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Mittwoch, 19. September 2012 · Seite 13 TORGAU & REGION Spezial zur Jahrtausendflut „10 Jahre nach der Flut“ – in dieser Serie wird die Torgauer Zeitung an die Ereig- nisse im August 2002 erinnern. Die Hei- matzeitung wird zurückblicken, nachvoll- ziehen und vorausschauen. 15. August: Chronologie 22. August: Menschen 29. August: Organisatoren 5. September: Hilfe 12. September: Zeitung 19. September: Kontroverse Ge- danken zur Flut 26. September: Deichbau 9,00 8,50 8,00 8,00 2002 | 2012 Meter 9,45 Werden Sie Teil des Spezials: Welche Momente oder Erinnerun- gen verbinden Sie mit den Schick- salstagen im August 2002? Schreiben Sie uns: Schicken Sie uns Ihre Eindrü- cke, Fotos oder Videos per E-Mail an [email protected]. Diskutieren Sie außerdem auf der TZ-Facebook-Seite über den aktuellen Teil der Serie. TZ-Rückblick: Lesen Sie noch ein- mal, wie die Heimatzeitung im Au- gust 2002 berichtete. Auf www. torgauerzeitung.com, steht täglich eine Archiv-Seite zum Download bereit. Dort fin- den Sie auch alle erschienenen Beiträge. Liebe Leserinnen und Leser, noch heute ranken sich zahlreiche Gerüchte, warum der Elbdeich bei Dautzschen dem Druck der Wasser- massen nicht standhielt. War der Bruch natürlichen Ursprungs oder hatten Verantwortungsträger technisch nach- geholfen? cw Was war mit den Hubschraubern am Deich? Reinhard Seibt aus Graditz machte in der Nacht vor dem Dautzschener Deichbruch eine ungewöhnliche Entdeckung In Dautzschen stand das Wasser nach dem Deichbruch durchschnittlich bis zu einem Meter hoch. An besonders tiefen Stellen sogar zwei Meter. Rechts oben: Zwei Stunden nach dem Deichbruch nahm TZ-Redakteur Nico Wendt dieses Bild auf, das die Bruchstelle zeigt, die letzt- lich auf etwa 330 Meter Breite anwuchs. Fotos: TZ/Archiv (T. Manthey, N. Wendt) Graditz/Dautzschen (TZ/cw). Die These des gezielten Deichbruchs lässt auch ihm noch immer keine Ruhe: „Die Hubschrauber hat es gegeben“, sagt der 72-jährige Rein- hard Seibt. „Das lass’ ich mir nicht aus- reden.“ Der Graditzer ist sich seiner Sache sicher. Ziemlich sicher. Allerdings berichtet Seibt nicht von jenen Hubschraubern am Morgen des Deichbruchs. Seine Aussage fußt auf der Beobachtung, dass bereits in der Nacht gegen 1.45 Uhr zwei Hubschrau- ber über Züllsdorf hinweg in Richtung Dautz- schen aufbrachen. Zu jener Zeit war Seibt mit seiner Frau in Züllsdorf untergebracht. Wegen des Lärms in der Turnhalle konnten beide schlecht schlafen. Dann die deutlich zu vernehmenden Rotoren. Seibt wurde hell- hörig. Erst recht, als er über den Kronen der Bäume, weit entfernt in Richtung Trup- penübungsgelände, im Abstand von ein bis zwei Minuten zwei grellbläuliche Blitze zu vernehmen glaubte, denen jeweils kurz da- nach dumpfe Detonationsgeräusche folgten. „Die haben den Deich bereits in der Nacht mürbe geschossen, sodass er erst am Mor- gen bracht“, spricht Seibt aus tiefster Über- zeugung. Auch der Graditzer betont, dass jene Bruchstelle für alle überraschend kam. „Logischer wäre ein Bruch bei Stehla oder auch bei Graditz gewesen, wo nach dem Abzug der Soldaten zahlreiche Bürger auf- opferungsvoll den Deich retteten.“ Der Deichbruch bei Dautzschen am Morgen des 18. Augusts 2002 gilt als bisher größter Binnendeichbruch Deutschlands. 220 Qua- dratkilometer standen unter Wasser – drei Orte in Sachsen, 25 in Sachsen-Anhalt in- klusive der Stadt Prettin. Der Großtrebener Georg Milling hat insgesamt acht Jahre re- cherchiert, warum es dazu gekommen ist. Neben zahlreichen Fakten bietet Millings Ar- beit nach wie vor auch Raum für Spekula- tionen. War der Deichbruch nun natürlichen Ursprungs oder wurde vielleicht doch nach- geholfen? Von CHRISTIAN WENDT Großtreben/Dautzschen (TZ). Im Grunde ge- nommen war die Aufgabenstellung Millings klar umrissen: Dem Großtrebener ging es von Anfang an um die Zusammenhänge von Wetterberichten und den späteren Flutereig- nissen. Dabei stellte er sich immer wieder die Frage, warum immer nur über die Aus- wirkung der Flut berichtet wurde, nie aber über deren Ursachen. Herausgekommen ist ein Recherchewerk, mit dem Titel „Anatomie einer Katstrophe – wie aus einem Starkregen eine Jahrtausendflut wurde“. Milling wollte den Dammbruch bei Dautz- schen jedenfalls nicht als gegeben hinneh- men. Wie kein anderer begab er sich auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er führte in all den Jahren zahlreiche Interviews mit Anrainern der Elbe, mit Experten aus Po- litik, Wasserbau und Wissenschaft. Gerade aus dem Kontakt zu Letzteren entstand eine Diplomarbeit, die die offizielle Lesart eines natürlichen Bruchs zumindest in Frage stellt. Dazumal hatte Andreas Schuckmann nach ausführlicher Datenauswertung unter ande- rem festgestellt, dass bei der Sicherheits- analyse des Deiches kein Schadensmecha- nismus festgestellt werden konnte. Milling: „Ein natürlicher Grund kann ausgeschlossen werden.“ Im geotechnischen Gutachten für die Staatsanwaltschaft legte man die glei- chen natürlichen Parameter zugrunde, ver- tauschte allerdings die Schichtenfolge. Auch wurden die Höhen falsch angesetzt, sodass der Bruch herbeigerechnet wurde, so Milling. Seit November 2005 sei dies jedoch juris- tisch nicht mehr anfechtbar. Hinzu kommen Erinnerungen an Gespräche mit Dautzschenern, die Merkwürdiges zu be- richten hatten: Kurz vor dem Deichbruch kreis- ten demnach Hubschrauber über der späte- ren Bruchstelle, wurden schwarze Limousinen auf der S 25 gesichtet, aus denen neugierige, wichtig aussehende Leute mit Ferngläsern in Richtung der am Deich operierenden Hub- schrauber blickten. Nicht zuletzt soll es auch ein Polizeiauto gegeben haben, das im Rück- wärtsgang (!) vom heutigen Dautzschener Bür- gerhaus aus in Richtung Neubleesern/Bock- dammüberfahrt unterwegs war. Einen Beweis, dass all dies tatsächlich mit dem Deichbruch in Verbindung steht, gäbe es freilich nicht. Doch ein ungutes Gefühl, dass gegen 9 Uhr womöglich doch nachgehol- fen wurde, ist bis heute geblieben. Verstärkt wurde diese These noch, als Milling 2006 ein Interview im MDR-Hörfunk per Band mit- schnitt. „In diesem sprach der anhaltische Mi- nister Dr. Hermann Onko Aeikens mehr oder weniger nebenbei von gezielten Flutungen, die es 2002 gegeben habe“, zeigte sich der Groß- trebener über die Offenherzigkeit aus dem benachbarten Bundesland sehr überrascht. Ein weiteres Puzzle- stück in einer langen Indizienkette schien gefunden. Zufall? Erst vor wenigen Tagen sprach der ehemalige sächsische Ministerprä- sident Georg Milbradt während einer Hochwassergedenkveranstaltung davon, dass Menschen mit ihrem Handeln aus Hoch- wasserlagen erst Katastrophen machten. Wieder ein Zufall? Über so viele Zufälle mag Milling heute eigentlich gar nicht mehr nach- denken. Für den 58-Jährigen steht eines fest: „Wer die Schadenlage überblickte, musste wissen, dass es zur Flutung kommen wird.“ Eine Alternative dazu habe es nicht gegeben. Zu groß waren all die Pleiten, die den zustän- digen Behörden in Deutschland und Tsche- chien ein Armutszeugnis ausstellten. Zu groß waren aber auch die Regenmassen, die Tiefdruckgebiet „Ilse“ mit sich führte. Vor der ominösen 5-B-Wetterlage warn- te anfangs allerdings nur TV-Wetter- mann Jörg Kachelmann (meteo me- dia). „Höchstwahrscheinlich drohe den elbnahen Gebieten eine Katas- trophe ungeheuren Ausmaßes“, hieß es dort. Zwei Tage vor allen anderen. Problem: meteo media habe in Sachen Katastrophenwarnung kei- nerlei Weisungsbefugnis gehabt, betont Milling. Dafür sei der Deutsche Wetter- dienst (DWD) zuständig gewesen. Doch der habe erst am 12. Au- gust reagiert und seine Ka- tastrophenmeldung über den Äther geschickt – kurz bevor es zum unvermeidlichen Überlauf der Talsperren auch im Böhmisch/Mährischen Raum kam. Viel Zeit für die Vorwarnung ging verloren. Und dennoch fragt sich der Großtrebener, warum man nicht wenigstens zu jenem Zeitpunkt die Leu- te an Elbe und Mulde vor zwei riesigen Flutwellen warnte. Hat man sich sehenden Auges in die Katastrophe gestürzt? „Alles deutet darauf hin“, sagt Milling, der sich nach einem Ge- spräch mit Horst-Jür- gen Schumacher in die- ser Annahme bestätigt sieht. Schumacher sei regelmäßig während der Rhein-Hochwasser als Koordinator in Krisenstäben zuständig ge- wesen. Nach Dresden meldete er sich freiwil- lig. Später berichtete er sinngemäß von den schweren Problemen der Katastrophenstäbe. Alle waren überfordert, Krisenmanagement sieht anders aus. Doch welche Gründe könnten zu einer geziel- ten Flutung halb Ostelbiens geführt haben? Nachdem auch die Landestalsperrenverwal- tung in Sachsen nur tatenlos zusehen konn- te, wie sich die Wassermassen ihren Weg bahnten – Meßwehre waren zerstört, die elek- tronische Pegelerfassung fiel aus – wurden nach Millings Recherchen Hals über Kopf schützenwerte Güter benannt. Dem obersten Katastrophenstab ging es nur noch um die Schadensbegrenzung für den weiteren indus- triellen Raum Wittenberg bis Magdeburg so- wie die Verkehrsstrecken. Zu Letzteren zählte vor allem die wichtige Elbbrücke in Witten- berg. „Bereits am 14. August war absehbar, dass diese gefährdet ist“, sagt Milling. Das Bauwerk vertrage an seinen beiden Flut- brücken nur 6,28 Meter Wasserspiegellage. Doch nur einen Tag spä- ter lag der Pegel in der Lutherstadt bereits bei 6,16 Meter. Am 16. August waren um 12 Uhr schon jene 6,28 Meter erreicht. Pro- blem: Eine Scheitelwelle von zusätzlich gut zwei Metern am Pegel Usti war im Anmarsch auf Dresden. Noch heute kann Georg Milling über die neu- gebaute Brücke nur den Kopf schütteln. „Wer das genehmigte, war blind.“ Milling attestiert den Verantwortlichen eindeutige Planungs- fehler. So habe man als Datengrundlage das Elbhochwasser von 1862 als sogenanntes Bemessungshochwasser angenommen. Weil es zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine größeren Deichanlagen gegeben habe, waren jene 6,28 Meter das größte Hochwasser, das die Lutherstädter bis dahin kannten. Auch das schwere Hochwasser von 1890, als der Deichbau in Ostelbien weitestgehend beendet war, sei den Planern nicht ins Auge gefallen. „Am 7. und 8. September 1890 kam es zu Deichbrüchen in Werdau und Dautzschen. 500 Quadratkilometer Hinterland wurden insgesamt oberhalb Wittenbergs geflutet. Deswegen lag der Pegel in der Stadt deut- lich unter dem Pegel von 1862“, erläutert Milling. Hätten die Deiche damals Stand ge- halten, wäre die Überraschung in Wittenberg groß gewesen, welch‘ Wassermassen sich auf die Lutherstadt dann zubewegt hätten. Weil all dies bei der Brückenplanung nicht berücksichtigt worden sei, habe die Brücke nun einer Staustufe geglichen, die bei örtlich 7,08 Metern einen ungehinderten Durchfluss des Wassers verhinderte. Der Deichbruch bei Dautzschen brachte der Wittenberger Brücke letztlich 40 Zentimeter Entlastung, um nicht weggespült zu werden. Die Brücke ist nach Ansicht Millings ein guter Grund, warum der Deich brach. „Im Zuge der geplanten Großpolder bei Dautzschen und Axien/Mauken auf anhaltischer Seite mit zu- sammen 3200 Hektar wird genau dieselbe Brücke wieder der Grund dafür sein, warum die Hochwasserrückhaltebecken geflutet wer- den“, prophezeiht der Großtrebener. Sein Fa- zit: Nur wenn sich Sachsen-Anhalt zusammen mit der Deutschen Bahn AG entschließt, mit einer neuen, dritten Flutbrücke einen genü- gend großen Wasserabfluss in Wittenberg zu gewährleisten, wäre jene Gefahr gebannt. Ansonsten würden der Dautzschener und der Axiener/Maukener Polder die gesamte Region entwerten. Die Anatomie einer Katastrophe Georg Milling aus Großtreben will nicht so recht an natürliche Gründe für den Deichbruch bei Dautzschen glauben 8,50 E 12,50 E 10 Jahre danach … … wer erinnert sich? Bilder, die man nicht vergisst Erhältlich bei der Haus der Presse, Elbstr. 3, 04860 Torgau Georg Milling hat sich ausgiebig mit den Ursachen des Deichbruchs beschäftigt. Die Zeichnung in der Mitte verdeutlicht, dass zum Zeitpunkt des Deichbruchs der Deich noch einen Freibord von 35 Zentimeter aufwies (blaue Linie entspricht rekonstruiertem Wasserstand der Elbe). Nach Ansicht des Großtrebeners war er trocken, sodass er eine natürliche Ursache für den Bruch ausschließt. Die rechte Reprografie basiert auf einem ddp-Foto (von Michael Urban). Sie zeigt, wie sich die Wassermassen eine Dreiviertelstunde nach dem Bruch ihren Weg ins Hinter- land bahnten. Foto: TZ/C. Wendt ausgewählte Pegelstände (Quelle: ARD-Videotext) 14.8. 15.8. 15.8. 16.8. 17.8. 18.8. 18.8. (6 Uhr) (6 Uhr) (20 Uhr) (18 Uhr) (10 Uhr) (6 Uhr) (16 Uhr) Usti 777 1020 1060 1183 1109 1033 898 Schöna 736 980 1095 1195 1165 1036 965 Dresden 695 755 846 925 939 895 847 Torgau 755 775 784 847 914 945 931 Wittenberg 552 616 623 634 660 696 708

Mittwoch, 19. September 2012 - Nachrichten aus der Region. 13_Flut_Anatomie.pdfGerüchte, warum der Elbdeich bei Dautzschen dem Druck der Wasser- ... Zwei Stunden nach dem Deichbruch

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Page 1: Mittwoch, 19. September 2012 - Nachrichten aus der Region. 13_Flut_Anatomie.pdfGerüchte, warum der Elbdeich bei Dautzschen dem Druck der Wasser- ... Zwei Stunden nach dem Deichbruch

Mittwoch, 19. September 2012 · Seite 13

TORGAU & REGIONSpezial zur Jahrtausendflut

„10 Jahre nach der Flut“ – in dieser Serie wird die Torgauer Zeitung an die Ereig-nisse im August 2002 erinnern. Die Hei-matzeitung wird zurückblicken, nachvoll-ziehen und vorausschauen.

15. August: Chronologie

22. August: Menschen

29. August: Organisatoren

5. September: Hilfe

12. September: Zeitung

19. September: Kontroverse Ge-danken zur Flut

26. September: Deichbau

9,008,508,008,002002 | 2012

Meter9,45

Werden Sie Teil des Spezials: Welche Momente oder Erinnerun-gen verbinden Sie mit den Schick-

salstagen im August 2002? Schreiben Sie uns: Schicken Sie uns Ihre Eindrü-cke, Fotos oder Videos per E-Mail [email protected]. Diskutieren Sie außerdem auf der TZ-Facebook-Seite über den aktuellen Teil der Serie.

TZ-Rückblick: Lesen Sie noch ein-mal, wie die Heimatzeitung im Au-gust 2002 berichtete. Auf www.

torgauerzeitung.com, steht täglich eine Archiv-Seite zum Download bereit. Dort fin-den Sie auch alle erschienenen Beiträge.

Liebe Leserinnen und Leser,

noch heute ranken sich zahlreiche

Gerüchte, warum der Elbdeich bei

Dautzschen dem Druck der Wasser-

massen nicht standhielt. War der Bruch

natürlichen Ursprungs oder hatten

Verantwortungsträger technisch nach-

geholfen? cw

Was war mit den Hubschraubern am Deich?Reinhard Seibt aus Graditz machte in der Nacht vor dem Dautzschener Deichbruch eine ungewöhnliche Entdeckung

In Dautzschen stand das Wasser nach dem Deichbruch durchschnittlich bis zu einem Meter hoch. An besonders tiefen Stellen sogar zwei Meter. Rechts oben: Zwei Stunden nach dem Deichbruch nahm TZ-Redakteur Nico Wendt dieses Bild auf, das die Bruchstelle zeigt, die letzt-lich auf etwa 330 Meter Breite anwuchs. Fotos: TZ/Archiv (T. Manthey, N. Wendt)

Graditz/Dautzschen (TZ/cw). Die These des gezielten Deichbruchs lässt auch ihm noch immer keine Ruhe: „Die Hubschrauber hat es gegeben“, sagt der 72-jährige Rein-hard Seibt. „Das lass’ ich mir nicht aus-reden.“ Der Graditzer ist sich seiner Sache sicher. Ziemlich sicher. Allerdings berichtet Seibt nicht von jenen Hubschraubern am Morgen des Deichbruchs. Seine Aussage fußt auf der Beobachtung, dass bereits in der Nacht gegen 1.45 Uhr zwei Hubschrau-ber über Züllsdorf hinweg in Richtung Dautz-schen aufbrachen. Zu jener Zeit war Seibt mit seiner Frau in Züllsdorf untergebracht. Wegen des Lärms in der Turnhalle konnten beide schlecht schlafen. Dann die deutlich

zu vernehmenden Rotoren. Seibt wurde hell-hörig. Erst recht, als er über den Kronen der Bäume, weit entfernt in Richtung Trup-penübungsgelände, im Abstand von ein bis zwei Minuten zwei grellbläuliche Blitze zu vernehmen glaubte, denen jeweils kurz da-nach dumpfe Detonationsgeräusche folgten. „Die haben den Deich bereits in der Nacht mürbe geschossen, sodass er erst am Mor-gen bracht“, spricht Seibt aus tiefster Über-zeugung. Auch der Graditzer betont, dass jene Bruchstelle für alle überraschend kam. „Logischer wäre ein Bruch bei Stehla oder auch bei Graditz gewesen, wo nach dem Abzug der Soldaten zahlreiche Bürger auf-opferungsvoll den Deich retteten.“

Der Deichbruch bei Dautzschen am Morgen des 18. Augusts 2002 gilt als bisher größter Binnendeichbruch Deutschlands. 220 Qua-dratkilometer standen unter Wasser – drei Orte in Sachsen, 25 in Sachsen-Anhalt in-klusive der Stadt Prettin. Der Großtrebener Georg Milling hat insgesamt acht Jahre re-cherchiert, warum es dazu gekommen ist. Neben zahlreichen Fakten bietet Millings Ar-beit nach wie vor auch Raum für Spekula-tionen. War der Deichbruch nun natürlichen Ursprungs oder wurde vielleicht doch nach-geholfen?

Von CHRISTIAN WENDT

Großtreben/Dautzschen (TZ). Im Grunde ge-nommen war die Aufgabenstellung Millings klar umrissen: Dem Großtrebener ging es von Anfang an um die Zusammenhänge von Wetterberichten und den späteren Flutereig-nissen. Dabei stellte er sich immer wieder die Frage, warum immer nur über die Aus-wirkung der Flut berichtet wurde, nie aber über deren Ursachen. Herausgekommen ist ein Recherchewerk, mit dem Titel „Anatomie einer Katstrophe – wie aus einem Starkregen eine Jahrtausendflut wurde“. Milling wollte den Dammbruch bei Dautz-schen jedenfalls nicht als gegeben hinneh-men. Wie kein anderer begab er sich auf die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er führte in all den Jahren zahlreiche Interviews mit Anrainern der Elbe, mit Experten aus Po-litik, Wasserbau und Wissenschaft. Gerade aus dem Kontakt zu Letzteren entstand eine Diplomarbeit, die die offizielle Lesart eines natürlichen Bruchs zumindest in Frage stellt. Dazumal hatte Andreas Schuckmann nach ausführlicher Datenauswertung unter ande-rem festgestellt, dass bei der Sicherheits-analyse des Deiches kein Schadensmecha-nismus festgestellt werden konnte. Milling: „Ein natürlicher Grund kann ausgeschlossen werden.“ Im geotechnischen Gutachten für die Staatsanwaltschaft legte man die glei-chen natürlichen Parameter zugrunde, ver-tauschte allerdings die Schichtenfolge. Auch wurden die Höhen falsch angesetzt, sodass der Bruch herbeigerechnet wurde, so Milling. Seit November 2005 sei dies jedoch juris-tisch nicht mehr anfechtbar.Hinzu kommen Erinnerungen an Gespräche mit Dautzschenern, die Merkwürdiges zu be-richten hatten: Kurz vor dem Deichbruch kreis-

ten demnach Hubschrauber über der späte-ren Bruchstelle, wurden schwarze Limousinen auf der S 25 gesichtet, aus denen neugierige, wichtig aussehende Leute mit Ferngläsern in Richtung der am Deich operierenden Hub-schrauber blickten. Nicht zuletzt soll es auch ein Polizeiauto gegeben haben, das im Rück-wärtsgang (!) vom heutigen Dautzschener Bür-gerhaus aus in Richtung Neubleesern/Bock-dammüberfahrt unterwegs war. Einen Beweis, dass all dies tatsächlich mit dem Deichbruch in Verbindung steht, gäbe es freilich nicht. Doch ein ungutes Gefühl, dass gegen 9 Uhr womöglich doch nachgehol-fen wurde, ist bis heute geblieben. Verstärkt wurde diese These noch, als Milling 2006 ein Interview im MDR-Hörfunk per Band mit-schnitt. „In diesem sprach der anhaltische Mi-nister Dr. Hermann Onko Aeikens mehr oder weniger nebenbei von gezielten Flutungen, die es 2002 gegeben habe“, zeigte sich der Groß-trebener über die Offenherzigkeit aus dem

benachbarten Bundesland sehr überrascht. Ein weiteres Puzzle- stück in einer langen Indizienkette schien gefunden. Zufall? Erst vor wenigen Tagen sprach der ehemalige sächsische Ministerprä-sident Georg Milbradt während einer Hochwassergedenkveranstaltung davon, dass Menschen mit ihrem Handeln aus Hoch-wasserlagen erst Katastrophen machten. Wieder ein Zufall? Über so viele Zufälle mag Milling heute eigentlich gar nicht mehr nach-denken. Für den 58-Jährigen steht eines fest: „Wer die Schadenlage überblickte, musste

wissen, dass es zur Flutung kommen wird.“ Eine Alternative dazu habe es nicht gegeben. Zu groß waren all die Pleiten, die den zustän-digen Behörden in Deutschland und Tsche-chien ein Armutszeugnis ausstellten. Zu groß waren aber auch die Regenmassen, die Tiefdruckgebiet „Ilse“ mit sich führte. Vor der ominösen 5-B-Wetterlage warn-te anfangs allerdings nur TV-Wetter-mann Jörg Kachelmann (meteo me-dia). „Höchstwahrscheinlich drohe den elbnahen Gebieten eine Katas-trophe ungeheuren Ausmaßes“, hieß es dort. Zwei Tage vor allen anderen. Problem: meteo media habe in Sachen Katastrophenwarnung kei-nerlei Weisungsbefugnis gehabt, betont Milling. Dafür sei der Deutsche Wetter-dienst (DWD) zuständig gewesen. Doch der habe erst am 12. Au-gust reagiert und seine Ka-tastrophenmeldung über den Äther geschickt –

kurz bevor es

zum unvermeidlichen Überlauf der Talsperren auch im Böhmisch/Mährischen Raum kam. Viel Zeit für die Vorwarnung ging verloren. Und dennoch fragt sich der Großtrebener,

warum man nicht wenigstens zu jenem Zeitpunkt die Leu-

te an Elbe und Mulde vor zwei riesigen Flutwellen warnte. Hat man sich sehenden Auges in die Katastrophe gestürzt? „Alles deutet darauf hin“, sagt Milling, der sich nach einem Ge-

spräch mit Horst-Jür-gen Schumacher in die-ser Annahme bestätigt sieht. Schumacher sei

regelmäßig während der Rhein-Hochwasser

als Koordinator in Krisenstäben zuständig ge-wesen. Nach Dresden meldete er sich freiwil-lig. Später berichtete er sinngemäß von den schweren Problemen der Katastrophenstäbe. Alle waren überfordert, Krisenmanagement sieht anders aus. Doch welche Gründe könnten zu einer geziel-ten Flutung halb Ostelbiens geführt haben? Nachdem auch die Landestalsperrenverwal-tung in Sachsen nur tatenlos zusehen konn-te, wie sich die Wassermassen ihren Weg bahnten – Meßwehre waren zerstört, die elek-tronische Pegelerfassung fiel aus – wurden nach Millings Recherchen Hals über Kopf schützenwerte Güter benannt. Dem obersten Katastrophenstab ging es nur noch um die Schadensbegrenzung für den weiteren indus-triellen Raum Wittenberg bis Magdeburg so-wie die Verkehrsstrecken. Zu Letzteren zählte vor allem die wichtige Elbbrücke in Witten-berg. „Bereits am 14. August war absehbar, dass diese gefährdet ist“, sagt Milling. Das Bauwerk vertrage an seinen beiden Flut-

brücken nur 6,28 Meter

Wasserspiegellage. Doch nur einen Tag spä-ter lag der Pegel in der Lutherstadt bereits bei 6,16 Meter. Am 16. August waren um 12 Uhr schon jene 6,28 Meter erreicht. Pro-blem: Eine Scheitelwelle von zusätzlich gut zwei Metern am Pegel Usti war im Anmarsch auf Dresden. Noch heute kann Georg Milling über die neu-gebaute Brücke nur den Kopf schütteln. „Wer das genehmigte, war blind.“ Milling attestiert den Verantwortlichen eindeutige Planungs-fehler. So habe man als Datengrundlage das Elbhochwasser von 1862 als sogenanntes Bemessungshochwasser angenommen. Weil es zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine größeren Deichanlagen gegeben habe, waren jene 6,28 Meter das größte Hochwasser, das die Lutherstädter bis dahin kannten. Auch das schwere Hochwasser von 1890, als der Deichbau in Ostelbien weitestgehend beendet war, sei den Planern nicht ins Auge gefallen. „Am 7. und 8. September 1890 kam es zu Deichbrüchen in Werdau und Dautzschen. 500 Quadratkilometer Hinterland wurden insgesamt oberhalb Wittenbergs geflutet.

Deswegen lag der Pegel in der Stadt deut-lich unter dem Pegel von 1862“, erläutert Milling. Hätten die Deiche damals Stand ge-halten, wäre die Überraschung in Wittenberg groß gewesen, welch‘ Wassermassen sich auf die Lutherstadt dann zubewegt hätten. Weil all dies bei der Brückenplanung nicht berücksichtigt worden sei, habe die Brücke nun einer Staustufe geglichen, die bei örtlich 7,08 Metern einen ungehinderten Durchfluss des Wassers verhinderte. Der Deichbruch bei Dautzschen brachte der Wittenberger Brücke letztlich 40 Zentimeter Entlastung, um nicht weggespült zu werden. Die Brücke ist nach Ansicht Millings ein guter Grund, warum der Deich brach. „Im Zuge der geplanten Großpolder bei Dautzschen und Axien/Mauken auf anhaltischer Seite mit zu-sammen 3200 Hektar wird genau dieselbe Brücke wieder der Grund dafür sein, warum die Hochwasserrückhaltebecken geflutet wer-den“, prophezeiht der Großtrebener. Sein Fa-zit: Nur wenn sich Sachsen-Anhalt zusammen mit der Deutschen Bahn AG entschließt, mit einer neuen, dritten Flutbrücke einen genü-gend großen Wasserabfluss in Wittenberg zu gewährleisten, wäre jene Gefahr gebannt. Ansonsten würden der Dautzschener und der Axiener/Maukener Polder die gesamte Region entwerten.

Die Anatomie einer KatastropheGeorg Milling aus Großtreben will nicht so recht an natürliche Gründe für den Deichbruch bei Dautzschen glauben

8,50 E

12,50 E

10 Jahre danach …… wer erinnert sich? Bilder, die man nicht vergisst

Erhältlich bei der Haus der Presse, Elbstr. 3, 04860 Torgau

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Georg Milling hat sich ausgiebig mit den Ursachen des Deichbruchs beschäftigt. Die Zeichnung in der Mitte verdeutlicht, dass zum Zeitpunkt des Deichbruchs der Deich noch einen Freibord von 35 Zentimeter aufwies (blaue Linie entspricht rekonstruiertem Wasserstand der Elbe). Nach Ansicht des Großtrebeners war er trocken, sodass er eine natürliche Ursache für den Bruch ausschließt. Die rechte Reprografie basiert auf einem ddp-Foto (von Michael Urban). Sie zeigt, wie sich die Wassermassen eine Dreiviertelstunde nach dem Bruch ihren Weg ins Hinter-land bahnten. Foto: TZ/C. Wendt

ausgewählte Pegelstände (Quelle: ARD-Videotext)

14.8. 15.8. 15.8. 16.8. 17.8. 18.8. 18.8. (6 Uhr) (6 Uhr) (20 Uhr) (18 Uhr) (10 Uhr) (6 Uhr) (16 Uhr)

Usti 777 1020 1060 1183 1109 1033 898Schöna 736 980 1095 1195 1165 1036 965Dresden 695 755 846 925 939 895 847Torgau 755 775 784 847 914 945 931Wittenberg 552 616 623 634 660 696 708