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STRASSEN-KUNST Warum eigentlich ist das belgische Städtchen Mons Europas Kulturhauptstadt 2015 geworden? Vielleicht auch, weil es so humorvolle Bürger hat. Hier zeigen sie ihre ganz eigene Version von Google Street View – als Mischung aus Satire und Kunst. KULTUR Mons RUE D’HAVRÉ (50°27’14.0“N, 3°57’23.1“E) Bis hierhin und nicht weiter: Da die interaktive Karte nicht endlos ist, ließen sich die Bürger von Mons kreative Szenen für Begrenzungen und Sackgassen einfallen. 40 © Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an [email protected].

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STRASSEN-KUNSTWarum eigentlich ist das belgische Städtchen Mons EuropasKulturhauptstadt 2015 geworden? Vielleicht auch, weil es so

humorvolle Bürger hat. Hier zeigen sie ihre ganz eigene Versionvon Google Street View – als Mischung aus Satire und Kunst.

KULTUR Mons

RUE D’HAVRÉ (50°27’14.0“N, 3°57’23.1“E)Bis hierhin und nicht weiter: Da die interaktive Karte nicht endlos ist, ließen sich die

Bürger von Mons kreative Szenen für Begrenzungen und Sackgassen einfallen.

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RUE DU GOUVERNEMENT (50°27’19.8“N, 3°57’29.4“E)Lackschonende Gummi-Attacke: In dieser Straße wurden alle Autos mit Saugglocken

angegriffen – auch der Wagen von Kameramann und Filmer Bram Goots.

Foto

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Ein Hirsch steht in goldgelbem Licht mitten in einer Gas-se, roter Dampf quillt aus dem Fenster des Gerichts, Frau-en schwebenwieMary Poppins an Regenschirmen durchdie Luft: Szenen, die auf den Straßen vonMons entstan-den sind, der kleinen Stadt im Südwesten Belgiens,94000 Einwohner, mitten imKohlegürtel des Landes. DieRegion ist nicht als großes Ausflugsziel bekannt, seitdem Ende der Zechen ist die Nato hier der größte Arbeit-geber. Das alles qualifiziert Mons nicht gerade als Euro-pas Kulturhauptstadt.

Trotzdem bekam das belgische Metropölchen dieAuszeichnung, gemeinsam mit dem tschechischen Pil-sen. Das hat mit der Historie der Stadt zu tun: Allein drei

Stätten in Mons gehören zum Unesco-Weltkulturerbe:Feuersteinminen aus der Jungsteinzeit, der Glockenturmund das folkloristische Volksfest. Dazu kommt Vincentvan Gogh -- der Maler hat hier seine Lehrjahre verbracht.Fünf neue Museen sollen in diesem Jahr eröffnen, dasKongresszentrum von Daniel Libeskind steht bereits.Mehr als 300 Veranstaltungen hat die Stadt geplant. Daslässt man sich 68 Millionen Euro kosten.

Das amüsanteste Projekt ist indes bereits realisiert.All die bunten Fotos und Szenerien auf diesen Seiten ent-standen für „Mons Street Review“. Das Projekt ist eineParodie auf Street View, Googles globale Straßendiashow.Als die Autos des amerikanischen Konzerns Ende 2011

RUE DES DROITS DES HOMMES (50°27’24.2“N, 3°57’28.8“E)Das Gericht und die Toilette: Kritik an der globalen Justiz

in der Straße der Menschenrechte.

RUE MARGUERITE BERVOETS (50°27’17.3“N, 3°56’59.0“E)Im Meer aus Plastik: ein Mädchen des Karnevalsvereins.

Die Axt bezieht sich auf eine Legende der Stadt.

PLACE DU PARC (50°27’29.3“N, 3°57’08.7“E)Schirm-Herrschaft: Die Damen sollten an Schreibtischen in denBäumen sitzen. Doch der Regen erforderte Improvisation.

PLACE LÉOPOLD (50°27’12.8“N, 3°56’34.8“E)Aus Mons wird „Snow“: Vor dem Bahnhof setzte sich auch

Regisseur Ludovic Nobileau (Mitte) in Szene.

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Christian Wermke

RUE DES MARCOTTES (50°27’28.2“N, 3°57’15.4“E)Taxipaddler trifft Mary Poppins: Weiter hinten folgen

Polizisten, Verbrecher und ein Pizzabote.

RUE VERTE (50°27’22.7“N, 3°57’17.4“E)Alles auf Grün: Die Künstler machten den Straßennamen

zum Programm -- und rollten einen Rasen aus.

mit ihren 360-Grad-Kameras auf dem Dach durch Bel-gien rollten, gab es dort ähnliche Proteste wie in Deutsch-land. Doch für Mons ist die Datenkrake noch bedrohli-cher: Im Nachbarort Saint-Ghislain, fünf Kilometer wei-ter, steht seit 2010 eines der drei großenGoogle-Rechenzentren für Europa.

In sechs Drehwochen lichteten die Bürger von Monsnun zehn Kilometer der Stadt neu ab, mit sieben Kame-ras, gedreht in alle Himmelsrichtungen. Die Aktion ist ei-ne Mischung aus Satire und anspruchsvoller Kunst. Daszeigt nicht zuletzt die präzise Planung: Mehr als ein Jahrlang konzipierte eine französische Künstlergruppe umLudovic Nobileau und Antonia Taddei den Dreh, am Set

waren dauerhaft zwölf Leute im Einsatz, 300 Einwohnerwirkten mit. Aus jeder Straße wurde ein Theaterstück, je-der Platz zur Kulisse. Am Ende ist daraus ein digitalesGesamtkunstwerk geworden -- auf www.streetreview.euist das Ergebnis zu sehen, am besten im Firefox-Browser.

„Die Bürger haben schnell begriffen, dass das Projektwie für sie gemacht ist“, sagt Nobileau. „Um die Geschich-te der Stadt realistisch zu erzählen, haben wir zum Bei-spiel ehemalige Bergleute vor die Kamera geholt.“ AuchFeuermänner, Karnevals- oder Sportvereine inszeniertenden neuen Blick auf die Stadt mit. Man könnte auch sa-gen: Mons hat sich von Google emanzipiert.

RUE DE LA BICHE (50°27’16.8“N, 3°57’21.8“E)Wild-Wechsel: Kommt man dem Hirsch in der interaktiven

Karte näher, verwandelt er sich in einen Esel.

RUE NEUVE (50°27’19.6“N, 3°57’09.1“E)Kulturkampf vor dem Theater: Anhänger vonvan Gogh und Renard gegen Warhol-Jünger.

KULTUR Mons

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