19
Musterklausuren Staats- und Verfassungsrecht Lernhilfen mit Klausuren und Lösungen von Horst Döding Ltd. Regierungsdirektor a.D. und Dr. jur. Karsten Webel, LL.M. VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBH Buchvertrieb

Musterklausuren Staats- und Verfassungsrecht · 4. Ergebnis Abschließend erfolgt das Ergebnis (Zwischenergebnis) als Schlussfolge-rung aus der vorstehenden Prüfung, sprachlich im

  • Upload
    others

  • View
    3

  • Download
    0

Embed Size (px)

Citation preview

  • 3

    MusterklausurenStaats- und

    VerfassungsrechtLernhilfen

    mit Klausuren und Lösungen

    vonHorst Döding

    Ltd. Regierungsdirektor a.D.

    und

    Dr. jur. Karsten Webel, LL.M.

    VERLAG DEUTSCHE POLIZEILITERATUR GMBHBuchvertrieb

  • 5

    Vorwort zur 2. Auflage

    Der erfreulich starke Zuspruch, den die erste Auflage erfahren hat, und dievielen Anregungen aus dem Kreis von Lehrkräften und Studierenden habendie Nachfrage nach einem Fallbearbeitungslehrbuch unterstrichen. Auchnach der Überarbeitung dieses Buches liegt der Schwerpunkt weiterhindarin, den Studierenden die spezifische Denk- und Arbeitsweise nahe zubringen, die sie für das Studienfach „Staats- und Verfassungsrecht“ selbstanwenden müssen, um sich das Fertigen von Klausuren zu erleichtern.

    Die vorgelegte erneute Überarbeitung dient der Aktualisierung der Falllö-sungen und weist einige vom Gesetzgeber und der Tagespolitik vorgegebe-nen Themen auf. Die inhaltliche Fortschreibung des Werkes entspricht demStand vom 31. Januar 2002.

    Mit einer neu eingearbeiteten kurzen stilistischen Fehlerkunde soll derLeser für Fragen der Darstellung sensibilisiert werden, da bei Klausurenneben dem Inhalt auch die Lesbarkeit und der Stil über die zu vergebendeNote (Punkte) entscheiden.

    Abschließend noch ein persönliches Wort: Unser Dank gilt zunächst undganz besonders Herrn Dr. Jürgen Witt, Kiel, der als Lehrbeauftragter imFachbereich Polizei an der Verwaltungsfachhochschule Altenholz mit sei-nen Studierenden dieses Lehrbuch systematisch durchgearbeitet hat unduns so bei der Neuauflage mit Rat und Tat unterstützen konnte. Wir dankenihm für seine hilfreichen Anregungen und Kritik in dem Bemühen um eineVerbesserung des Grundwerkes. Ebenso danken wir seiner Familie für dieNachsicht, dass er sich manches Wochenende mit uns diesem Buchgewidmet hat.

    Weiteren Dank schulden wir Lehrkräften und Studierenden verschiedenerHochschulen für die Fragen, für die Gesprächsbereitschaft und für ihrenfreundlichen Rat. Auch in Zukunft sind wir auf Hinweise und Tipps (auchkritischer Natur) aus diesem Kreis angewiesen und nehmen solche gerneauf. Last but not least danken wir dem Verlag für die freundliche Betreuungund zügige Drucklegung.

    Hamburg und Stocksee im März 2002

    Die Verfasser

    Vorwort

  • 7

    Vorwort zur 1. Auflage

    Bei der Lösung von Sachverhalten, die üblicherweise als Klausur-Leis-tungsnachweise oder in der schriftlichen Prüfung im Rahmen des Fach-hochschulstudiums „Polizei“ erbracht werden müssen, wird immer wiederfestgestellt, dass es den Verfassern nicht an Fachwissen mangelt, sondernan der Fähigkeit, einen verfassungsrechtlichen Fall gutachtlich zu lösenund theoretisches Wissen bei der Bearbeitung umzusetzen.

    Unsere Erfahrungen als Dozenten im Fachbereich Polizei an der Verwal-tungsfachhochschule haben gezeigt, dass Studierende quasi in allen Rechts-fächern großes Interesse an Fällen mit systematisch aufbereiteten Lö-sungsinhalten haben. Denn sie stehen in den ersten Monaten ihres Studiumserheblich unter Leistungsdruck und müssen nach wenigen Monaten Studi-um bereits in schriftlichen Leistungsnachweisen ihre Fähigkeit beweisenund hoheitliche Eingriffsakte gutachtlich bewerten. Deshalb gehört in denjuristischen Fächern die Beherrschung der juristischen Methode und Fall-technik zu den vorrangigen Zielen des Grundstudiums.

    Der Schwerpunkt dieses Buches liegt folglich darin, das Bemühen um einespezifisch juristische Arbeits- und Denkweise im Studienfach „Staats- undVerfassungsrecht“ zu unterstützen. Wer mit diesem Buch arbeitet und dieempfohlene Literatur heranzieht, soll in den Stand versetzt werden, juristi-sche Lösungswege nachvollziehen und Überlegungen selbst anstellen zukönnen.

    Das Buch soll den Studienanfängern helfen, selbst einen Teil des sog.„Prüfungsdruckes“ dadurch abzubauen, dass jeder selbst sich formaleKenntnisse und besondere Fähigkeiten aneignet, die eben für die Lösungvon Klausuren mit verfassungsrechtlichen Problemen notwendig sind.

    Um diesem Ziel möglichst nahe zu kommen, haben wir das Buch in dreiTeile gegliedert. Der erste Teil beschäftigt sich mit der „Juristischen Metho-de“, dem „Aufbau von Rechtsnormen“ und der „Subsumtion“.

    Im zweiten Teil werden „Aufbauschemata“ für Falllösungen angeboten undzugleich aufgezeigt, inwieweit diese als Anhalt für schriftliche Leistungs-nachweise geeignet sind.

    Der dritte Teil enthält denkbare Klausuren für das Studienfach „Staats- undVerfassungsrecht“, die nach unserer Auffassung dem Umfang und demNiveau von Leistungsnachweisen (180 bis 240 Minuten) im Hauptstudiumentsprechen. Inhaltlich richten sie sich an den Studieninhalten und demStudienfachziel aus.

    Bei der Aufarbeitung der Fälle haben wir uns bewusst auf höchstrichterlicheEntscheidungen gestützt. Die Lösungen sollen zumindest juristisch nichtmehr strittig sein, und zugleich möchten wir den Studierenden grundsätz-liche Entscheidungen zu den Grundrechten nahe bringen. Dementspre-

    Vorwort

  • 8

    chend werden Abweichungen von der höchstrichterlichen Rechtsprechungausdrücklich kenntlich gemacht.

    Der Aufbau der Lösungen in dieser Fallsammlung unterscheidet sich jedochdeutlich vom Aufbau der jeweiligen Urteile. Dies liegt u. a. daran, dass imvorliegenden Lehrbuch entsprechend der an die Studierenden gestelltenAufgaben möglicher Klausuren die Lösung im Gutachtenstil gehalten sind,im Gegensatz zum Urteilsstil der Gerichte (vgl. Seite 15). Des Weiterenergibt sich aus der Zielsetzung dieser Fallsammlung gegenüber den ge-richtlichen Urteilen eine andere Schwerpunktsetzung.

    Das Buch soll deshalb aber kein Lehrbuch sein und schon gar kein wissen-schaftliches Werk, das verfassungsrechtlichen Meinungsstreit und filigraneKommentierung von Studieninhalten anstrebt. Wir verbinden mit dem Buchden Wunsch, möglichst vielen Studienanfängern im Bereich Polizei dasAbfassen von Klausuren im Verfassungsrecht zu erleichtern.

    Besonderen Dank sagen wir Frau Rechtsreferendarin Britta Eichinger für dashilfreiche Korrekturlesen und für die Verbesserungsvorschläge. Wir dankenferner dem Herausgeber für die bereitwillige Aufnahme des Buches.

    Altenholz, im Oktober 1996

    Die Verfasser

    Vorwort

  • 9

    Inhaltsverzeichnis

    Abkürzungsverzeichnis .......................................................................... 11

    Teil I: Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise ........ 15A Der Gutachtenstil ....................................................................... 15B Prüfung der Rechtmäßigkeit hoheitlicher Eingriffsakte

    in Grundrechte ............................................................................ 161 Eingriff in den Schutzbereich? .................................................... 162 Rechtmäßigkeit des Eingriffs ...................................................... 172.1 Grundrechtsschranken ................................................................ 182.2 Gegenschranken (Schranken – Schranken) .............................. 192.3 Schranken- und verfassungsgemäßer hoheitlicher Einzelakt ... 20C Juristische Methodik ................................................................. 211 Aufbau einer Rechtsnorm ............................................................ 212 Normanwendung .......................................................................... 223 Kollisionsregeln ............................................................................ 24

    Teil II: Aufbauschemata ........................................................................ 28A Ist ein Freiheitsgrundrecht durch eine Einzelmaßnahme

    verletzt? ....................................................................................... 28B Ist ein Gleichheitsgrundrecht verletzt? .................................. 33

    Teil III: Fälle und Lösungen ................................................................... 34A Fallbearbeitung .......................................................................... 34B Musterklausuren ........................................................................ 37Fall 1: Veränderung der Haar- und Barttracht

    (Art. 1 I, 2 II 1, 2 I GG) ................................................................. 37Fall 2: Die Personalienfeststellung

    (Art. 8 I, 2 I, 2 I i. V. m. 1 I GG) ................................................... 42Fall 3: Das polizeilich interessante Tagebuch

    (Art. 4 I, 2 I i. V. m. 1 I GG) ......................................................... 51Fall 4: Der einmalige Haschischkonsum

    (Art. 2 I i. V. m. 1 I, 3 I, 2 I GG) ................................................... 58Fall 5: Die verhinderte Veranstaltungsteilnahme (Unterbindungs-

    gewahrsam) (Art. 2 II 2, 104 GG) ............................................... 67Fall 6: Die unliebsamen Meinungsäußerungen

    (Art. 5 I 2, 2. Var., 5 I 1 GG) ........................................................ 75Fall 7: Die ungleichen Informationsstände

    (Art. 8 I, 5 I 1 GG) ........................................................................ 84Fall 8: Beschlagnahme von Fernsehaufzeichnungen

    (Art. 5 I 2, 2. Var. GG) ................................................................. 92

    Inhaltsverzeichnis

  • 10

    Fall 9: Die aufgelöste Versammlung (Art. 8, 103 II GG) ....................... 99Fall 10: Die kurzfristig einberufene Versammlung

    (Art. 8, 103 II GG) ...................................................................... 107Fall 11: Die Gegendemonstration

    (Art. 8 GG) .................................................................................. 115Fall 12: Die Telefonüberwachung

    (Art. 10, 19 IV GG) ..................................................................... 123Fall 13: Die Bewährungsauflage

    (Art. 12 GG) ................................................................................ 131Fall 14: Durchsuchung von Räumen und Beschlagnahme von

    Gegenständen (Art. 13, 14 I, 2 I GG) ....................................... 137Fall 15: Das Mitbestimmungsgesetz

    (Art. 28 I 1 i. V. m. 20 II GG) ..................................................... 146Fall 16: Vorrang für Frauen?

    (Art. 33 II, 3 III GG) .................................................................... 152Fall 17: Verfassungswidrige Wahlen?

    (Art. 38 I 1 GG) ........................................................................... 157Fall 18: Die Wahlrechtsänderung

    (Art. 38, 79 III i. V. m. 20 GG) ................................................... 164Fall 19: Der Bayerische Sonderweg (Gesetzgebungs-

    kompetenzen) ............................................................................. 171Fall 20: Der Bundespräsident und das Gesetz

    (Art. 82 I 1 GG) ........................................................................... 178Fall 21: Die Wegweisung ........................................................................ 185

    Literaturhinweise ................................................................................... 197

    Inhaltsverzeichnis

  • 15

    Teil IEinführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

    A Der Gutachtenstil:Für die Lösung juristischer Klausuren bieten sich zwei zentrale Stilarten an:• der Gutachtenstil• der Urteilsstil.

    Bei beiden Lösungsmöglichkeiten geht es darum, anhand eines Rechtssat-zes das Bestehen oder Nichtbestehen eines rechtlichen Verhältnisses,geprüft an einem theoretischen oder praktischen Einzelfall, nachzuweisen.

    Während der Gutachtenstil die Lösung noch nicht kennt und der Verfassersich über Aufstellen bzw. Verwerfen von Lösungsmöglichkeiten (Hypothe-sen) vorzuarbeiten hat, beginnt der Verfasser im Urteilsstil sofort mit demErgebnis und begründet es nachfolgend.

    Weil aber kein Angehöriger der Vollzugspolizei die Lösung (das Ergebnis)in der Praxis im Voraus kennt, entsprechen seine gedanklichen Überlegun-gen vor dem Einschreiten mehr einem Gutachten. Insofern ist es konse-quent, dass im Studium und damit bei schriftlichen Leistungsnachweisender Gutachtenstil gefordert wird. Eine solche Schwerpunktsetzung soll denStudierenden bei ihrer späteren Verwendung im polizeilichen Einzeldienstund bei der Sachbearbeitung zugute kommen und dann für sie hilfreich sein.

    Im Einzelnen sind für den Prüfungsablauf im Gutachtenstil folgende vierSchritte bedeutsam (vgl. Wagner, Friedjof, Die Verwaltungsrechtsklausur,S. 16, mit Verweisungen auf andere):

    1. Ausgangsfrage:Zuerst stellt der Verfasser im Gutachtenstil bezüglich des möglichen Grund-rechtseingriffes zunächst eine Hypothese auf; sprachlich erfolgt dies imKonjunktiv (z. B.: „könnte betroffen sein“) oder im Indikativ mit der denkba-ren Formulierung („in Betracht kommt“, „fraglich ist, ob ...“).

    2. Nennen der Rechtsnorm:Bevor man nun eine Norm konkret anwenden (subsumieren) kann, muss sieerst einmal gefunden und genannt werden.Der Hypothese folgt nun also die Nennung der Rechtsnorm (z. B.: „Art. 2 IIS. 2 GG“) und des sog. Leitsatzes oder des sachlichen Schutzbereiches(z. B.: „.............., der die körperliche Bewegungsfreiheit schützt“).

    3. Subsumtion:Subsumtion ist die Zuordnung eines konkreten Sachverhaltes unter eineRechtsnorm und ist meistens ein wertender Vorgang. Es geht darum, denSachverhalt mit den Tatbestandsmerkmalen der jeweiligen Rechtsnormgegeneinander abzugleichen.

    Der Gutachtenstil

  • 16

    Zunächst wird die Rechtsnorm mit ihren Tatbestandsmerkmalen benannt,alsdann sind die Merkmale zu konkretisieren. Hierzu sind Definitionen hilf-reich.

    Nachdem nun diese fest umrissen und gegeneinander abgegrenzt sind, wer-den die einzelnen Voraussetzungen der Rechtsnorm im Gutachtenstil geprüftund fallbezogen begründet (subsumiert). Soweit eine Norm von ihrem Wort-laut her mehrdeutig ist, ist die Rechtsnorm auszulegen. Auslegen bedeutet,den Inhalt dieser Rechtsnorm zu bestimmen.

    Dazu bieten sich in der Rechtslehre (nach Savigny) folgende Auslegungs-möglichkeiten an:• grammatikalische Auslegung (nach dem Wortlaut)• systematische Auslegung (nach der Stellung im Gesetzeswerk und im

    Rechtssystem)• teleologische Auslegung (nach dem Sinn und Zweck der Norm)• historische Auslegung (nach der Entstehungsgeschichte)• verfassungskonforme Auslegung (im Einklang mit dem höherrangige-

    ren Verfassungsrecht)

    Merke: Nach der Rechtsprechung des BVerfGE 38, 41, ist die Grenze derAuslegung der sich aus dem Wortlaut äußerstenfalls ergebende Sinn.Höher als der Wortlaut des Gesetzes stehen sein Sinn und Zweck; derWortlaut ist jedoch nicht auszuklammern (BGHZ 17, 266).Der Richter darf einem Gesetz keinen entgegengesetzten Sinn über denWortlaut hinaus geben (BVerfG E 8, 28).

    Auslegungshilfen sind die Rechtsprechung, Kommentare, Lehrbücher.

    4. ErgebnisAbschließend erfolgt das Ergebnis (Zwischenergebnis) als Schlussfolge-rung aus der vorstehenden Prüfung, sprachlich im Indikativ (z. B. folglich,mithin, demnach).

    B Prüfung der Rechtmäßigkeit hoheitlicher Eingriffsakte inGrundrechte

    Die Prüfung gliedert sich in die beiden großen Bereiche:

    • Eingriff in den Schutzbereich

    • Rechtmäßigkeit des Eingriffs

    1 Eingriff in den Schutzbereich?Der Studierende muss zunächst prüfen, ob der Akt öffentlicher Gewalt (z.B.:Verfügung der Polizei) als Maßnahme der Gefahrenabwehr, der Verfolgungvon Ordnungswidrigkeiten oder der Verfolgung von Straftaten in den Schutz-bereich (Normbereich) eines Grundrechtes eingreift.

    Teil I • Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

  • 17

    1.1 Dazu ist zunächst zu prüfen und darzustellen, ob die im Sachverhaltvorgegebene oder zu erwartende polizeiliche Maßnahme den sachlichenSchutzbereich eines Grundrechtes betrifft. Hierzu hat der Verfasser dietatbestandlichen Voraussetzungen des Grundrechtes, also den sog. Leit-begriff sowie die sonstigen Voraussetzungen abstrakt zu bestimmen, umdann den konkret zu prüfenden Sachverhalt unter diese Leitbegriffe zusubsumieren.Hierzu ist im ersten Schritt der rechtliche Inhalt des Schutzbereichs zudefinieren, um dann im zweiten Schritt diese Definition auf den vorgegebe-nen Sachverhalt anzuwenden (zu subsumieren).Beispiel: Wenn Art. 8 GG für einschlägig gehalten wird, muss als ein Elementzunächst dargelegt werden, was verfassungsrechtlich unter einer Versamm-lung zu verstehen ist. Alsdann ist darzustellen, ob die hier beispielsweise zuprüfende Zusammenkunft mehrerer natürlicher Personen wirklich eine Ver-sammlung im Sinne des Grundrechtes ist oder vielmehr nur eine Ansammlungdarstellt, die dann nicht unter den Schutzbereich fällt.

    1.2 Danach ist ebenso der persönliche Schutzbereich zu prüfen. Hierkommt es auf die Feststellung an, ob die möglicherweise in ihren Grund-rechten verletzte Person Träger des jeweiligen Grundrechtes ist. Hier hatder Verfasser nun zwischen Menschen- und Bürgerrechten zu unterschei-den und dabei darf nicht übersehen werden, dass auch juristische PersonenTräger von Grundrechten sein können (vgl. Erläuterungen in der Fachlitera-tur, z. B.: Döding/Schipper, Polizeiliches Grundlagenwissen, S. 66, 69 ff.).

    1.3 Nunmehr ist in diesem ersten Teil der Lösung fallbezogen darzustellen,ob und wodurch der sachliche und persönliche Schutzbereich des Grund-rechts mit dem zu prüfenden staatlichen Eingriff betroffen worden ist oderwerden wird.Dazu ist es notwendig, dass der Begriff hoheitlicher Eingriff rechtlich kurzdefiniert wird (klassischer oder erweiterter Eingriffsbegriff), um dann aufden im Sachverhalt vorgegebenen oder zu erwartenden Akt öffentlicherGewalt zu subsumieren. Dabei ist zu beachten, dass ein solcher aucherheblich sein muss, um als Eingriff überhaupt gewertet werden zu könnenund ohne Einwilligung des Grundrechtsträgers erfolgt ist oder zu erwartensteht (Problem: Ist ein Grundrecht überhaupt disponibel?).

    2 Rechtmäßigkeit des EingriffsNachdem vom Verfasser der Klausur im ersten Teil festgestellt worden ist,dass der Norm- oder Schutzbereich einer konkreten Grundrechtsnormdurch den staatlichen Eingriffsakt betroffen wurde oder mit der beabsichtig-ten hoheitlichen Maßnahme betroffen wird, ist nunmehr im zweiten Teil dieRechtmäßigkeit des Eingriffs zu prüfen.Ausgehend von der h. M. ist ein Grundrechtseingriff nur dann gerechtfertigtund damit verfassungskonform, wenn er durch eine mit der Verfassung imEinklang stehende Schrankenbestimmung im Einzelfall gedeckt ist.

    Rechtmäßigkeit des Eingriffs

  • 18

    Es geht nun also um die Prüfung, ob eine gesetzliche Eingriffsgrundlage fürden in dem Sachverhalt genannten hoheitlichen Eingriffsakt den Schrankendes Grundgesetzes entspricht.

    Merke: Ein hoheitlicher Eingriffsakt ist immer nur dann rechtmäßig, wenn ersich im Rahmen der Grundrechtsschranken hält und die verfassungsrecht-lichen Gegenschranken beachtet.

    2.1 GrundrechtsschrankenAls Grundrechtsschranken kommen in Betracht und sind voneinander zuunterscheiden:• verfassungsunmittelbare Schranken• Vorbehaltsschranken (Gesetzesvorbehalt)• verfassungsimmanente Schranken

    • Verfassungsunmittelbare Schranke:In der einzelnen Grundrechtsnorm selbst kann ausdrücklich eine Begrenzungfestgelegt sein. Durch diese wird von Verfassungswegen der Normbereichunmittelbar eingegrenzt (z. B.: Art. 2 I; 5 II; 8 I; 9 II; 13 II, 16a II GG).

    In der Literatur wird diese Schranke teils auch unmittelbar dem Normbereichzugeordnet. Das bedeutet, dass der Verfasser dies bei der unmittelbarenBeschreibung des sachlichen Schutzbereiches zu beachten hat.

    • Vorbehaltsschranke (Gesetzesvorbehalt):Sie gilt zumindest für polizeiliches Handeln als die wichtigste Grundrechts-schranke und bedeutet von Verfassungswegen eine Ermächtigung für denGesetzgeber, den Umfang und die Grenzen dieses Grundrechts durch Gesetzfestzulegen. Sind keine besonderen Vorgaben in dem Grundrechtsartikelvorhanden, handelt es sich um einen einfachen Gesetzesvorbehalt, einesog. allgemeine Eingriffsermächtigung (z. B.: Art. 2 II S. 3; Art. 8 II GG).

    Wenn aber in dem jeweiligen Grundrechtsartikel besondere Vorgaben hin-sichtlich einer Einschränkung durch den Gesetzgeber auch hinsichtlich derZielsetzung (Zweck) oder der Mittel zur Erreichung des Zieles fixiert sind, dannhandelt es sich um einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt, also einerzulässigen Eingrenzung unter bestimmten Voraussetzungen oder zu be-stimmten Zwecken (vgl. z. B.: Art. 11 II oder Art. 13 VII GG) zu unterscheiden.

    Unter Gesetz in diesem Sinne ist stets das förmliche Gesetz zu verstehen(Verabschiedet durch ein Parlament), während die Formulierung: „aufgrundeines Gesetzes“, dem Gesetzgeber (Parlament) die Möglichkeit bietet, ineinem förmlichen Gesetz die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen danndie Exekutive selbst eingrenzende Normen setzen darf (Rechtsverordnungen,Satzungen als sog. abgeleitetes Recht).

    • Verfassungsimmanente Schranke:Wegen des Fehlens einer ausdrücklichen Schrankenregelung im Wortlaut derGrundrechtsnorm wird diese Schranke auch als ungeschriebene verfas-

    Teil I • Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

  • 19

    sungssystematische Schranke bezeichnet. Unter immanenten Schrankensind daher jene elementaren Schranken und Begrenzungen zu verstehen, dieden Grundrechten wesensgemäß innewohnen oder sich aus dem Grund-rechtssystem und der Werteordnung des Grundgesetzes zur Herstellungeiner praktischen Konkordanz ergeben.

    Einschränkungen können sich daher ergeben aus:� Grundrechte Dritter� sonstige mit Verfassungsrang gewährleistete Rechtspositionen.

    Beispiel: Zwar ist die Kunstfreiheit (vgl. Art. 5 III GG) grundgesetzlichgeschützt, aber ihre Inanspruchnahme erlaubt nicht die Verletzung rechts-staatlicher Prinzipien (vgl. Art. 20/28 GG) oder die Verletzung des Grundrech-tes eines anderen auf körperliche Unversehrtheit (vgl. Art. 2 II S. 1 GG).

    2.2 Verfassungsrechtliche Gegenschranken(Schranken – Schranken)

    Die Gesetzesvorbehalte ermächtigen den Gesetzgeber, selbst in die Grund-rechte bzw. durch die Verwaltung einzugreifen. Sie erlauben ihm damit, demGrundrechtsgebrauch Schranken zu ziehen. Der Begriff Schranken-Schran-ken bezeichnet nun die Beschränkungen, die für den Gesetzgeber gelten,wenn er von seiner Befugnis Gebrauch macht. Schranken-Schranken sinderforderlich, um eine völlige Aushöhlung des sachlichen Schutzbereichs zuverhindern. Auf der Ebene der Gegenschranken entscheidet sich der sachge-rechte Ausgleich zwischen den durch den Schutzbereich garantierten Interes-sen des jeweiligen Grundrechtsinhabers und den durch die Schranken gege-benen Interessen der Allgemeinheit oder anderen Personen. Zu beachten isthierbei die sog. „Wechselwirkungslehre“ des Bundesverfassungsgerichts(BVerfG), die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Verhältnismäßig-keitsgrundsatz steht (vgl. Fall Nr. 3).

    Nachdem im Abschnitt 2.1 als Teilergebnis festgestellt worden ist, welche derdort genannten Schranken für das jeweils auf eine Verletzung hin geprüfteGrundrecht in Betracht kommt (z. B.: der einfache Gesetzesvorbehalt), ist nunzu prüfen, ob die gesetzliche Eingriffsgrundlage den Anforderungen derSchranke entspricht und ob sie den verfassungsrechtlichen Gegenschran-ken gerecht wird.In dem Grundgesetz sind insgesamt sechs verfassungsrechtliche Gegen-schranken enthalten, die allesamt zu berücksichtigen sind und geprüftwerden müssen:� Parlamentsvorbehalt (Prinzip der Gewaltenteilung)� Verbot des einschränkenden Einzelfallgesetzes (Art. 19 I S. 1 GG)� Beachtung des Zitiergebotes (Art. 19 I S. 2 GG)� Beachtung der Wesensgehaltsgarantie (Art. 19 II GG)� Einhaltung des Bestimmtheitsgrundsatzes (Rechtsstaatsgebot)� Einhaltung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (wie vor).

    Verfassungsrechtliche Gegenschranken

  • 20

    2.3 Schranken- und verfassungsgemäßer hoheitlicher EinzelaktIst nach alledem festzustellen, dass die jeweils in Betracht kommendegesetzliche Eingriffsgrundlage den Schranken und Gegenschranken ent-spricht und damit verfassungsgemäß ist (Hinweis: bei Klausuren wird diePrüfung manchmal nicht verlangt; beachte: Bearbeitungshinweise), istnunmehr die Verfassungsmäßigkeit der hoheitlichen Einzelmaßnahmedarzulegen.

    Zu prüfen ist:

    � Hält sich der Einzelakt (VA) im Rahmen der gesetzlichen Ermächtigungs-grundlage? Das ist der Fall, wenn die Ermächtigungsgrundlage rechtsfeh-lerfrei angewendet wurde.

    � Kein Verstoß des Einzelakts (VA) gegen sonstiges höherrangiges Recht?Insbes. keine übermäßige Beeinträchtigung des betroffenen Grundrechts,d. h. Einhaltung des Übermaßverbots (Verhältnismäßigkeit i. w. S.):Geeignetheit – Erforderlichkeit – Verhältnismäßigkeit i. e. S. (Mittel-Zweck-Relation)

    � Bei Fehlen einer Schrankenregelung vorbehaltlos gewährleistete Grund-rechte:Die Kollision verbal vorbehaltlos gewährleisteter Grundrechte mit Grund-rechten Dritter oder sonstigen mit Verfassungsrang gewährleisteten Rechts-positionen ist im Sinne der Einheit der Verfassung in einem Optimierungs-verfahren aufzulösen (Herstellung praktischer Konkordanz).Unter Würdigung der im konkreten Fall kollidierenden Interessen ist durchGüterabwägung nach Möglichkeit eine Lösung anzustreben, die allenbeteiligten Verfassungsnormen zu optimaler Wirksamkeit verhilft (Grund-satz des schonendsten Ausgleichs). Nur wenn sich dies nicht erreichenlässt, so ist unter Berücksichtigung der falltypischen Gestaltung und derbesonderen Umstände des Einzelfalls zu entscheiden, welches Interessezurückzutreten hat.

    � Art. 19 II GG ist zu beachten: In keinem Fall darf das Grundrecht in seinemWesensgehalt angetastet werden (sog. Wesensgehaltssperre).

    In Anlehnung an das Prüfschema für polizeiliche Eingriffsmaßnahmenempfiehlt sich für die Prüfung der Rechtsmäßigkeit einer polizeilichenEingriffsmaßnahme, (z. B: zur Gefahrenabwehr oder zur Verfolgung vonRechtsverletzungen) folgende Reihenfolge:

    Ist der Eingriff förmlich (formell) in Ordnung?(Örtliche Zuständigkeit, Aufgabenzuweisung, Verfahrens- u. Form-vorschriften);

    Ist der Eingriff materiellrechtlich in Ordnung?– ist die Maßnahme tatbestandsmäßig im Sinne der Befugnisnorm?– richtet sie sich an den richtigen Adressaten?– ist die Maßnahme verhältnismäßig (geeignet, angemessen)?

    Teil I • Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

  • 21

    – wurde das Ermessen richtige angewandt? (beachte: Ermessens- reduzierungen)

    – liegt ein Verstoß gegen höherrangiges Recht vor? (förmlicher Gesetzesvorbehalt oder Richtervorbehalt)

    C Juristische MethodikZur richtigen Lösung von juristischen Fällen bedarf es einer gewissen Me-thodik, die den Studenten erst befähigt, die jeweiligen Probleme des Falleszu erkennen, sie richtig anzugehen und ansprechend zu lösen. Um dies zugewährleisten, sollen hier kurz die wichtigsten Grundregeln dargestelltwerden.

    1 Aufbau einer Rechtsnorm:Rechtsnormen bilden bei der Lösung juristischer Streitfragen in aller Regeldie rechtliche Grundlage und sind daher maßgeblich für die Entscheidung.Bei einer Falllösung setzt dies voraus, dass der Bearbeiter mit den ein-schlägigen Normen umgehen und sie einordnen kann. Hierfür ist dasErkennen von Aufbau, Struktur und Hierarchie der Rechtsnormen vonbesonderer Bedeutung, denn es geht bei der Falllösung nicht um einegesellschaftspolitische Bewertung der Norm selbst, sondern um die richtigeArt und Weise der Auslegung und der fallbezogenen Anwendung.

    Allgemein bezeichnet man als Rechtsnorm einen geschriebenen oderungeschriebenen Rechtssatz, der eine Regelung für einen bestimmtenSachverhalt enthält. Hier ist zunächst zwischen den verschiedenen Rechts-sätzen, die in einer Normhierarchie zueinander stehen, zu unterscheiden:� die Verfassung,� das förmliche Gesetz (verabschiedet durch ein Parlament),� die Rechtsverordnung (erlassen von einem Verwaltungsträger),� die Satzung (erlassen von einem Verwaltungsträger).

    Eine Rechtsnorm setzt sich regelmäßig aus zwei Teilen zusammen. An dasVorliegen eines generell umschriebenen Sachverhalts, des so genanntenTatbestandes, ist eine bestimmte Pflicht geknüpft, die so genannte Rechts-folge. Der Inhalt der Rechtsnorm kann also wie folgt dargestellt werden:

    Wenn ... (der Tatbestand X gegeben ist),dann ... (tritt die Rechtsfolge Y ein).

    Ein Beispiel für diese Struktur ist Art. 19 IV GG. Der Tatbestand lautet: „Wirdjemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt ...“ Daranschließt sich die Rechtsfolge an: „... so steht ihm der Rechtsweg offen.“

    Viele Rechtsnormen weichen von diesem Schema ab, da sie nicht nach der„Wenn-dann“-Struktur aufgebaut sind. Beispiele lassen sich gerade imBereich der Grundrechte finden. Dort lassen sich viele Normen aber dahin

    Aufbau einer Rechtsnorm

  • 22

    gehend interpretieren, dass lediglich der Tatbestand anders formuliert und dieRechtsfolge weggelassen wurde. So lautet z. B. Art. 4 II GG: „Die ungestörteReligionsausübung wird gewährleistet.“ Diese Norm könnte auch umformu-liert werden in folgende: „Wenn die ungestörte Religionsausübung beeinträch-tigt wird, so ist dies rechtswidrig.“1

    Die Rechtsfolge im Bereich der Grundrechte liegt also in der Regel darin, dassdie staatliche Gewalt zu einem bestimmten Tun, Dulden oder Unterlassenverpflichtet ist.

    Die Tatbestandsmerkmale einer Norm können unterschiedliche Qualitätenaufweisen. Einerseits gibt es die insbesondere aus dem Strafrecht bekannteUnterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkma-len. Objektive Tatbestandsmerkmale sind solche, die durch das äußere Bildfeststellbar sind (z. B. „Mensch“, „verletzt“ oder „Waffe“), subjektive Tatbe-standsmerkmale solche, die den psychisch-seelischen Bereich betreffen, alsodie innere Einstellung der jeweiligen Person (z. B. „absichtlich“, „vorsätzlich“oder „fahrlässig“).

    Daneben gibt es noch die Unterscheidung zwischen deskriptiven und norma-tiven Tatbestandsmerkmalen. Deskriptive Merkmale sind beschreibend, ihrVorliegen kann unmittelbar durch sinnliche Wahrnehmung festgestellt wer-den. Beispiele dafür sind solche Tatbestandsmerkmale wie „Sache“, „beweg-lich“ oder „Körper“. Normative Merkmale dagegen bedürfen zu ihrer Feststel-lung einer rechtlichen Wertung. Ohne sie lässt sich nicht feststellen, ob etwasgegen „die guten Sitten“ verstößt, etwas „fremd“ ist oder eine Person „Dienst-vorgesetzter“ ist.

    2 NormanwendungDie Anwendung einer Rechtsnorm läuft nach einem bestimmten logischenund formalen Verfahren ab, das als Subsumtion bezeichnet wird. Hierbei gehtes darum, den zu untersuchenden Sachverhalt daraufhin zu prüfen, ob dieserdie Voraussetzungen der als einschlägig herangezogenen Rechtsnorm erfüllt.Es soll also festgestellt werden, ob das jeweilige Ereignis, der betrachteteWirklichkeitsausschnitt, von der in Frage stehenden Norm erfasst wird; ob derSachverhalt unter das gesetzliche Tatbestandsmerkmal passt. Hierzu ist eshilfreich, sich zunächst die Struktur der Norm grafisch zu verdeutlichen(Tatbestand/Tatbestandsmerkmale und Rechtsfolge). Erst dann erfolgt dieSubsumtionstechnik. Die Subsumtionstechnik wird nun nachfolgend schritt-weise kurz dargestellt.

    Die Subsumtion muss für jedes einzelne Merkmal vorgenommen werden undvollzieht sich in vier Schritten. Im so genannten Obersatz werden das konkreteSachverhaltselement und das Tatbestandselement der fraglichen Norm ge-genübergestellt (erster Schritt). Dann wird das Tatbestandselement defi-

    1 Zur Vereinfachung wird hier auf die Möglichkeit der Einschränkung durch Art. 136 I, III 2, Art.137 III 1 WRV i. V. m. Art. 140 GG, Art. 12a II GG und kollidierendes Verfassungsrecht nichteingegangen.

    Teil I • Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

  • 23

    niert (zweiter Schritt) und festgestellt, ob das konkrete Sachverhaltselementdieser Definition entspricht (dritter Schritt). Abschließend wird im Untersatzdas Ergebnis der Prüfung dargelegt (vierter Schritt). An einem einfachenBeispiel demonstriert, stellt sich dies wie folgt dar:1. Schritt: Es ist fraglich, ob das von X mitgenommene Fahrrad eine Sache

    i. S. d. § 242 StGB ist.2. Schritt: Sachen sind gemäß § 90 BGB körperliche Gegenstände.3. Schritt: Das Fahrrad ist ein körperlicher Gegenstand.4. Schritt: Somit ist das Fahrrad eine Sache i. S. d. § 242 StGB.

    Bei diesem Vorgehen werden die Überlegungen des Verfassers aufgezeigtund der Leser wird zum Ergebnis geführt. Dieser so genannte Gutachtenstilsteht im Gegensatz zum so genannten Urteilsstil, bei dem das Ergebnis amAnfang steht und die Begründung nachfolgt. In einem Gutachten darf aufUrteilsstil nur bei absolut offensichtlichen Fragen zurückgegriffen werden (soz. B. bei der Frage, ob ein Fahrrad eine Sache ist), er ist aber in aller Regel zuvermeiden. Ebenso sind allgemeine Darstellungen und Erwägungen zu ver-meiden, die sich nicht in das Subsumtionsschema einordnen lassen. Da sienicht der Subsumtion dienen, tragen sie auch nicht zur Lösung des konkretenFalles bei und sind überflüssig.

    Die Subsumtionsschritte bzgl. der einzelnen Tatbestandsmerkmale sind ineiner Gesamtsubsumtion zusammenzufassen. Die Ausgangsfrage für dasobige Beispiel wäre z. B.: „Hat X sich eines Diebstahls gemäß § 242 StGBschuldig gemacht, indem er das Fahrrad mitnahm?“ Die Antwort auf diesenFragesatz könnte z. B. lauten: „X hat sich somit eines Diebstahls gemäß § 242StGB schuldig gemacht.“ Auch diese beiden Sätze sind der Obersatz (ersterSchritt) und der Untersatz (vierter Schritt) einer Subsumtion. Bezüglich derSchritte drei und vier ergibt sich jetzt eine kleine Abweichung zum obenbeschriebenen Subsumtionsvorgang, da man es mit mehreren Merkmalen zutun hat. Auf jedes einzelne Merkmal ist aber wieder die Subsumtion anwend-bar. Das heißt für obiges Beispiel Folgendes:

    I. Schritt: Hat X sich eines Diebstahls gemäß § 242 StGB schuldig ge-macht, indem er das Fahrrad mitnahm?

    II. Schritt: Einen Diebstahl begeht, wer tatbestandsmäßig, rechtswidrig undschuldhaft i. S. d. § 242 StGB handelt.

    1. Schritt: Hat X i. S. d. § 242 StGB tatbestandsmäßig gehandelt?

    2. Schritt: Tatbestandsmäßig i. S. d. § 242 StGB handelt, wereine fremde, bewegliche Sache einem anderen wegnimmt.1.) Schritt: Ist das von X mitgenommene Fahrrad eine Sa-

    che?2.) Schritt: Sachen sind gemäß § 90 BGB körperliche Gegen-

    stände.3.) Schritt: Das Fahrrad ist ein körperlicher Gegenstand.

    Normanwendung

  • 24

    4.) Schritt: Somit ist das Fahrrad eine Sache.1.) Schritt: Ist das von X mitgenommene Fahrrad für ihn

    fremd?2.) Schritt: Fremd ist eine Sache, die wenigstens einem

    anderen als dem Täter gehört.3.) Schritt: Das Fahrrad gehört nicht dem X.4.) Schritt: Somit ist das Fahrrad für X fremd.1.) Schritt: Ist das von X mitgenommene Fahrrad beweg-

    lich?Schritte 2.)-4.): entsprechend

    3. Schritt: X hat also eine fremde, bewegliche Sache einemanderen weggenommen.

    4. Schritt: Mithin hat X tatbestandsmäßig gehandelt.1. Schritt: Hat X rechtswidrig gehandelt?Schritte 2.-4.: entsprechend1. Schritt:Hat X schuldhaft gehandelt?Schritte 2.-4.: entsprechend

    III. Schritt: X hat tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft i. S. d.§ 242 StGB gehandelt.

    IV. Schritt: X hat sich eines Diebstahls gemäß § 242 StGB schuldiggemacht.

    Wie an diesem Schema deutlich wird, zeichnet sich die Gesamtsubsumtiondadurch aus, dass viele Subsumtionen ineinander geschachtelt werden. Dasändert aber nichts am Schema der Subsumtion, sei es im Großen oder imKleinen.

    Bei der Erstellung eines Gutachtens ist allerdings zu berücksichtigen, dassnicht das gesamte dargestellte Schema wiederzugeben ist. Damit die Darstel-lung nicht ungelenk, anfängerhaft und langatmig wirkt, müssen vielmehreinige Schritte sehr verkürzt dargestellt oder mitunter sogar weggelassenwerden.

    3 KollisionsregelnEine besondere Problematik bei der Rechtsanwendung kann sich darausergeben, wenn mehrere Rechtssätze nebeneinander auf den gleichenSachverhalt anzuwenden sein könnten.

    Da jede Rechtsordnung in sich eine Einheit bildet, kann es bezüglich derAnwendbarkeit eines Rechtssatzes auf eine Rechtsfrage auch nur einerichtige Antwort geben. Regeln verschiedene Rechtssätze einen Sachver-halt, dann muss klar sein, welcher Rechtssatz Vorrang hat.

    Sofern die Rechtsfolgen gleich sind, ist eine Kollision unproblematisch. EinBeispiel dafür ist, wenn jemand sowohl wegen einer Vertragsverletzung alsauch wegen einer unerlaubten Handlung nach dem BGB schadensersatz-pflichtig wird.

    Teil I • Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

  • 25

    Eine unproblematische Situation kann auch gegeben sein, wenn durch dieanwendbaren Rechtsnormen unterschiedliche Rechtsfolgen angeordnetwerden. Dies ist z. B. der Fall bei einer vorsätzlichen Sachbeschädigung,die sowohl einen Schadensersatzanspruch nach dem BGB als auch dieStrafbarkeit nach dem StGB begründet.

    Sollte dagegen nicht die Möglichkeit bestehen, beide Rechtssätze neben-einander anzuwenden, so muss entschieden werden, welcher Norm derAnwendungsvorrang zukommt. Für diese Entscheidung gibt es verschiede-ne Grundregeln.

    a) Bundesrecht bricht LandesrechtIn unserem föderativ verfassten Staat gibt es Normgeber auf verschiede-nen Rangstufen (Bundesrecht, Landesrecht, Ortsrecht). In der Regel ent-spricht der Rang einer Rechtsquelle dem Rang des rechtsetzenden Or-gans. Das Verhältnis von Bundes- und Landesrecht zueinander wird durchArt. 31 GG ausdrücklich geregelt. Das bedeutet nun, dass alle Regelungendes Bundesnormgebers, die er im Rahmen seiner Gesetzeskompetenzen(vgl. Art. 71 ff. GG) erlässt, jedem Landesrecht vorgehen, ohne Rücksichtauf die Qualität des Landesrechts.

    b) Vorrang des höherrangigen Rechtssatzes (lex superior derogatlegi inferiori)

    Genau betrachtet handelt es sich bei diesem Grundsatz nicht um eine Frageder Konkurrenz, sondern um die Geltung einer Norm. Treffen zwei Normenaufeinander, die in Konflikt stehen, so geht die ranghöhere Norm vor und dierangniedrigere Norm ist unwirksam bzw. nichtig.

    Diese Situation ist z. B. gegeben, wenn ein einfaches Gesetz gegenVerfassungsrecht verstößt oder eine Rechtsverordnung gegen höherrangi-ges Recht (Verfassungsrecht oder förmliche Gesetze) verstößt.

    Das Schaubild auf der folgenden Seite 26 soll die Hierarchie (stufenmäßigaufgebaute Rechtsordnung) der geschriebenen Rechtsquellen des natio-nalen Rechts verdeutlichen.

    c) Vorrang der spezielleren Norm (lex specialis derogat legi generali)Stehen zwei Rechtssätze in Konflikt, von denen der eine für den jeweiligenFall spezieller ist, so geht dieser vor. Bei diesem Grundsatz handelt es sichum ein echtes Kollisionsproblem, da beide Normen wirksam sind undGeltung beanspruchen.

    Eine Spezialität liegt vor, wenn ein Rechtssatz alle Tatbestandsmerkmaleeines anderen Rechtssatzes und zumindest ein darüber hinausgehendesMerkmal beinhaltet. Eine solche Spezialität kann ausdrücklich gesetzlichgeregelt sein oder sich einfach aus dem Verhältnis der Normen zueinanderergeben. Eine Spezialität ist z. B. gegeben zwischen den speziellen Frei-heitsgrundrechten wie z. B. Art. 5 GG und der allgemeinen Handlungsfrei-heit (Art. 2 I GG) oder § 243 StGB (besonders schwerer Fall des Diebstahls)als spezielle Norm im Verhältnis zu § 242 StGB (Diebstahl).

    Kollisionsregeln

  • 26

    Teil I • Einführung in die juristische Denk- und Arbeitsweise

    Gru

    nd

    ges

    etz

    .

    m

    ein

    fach

    e B

    un

    de

    sge

    setz

    e

    m

    Ve

    rord

    nu

    ng

    en

    de

    s B

    un

    de

    s m

    Sa

    tzu

    ng

    en

    bu

    nd

    esu

    nm

    itte

    lba

    rer

    juri

    stis

    che

    rmP

    ers

    on

    en

    de

    s ö

    ffe

    ntli

    che

    n R

    ech

    ts

    n

    Lan

    des

    verf

    assu

    ng

    en

    m

    m

    ein

    fach

    e L

    an

    de

    sge

    setz

    e

    n

    lan

    de

    sre

    chtli

    che

    Ve

    rord

    nu

    ng

    en

    m

    Sa

    tzu

    ng

    en

    lan

    de

    sun

    mitt

    elb

    are

    r ju

    rist

    isch

    er

    mP

    ers

    on

    en

    de

    s Ö

    ffe

    ntli

    che

    n R

    ech

    ts

    m

    Ko

    mm

    un

    ales

    (au

    ton

    om

    es)

    Rec

    ht

    n

    Ve

    rord

    nu

    ng

    en

    ko

    mm

    un

    ale

    r G

    eb

    iets

    körp

    ers

    cha

    fte

    n

    v

    S

    atz

    un

    ge

    n k

    om

    mu

    na

    ler

    juri

    stis

    che

    r P

    ers

    on

    v

    Bu

    nd

    esre

    cht

    Lan

    des

    rech

    t

    Ort

    srec

    ht

  • 27

    d) Vorrang der jüngeren Rechtsnorm (lex posterior derogat legi priori)Auch hier handelt es sich bei genauer Betrachtung um die Frage derGeltung einer Norm. Kollidieren ein neuer und ein älterer Rechtssatz, so hatdie ältere Norm durch den Erlass der neueren ihre Geltung eingebüßt.Diese Regel gilt allerdings nur im Falle einer Kollision. Sollten sich dieRechtssätze nicht im Widerspruch zueinander befinden, so können sieauch nebeneinander Anwendung finden.

    e) Rangordnungen der ungeschriebenen RechtsquellenDer Rang des Gewohnheitsrechts richtet sich nach seinem Inhalt undseinem Verbreitungsgebiet. Folglich gibt es Gewohnheitsrechtssätze aufallen Stufen der Hierarchie. Dass das Bundesrecht auch hier höherrangigist als das Landesrecht, folgt wiederum aus Art. 31 GG.

    Beispiele: Es gibt den Grundsatz, dass mit dem Ende einer Legislaturpe-riode alle parlamentarischen Vorlagen, Anträge und Anfragen, ausgenom-men Petitionen, erledigt sind (Grundsatz der „sachlichen Diskontinuität“).Dieser Grundsatz wird als Verfassungsgewohnheitsrecht angesehen.

    Die gewohnheitsrechtlich entwickelten und anerkannten Rechtssätze überdie Haftung für „culpa in contrahendo“, die positive Vertragsverletzung unddie Sicherungsübereignung, hatten vor dem 1. 2. 2002 den Rang einesförmlichen Bundesgesetzes.

    f) Rangordnung des EuroparechtsEs ist mittlerweile unstrittig, dass sich das Europarecht vom zwischenstaat-lichen zum überstaatlichen Recht entwickelt hat und deshalb dem nationa-len Recht übergeordnet ist, da die Mitgliedstaaten der zwischenstaatlichenOrganisation EU Hoheitsrecht übertragen haben. Seit dem sog. „Solange IIBeschluss“ des BVerfG gilt dies auch für die Grundrechte.

    Kollisionsregeln