Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. 381-395

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    Stefan Muller D

    oohm

    Denken

    im

    Niem

    .

    andsland:

    Theodor W. Adornos biirgerliche Antibiirgerlichkeit•

    I.

    ,,Das Menschlichegerade

    (isl)

    das

    Verscltledene"

    Adorno Minima MoraliJJ

    Das Stilmittel der Paradoxie n der Titelformulierung ist mehr als modisches

    Mitmachen, weil

    die

    Person,

    um

    die

    es

    im folgenden geht, selbst ein Meister

    paradoxer Konstruktionen war. Ihm hatte

    es

    groBes Vergniigen bereitet,

    das en-

    ken nParadoxien gegen sei.ne postmodemen Liebhaber von heute zu verteidigen.

    Die Welt der Doxa durch das Eindringen in ihren meist doppelt geschiitzten

    Festungsbau vo.n innen

    her

    aufzusprengen,

    um die

    ,,inwendige Textur

    der

    Sache"

    zu erschlieBen, war geradezu das methodologische Programm von

    Adomos

    Phi

    losophie, das

    er

    auch fur seinen Modus der Gesellschaftsanalyse geltend gemacht

    hat.

    Er

    hat

    dieses Programm einer imrnanenten Kritik an kaum einem anderen

    Gegenstand so iiberzeugend verwirklicht, wie an

    dem

    sozialen Phanomenbereich

    der biirgerlichen

    Kultur.

    Da8 mit dem ,,

    Triump

    h der Kultur ( ..) deren Milllingen"

    (Adorno

    1970, S. 359)

    einhergeht, dail sie als biirgerlich-emanzipative Errungen

    schaft

    m

    Fortgang der biirgerlichen.Geschichte ausgespielt hat und nur noch

    a.ls

    leere Fassade fortbesteht,

    das hat

    er

    an

    unziiltligen Beispielen insbesondere

    der

    Musik und der Literatur, auch an der Bildung und der Sprache deutlich gemacht.

    Aber

    hat er das

    nicht, so ist zu fragen, in

    dem

    Bewu8tsein getan,

    da

    die dee

    einer biirgerlichen Kultur

    durch

    Kritik ihres Scheitems hindurch zu retten

    sei?

    Gerettet werden

    mu

    , weil

    er davon

    iiberzeugt war,

    da der Zustand

    des vollen

    deten Kulturzerfalls

    der

    Zustand dervollendeten Barbarei ist? ,,Heute droht falsche

    Abschaffung der Kultur, ein

    Veh

    ikel der Barbarei", schreibt

    er n

    der l.sthetischen

    Theorie (1972, S. 474). Folglich sind Gedichte auch nach Auschwitz geboten, die

    auf ihre Weise ,,den gJ SChichtlichen Stundenschlag" festhalten, und zugleich isl

    mehr als

    nur

    Lyrik notwendig.

    Solange

    die

    Subjekte

    n in r zur

    systemischen Objektivitat erstarrten Gesell

    schaft

    zum

    falschen Leben verurteilt sind,

    mu

    die Negativitat des Geschichts-

    • Dieser Essay ist Teil ~ines Forschungsprojekts iiber die Alctualitat TheodorW. Ador

     os

    gefordert

    v

    on der

    DFC.

    kh

    danke

    den

    Mitarbeitem

    der

    Forschungsgruppe

    fiir

    wertvolle Ratschllige.

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    382 Stefan Miiller Doohm

    verlaufs

    mit der

    Deutlichkeit extrem iibersteigender Darstellungsmittel vor Augen

    gefii.hrt werden, sowohl in der Philosophie und Gesellschaftstheorie mit den Mil·

    teln

    des

    Begriffs

    und

    der diskursiven Erkenntnis, als auch

    in der

    Kunst mit

    den

    Mitteln

    der

    asthetischen Verarbeitung. Denn das in

    der

    Geschichte ,,perennierende

    Leiden

      ,

    so heiGt es in der NegatiVl n Dialek.tik, ,,hat in Recht zum Ausdruck

    (1970,

    S.

    355). Die

    Sphire

    fiir dieses Recht

    zum Ausdruck ist die der

    Kultur, in

    deren

    Zentrum

    die

    Kunst steht. Hier muG jede Moglichkeit ergriffen werden, die auch

    noch in der ,,zivilisierten Barbarei  besteht, die Katastrophe eines Scheiterns der

    Kultur im ProzeG der Entfaltung ihrer eigenen Widerspriichlichkeit zu bekunden,

    so

    wie das aus Adomos Sicht

    am

    konsequentesten Samuel Beckett

    im

    Bereich

    seiner Oramatik

    und

    Prosa getan hat (vgl. Tiedemann 1992; Adorno u.a. 1992).

    Adorno selbst hat dazu das Mittel der Kritik als bestimmter Negation ent-

    wickelt. Negation entspricht seinem Konzept

    von

    Dialektik. Diese Dialektik hat

    ihm

    zufolge ,,ihren Schauplatz in

    der

    Spannungzwischen

    der

    Einsicht in die ganz

    unmogliche Darstellung eines richtigen Lebens und zugleich des BewuGtseins

    davon, wie es sein konnte  (Adorno 1973, S. 133 ; vgl. Ritsert 1997, S. 147

    ff.).

    Wie

    in

    Adomos

    Werk diese Spannung ausgetragen wird: Die Antin.omie, die zwischen

    der

    These

    der

    NichtdarsteUbarkeit

    der

    vemunftigen Einrichtun.g

    der

    Gesamtge

    sellschaft und dem Postulat eines Festhaltens an den Moglichkeitshorizonten der

    Modeme

    besteht, diese Antinomie soil in holz.schnittartiger Manier an einem

    zentralen Kritikbeispiel diskutiert werden: seiner Kritik

    an der

    Kultur,

    die er

    komplementar entfaltet

    hat zu

    r Kritik

    an der

    Vemunft,

    der

    Sprache

    und

    des

    Subjekts - alles selbst wieder konstitutive Momente biirgerlicher Kul

    tu r

    .

    Vor dieser Auseinandersetzung rnit Adornos grundsatz.licher Kritik

    an der

    Kategorie der biirgerlichen Kultur - ein Projekt, das sich von dem der Kulturkritik

    a la Spengler und Ortega y Gasset grundsatzlich unterscheidet - sollen einige

    Schlaglichter

    auf

    d ie Herkunft des Frankfurter

    Ge

    lehrten geworfen werden,

    1

    der

    zweifellos zu den bedeutendsten Gestalten des 20 . Jahrhunderts gehort. Seine

    friihe Sozialisation hat ihn,

    so

    meine These,

    zum

    natiirlichen Verbundeten

    der

    Kultur des fortschrittlich-liberalen Biirgertums gemacht. Folglich stellt s i

    ch

    d ie

    Frage, wie

    wurde

    er zu ihrem geschworenen Feind? Und wie hat sich diese

    Feindschaft in seinen theoretischen Reflexionen manifestiert?

    1 Weil mein kurzer Riickblick aufAdomos lebensgeschichtliche Erfahrungen im biirger

    lichen Eltemhaus

    u

    MiBverstlndnis nahelegen konnte, hier solle eine kausale Bezie

    hung zwischen Person und Werk konstruiert werden, sei folgendes klargestellt: s

    kann keinesfallsdarum gehen, aus sei es biographischen, s~ es historischen Oaten d ie

    Kritik Adomos llJ I der Gesa.mtheit der burgerlichen Welt herzuleiten. In einer im

    Adomo--Archiv vorliegenden unveroffentlichten Notiz (1S

    52027

    heiBt es: ,,Texte

    erschlieSen

    nach S..che und Wah rheitsgehalt sich in

    der

    Zeit unabhiingig vom Willen

    derer, die sie verfaBten, und es vermllgen dabei Momente aus ihnen hervortreten, die

    nur

    hochst vermittelt

    zu

    dem urspri.lnglich Gedachten stehen ( ..) . Skepsis mu8

    folglich jener Biographik gelten, die au.s dem Leben des Gelehrten die lnluilte seines

    Werks zu deuten versucht.

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      dornos biirgerliche nlibiirgerlichkeit 383

    II

    dorno wiichst

    im

    Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende im groBstiidtischen

    Kulturraum

    der

    prosperierenden Metropole

    am

    Main

    auf

    - innerhalb einer ganz

    und gar intakten Familie, die in geradezu idealtypischerweise die biirgerlichen

    Merkmale von Wirtschaft

    und

    Geist miteinander vereint. Sein Yater repriisentiert

    den

    fiir die Kaufmanns-

    und

    Handelsstadt charakteristischen Besitzindividua1~

    mus

    . Das daraus resultierende okonomisch fundierte SelbstbewuBtsein, gepaart

    mil Weltlaufigkeit und britisch inspirierter Toleranz, scheint sich dem Sohn a1s

    eine selbstverstiindliche Ha

    ltung

    vermittelt zu haben.

    Die aufffillige Begabung des privilegiert aufwachsenden Einzelkindes diirfte

    in erster

    Linie

    auf den

    kunstlerischen

    EinfluB

    seiner ,,beiden Mutter'' zuriickgehen.

    ls

    ehemalige Sangerin die eine, die leibliche Mutter,

    al

    s Konzertpianistin die

    andere, die Schwester

    der

    Mutter, machen sie

    den

    Heranwachsenden mit

    der

    Sphare

    der Mus

    ik vertraut

    und

    schaffen

    fiir

    ihn eine Atmosphiire

    der

    vollstiindigen

    Geborgenheil Im Rii.ckblick erinnert sich der DreiBigjahrige, daB zu Hause ,,wenig

    aus der sinfonischen und kammermusikalischen Literatur (war), was nicht ins

    hausliche Leben einbezogen ware (1982, S. 303). Dieser friihen Liebe

    zur

    Musik

    des Biirgertums korrespondiert eine

    enge

    Affinitat

    zum

    biirgerlichen Geist des

    18

    . Jahrhunderts. Adorno war davon iiberzeugt, dais dieser Geist in Beethovens

    musikalischem Werk zu einem seiner

    Hohepunk

    te kommt, weil es seinem Wesen

    nach

    ,,Statthalter

    des

    Gesamtsubjekts

    sein

    will

    und

    sich doch zugleich thematisch

    der gesellschaftlichen Spannungen und Gegensiitze bewuBt zu werden vers11cht.

    Gerade das Medium der Musik ist

    domos

    spaten soziologischen Analysen

    zu·

    folge Trager ei

    ner

    paradoxen Gleichzeitigkeit von

    Bii

    .rgerlichkeit

    und

    Antibiirger

    lichkeit (1973a, S. 240 ff. 411 ff . .

    Mit

    dem

    Nimbus

    des

    Kiinstlertums, insbesondere

    der

    musikalischen Szene,

    kommt Adorno in friihen Lebensjahren nicht zuletzt

    durch

    die Aufenthalte in

    dem

    kleinen Stadtchen Amorbach

    im

    Odenwald in Beriihrung,

    wo die

    Familie

    haufig

    die

    Ferien verbringt. Oberhaupt pflegt die Familie des angesehenen Frank

    furter Weinhandlers Wiesengrund einen regen Kontakt

    mit

    Musikem, Malern,

    Literaten,

    was dazu

    beitragt, daB Elemente des Lebensstils

    der

    Boh~me ein Ge

    gengewicht gegen

    die

    Formen der Bi.irgerlichkeit bilden.

    domos

    intensiver Kind

    heitswunsch, Kunstler

    zu

    werden, mag

    du

    .rch diese Erfahrungen mitbedingt sein,

    aus

    der

    sich clie spatere Anziehungskraft des jungen Musikkritikers

    zur

    Berliner

    und

    Wiener Boh~me erkliirt.

    2

    Von

    jener personlichen Bekanntschaft mit Kiinstlem

    und

    Musi

    kem

    ,

    die

    der junge Wiesengrund in

    der

    siiddeutschen Kleinstadt Amor·

    bach macht, ist er fasziniert, eine Faszination, die sich noch den spateren Erinne

    rungenmitteilt: ,,Tatsacl\lich kamich mit derSphiire Richard Wagners in Amorbach

    2 Das hat Adorno nicht davon abgehalten, sich spater aullerordentlich kritisch

    mit

    derartigen Strllmungen, insbesondere

    der

    Oekadenz, auseinanderzusetzen (vg

    l. 19n

    s. 354 ff., 465 ff.; 1977, s. 499

    ff.

     .

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    Stefan Miiller Dooltm

    in Beruhrung. Dort hatte - in einem Anbau an den Konvent - der Malet Max

    Rossmann sein Ateliei-; oft

    waren

    w

    ir auf der

    Terrasse nachmittags bei

    ihm zum

    Kaffee. Rossmann hatte Dekorationen fur Bayreuth geiertigt. Der eigentliche Wie

    derentdecker von Amorbach, brachte er Sanger des Festspielensembles dorthin.

    Etwas von dem iippigen Lebensstil mit Kavia r und Champagner teilte sich der

    Post mit, deren Kiiche

    und

    Keller iibertrafen, was man von e

    inem

    landlich

    en

    Gasthof hatte e.rwarten diirfen" (1977,

    S.

    303 f. .

    Vor dem

    Hintergrund einer kul

    turellen Mischform van faszinierend-boh~mienhaften, exklusiv-aristokratischen,

    souveran-biirgerlichen und traditionalistisch-bauerlichen Lebensweisen konkre

    tisiert sich fur Adorno die Erfahrung

    der

    unaustauschbaren Bestimmtheit

    und

    Einzigartigkeit des Ortes als ein Ort innerer Vielfalt, ja der Uneindeutigkeit: der

    Streifen Niemandsland, das zwischen der bayerischen und der badischen Grenze

    damals

    in

    der

    Umgebung Amorbachs verlief, vermittelt

    dem

    Heranwachsenden

    einen konkreten EindJ"uck von der Existenz im Dazwischen.

    3

    Dieses Leben in und milder Differenz, diese Anerkennung des jeweils Anderen

    in seiner Unverwechselbarkeit ist die friih sich aufdrangende Grundidee, die

    er

    iir eine richtige Gesellschaft geltend macht: ohne Angst verschieden sein zu

    konnen (1980,

    S. 114

    ). Diese Maxime bedingt den Widerstand gegen jenen Kon

    formismus, den das zur Herrschaft gelangte Biirgertum zur allgemeinen Tugend

    erklart. Mit

    der

    Einsicht,

    da

    eine

    mit

    Angst verschwisterte lndifferenz

    zur

    Fried

    hofsruhe burger ichen Pietismus fiihrt, trennen sichdie Wegezwischen Biirgerkind

    und intellektuellen Leidenschaften. Adorno nimmt slch denn

    in

    enenJugendjahren

    die

    Wildsau aus

    dem

    Gehege im

    Odenwald

    zum

    Leitbild,

    di

    e ihrer Zahmheit

    iiberdriissig wird und im rasenden Angriff davontragt, was

    ihr

    mi8fallt.

    Diese familiale Konstellation eines wirtschafts-

    und

    biJdungsbiirgerlichen Le-

    benszusammenhangs, die fiir

    Adomos

    intellektuelle Biographie die Bedeutung

    eines mikrokulturellen Weichenstellers hatte, ist

    das

    Spiegelbild jener burgerlichen

    Kleinfamilie, der Max Horkheimer in seiner Schrift ,,Autoritat

    und

    Familie" eine

    gewisse Resistenzkraft gegeniiber

    der

    Unmittelbarkeit gesellschaftlicher Zwange

    zuerkannt hat (Horkheimer 1968, S. 345

    ff. .

    Er konstatiert,

    da

    dieser

    von

    ,,mut-

    tedicherSorgen gepragte Familientypus trotz aller Abhangigkeitsverhaltnisse und

    autoritarer Strukturen ein Ort war, ,,wo sich Leid frei ausgesprochen

    und

    das

    verletzte Interesse der Individuen ein Hort des Widerstandes gefunden

    hat

    ( ..).

    Die Entfaltung und das Gluck des anderen wird in dieser Einheit gewollt. Dadurch

    entsteht

    der

    Gegensatz zwischen

    ihr und der

    feindlichen Wirklichkeit

    und die

    Familie fiihrt insofern ( ..)

    zur

    Ahnung eines besseren menschlichen Zustandes"

    (ebd.).

    Eine solche Ahnung

    hat

    sich Adorno

    durch

    die kulturell vielgestaltige Lebens

    praxis seines Elternhauses vermittelt. Denn er hat die Kindheit

    in der

    biirgerlichen

    Familie als Zeit

    des

    vollstandigen Gliicks

    in

    Erinnerung. Spat

    er

    spricht er

    von

    3

    Dall

    d ese Denkfigur-des Niemands.landes

    fu

    r Adorno zentral ist,wird dadurch belegt,

    daB er die authentische Kunst an diesem Ort ansiedelt;

    er

    steht

    steHvertTetend

    .,fur d

    ie

    bewohnbare Erde~

    1972, S. 67).

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      dornos il

    r

    ger

    li h~ nti il rgerli hl til 385

    dem

    Gefuhl, da.G das, ,.was man im Leben realisiert, wenig anderes ist, als

    der

    Versuch, die Kindheit verwandelnd eiru.uholen (1986,

    S.

    395) . Dieser fur Adorno

    ungewohnlich positive Riickbezug auf

    den

    biirgerlich·liberalen Erfahrungszusam·

    menhang

    der

    eigenen Familie

    und

    die

    ,,Erinnerungsspuren

    der

    Kindheit,

    die

    schei

    nen, als ob allein um ihretwillen zu leben sich lohnte 1986,

    S.

    287), dieser

    Riickbezug kann als Hinweis verstanden werden, daB diese begliickende Erfah

    rung eine Quelle fiir seine ldentifikation mit den groGen musikalischen Werken

    des friihen und spatm Biirgertums sowie mit

    den

    humanistisc

    hen

    Ideen eines

    aufgeklarten Mensche:ngeschlechts, eines vemiinftigen Gesamtsubjekts ist. Dieser

    Riickbezug ist aber auch

    der

    Grund fiir die Verinnerlichung jener hergebrachten

    Formen biirgerlicher Lebensweise, in

    die

    er, wie er selbst sagt, mil einer gewissen

    Fiigsamkeit hineinwuchs, getragen

    von den

    Anregungen jenes auGergewohnlich

    kunstsinnigen

    und

    kulturell aufgeschlossenen Eltemhauses. Die Verinnerlichung

    der

    asthetischen Ernmgenschaften der biirgerlichen Epoche und ihres ,,Glikkver·

    spreche.ns isl Adomos eigener Aussage zufolge die notwendige Bedingungdafur,

    aus der lmmanenz heraus -

    es

    gibt fiir ihn keinen anderen

    Weg

    - eine kritische

    Distanz zu den Manifestationen des biirgerlic

    hen

    Geistes zu entwickeln.

    Hingegen bleibt d ie biirgerliche Lebenspraxis eine Konstante in Adomos wech·

    selvoller Biographie, die zeitgeschichtlich verschiedene Epochenbriiche umfaBt

    hat wie

    den

    Zerfall dee Wilhelminischen Ara mit

    dem

    Ende des ersten Weltkrieges,

    die

    Zwanziger Jahre der Weimarer Republik,

    den

    Paschismus, die Emigration, die

    Restauration

    der

    Nachkriegsjahre sowie die Reformphase

    der

    Bundesrepublik.

    ln

    eindringlicher

    We

    ise wird dieser beha.rrlich beibehaltene Lebensstil solider Biir

    gerlichkeit

    von

    einer imponierend breiten Brief-Korrespondenz bezeugt, die er

    ein Leben lan.g a.ls jenes biirgerliche Medium des intensi

    ven

    Gedankenaustauschs

    in eindrucksvoUer

    We

    ise leben

    dig

    gehalten

    hat

    , wie

    es

    im 18. Jahrhundert von

    Reprasentanten gebildet

    er

    Schichten praktiziert wurde, wie beispielsweise von

    Lessing, Wieland, Goethe und Schiller (vgl. Nickisch 1991; Benjamin 1967) . Nicht

    zuletzt hinsichtlich ihrer formal-stilistischen Sprachmittel z.B . hinsichtli.ch

    der

    Hoflichkeitsfl

    os

    keln, d iplomatischen Wendungen) sind

    die

    umfangreichen Brief·

    wechsel Adomos etwa mit Max Horkheimer und Walter Benjamin, mil Alfred

    Sohn·Rethel

    und ms·t

    Krenek aufschluBreiche Belege

    ur

    den bildungsbiirgerli

    chen Habitus,

    den

    er

    auch wahrend

    der

    komplizierten, teilweise existentiell

    druck.enden Emigrationsjahre in England und in

    den

    USA aufrechterhielt, nicht

    zu.letzt als bewuBte SeJbstvergewisserung der eigenen kulturellen ldentitiit des

    Entwurzelten. ,,Wer keine Heimat mehr hat, dem wird wohl

    gar das

    Schreiben

    zum W

    ohnen

    ,

    so

    heHlt

    es

    in

    der

    in

    i

    m

    ora

    l

    ia

    (1980, S.

    196).

    DaB

    Adorno sich nach einigem Zo

    gem und

    vollzogener EheschlieBung 1938

    zum

    Ex.ii

    in

    die USA

    entschlieGt, nachdem

    ihm

    Horkheimer brieflich zusichert,

    es

    gabe in Amerika ,,Mogiichkeiten, daB Sie und Gretel wirklich groBbiirgerlich leben

    konnen  (Horkheimer 1995, S. 342), bezeugt unter einem andecen, heute vielleicht

    anekdotisch erscheinenden Aspekt eine Attitude, die einer arrivierten Lebensweise

    entspringt. Sie

    war

    - freilich frei von Arroganz und elitarem Gestus - fiir Hork·

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    6/15

    386

    St

    efan

    Miiller-Doohm

    heimer nicht weniger als i ir Adorno selbstverstandlich, ihnen in Fleisch und Blut

    iibcrgegangen. Weil sie sich aber als

    lnt

    ellektuelle vom Scheitel bis zur Sohle

    Rechenschaft iiber diese bi.irgerliche Existenzweise geben

    und

    Adorno beispiels

    weise iiber ,,das delikate Gleichgewicht von Korrektheit und Unabhangigkeit 

    (1980, S. 213) reflektiert, hat die eher intro- als extrovertierte Erscheinungsweise

    des Bi.irgerlichen keineswegs den Anstrich des Dekadenten

    ode

    r gar der blinden

    Anpassung an

    den

    Comment, von demonstrativer Wohlanstandigkeit

    und

    eilfer

    tigem Benimm. Man macht

    es

    sich eben

    nicht

    ,,schwer, der zu sein, der man ist

    (ebd.). Vielmehr erklart sich aus dieser Souveranitiit der Ruf des jungen Adorno,

    er sei

    in

    seinem Auftreten in Frankfurt und Wien der 20er ahre snobistisch ge

    wesen. Aber, so bekennt er

    in

    den

    inimal oralia 

    ,,daS das sich selbst veran

    staltende Leben nicht Mehr als Leben sei, kommt zutage an

    der

    Langeweile

    der

    Cocktail Parties (

    .

    . (ebd.).

    Adomos

    Affinitat

    zur

    aristokratischen Lebensform,

    von der

    geme

    mit Hiime berichtet wird, ist nicht nur gesuchte Nahe zur adligen

    Herkunft

    der

    Mutter, einer della Piana, sondern Ausdruck seiner Aversi

    on

    gegen

    jenen biirgerlichen Kleingeist, von dem

    er

    dachte, er stiinde im Gegensatz zur

    Gelassenheit und GroBzugigkeit einer Aristokratie, trotz -

    oder

    wegen - ihrer

    sozialen Position als

    minorita.rer Schicht. ,,

    Was zu den

    Aristo

    kra

    ten zieht

    und

    manche von ihnen zu den lntellektuellen, ist fast tautologisch einfach: da8 sie

    keine Burger

    sind

    (1977, S. 429).

    Diese Aversion

    gegen den biirgerlichen Kleingeist

    4

    isl ein Hinweis darauf, da8

    die

    Selbstverstandlichkeit einer biirgerlichen ldentitiit

    im

    auBeren Auftreten

    mit

    einer

    anderen

    Selbstve.rstandlichkeit kontrastiert:

    der

    Radikalitat

    der

    Kritik sowohl

    an dem biirgerlichen Prinzip der Konkurrenz, der Okonomie de r kapilalistischen

    Warenproduktion, in der ,,alles nur fiir anderes ist, als auch an seiner Kritik der

    biirgerlichen Moral

    und

    ihren asketischen Tugendlehren .Was Horkheimer

    in

    dem

    fur diesen thematischen Zusammenhang wegweisend

    en

    Aufsatz mit dem Titel

    .,Egoismus und Freiheitsbewegung  von 1936 auf philosophisch-theoretischer Ebe

    ne an beillend-scharfsinniger Kritik an der Verponung von personlichem Genu8

    und individuellem Gluck geleistet hat (Horkheimer 1968, S. 1

    ff.),

    setzt Adorno

    auf seine Weise in den drei Teilen der inima oralia fort:

    ,,

    Was immer am

    Biirgerlichen einmal gut und anstandig war, Unabhangigkeit, Beharrlichkeit, Vor-

    ausdenken, Umsicht, istverdorbenbis ins lnnerste.Denn wahrend diebiirgerlichen

    Existenzformenverbissen konserviert werden,

    ist

    ihreokonomische Voraussetzung

    entfallen. Das Private ist heute vollends ins Privative iibergegangen, das

    es ins·

    geheim von je war, und ins sture Festhalten am je eigenen lnteresse hat sich die

    Wut eingemischt, daB man

    es

    eigentlich ja doch nicht mehr wahrzunehmen ver

    mag, daB es

    anders

    und besser moglich ware. Die Burger haben ihre Naivetat

    verloren und sind da riiber ganz verstockt und bose geworden (1980, S. 37).

    4

    Kl

    einburger sind Adorno zufolge Personen, die stur auf der Partikularitat iluer lnter

    essen bestehen, denen der Blick fur das Ganze in seiner Geschichtlichkeit ebenso

    abgeht wie lronie.

    m

    Biedermeier hat diese Disposition von Gemiitlichkeit und

    e-

    haglichkeit, von Sentimentalitat und Enge, hat das ..Glu

    ck

    im

    Winkel

    in besonders

    deutlicher Form Gestalt angenommen.

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    7/15

    Adornos burgerliche

    n

    iburger ichkeit

    387

    Dennoch gibt es keinen Zweifel: Adorno

    war

    seinem Naturell und seiner

    Erscheinung nach, ohne

    den

    Schutz einer

    Ma

    ske

    zu

    suchen, ein Reprasentant

    der

    von ihm ruckhaltlos kritisierten biirgerlic

    hen

    Kultur, von

    der er

    sich

    im

    klaren

    war,

    da8

    sie,

    wie

    gro8e Musik, iiberhaupt nur in einer ,,beschrankten Periode der

    Menschheit moglich

    war

    197

    2,

    S. 13).

    Weil er

    um die HinfaUigkeit

    der

    Tradition

    wuBte, weil ,,die Male der ZerTuttung (

    ..

    ) das Echtheitssiegel

    von

    Moderne  (ebd.,

    S. 41) sind, gilt sein lnteresse jenen biirgerlichen Intellelctuellen, die

    den

    Zerfall

    und

    die

    widerspriichliche Verfassung

    des

    Burgertums innervieren. Gestalten wie

    bei

    sp ielsweise

    Maup

    assant, Edgar Allen Poe, August Strindberg, Grenzgangern

    der Moderne wie Charles Baudelaire, Marcel Proust, Paul Valery, Franz Kafka und

    natiirlich

    den

    musikalischen Erneuem Anton

    von

    Webern, Arnold Schonberg

    und

    Alban Berg. Diese asthetische

    Or

    ientierung Adornos an

    den

    dissonanten und

    asozialen Moment

    en

    burgerlicher Kultur

    und

    Asthetik befordert eine ganz eigen-

    standige soziale Pos itionierung, die

    von der

    Einsicht getragen ist, ,,da.a die Rang-

    ordnung des Geistes, falls so etwas exi.stiert, unvereinbar ist mit

    der

    des auBeren

    Lebens  (1974, S. 338). Die unburgerlichen Dispositionen, d ie Adorno in seinern

    Portrait des

    von ihrn bewund.erten Bildungsburger Thomas Mann zu entdeclcen

    glaubt, diese unburgerlichen Merkrnale sind nichts anderes als versteclcte Selbst-

    zuschreibungen: die Antinomi.e zwischen Burgerexistenz und Kunstlertum,

    der

    Selbstschutz durch den Wechsel von Sachlichkeit des Ausdrucks

    und

    lronie, die

    Diskontinuitat

    der

    bildungsburgerlichen Lebensfiihrung, die mit Eigensinn ge-

    paarte Bereitschaft zur Einsarnkeit,

    der

    Widerwille gegen Konformisrnus. Auch

    ,,die Sehnsucht nach Applaus gilt fur Adorno selbst,

    der

    auch uber sich hatte

    sagen konnen: .,Dem Affekt der Freude und des Schmerzes

    war er

    fast schutzlos

    ausgeliefert, ungepanzert 1974, S. 342).

    Adorno ist weit davon en.tfernt, fur seine Lebenspraxis die burgerlichen Tu·

    genden strikter Selbstdisziplin, buchhalterischer Rechenhaftigkelt

    und

    des kon-

    servativen Bewahrens geltend zu rnachen. Im Gegenteil: n

    die

    Stelle des ge-

    schichtlich uberholten Gegensatzes zwischen Wirtschaftsburgertum

    und

    Bildungs-

    burgertum (vgl. Bollenbeck 1994, S. 193

    ff.

    tritt bei ihm als dritte Kategorie

    die

    Einsamlceit des lntell~tuellen,

    der

    freilich ,,die Schwerkraft des Burgerlichen in

    ihrn

    selber  lceineswegs leugnet (1980, S. 27), aber gerade deshalb sich den Herr-

    schaftsanspriichen der Bourgeoisie e enso

    en

    tzieht wie er Distanz wahrt zur Vor·

    machtsowohl kleinbiirgerlicher als auch proletarischer Massenbewegungen.Ador-

    no

    spricht in diesem Zusammenhang von

    de

    r Kalte des Intellektuellen, die von

    der

    biirgerlichen Kalte nicht

    zu

    unterscheiden ist. Sicherlich

    mit

    Ruckbezug auf

    die eigene Person bezeichneter die Intellelctuellen als die letzten Burger, die doch

    zugleich ihre Feinde sind. Der Distanziertheit und Isolation des lntellektuellen

    korrespondiert

    die

    soziale Marginalitat seines Tuns. Hierfur hat er bekanntlich

    schon

    zu

    Beginn der 40er Jahre die Metapher der Flaschenpost gepragt.

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    8/15

    388 Stefan Muller  oohm

    III

    Weil Adorno

    der

    biirgerlichen Kultur

    der

    Modeme verhaftel war, weil er

    aus

    der

    Emphase ihres Selbstverstandnisses heraus als Philosoph gedacht hat, konnle er

    sich gleichsam selbst mit seinem drastischen Postulat provozieren, ,,nach

    Auschwitz ein Gedichl zu schreiben, isl barbarisch (1977, S. 30). Aber diese

    in

    der

    Tat uniiberbietbare Skepsis im Hinblick

    auf

    biirgerliche Kullur (Seel 1985) isl

    weil

    entfemt

    von

    dem

    Nihilismus

    der

    Tabula rasa, eines Nihilismus,

    der die

    Ausdrucksgestalten der biirgerlichen Epoche leichten Herzens auf den freilich

    zum

    Himmel wachsenden Triimmerhaufen

    der

    Kalastrophengeschichtewirft. Wie

    Walter Benjamins geschichtliches Eingedenken

    das von

    der Fortschrittsdynamik

    ,,Zerschlagene zusammenfiigen will (Benjamin 1980, S. 697), so legt Adornos

    Kritik an

    der

    Kultur dieser Gesellschaft den Finger

    auf

    die durch eindringliches

    Hinsehen wahrgenommene Wunde, um durch Schmerzerfahrung iiberdeutlich

    spur· und sichtbar zu machen, welche Anspriiche historisch gescheitert sind. ,,Da8

    die

    Kultur bis heute mi8lang, isl keine Rechtfertigung dafi.ir,

    i r

    Mi8lingen zu

    befordern, indem man wie Katherlieschen noch

    den

    Vorral an schonem Weizen

    mehl iiber

    das

    ausgelaufene Bier slreut (1980, S. 49) .

    5

    Es isl fraglich, ob man

    in

    diesem Zusammenhang vom rettenden oder erlosendem lmpuls seines radikalen

    Negativismus sprechen kann (Wellmer 1985; Brunkhorst 1990). Vielmehr isl am

    Gegenstand dieses Mod-us

    von

    Kritik an

    der

    Widerspriichlichkeit biirgerlicher

    Kultur Adomos philosophisches thema probandum

    z-ur

    Diskussion

    zu

    stellen,

    datl sich ,,die Gewall bestimmter Negation als die einzig erlauble Chiffre des

    Anderen (1972,

    S.

    341) erweist.

    Welchen Stellenwert hat die Kultur in

    der

    Modeme? Die Beantwortung dieser

    Frage setzt Einblick in ihre Beschaffenheit voraus. Die fortgeschrittene biirgerliche

    Gesellschaft isl in ihrer okonomischen Grundstruktur eine kapitalistische Gesell

    sch

    aft - dies ist

    der

    Ausgangspunkl

    von

    Adornos GeseUschaftsanalyse.

    ln

    dieser

    Gesellschaft isl alles und jedes Ware, alles und jedes

    zum

    Tausch bestimmt. Das

    gilt fur das lndividuum,

    das

    sich als Personlichkeit vermarkten mu8, und ,,

    wer

    noch we

    il ,

    was

    ein

    Gedicht ist, wird schwerlich eine

    gut

    bezahlte Stellung als

    Texter finden (1972a,

    S.

    101

    f. .

    Das gilt

    fur e

    Sprache, die als kommunikalives

    Mittel zur ,,Anprei

    sung des

    Gedankens geworden isl,

    der

    sich in

    der

    Konkurrenz

    des

    Kommunikationsmarktes durchsetzen

    mu

    (Horkheimer Adorno

    1947,

    S. 5).

    Das gilt fiir Bildung und Kunst,

    die

    zu integralenBestandteilender Kulturinduslrie

    geworden sind: Afs Halbbildung und Kunstgewerbe laufen sie

    auf

    Regression

    hinaus .,Kulrurindustrie ist zugeschnitten

    auf

    die mimetische Regression, aufs

    Manipulieren der verdrangten Nachahmungsimpulse

    (1980,

    S. 226 £.).

    S Analoges liiilt sich fiir die Vemunftkritilc sagen, die

    keineswegs,

    wie immer wieder

    behauptet wlrd, auJ eine definitive Preisgabe von

    Vernunft

    und Aufillrung hinaus

    laufl

    Die Vernunft

    krankt nicht, wie Adorno

    imme

    r wieder betont,

    an

    einem Zuviel,

    sondem an einem Zuwenlg der Vemunft (vgl. 1974, S. 121).

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    9/15

    Adornos iirgerliche

    nt

    ibiirgerlic 1ktil

    389

    Dabei verfolgt si.e die Strategie, die Akzept

    anz des

    lmmergleichen

    der

    Inhalte

    und Formen durch den Rezipienten vorwegzunehmen. Die industrielle Massen-

    produktion von Ku

    ltur

    nivelliert pseudodemokratisch den Unterschied zwischen

    Ernstem und Leichtem, zwischen hohen und niederen Kunstgattungen. Schon

    wenige Zeit nach Mozarts Z mbtrflote zerfiel tendenziell die

    Ei

    nheit

    von emster

    un

    d leichter Musik,

    und

    mit

    dem

    Burgfrieden zwischen E

    und

    U

    haben

    beide

    Spharen ihren Eigensinn eingebiiBt (vgl. 1973a, S. 17). Die schnittmusterartig

    schematisierten Produkte des sei

    es

    unterhaltenden,

    se

    i es erhebenden Genres

    der

    Programmmedien liefern fiir jeden das, was er will: nach

    dem

    Mechanismus

    von

    Angebot

    und

    Nachfrage. Diese ,,Flut praziser Information

    und

    gestriegelten

    Amu-

    sements witzigt und verdummt die Menschen zugleich (Horkheimer Adorno

    1947, S. 9). Deshalb schneiden die kulturindustriellen Produkte beispielsweise des

    Rundfunks

    oder

    des

    Fernsehers die Erfahrung mit den geistigen Gehalten von

    Musik und Literatur ab. Sic fiihren zur Fesselung der ilsthetischen Phan tasie. Die

    Kulturindustrie ,,plant das Gliicksbediirfnis eln und exploitiert es . Sie geniigt

    einem aus der ,,gesellschaftlich fortschreitenden Versagung hervorgehenden e-

    diirfnis und wird ,,durch ihre Art Gewilhrung ( .. )

    zum

    absolu t Unwahren (1972,

    s 461).

    Das geht auf Kostendes Wahrheitsmoments von Kultur iiberhaupt, das Adorno

    als biirgerliches Erbe zum Bezugspunkt seiner Kritik macht. Dieses Wahrheitsmo-

    ment ist das ,,Moment des

    An

    sich , die

    dem

    herrschenden Bewu.Btsein suspekte

    ,,Funktionslosigkeit (ebd., S. 465, 475 bzw. das, was ilber das System der Selbst-

    erhaltung

    der

    Gattung

    hinausweist. Den

    an

    sich konstitutiven Zusammenhang

    von Funktionslosigkeit und Kultur ersetzt die Kulturindustrie dadurch, da ihre

    Produkte funktional a

    uf

    nichts anderes als Wirk

    ung

    kalkuliert sind. lhre Effekte

    erreichen sie durch strikte Orientierung an den Bediirfnisdispositionen. Diese

    haben aber insofem fiktiven Charakter, als sie ihrerseitsTei I des kulturindustriellen

    lnszenierungsprozesses sind. ,,Kulturindustrie ist willentliche Integration ihrer

    Abnehmer

    von

    oben (ebd.,

    S.

    335). Diese Einschatzung

    hat

    ihre fast schon klas-

    sische Formulierung n

    de

    r

    Dialektik

    dtr

    Aujkliirung

    gefunden: ,,In der Tat ist es

    der

    Zirkel von Manipulation

    und

    riickwirkendem Bediirfnis, in

    dem die

    Einheit

    des Systems immer dichterzusammenschieBt  (Horkheimer Adorno 1947, S.145).

    Diese kleine Skizze einiger Grundeinsichten von Adornos Kulturindustrie-

    analyse kann an diese1' Stelle abgebrochen werden,

    we

    il dieser kursorische Riick-

    blick deutlich genug gemacht hat, daB seiner Einschiltzung zufolge in der vollen-

    de

    t

    en

    Moderne

    die

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    10/15

    390

    Stefan Mtiller Doohm

    das

    Licht

    der

    Welt erblickt,

    die aber

    ihrerseits bi.irgerlichen Ursprungs, Resultat

    des

    burgerlichen Emanzipationsprozesses ist (Luhmann 1996). Albrecht Wellmer

    konstatiert hier

    ein

    ,,traditionalistisches Vorurteil''

    des

    konsequenten Avantgardi-

    sten

    Adorno

    (Wellrne£ 1985, S. 41),

    Christoph

    Menke spricht vom puristischen

    Begriff asthetischer Negativitat,

    vom

    ,,asthetizistischen Erbe (Menke 1991,

    S.

    20 f.,

    28 ff. .

    6

    Zumindest

    drangt sich

    prima

    vista

    der

    Verdacht aui,

    da8

    Adomos anti-

    burgerlich radikalisierte Kritik

    durch

    einen normativen Rilckbezug begrilndet ist.

    Hat

    er seine

    Quelle

    im

    Kreis

    jener

    geschichtlich revolutioniiren ldeen,

    die

    t

    ragende

    Saulen

    der

    bilrgerlichen Kultur

    des

    Abendlandes sind?

    Obe.r die Imrnanenz

    der

    Kritik,

    die

    an

    der

    Kultur in dieser Gesellschaft geiibt

    wird, ilber

    das

    Gebundensein

    an

    ihren Gegenstand hat sich

    Adorno

    nicht die

    geringsten Illusionen gemacht. Vielmehr

    hat er

    versucht,

    die

    .se

    lmmanenz

    mil den

    Mitteln

    der

    Dialektik aufzubrechen.

    So

    wird de

    .r

    die

    Kulturindustrieanalyse lei-

    tende

    Gegenbegriff

    des autonomen

    Werkcharakte.rs von Kunst nicht schlicht als

    gilltige Kategorie einem geistigen Traditi

    onszusammenhang

    entnomrnen.

    lm

    Ge-

    genteil:

    Adorno

    gibt si

    ch wie

    kein

    anderer

    Rechenschaft ilber

    die

    Antinomien der

    Prinzipien der

    autonomen

    Gestalt

    des

    Asthetischen (Eichel 1993,

    S.

    225

    ff. .

    Seine

    Asthetische heorie kann als

    das

    Werk gelten,

    das

    versucht,

    die

    Verwobenheit

    von

    Recht

    und

    Unrecht, Wahrheit

    und

    Unwahrheit

    des

    Autonomieanspruchs

    der

    Kunst

    reflexiv

    zu

    entwirren. Er will iiber

    das

    notwendig Antibilrgerliche

    der erst in der

    bilrgerlichen Gesellschaft autonom

    gewordenen

    Kunst hinausgehen, indern die

    Abhangigkeit

    des

    Antithetischen

    von

    seinem Objekt gedanklich durchdrungen

    wird.

    Die Kunst

    vermag

    sich als das,

    was

    sie

    historisch

    wa

    r, selbst aub:uheben,

    indem

    sie ihren eigenen Formgesetzen

    der

    asthetischen Stimrnigkeit folgend zum

    reinen Ausdruck wird. Damit

    wird die

    Kunst

    zur

    Verk

    orperung

    des Nichtidenti-

    schen. ,,Indem sie aufgreift,

    was

    die gesamte Tradition

    hindurch

    als ihre

    Gru

    .

    nd-

    schicht garantiert diinkte, verandert sie s.ich qualitativ,

    wird

    ihrerseits zu einem

    Anderen. Sie vermag es, weil

    sie

    die Zeiten

    hindurch

    vermoge ihrer Form ( .. )

    gegen das blo8 Daseiende ( ..) sich wendet ( ..

    )

    (1972,

    S.

    10 f. .

    Obwohl

    die Kunstwerke ihre

    Authentizitat mit der Oberwindung des

    Hier

    und Jetzt

    durch

    asthetische Formprinzipien

    und

    Ausdrucksrnittel gewinnen,

    sch

    w

    ebe

    n sie keineswegs transzendent iiber

    der emp

    irischen

    WelL

    Vielmehr voll-

    zieht sich

    die

    Kunst im Rahmen u.nd zugleich

    gegen den

    Rahrnen von Geschichte

    und

    Gesellschaft. Aus diesem Grund istes Adorno zufolge verfehlt, ihre Autonomie

    als eine absolute zu hypostasieren:Sofern Dichten, Komponieren, Malen etc. sozial

    bedingt

    sind,

    verdankt

    sich die Freiheit

    des

    Kilnstlers einem Herrschaftsprivileg,

    das von der uralten

    Schuld

    der

    Trennung zwischen korperlicher und geistiger

    Arbeit gezeichnet isl.

    Aus

    dieser Einscha

    tzun

    g folgert Adorno: ,,Unmoglich,

    im

    6 Oemgegeniiber fiihrt Christine Ekhel in iiberzeugender Weise den Nachweis, daB

    Adomos Asthetik sich durchaus of

    fen

    gehalten hat fiir den

    ProzeB

    .,der

    permanente_n

    Selbstllberschreitung der Kiinste (Eichel

    1993,

    S.

    295

    .

    Das

    komme insbesondere

    in

    seiner Theorie einer fortschreitenden

    ,,

    Verfransung der Kiinste zum Ausdruck (ebd.,

    s.19 ff. .

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    11/15

    Adornos biirgerliche A tibiirgerlichkeit 391

    BewuRtsein dieses Zusammenhangs, Kritik an der Kulturindustrie

    zu

    iiben, die

    vor der Kunst verstummte (1972, S. 34). Dieses Zitat ist deutlicher Beleg dafiir,

    da8 Adorno

    sein vemichtendes Urteil iiber das Schicksal der popular gewordenen

    Kultur in der kapitalistischen Tauschgesellschaft nicht aus

    einer

    abstrakten Kon

    trastierung von Sein

    und

    Sollen ableitet, indem er Genesis

    und

    Gel tung der a-

    tegorie des autonomen Kunstwerks als asthetische

    Norm

    idealistisch voraussetzt,

    also im Kontext bii

    rg

    erlichen Denkens bleibt. Er wagt vielmehr den Drahtseilakt

    einer

    zweifachen Kritik: Zurn einen die Kritik an der Dichotomie von Asthetik

    und Praxis, von Kunst und Leben, zum anderen die Kritik an den auf Effekte

    berechneten Trugbildem der Kulturindustrie.

    Wenn die ldee einer Wechselwirkung von Autonomie und Kunst, die das

    Biirgertum in

    der

    Phase seiner Emanzipation hervorgebracht hat, in

    der

    Modeme

    Giiltigkeit behalten soll,

    daM

    bedarf

    es ei

    ner

    Transformati

    on des

    Gegensatzes

    von Kultur und GeseUschaft

    in

    zweifacher Richtung: Einmal in Richtung einer

    Offnung de.r Kunstwerke zur Erfahrung des Neuen bis zur Selbstpreisgabe ihrer

    asthetischen Dauer, ihres Ewigkeitswertes, ihrer Aura, denn ,,die Schicht des Un

    verauBerlichen,

    die

    sie (Kunstwerke, d.V.) iiberzieht, ist zugleich

    die

    welche sie

    erstickt' ' (1972, S. 49 . Zurn anderen isl eine Transformation der gesellschaftlichen

    Funktion von Popularkultur notwendig, damit eine andere Grenzziehung zwi

    ·

    schen Kulturproduktion

    und

    Kulturrezeption ermoglicht wird, deM ,,Kunst achtet

    die Massen, indem sie ihnen gegeniibertritt als dem,

    was

    sie sein konnten, anstatt

    ihnen ( ..) sich anzupassen (ebd., S. 356).

    Die Veranderung des Verhaltnisses

    von

    Kunst

    und

    GeseUschaft

    in

    seinen ge

    schichtlich gewordenen Formen, das akzentuiert

    Adorno

    auf den letzten Zeilen

    der asthetischen Th~rie, isl alles andere als ein voluntaristischer

    Akt

    in der

    symbolischen Sphare von Kultur und Kunst, sondem setzt eine andere Einrichtung

    der Welt voraus, ein Ziel, das

    Adorno

    - hier optimistisch genug - als historisch

    gegebene Chance begreift. Wlrd sie ergriffen,

    dann

    verliert das

    humane

    Verspre

    chen

    der

    avanciertesten Ausdrucksgestalten biirgerlic

    her

    Kultur

    die

    Dignitat

    einer

    unerreichbaren Gro8e am entfemten

    Himme

    l unendlicher ldeen: ,,Moglich, daR

    einer befriedeten Gesellschaft die vergangene Kunst wieder zufallt, die heute zum

    ideologischen Komplement der unbefrledeten geworden ist; ( ..) (ebd.,

    S.

    386).

    Die zitierte Passage am Ende der Aslhetischen Theorie fahrt mit der Uberlegung

    fort, ob in der befriedeten Gesellschaft

    die

    Kunst ihre Negativitat, ihre Widerstiinde

    aufgeben und zur Harmonie zuriickkehren konne. Adorno schreibt, dies kiiMe

    das Opferder Freiheitvon Kunst sein. Aberrichtig verstandlichwird diese A ussage

    erst,

    wenn

    man sich mit

    Adorno

    iiber zwei Dinge

    im

    klaren isl: Erstens, daR Opfer

    nur m

    Zusta

    nd der

    Unfreiheiterbracht werden.Zweitens is t Freiheitkein Zustand,

    der

    in einem utopischen Irgendwann ein fur allemal vorhanden ist, sondem sie

    mu

    .8 wie der Fortschrilt

    der

    Menschheit als ProzeR historisch ausgestaltet werden,

    um

    sodann

    das

    jeweils Ausgestaltete nach Ma8gabe geschichtlicher Erfahrungen

    neuerlich

    zu

    gestalten.

    Aus

    diesem

    Grund

    i

    st

    die Erwartung unberechtigt,

    ,,

    da8

    eines besseren Tages Kunst iiberhaupt verschwande . Kunst als Geschichtsschrei-

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    12/15

    392

    Stefan Miiller Doohm

    bung,

    wie

    Adorno sie versteht, ist geschichtlich unaufhebbar, weil sie

    das

    Medium

    ist, in

    dem

    sich die erdriickende Macht vergangenen Leids und die niemals aus·

    schlieBbare Moglichkeit zukiinftigen Unrechts

    zum

    Ausdruck bringt: als Disso

    nanz. Als ,,Signum aller Modeme" sagt diese Dissonanz, daB es ke

    ine

    Versohnung

    gibt, weil die Emanzipation mit Naturbeherrschung verbunden ist - und verbun·

    den

    bleibt.

    7

    Kunst isl konstruktive Verarbeitung dieser Antinomie. Durch diese standhal·

    tende Verarbeitung, die

    das

    gelungene Kunstwerk demonstriert, erfahren die Sub

    jekte ihre Fahlgkeit, in

    der

    Spannung

    der

    Widerspriiche zu Jeben. Deshalb

    kann

    ,

    wie Adorno sagt,

    die

    Erfahrung

    der

    Negativitat in asthetische Lust sich verwan·

    deln, d ie mit Erkenntnis einhergeht 1972, S. 67). In

    der Tat:

    ,,Die dee der Ver·

    sohnung flillt

    aus

    dieser Gleichung heraus" (Wellmer 1993, S. 195).

    8

    Genau dies

    ist

    der

    tiefere Sinn des Satzes vom Eingedenken

    der

    Natur

    im

    Subjekt. Er bedeutet

    BewuBtwerden des Andersseins (Ritsert 1996, S. 43), des Andersseins nicht nur

    der

    Subjekte untereinander, sondem Heterogenitat innerhalb der Pe.rson.

    9

    Es gilt,

    die Jndividuen trotz des sozialen Gebots der ldentltatsbildung als in sich wider·

    spriichliche Wesen zu begreifen. lhrVermogen

    zur

    Uneinheitlichkeit ist ein Zeichen

    ih.rer Freiheit.

    Sie

    manifestiert sich in

    der

    Autonomie gegen

    die

    ei~ene Identitiit

    als einern durchaus hiiStorisch kontingenten kulturellen Konstrukt.

    0

    Die bestirnmte Negation ist

    das

    Kraftz.entrum fiir Adornos antibiirgerliche

    Kritik an dee Entwicldungsgeschichte der biirgerlichen Gesellschaft. ln seinen

    Begriindungen fiir dieses Erkenntnisprinzip wird wiederholt ein Topos

    zur

    Gel

    tung gebracht:

    der des

    Scheitems und MiBlingens. Diese Diagnose besagt, daB

    etwas Richtiges ein Moment des Falschen beinhaltet. Adorno kann

    nun

    am Begriff

    des

    auton

    omen Kunstwerks

    den

    Nachweis fiihren, daB das, was

    das

    Potential

    7 n dem Essay ilber den

    Fo

    rlschr

     l l

    verwendet Adorno fiir d i n dialektischen Zusam·

    menhang von Emanzipation

    und

    Unterdrilckung ein eindringtiches Bild: ,,Mahnt

    das

    Bild

    der

    fortschreitenden Menschheit an einen Riesen,

    der

    nach unvordenklichem

    Schlaf langsam sich in Bewegung setzt, dann lossturmt

    und

    aIles niedertrampelt, was

    ihm in den Weg kommt,so ist doch sein ungeschlachtes Erwachen

    das

    einzige Potential

    von Milndigkeit" (1977, S. 625)

    8 Dennoch

    geht

    Weltmer davon aus, da8 Adorno letztlich ein Konzept der ,.toialen

    Versohnung" vertrete. Es sei die Kehrseite

    des

    Zustandes ,,vollendeter NegativitatM,

    die

    daraus resultiert,

    da

    B ,,Adorno den Zustand

    der

    modernen Welt v

    om

    Grenzfall

    Auschwitz her ..) konstruierte" (Wellmer 1993, S. 201). Dagegen laJlt sich einwenden,

    daB

    fur

    Adorno die Logik' des Faschismus

    und

    in dessen KonsequenzAuschwitzdazu

    gefilhrt hat, daB

    die

    Differenz

    im

    Zwangskollektiv gewaltsam eleminiert wurde. Der

    Totalitarismus gilt

    ihm

    als Endpunkt einer integralen Gesellschaft. Versohnung und

    Harmonie stehen bei Adorno im Gegensatz. Dem entspricht es,

    daB er

    nach dem Sturz

    der

    Metaphysik alle Hoffnung als illusionar einschatzt, for die Gesellschafl einen

    umfassenden Sinnzusammenhang geltend zu machen.

    9 Schon in der Dw leklik er Aufkliirung heiJlt es, da8 die Einheit d.er Personlichkeit zum

    Schein geworden sei. den man seit Shakespears Hamlet durchschaut habe (Horkhei·

    mer/

    Adorno 1947, S. 185).

    10 Vgl. Benhabib (1992,

    S.

    129

    ff. ,

    die

    das ,,Paradox

    der

    Autonomie" des Subjekts i.n

    der

    Subjeklkritik Adornos herausgearbeHet

    und

    den normativen Bezugspunkt dieser Kri·

    tik verdeutlicht haL

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    13/15

      dornos biirgerliclre

    A11/

    ibiirgerlic/1keil

    393

    eines besseren Zustandes verkorperte, schon von seinem

    Ursprungherein

    Moment

    der Unwahrheil enthielt. st diese fundamentale Antinomie eines zugleich wahren

    und falschen Entwurfs nu Gestaltung der Welt uberhaupt auflosbar?

    Hier

    wi

    rd die zukiinftig priiziser zu bestimmende These vertreten:

    Adomos

    Konzept lebt von der andauemden Spannung der Gegensatze;

    deren

    Beseitigung

    kann keineswegs Ziel und Ergebnis einer zukiinftigen Gesellschaft sein. Denn die

    von ihm durchaus angestrebte Versohnung der Differenz m Allgemeinen

    11

    ist

    nicht gleichbedeutend mil ihrer definitiven Auflosung.

    Es

    soil stat dessen

    im

    Geschichtsproze8 gelingen, aus der dee der Verschiedenheit heraus die Einheit

    des Zusammenlebens n Freiheit

    zu

    gestaJten. Das ist der AussagegehaJt des Satzes,

    der bessere Zustand sei einer,

    n

    dem man

    ohne

    Angst verschieden sein kann.

    Das Differente ist freilich nicht als das Gute an sich dingfest zu machen. Denn:

    ,,Gut

    ist das sich Entringende. ( ) Als sich Entringendes ist

    es

    verflochten

    in

    die

    Geschichte, die,

    olme daft sie

    uf

    Versiihnimg hi e

    i11de11tig

    siclr or

    d11ele im Fortgang

    ihrer Bewegung deren Moglichkeit aufblitzen la8tu (1972, S 622, Hervorh. des

    Verf.). Folglich darf das Differente keineswegs als ontologische Kategorie mitver

    standen werden. Wie die Utopie so ist das Differente unbestim.mt, es ist in diesem

    Sinne anti-essentialistisch.

    Oas trifft auch fur den Wahrheitsgehalt der Kunst zu. Zur universalen Wahrheit

    der Kunst gehoren ihre inneren Brechungen: Wie

    auch

    anders,

    denn

    ihre Auto

    nomie verdankt sich elnem Unrecht, das aber die Voraussetzung dafiir ist, da8

    die Gegenentwiirfe des Kunstwerks als Statthalter des Miiglichen gegen das Wirk

    liche material

    zus

    ta

    nde

    kommen. Die Autonomie

    der Kunst

    isl nicht

    nu

    r

    no

    tge

    drungen ungerecht, sondem zugleich auch partiell. Denn jener

    Gegenentwurf

    des

    Moglichen speist sich gleichsam aus dem historisch gegebenen Wirklichen, das

    Kunst doch unversohnlich negiert. Entsprechend hei8t

    es

    an zentraler Stelle in

    der

    Negativen D

    iale

    ktik:

    .,Der versohnte Zustand annektierte nicht ( ..) das Fremde,

    sondem hatte sein Gluck

    daran,

    da8

    in

    der gewahrten Nahe das Ferne und Ver

    schiede.ne bleibt ( ..

    )

    (1970, S 92). Diese Geltung des Inkommensurablen

    setzt

    sich in dem utopischen Erkenntnisprinzip

    fort,

    das Begriffslose rnit Begriffen

    aufzutun,

    oh

    ne es ihnen gleichzumachen (ebd.,

    S 21).

    11

    Das Konzept der Versohnung einer Differenz

    m

    Allgemeinen darf keinesfalls milder

    Position eines moralischen Ind viduallsmus verwechselt werden. die mit Anerken

    nung den Ausgleich von lnteressen Einzelner oder von Gruppen durch einen Schutz

    von

    MinderheJten m Auge hat - nach dem derzeit populiiren Muster .,everybody is

    different". Dieser Begriff der Differenz wird weiterhin miBbraucht im Rahmen des

    sogenaMten 'different:ialistischen Rassismus': ,,Eines Rassismus, dessen vorherr

    schendes Thema nichl mehr die biologische Vererbung, sondem d ie Unaufhebbarkeit

    der kulturellen Differenzen isl; eines Rassismus, der - jedenfa

    lls

    au/ den ersten Blick

    nicht mehr die Oberlegenheit bestimmter Gruppen oder Volker iiber and ere postulierl,

    sondem sich darauf

    'beschri nkl', die Schadlichkeit jeder Grenzverwischung und die

    Unvereinbarkeil der Lebensweisen und Traditionen zu behaupten" {Balibar

    1990,

    S.

    28).

    Der

    Beg riff

    der Differenz dienl hier als Trennungsbegriff- zur Erschliellung des

    Eigenen, die milder AusschlieBungdes Fremden einhergeht.

    Vgl

    zum Problembereich

    des Differenzbegri ffs und der Anerkennungstheorie neue.rdings Garcia Dilltmann

    (1997).

  • 8/19/2019 Müller-Doohm «Denken Im Niemandland. Adornos Bürgerliche Antibürgerlichkeit» en Leviathan, Núm 3, 1997, Pp. …

    14/15

    394

    Stefan Miiller Doo

    hm

    Es ergibt sich

    die

    SchluBfol.ge

    rung:

    Adornos

    biog

    raphisch gelebte

    und

    thema

    tisch explizierte biirgerliche Antibiirgerlichkeit ist

    ein

    Pladoyer fur das Niemands

    land, d .h . dafiir, daB das Ganze vielleicht dann beanspruchen kann, das Wahre

    - als ProzeJ3

    der

    Wahrheitssuche

    ohne

    definitives

    Ende

    -

    zu

    sein, wenn

    es

    sich

    als Einheit

    zugunsten

    d

    er

    Anerkennung v

    on Verschiedenheit

    aufgibt. Die Ex

    is tenz

    im

    Niemandsland

    is t das Ve

    rmo

    gen, iiber d ie eigene Ortsgebundenheit hinaus

    zugehen,

    also

    jene Offenheit fiir

    die

    unreglementierte Er

    fahrung bi

    s

    zur

    Grenze

    der Selbstpreisgabe. Mit

    anderen

    Worten, die 1946

    im Rahmen

    einer

    Diskussion

    mil Max Horkheimer iiber d ie Re

    t

    tung de

    r

    A11flcliirung gefaUen sind

    und

    wegen

    ihrer

    apodiktischen Form sicher Seltenheitswert haben: .,Das Positive ist d ie Er-

    fahrung

    der Differenz (Adorno, in : Horkheimer

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