64
Musikästhetik und kompositorische Praxis als „angewandte Physiologie“ Spuren einer Denkfigur im historischen Wandel

Musikästhetik und kompositorische Praxis als „angewandte ... · PDF filevon Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, München u. a. 2. 1988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 1, S. 877. Nachgelassene

  • Upload
    lydung

  • View
    217

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • Musiksthetik und kompositorische Praxisals angewandte Physiologie

    Spuren einer Denkfigur im historischen Wandel

  • Nietzsche contra Wagner. Aktenstcke eines Psychologen(1888)

    Meine Einwnde gegen die Musik Wagners sind physiologische Einwnde: wozu dieselben erst noch unter sthetische Formeln verkleiden? sthetik ist ja nichts als eine angewandte Physiologie. Meine Thatsache, mein petit fait vrai ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein Fuss gegen sie bse wird und revoltirt: er hat das Bedrfniss nach Takt, Tanz, Marsch nach Wagners Kaisermarsch kann nicht einmal der junge deutsche Kaiser marschiren , er verlangt von der Musik vorerst die Entzckungen, welche in gutem Gehn, Schreiten, Tanzen liegen. Protestirt aber nicht auch mein Magen? mein Herz? mein Blutlauf? betrbt sich nicht mein Eingeweide? Werde ich nicht unversehens heiser dabei Um Wagner zu hren, brauche ich Pastilles Grandel Und so frage ich mich: was will eigentlich mein ganzer Leib von der Musik berhaupt? Denn es giebt keine Seele

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 6, S. 418419

  • The Perfect Wagnerite(1898)

    Wagner sought always for some point of contact between his ideas and the physical senses, so that people might not only think or imagine them in the eighteenth century fashion, but see them on the stage, hear them from the orchestra, and feel them through the infection of passionate emotion []: on all occasions he [Wagner] insists on the need for sensuous apprehension to give reality to abstract comprehension, maintaining, in fact, that reality has no other meaning.George Bernard Shaw

    (18561950)

    The Perfect Wagnerite: A Commen-tary on the Ring of the Niblungs, London 1898, S. 74

  • Brief an einen italienischen Freund ber die Auffhrung des Lohengrin in Bologna(1871)

    Das Kunstwerk will endlich zur vollen sinnflligen Tat werden; es will den Menschen bei allen Fasern sei-ner Empfindungen erfassen, es will wie ein Strom der Freude in ihn eindringen.

    Richard Wagner(18131883)

    Smtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe, Leipzig [19121914], Bd. 9, S. 291

  • Brief an einen italienischen Freund ber die Auffhrung des Lohengrin in Bologna(1871)

    Das Kunstwerk will endlich zur vollen sinnflligen Tat werden; es will den Menschen bei allen Fasern sei-ner Empfindungen erfassen, es will wie ein Strom der Freude in ihn eindringen.

    Richard Wagner(18131883)

    Smtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe, Leipzig [19121914], Bd. 9, S. 291

  • Brief an einen italienischen Freund ber die Auffhrung des Lohengrin in Bologna(1871)

    Das Kunstwerk will endlich zur vollen sinnflligen Tat werden; es will den Menschen bei allen Fasern sei-ner Empfindungen erfassen, es will wie ein Strom der Freude in ihn eindringen.

    Richard Wagner(18131883)

    Smtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe, Leipzig [19121914], Bd. 9, S. 291

    Der Mensch, man glaube mir, ist ein musikalisches Instrument; seine Nerven sind den Saiten der musi-kalischen Instrumente gleichgestimmt; sie vibriren, wenn jene klingen.

    [Michel-Paul Guy de Chabanon],Ueber die Musik und deren Wirkungen,

    mit Anmerkungen hrsg. von Johann Adam Hiller,Leipzig 1781, S. 86

  • Erstausgabe:Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien. In allgemein verstndlicher Dar-stellung, Frankfurt am Main 1855

  • Eduard Hanslick(18251904)

    Vom Musikalisch-Schnen. Ein Bei-trag zur Revision der sthetik der Tonkunst [1854], Wiesbaden 211989

  • Eduard Hanslick(18251904)

    Vom Musikalisch-Schnen. Ein Bei-trag zur Revision der sthetik der Tonkunst [1854], Wiesbaden 211989, S. 111

    Steht einmal fest, da ein integrierender Teil der durch Musik erzeugten Gemtsbewegung physischist, so folgt weiter, da dies Phnomen, als wesent-lich in unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser seiner krperlichen Seite erforscht werden msse.

  • Eduard Hanslick(18251904)

    Vom Musikalisch-Schnen. Ein Bei-trag zur Revision der sthetik der Tonkunst [1854], Wiesbaden 211989, S. 126

    Die Musik lst ihm die Fe oder das Herz, gerade-so wie der Wein die Zunge. [] Das Erleiden unmo-tivierter ziel- und stoffloser Affekte durch eine Macht, die in keinem Rapport zu unserem Wollen und Den-ken steht, ist des Menschengeistes unwrdig.

  • Christian Grny,Kunst des bergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik,

    Weilerswist 2014, S. 339

    Die Musik ist [] durchdrungen von der schieren Kraft [des] Klanges, der den Hrer krperlich durchdringt und unmittelbar vegetative Wirkungen hat []. Aber auch wenn es zwischen der krperlichen Resonanz und dem Hren der Ohren keine klaren Grenzen gibt, bleibt es ein Unterschied, ob man sich schlicht mit-reien lt oder sich hrend fragt, was geschieht. [] Vielleicht besteht die fr die Theoretiker und Praktiker der Hochkultur un-berschreitbare Grenze [] darin, da die Reflexion insgesamt eingelassen ist in eine starke sinnliche Erfahrung, die Differen-ziertheit mit lustvoller berwltigung, Geschmack mit Trunkenheit verbindet. Ohne dies ist [] Musik nicht zu haben, und vielleicht erfhrt man durch sie etwas Wesentliches, was einer distanzier-ten Rezeption entgeht.

  • Christian Grny,Kunst des bergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik,

    Weilerswist 2014, S. 171

    Fallen diese beiden Dimensionen [Bewegtwerden und intellektu-elle Anstrengung] auseinander, bleibt auf der einen Seite der H-rer, der sich affektiv davonschwemmen lt, und auf der anderen Seite der, der eine komplexe, vielleicht auch interessante Struktur hrt, aber keine Musik.

  • Also sprach Zarathustra.Ein Buch fr Alle und Keinen(18831885)

    Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort fr ein Etwas am Leibe.

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 4, S. 39

  • Ueber Wahrheit und Lge im aussermoralischen Sinne(1873)

    Verschweigt die Natur ihm [dem Menschen] nicht das Allermeiste, selbst ber seinen Krper, um ihn, abseits von den Windungen der Gedrme, dem ra-schen Fluss der Blutstrme, den verwickelten Faser-erzitterungen, in ein stolzes gauklerisches Bewusst-sein zu bannen und einzuschliessen!

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 1, S. 877

  • Nachgelassene Fragmente(Frhjahr/Sommer 1883)

    Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten.

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 10, S. 285

  • Nachgelassene Fragmente(Frhjahr/Sommer 1883)

    Das Geistige ist als Zeichensprache des Leibes festzuhalten.

    (Mai/Juni 1883)

    Zorn (und alle Affekte) zuerst ein Zustand des Kr-pers: der interpretirt wird. Spter erzeugt die Inter-pret[ation] frei den Zustand.

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 10, S. 285, 360

  • Nachgelassene Fragmente(Winter 1883/84)

    Hufige Blutzustrmungen zum Gehirn mit dem Ge-fhl des Erstickens werden als Zorn interpretirt: die Personen und Sachen, die uns zum Zorn reizen, sind Auslsungen fr den physiologischen Zustand. Nachtrglich, in langer Gewhnung, sind gewisse Vorgnge und Gemeingefhle sich so regelmig verbunden, da der Anblick gewisser Vorgnge jenen Zustand des Gemeingefhls hervorbringt und speziell irgend jene Blutstauung, Samenerregung usw. mit sich bringt [].

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 10, S. 657658

  • Das Kunstwerk der Zukunft(1849)

    Das wirkliche Kunstwerk, d. h. das unmittelbar sinn-lich dargestellte, in dem Momente seiner leiblichsten Erscheinung, ist daher auch erst die Erlsung des Knstlers, die Vertilgung der letzten Spuren der schaffenden Willkr, die unzweifelhafte Bestimmtheit des bis dahin nur Vorgestellten, die Befreiung des Gedankens in der Sinnlichkeit [].

    Richard Wagner(18131883)

    Smtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe, Leipzig [19121914], Bd. 3, S. 46

  • Nachgelassene Fragmente(Sommer 1872 Anfang 1873)

    Der knstlerische Proze ist physiologisch absolut bestimmt und nothwendig. Alles Denken erscheint uns auf der Oberflche als willkrlich, als in unserem Belieben: wir bemerken die unendliche Thtigkeitnicht.

    Friedrich Nietzsche(18441900)

    Smtliche Werke. Kritische Studien-ausgabe in fnfzehn Bnden, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Monti-nari, Mnchen u. a. 21988. Neuaus-gabe 1999, Bd. 7, S. 446

  • Friedrich von Hausegger(18371899)

  • Der Knstler schafft unbewut, und alle die berraschenden Uebereinstimmungenseines Tongebildes mit in den Ausdrucks-Apparaten herrschenden Bewegungen sind nicht Ergebni der Beobachtung, sondern Product eines unmittelbaren, in ihm wach gewordenen Dranges nach Ausdruck, welcher alle seine natrlichen Erscheinungen auf die mit der Empfind-lichkeit und Beweglichkeit eines Aus-drucksmittels ihm zu Gebote stehende Tonwelt bertrgt.Bei allen Tonstzen von bedeutender dra-matischer Wirksamkeit kann man sich berzeugen, da diese durch die Ueber-einstimmung der wese