig zum selben Zeitpunkt indrei verschiedenen Ländern dieselbe Idee. Alle drei haben ihr Unternehmen alleine, ohne sich miteinander zuvernetzen, erfolgreich in Gang gesetzt. Bis dahin hatte der ehemalige BWL-Student schon erfolgreich einBeratungsunternehmen und ein Start-Up-Inkubator gegründet.

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Christian Hirsig

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Die Währung der Programmierschulen: Hoffnung

"Ihr gehört zu den 1 Prozent der Talentiertesten hier", doziert Hirsig vorne. Der neue Kurs läuft erst seit einpaar Tagen, deswegen werden von ihm die Grundlagen erklärt. "80 Prozent unserer vergangenenTeilnehmerInnen haben einen Arbeitsplatz in der IT-Branche, 100 Prozent haben einen Praktikumsplatzgefunden. Wer es als Programmierer in der Schweiz schafft, verdient bis zu 60.000 Franken."

Hirsig spricht klar und mit ruhiger Stimme. "Das wichtigste ist: vertraut uns. Wir helfen euch so gut es geht."Es scheint, dass er es schafft etwas zu vermitteln, was vielen Flüchtlingen verloren gegangen ist: Hoffnung.Hirsigs Worte erinnern an dasselbe Phänomen, das die SchülerInnenstruktur aller drei Schulen prägt: DieTeilnehmerInnen sind hoch motiviert und gleichzeitig sehr gestresst. Sie wissen wie ihre Zukunft davonabhängt. Sie wissen, dass sie dieses Examen bestehen müssen um im deutschsprachigen Arbeitsmarktintegriert zu werden. Um endlich finanziell unabhängig zu werden.

In Basel wird deswegen heute nicht programmiert, sondern Persönlichkeitstests absolviert und einBewerbungsmappentraining veranstaltet. "Denn was Flüchtlinge nicht haben, wenn sie neu in ein Landkommen, ist ein Netzwerk. Und die kulturellen Gepflogenheiten, die länderspezifischen Unterschiede müsseneingeübt und verinnerlicht werden", sagte Steinberger einige Tage zuvor in Wien und die Worte könnten jetztexakt aus Hirsigs Mund kommen.

Mulitkulturalität als wichtige Kompetenz im digitalen Zeitalter

Anders als in Österreich und in Deutschland, kommen auf TeilnehmerInnen im Alpenstaat eine weitereSchwierigkeit hinzu: Das Schweizerdeutsch. Die SchülerInnenInnen müssen Programmiersprachen einüben,Englisch können, den Deutschkurs absolvieren und gleichzeitig den starken Schweizer Dialekt beherrschen.Vier Sprachen auf einmal. Ein unmögliches Unterfangen? Die 18-Jährige Afghanin Sodaba erzählt nach derUnterrichtsstunde, dass das Jonglieren mit vier Sprachen eine tägliche Herausforderungen sei. Aber dieZukunftsaussichten als Programmiererin würden sie jeden Tag motivieren und das schwierige Unterfangenwieder wett machen. Sie ist eine von vier Frauen in dem Kurs, hat einen eigenen Youtube-Kanal auf dem siezusammen mit ihrer Mutter afghanische Gerichte kocht.

Sodaba hat wie viele andere TeilnehmerInnen über Facebook von dem Angebot erfahren. So wie Bismillah, einAfghane, für den das Informatikstudium ein unerreichbares Ziel darstellte, da er keine schweizerische

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Hochschulzulassung besaß. "Als ich dann das Angebot von Powercoders mit nur drei MonatenProgrammierkurs plus ein Praktikum sah, dachte ich: Ein Traum." Bismillah spricht bereits fließend deutsch mitschweizerdeutscher Einfärbung. Seine Worte ähneln denen des syrischen Vaters Badi Raslan, der in derWiener New Austrian Coding School sagte, er fühle sich so, als würde er mit dem Programmierkurs Diamantenin der Hand halten, den er nie mehr loslassen wolle.

Hat er eine Erklärung, warum sich mehr Männer für die PowerCoders interessieren? "Ich habe das Gefühl, dasssich viele Schweizerinnen für Technik interessieren, aber wenn es um das konkrete Machen geht, dann ist daso etwas wie eine Wand aufgrund ihrer Erziehung in den Köpfen, von den Stereotypen der Gesellschaft. Beigeflüchteten Frauen ist das anders. Sie haben schon einmal diese Fluchterfahrung gemeistert, sich auf etwasvollständig Neues eingestellt und sind deswegen offener gegenüber neuen Erfahrungen. Deswegen haben sieweniger Angst vor dem Erlernen technischer Kompetenzen." Bissmillah spricht über die Agilität, die Anne KjaerRiechert genannt hat. Offen sein, schnell reagieren – der wichtigste Soft Skill im 21. Jahrhundert. Für Offenheitbrauche es Diversität hatte die leitende Angestellte von Microsoft, Magdalena Rogl, in München gesagt.

Mitglied Shadi aus Syrien kann nur von den positiven Reaktionen auf den Kurs aus seinem Umfeld in Baselberichten. Die Schweizer, die er kenne, würden ihn regelrecht während seiner Ausbildungszeit alsProgrammierer anfeuern, und ihn in seiner Kurswahl bestärken sagt er. Das motiviere ihn zusätzlich.

Während zwei Unterrichtsstunden ist Zeit für ein kurzes Interview mit Christian Hirsig. Herr Hirsig, wie läuftdas eigentlich mit der innerschweizerischen Expansion ihrer Schulen? Hirsig stöhnt. "Das ist von Kanton zuKanton unterschiedlich." Manchmal verzweifle er an dem starken Schweizer Förderalismus. "Aber immerhin istunsere Schule schon an drei Standorten vertreten, in Bern, Lausanne und Basel."

Theoretisch müsste er bei 26 verschiedenen Kantonsbehörden die Schulstrukturen von Grund auf neuerklären und in jeder der Behörden eine neue Förderung beantragen. Ein zeitaufwendiger Prozess. SeineSchule wird aus der Steuerkasse und Spenden gefördert, sie haben nicht die Rechtsform eines Unternehmens,sondern einer NGO gewählt. "Von der bisherigen Kantonspolitik werden wir hier in der Schweiz gut unterstützt.Wir haben nämlich für jede politische Coleur etwas anzubieten: Linke Parteien weisen wir auf die erfolgreicheIntegration unserer SchülerInnen hin, wirtschaftsliberalen Parteien sagen wir, dass die Schule erfolgreich denFachkräftemangel bekämpft und rechten Parteien erzählen wir, dass unsere TeilnehmerInnen nicht mehr vonSozialhilfe abhängig sind. Das macht den Aufbau unserer Schule eigentlich unangreifbar", sagt Hirsig.

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Die Zukunft: Programmierschulen innerhalb und außerhalb Europas

Ab wann wird es dann Codingakademien auf anderen Kontinenten geben? Hirsig grinst. "Wir sind bereits weitfortgeschritten in den Abklärungen zu einer Durchführung in Istanbul, am Hot Spot der Flüchtlingsroute an dertürkisch-griechischen Grenze. Die Türkei hat mit der Aufnahme von Flüchtlingen eine große Aufgabegemeistert. Jetzt wollen wir bei der Integration helfen."

Unzweifelhaft hat Hirsigs Schulmodell die Pole Position in der interkontinentalen akademischen Expansion vorReDi und der New Austrian Coding School übernommen. "In Istanbul möchten wir ebenfalls für die türkischeBevölkerung die Kurse anbieten. Und übrigens ist der Aufbau der Schule im Ausland viel günstiger, da dieLebenshaltungskosten viel niedriger sind als in der Schweiz", sagt Hirsig. Innerhalb von zwei Jahren hatPowercoders bereits eine globale Version der Schule entworfen und begonnen sie umzusetzen.

Und was ist mit Europa? Innerhalb der Europäischen Union fokussiere man sich jetzt auf Mailand, Stockholmund Madrid, erzählt Hirsig, "denn das sind fortschrittliche Zentren der Techie-Szene" erzählt er. "Denn fürunser Programm müssen jeweils drei Voraussetzungen unbedingt gegeben sein: Erstens genügend Flüchtlingein der Stadt, zweitens eine bestehender IT-Arbeitsmarkt für Entwickler und drittens keine vergleichbareSchule. Das ist in Mailand, Stockholm und Madrid der Fall. In Nordafrika hat es mit diesen dreiVoraussetzungen nur Kairo in die engere Auswahl geschafft." "Wir könnten uns aber vorstellen, in dennächsten Jahren eine Programm für den Aufbau von Offshoring-Softwarefirmen anzubieten. Dies würdemanche Tür in Afrika aufstossen." "Dann können Menschen programmieren lernen und in ihrem Heimatlanderfolgreich eine Softwarefirma aufbauen, weil sie über lukrative Verträge in Industrieländern verfügen. Das istunsere Vision von moderner Entwicklungshilfe”, schließt Hirsig ab. (bme [4])

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[2] https://www.heise.de/thema/Microsoft-Azure

[3] https://www.heise.de/thema/Microsoft-Hololens

[4] mailto:[email protected]

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