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ISBN 0178-4757 Preis 4 Euro Das FORSCHUNGSMAGAZIN der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1/2008 24. Jahrgang NATUR & GEIST

NATUR & GEIST - Willkommen an der JGU! · dass bei der Arbeit an den Grenzen des Wissens auch ethische Fragen bedacht werden. Dass die Mediatisierung vor der Wissenschaft nicht halt

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Prei

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Euro

Das FORSCHUNGSMAGAZIN der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

1/2008 24. Jahrgang

NATUR & GEIST

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Page 2: NATUR & GEIST - Willkommen an der JGU! · dass bei der Arbeit an den Grenzen des Wissens auch ethische Fragen bedacht werden. Dass die Mediatisierung vor der Wissenschaft nicht halt

Lange etabliert und strukturiert ist in Mainzauch die Immunologie und Tumorforschung, ausderen Feld ein Beitrag zur Früherkennung von Darm-krebs mit dem neuen diagnostischen Verfahren derEndomikroskopie stammt.

Das Heft erlaubt einmal mehr einen Blick in dieWerkstätten der Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler unserer Universität, und ich finde es gut,dass bei der Arbeit an den Grenzen des Wissens auchethische Fragen bedacht werden.

Dass die Mediatisierung vor der Wissenschaftnicht halt macht, wie uns durch einen weiterenArtikel zum Thema Medien deutlich gemacht wird,lässt uns einen Hauch der Kraft und Macht derMedien ganz hautnah fühlen.

Für die nähere Zukunft sehe ich unser Schiffmit seiner Vielfalt an Forschungen und Ideen und sei-ner höchst anregenden intellektuellen Mannschaftnach den vergangenen Reform-Jahren vor etwasruhigerem Wasser. Der Zugewinn an Teamgeist, diebisher schon gewonnene Erfahrung in kooperativerForschung, aber auch der Zugewinn an Selbstbe-wusstsein wird für die Zentren, Schwerpunkte undProjekte der neuen Forschungsinitiative des LandesRheinland-Pfalz sehr förderlich sein und uns in unse-rer Wissenschaft voranbringen.

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Jeder spricht von Medien, aber einen einheitlichenMedienbegriff scheint es weder in der wissenschaft-lichen Terminologie noch in der Umgangssprache zugeben. Und doch stimme ich dem einleitenden Satzzum Schwerpunkt „Medienkonvergenz“ zu: „Die ge-sellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit erfolgtim öffentlichen wie im nicht-öffentlichen Raummittlerweile fast ausnahmslos über Medien, die imZuge der Digitalisierung interaktiv und multimedialgeworden sind“.

Der Schwerpunkt Medienkonvergenz soll imRahmen der Forschungsinitiative des Landes Rhein-land-Pfalz eingerichtet werden – Anlass genug einentextlichen Schwerpunkt im Forschungsmagazin derJohannes Gutenberg-Universität zu bilden. Das intel-lektuelle Umfeld für Medienforschung ist an derUniversität Mainz hervorragend. Die medienbezo-gene Forschung und Lehre auf dem Campus findetin Reichweite bedeutender Fernsehanstalten undPrintmedien statt, die ihren Sitz in der „Medien-hauptstadt Mainz“ oder der näheren Umgebunghaben. Was bisher fehlte, war die Materialisierung ineiner Struktur, für die zukünftig die Begriffe„Mainz Media Zentrum“ und „Mainz Media Forum“sowie ein neues Medienhaus stehen werden.

Unser Heft gibt exemplarisch einen Einblick inallgemeine und spezielle Themen der Medienfor-schung. Der Rahmen wird hier unter anderem ab-gesteckt durch Beiträge zu Medienkonvergenz,Medienrecht und Medienintelligenz. SpezielleBeiträge sind zum Beispiel die Gewinnung eines„Referenzrahmens“ aus 17.000 heimlich aufgenom-menen Abhörprotokollen von Gesprächen deutscherund italienischer Kriegsgefangener des zweiten Welt-krieges in britischen Lagern oder auch die Neologis-menlexikographie, die der Zeit den Puls fühlt und dieMöglichkeit bietet, sprachliche Neubildungen aufZeitgeschichte, Kultur und Mentalität der Sprachträ-ger zurückzuführen.

Mit dem Medium digitaler Fotografie nähernwir uns dem tendenziell unerschöpflichen Feld be-deutungsgebender visionärer ästhetischer Welt undSelbsterfahrung, die aus der Vergänglichkeit allesIrdischen schöpft.

Nicht minder grundsätzlicher Art – außerhalbder Medien – sind die Fragestellungen der Teilchen-physik und Kernchemie, die als seit langem bestehen-de Schwerpunkte der Johannes Gutenberg-Universi-tät über hochentwickelte Methoden und Großtechnikverfügen.

Prof. Johannes PreußVizepräsident für Forschung

EDITORIAL

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INHALT

IMPRESSUM

HerausgeberDer Präsident der Johannes Gutenberg-UniversitätMainz, Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch

VerantwortlichPetra GiegerichLeiterin Bereich Öffentlichkeitsarbeit

RedaktionDr. Frank Erdnüß, Bettina Leinauer,Annette Spohn-Hofmann

KontaktTel.: +49 (0)611- 40 90 200Email: [email protected]

Auflage4.000 Exemplare, die Zeitschrifterscheint zweimal im Jahr

GestaltungThomas Design, Freiburg

VertriebBereich Öffentlichkeitsarbeit

Medienagenturdie webfabrik GmbHMartina WeyerhäuserKapellenstrasse 22D-55124 MainzTel. +49 (0) 6131-46 519-42Fax +49 (0) 6131-46 519-99Mobil +49 176 20 15 08 40Email: [email protected]

DruckWerbedruck GmbH Horst SchreckhasePostfach 123334283 SpangenbergTel. +49 (0)56 63-94 94Fax +49 (0)56 63-93 988-0Email: [email protected]

Namentlich gekennzeichnete Aufsätze geben nichtunbedingt die Meinung des Herausgebers wieder.Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktiongestattet.

EINFÜHRUNG

Medien – ein interdisziplinäres Forschungsfeld

Von Stephan Füssel

MEDIEN – FORSCHUNG

Medienkonvergenz, Medienperformanz und Medienreflexion

Von Matthias Bauer

MEDIEN – RATGEBER

Aporien des Alltags –

Ratgeberliteratur und spätmoderne Ratlosigkeit

Von Timo Heimerdinger, Michael Simon und Natalie Voges

MEDIEN – KOMMUNIKATION

Kommunikatives Handeln – eine Schnittstelle von

Kommunikations- und Medienwissenschaft

Von Karl N. Renner

MEDIEN – WOHLTÄTIGKEIT

Massenmedien und Spendenkampagnen

Von Jürgen Wilke

MEDIEN – WISSENSCHAFT

Der Einfluss der Medien auf die Klimaforschung

Von Hans Mathias Kepplinger und Senja Post

MEDIEN – KOMPETENZ

Was bedeutet Medienintelligenz?

Von Susanne Marschall

MEDIEN – DIGITAL

Electronic Paper – ein technisches Medium

fördert die Konvergenz der Medien

Von Stephan Füssel

MEDIEN – RECHT

Das Medienrecht vor den neuen Herausforderungen

der Digitalisierung und der Konvergenz

Von Dieter Dörr

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Schwerpunkt Medien

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INHALT

5FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

THEOLOGIE

Bildungsethik – Ethische Bildung

Von Gerhard Kruip und Katja Winkler

SPORT

Der Ideengeber des olympischen Marathonlaufs:

Der Pfälzer Michel Bréal (1832-1915)

Von Norbert Müller

MEDIZIN

Endomikroskopie: Eine Reise durch den menschlichen Darm

Von Ralf Kiesslich, Martin Götz und Markus F. Neurath

SPRACHWISSENSCHAFT

„Neue Zeiten – neue Wörter – neue Wörterbücher“

Von Erika Worbs

GESCHICHTE

Lauschangriff im Lager –

neue Quellen zum Referenzrahmen des Krieges

Von Sönke Neitzel

PHYSIK

Auf der Suche nach den fundamentalen Gesetzen der Natur

Von Stefan Tapprogge

KERNCHEMIE

Forschung mit Neutronen in Chemie und Physik am TRIGA Mainz

Von Klaus Blaum, Klaus Eberhardt, Gabriele Hampel, Werner Heil,

Jens Volker Kratz und Wilfried Nörtershäuser

BIOLOGIE

Biologische Vielfalt in Ostafrika:

Folgen von Landnutzung und Klimawandel

Von Nina Farwig und Katrin Böhning-Gaese

BILDENDE KUNST

Ästhetik der Verwitterung

Von Jörg Zimmermann

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Aus den Fachbereichen

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Die Ausgangslage

„The printing press as an agent of Chance“ lautet einepochemachender Buchtitel aus den 1960er Jahrenvon Elizabeth Eisenstein, in dem die Autorin dieWechselwirkung von Technikgeschichte und Geis-tesgeschichte sowie die zunehmende Rolle und Be-deutung der Medien bei der Konstitution von Wirk-lichkeit nachweisen konnte. Heute findet eine umfas-sende Mediatisierung der Lebenswelt mit zunehmen-der Geschwindigkeit und Breitenwirkung statt. Diegesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit erfolgtim öffentlichen wie im nicht-öffentlichen Raum mitt-lerweile fast ausnahmslos über Medien, die im Zugeder Digitalisierung interaktiv und multimedial gewor-den sind – also mehrere Sinne gleichzeitig anspre-chen und eine dialogische Kommunikation ermögli-chen, die nicht mehr ausschließlich nach der Lass-well-Formel von 1948 (Who says what in whichchannel to whom with what effect?) untersucht wer-den kann. Die Folgen sind theoretischer, praktischerund methodischer Art, da sie den Begriff der Medienebenso stark verändern wie das Tätigkeitsfeld derMedienberufe und die Forschung, die sich mit diesemTätigkeitsfeld und der von ihr ausgehenden Wirkungunter kulturellen, technischen, ökonomischen undjuristischen Gesichtspunkten beschäftigt.

Eine wichtige Rolle spielt dabei auch dieGestaltung der Medien, die zugleich eine technischeund eine künstlerische Herausforderung darstellt.Ebenso wie die soziale Teilhabe an der medialen Kon-struktion von Wirklichkeit weist daher die Medien-forschung und -gestaltung eine dezidiert performati-ve Dimension auf, die sich u.a. darin zeigt, dass diealltägliche Nutzung des Internets eine explorative

Funktion besitzt, die mit der Medienevolution rück-gekoppelt ist und neue Verhaltens- und Denkweisenkreiert. Um diese Praxis theoretisch zu erfassen, istauch die Forschung gehalten, Methoden der Explo-ration zu entwickeln, die einen performativen Cha-rakter haben. Im Ergebnis führt dies etwa zur Simu-lation von Rezeptionsprozessen im Medienlabor oderzur teilnehmenden Beobachtung der kulturellenSzenen, die sich – wie die blogs im web 2.0 – quaMediennutzung konstituieren.

Die bestehende Infrastruktur derMedienforschung in Mainz

Die Johannes Gutenberg-Universität in Mainz zeich-net sich durch ein bundesweit nahezu einzigartigesProfil und Potential in den Medienfächern aus. Zumeinen wurden hier seit der Einrichtung des Guten-berg-Lehrstuhls für Buchwissenschaft (1947) und derBegründung des Instituts für Publizistik (1966) diebeiden komplementären Forschungszweige der his-torisch-hermeneutischen Medialitätsforschung undder empirischen Kommunikationswissenschaft syste-matisch ausgebaut: durch das Journalistische Se-minar (1978), das Institut für Theaterwissenschaft(1990), das Seminar für Filmwissenschaft (1993) unddas Mainzer Medieninstitut (1999) – einer wissen-schaftlichen Einrichtung zur interdisziplinärenWeiterbildung im Medienrecht, die von der JohannesGutenberg-Universität gemeinsam mit dem LandRheinland-Pfalz, dem Zweiten Deutschen Fernsehen(ZDF), dem Südwestrundfunk (SWR) und der Landes-zentrale für private Rundfunkveranstalter (LPR)betrieben wird. Ebenso kooperativ ist zum anderendas Mainzer Medienhaus angelegt, in dem sich ne-ben dem Elektronischen Medienzentrum (EMZ) dasSeminar für Filmwissenschaft, der Offene Kanal – dasBürgerfernsehen der Stadt Mainz – Campus-TV, Ab-teilungen der Fachhochschule (Fachbereich IIKommunikationsdesign, Zeitbasierte Medien) unddie Kinemathek der Johannes Gutenberg-Universitätbefinden.

EINFÜHRUNG

Medien – ein interdisziplinäres Forschungsfeld

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Von Stephan Füssel

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Jüngstes Beispiel für das Potential der MainzerMedienwissenschaften ist die „Initiative Medien-intelligenz“, ein Online-Portal für Video-Journalismus(podcasting) mit workshops, in denen neue Formender Bürgerkommunikation – insbesondere mit ju-gendlichen TeilnehmerInnen – erprobt und erforschtwerden. Ein Mainzer Spezificum ist der künstlerischeFachbereich 11, dessen Bereiche der ExperimentellenMusik und der Videokunst mit dem Forschungs-schwerpunkt Medien kooperieren; Medienkunst wirdals Vorreiter und kreativer Nutzer technologischerEntwicklungen verstanden, die sowohl in ihremSinnpotential als auch in ihren Anwendungsprofilenauf den Prüfstand gestellt werden.

Ausblick

Die Johannes Gutenberg-Universität ist nachhaltigbemüht, diese Infrastruktur gemäß der Empfehlun-gen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- undMedienwissenschaften in Deutschland auszubauen,die der Wissenschaftsrat am 25. Mai 2007 beschlos-sen hat. Angestrebt wird ein systematischer Ausbaudes interdisziplinären Forschungsfeldes, in dem u.a.die Publizistikwissenschaft und das Medienrecht, dieBuchwissenschaft, die Kulturanthropologie und dieMedienkünste kooperieren – und zwar sowohl in derhistorischen Situierung als auch in der zukunftsge-wandten Analyse der Gegenwart.

Die mit den Stichworten der Digitalisierungund der Medienkonvergenz benannte Fusion vonText, Bild und Ton sowie die zunehmend interaktivenFormen der Mediennutzung führen – nicht nur imInternet – zu einer Neuorganisation des kulturellenWissens wie des sozialen Gedächtnisses, die intensivuntersucht und pädagogisch begleitet werden muss.Nur in der verstärkten Zusammenarbeit sozial- undkulturwissenschaftlich orientierter Disziplinen, empi-rischer und hermeneutischer Methoden, technologi-scher und philosophischer Bemühungen kann esnach Auffassung des Wissenschaftsrates gelingen,

EINFÜHRUNG

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die rechtlichen und wirtschaftlichen Folgen der Me-dienevolution, ihre kulturellen Potentiale und kreati-ven Möglichkeiten kritisch zu erfassen und wissen-schaftlich aufzuarbeiten. Einige Akzente dieser Be-mühungen werden im vorliegenden Forschungs-magazin skizziert.

Univ.-Prof. Dr. Stephan FüsselSprecher des Schwerpunktes Medien

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Stephan FüsselLeiter des Instituts für BuchwissenschaftJohannes Gutenberg-Universität MainzWelderweg 18D-55099 MainzTel. +49 (0)6131-39 22 580Email: [email protected]

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Die Medienforschung an der Johannes Gutenberg-Universität läuft auf Hochtouren. In einem vonzahlreichen bedeutsamen Medien (ZDF, SWR, 3sat,HR, FAZ, FR und RMP) geprägten Umfeld richtetsich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft aufdas Wechselspiel von Medien- und Gesellschafts-wandel.

Obwohl ‚die Medien‘ in aller Munde sind, scheint esweder in der Umgangssprache noch in der wissen-schaftlichen Terminologie einen einheitlichenMedienbegriff zu geben. Während die einen bei denMedien vor allem an die Mittel der Massenkommu-nikation, insbesondere an das Fernsehen, denken,sind andere eher an der Wechselwirkung vonSchriftkultur und modernem Bewusstsein interessiertoder von der virtuellen Welt fasziniert, die im Internetentsteht. Hinzu kommt der vermeintliche Gegensatz,der zwischen empirischen Daten und sozialwissen-schaftlichen Methoden einerseits und kulturhistori-schen Interessen und hermeneutischen Verfahrenandererseits besteht. Gleichwohl kann man zweiLeitmotive ausmachen, die mittlerweile eigentlichalle Forscherinnen und Forscher umtreiben, die sichmit der Gestaltung und Nutzung, der Wirkung undBedeutung technisch vermittelter Kommunikations-akte beschäftigen: das Leitmotiv der Medienkonver-genz und das Leitmotiv der Medienperformanz.

Leitmotiv: Medienkonvergenz

Zum einen geht es um die Digitalisierung praktischaller Medieninhalte und -formen, also um die elek-tronische Erfassung, Speicherung und tendenziellweltweite Verbreitung von Texten und Tönen, beweg-ten und unbewegten Bildern durch (zunehmendmobile) Apparate, die multimedial und interaktivangelegt und miteinander vernetzt sind. In dieserHinsicht kommt die technische Entwicklung, die zurMedienkonvergenz führt, Marshall McLuhans Visionvon einer Welt, die – elektronisch zusammengezogen– nur noch ein „global village“ sei (vgl. 1), scheinbarsehr nahe – nur dass die soziologischen und politi-schen, die juristischen und kulturellen, die ethnischenund ethischen Probleme, die sich aus der Medien-konvergenz ergeben, eben gerade nicht mehr imÄltestenrat unter der Dorfeiche gelöst werden kön-nen.

Leitmotiv: Medienperformanz

Das Konzept der Medienperformanz geht davon aus,dass der Umgang mit Hörfunk- und Fernsehpro-grammen, mit Computer-Spielen und Chat-Foren,blogs und anderen Medienformaten in der Regelgerade nicht so eingeübt und gelernt wird, wie manin der Schule über die Grammatik der Sprache oderdas Regelwerk der Mathematik aufgeklärt wird.Vielmehr wird Medienkompetenz in etwa so aufge-baut, wie Kinder die Fähigkeit zum Sprechen undBezugnehmen, zum Denken und Schlussfolgernerwerben, also „step by step“ und im Sinne von„learning by doing“. Es ist alles andere als ein Zufall,dass die Vollzugsform des Aufbaus mentaler undkommunikativer Fertigkeiten durchaus an das Prinzipvon „plug and play“ erinnert, muss sich ein Kinddoch in bestimmte Dialoge und Kommunikationssys-teme einschalten (plug) und im Rahmen von mehroder weniger komplexen Sprachspielen (play) lernen,wie man mit Worten und Menschen umgeht, wieman die Dinge beim Namen nennt und mittels verba-ler oder nonverbaler Äußerungen Handlungen aus-führt. Und eben auf diese Vollzugsform derMedienpraxis zielt der Begriff der Performanz ab, deralle Tätigkeiten des Nach- und Mitvollzugs, des Vor-führens, Aufführens und Ausführens umfasst.

Interessant ist, dass der Ausdruck ‚Medienper-formanz‘ eine dezidiert interdisziplinäre Genese hat.In der Sprachwissenschaft sind Kompetenz undPerformanz Komplementärbegriffe. Die Kompetenzwird im Vollzug erworben, der Vollzug sprachlicherHandlungen setzt entsprechende Fertigkeiten voraus.Hatte man zunächst gedacht, dass die Äußerungen,mit denen man Handlungen vollzieht, eine bestimm-te Sonderklasse von Sprechakten bilden, geht manheute davon aus, dass jede Kommunikation eine per-formative Dimension besitzt. Das wird gerade dortdeutlich, wo man es wie im Theater, in der Literaturoder im Film mit inszenierten Diskursen zu tun hat.Freilich erschöpft sich die performative Dimensionder Kommunikation nicht im Vorführen und ZurSchau Stellen. Vielmehr besteht die grundlegendeIdee der Sprechakttheorie darin, dass man nicht nuretwas aussagen und die Welt beschreiben, sondernmittels Sprache tatsächlich Welt erzeugen kann –zumindest jene Welt der sozialen Tatsachen, in der eskulturelle Bedeutungen gibt. Diese Welt der sozialenTatsachen ist immer eine von Menschen gemachteWelt, die unter Beobachtung steht. Daher lässt sichder Begriff der Performanz auch ästhetisch und dra-

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Von Matthias Bauer

Medienkonvergenz, Medienperformanz und Medienreflexion

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maturgisch akzentuieren – als Hinweis auf den szeni-schen Charakter der Lebenswelt, zu der sowohl diealltäglichen Handlungen und Beobachtungen alsauch die spezifischen Szenen, Interaktionen undInterpretationsprozesse der Kunst gehören (vgl. 2).

Überträgt man dieses Konzept vom Kom-munikationsmittel der Sprache auf die Medien, sozeigt sich, dass auch die Medien nicht einfach nuretwas über die Welt aussagen oder bestimmteEreignisse, die unabhängig von ihnen geschehensind, beschreiben, sondern selbst Welten erzeugenund Ereignisse hervorbringen, die es so nur dankoder wegen der Medien gibt, die sich als Bühne fürvielfältige Inszenierungen eignen (darauf hat alseiner der ersten Daniel J. Boorstin in einem Buch überPseudo-Ereignisse hingewiesen; vgl. 3). Dieser Pro-duktivität der Medien stehen Rezeptionsprozessegegenüber, die wiederum auf das Wechselspiel vonKompetenz und Performanz bezogen sind. Was manmit einem Stift oder einer Kamera, einer Zeitung odereinem Computer machen kann, wird in Medien-spielen eingeübt, in denen es einen fließenden Über-gang von der Rolle des Beobachters zur Rolle desNachahmenden und von der Rolle des Nachahmen-den zur Rolle des Vorführenden geben kann.Tatsächlich hat die technologische Entwicklung, diezur Medienkonvergenz führt, eine Situation geschaf-fen, in der praktisch jeder Rezipient zum Produzentenvon Medieninhalten und Medienformen werdenkann, wobei die ästhetische Anmutungsqualität undDramatik der Szenen, in denen medial verfasste odermedial vermittelte Kommunikationsakte stattfinden,immer perfekter wird. In 3-D und HD-Qualität ani-mierte Computerspiele sprechen Augen, Ohren,Hände, Verstand und Gefühl mit bewegten Bildernund Tönen an, die längst die Präsenz von Spielfilmenhaben, nur dass man an diesen Filmen mitspielenund den dramatischen Verlauf der Ereignisse beein-flussen kann.

Medienkonvergenz und Medienreflexion

Auch die Probleme, die sich aus der Medien-konvergenz ergeben, lassen sich in besonders auf-schlussreicher Weise untersuchen, wenn man auf denBegriff der Medienperformanz rekurriert und diesenBegriff so spezifiziert, dass die Paradoxie der techno-logischen Entwicklung offensichtlich wird. Geht mannämlich davon aus, dass die Wahrnehmungs- undGesprächssituationen, in denen sich nicht nur derSpracherwerb eines Kindes, sondern praktisch allekommunikativen Handlungen – also auch die(lebenslänglichen) Prozesse der Mediensozialisation– ereignen, thematisch wie sozial durch den synrefe-rentiellen Bezirk integriert werden, auf den sich dieBeteiligten jeweils einstellen, kann man dieseSituationen als „Szenen gemeinsamer Aufmerk-samkeit“ bezeichnen (vgl. 4). Szenen sind, wiebereits angedeutet wurde, dadurch definiert, dass inihnen mindestens zwei Ereignisse zusammenstoßen:eine Handlung und deren Beobachtung. Ebensowichtig ist, dass alle Handlungen und Beobach-tungen einen Vollzugscharakter besitzen, dessenForm Auswirkungen auf den Verlauf und das Ergebnisder szenischen Aktion hat. Die Pointe der Medienscheint nun, wie vor allem Joshua Meyrowitz in sei-nem klugen Buch über Die Fernsehgesellschaft darge-legt hat, darin zu bestehen, dass sie Szenen, die sichan verschiedenen Orten (und zu verschiedenenZeiten) mit und ohne Zuschauer ereignen, in denFokus einer gemeinsamen Aufmerksamkeit vonMenschen rücken, die sich in ihrer alltäglichen Le-benswelt womöglich niemals treffen und auch nichtmiteinander interagieren würden (vgl. 5).

Medienreflexion beginnt, so gesehen, in demAugenblick, in dem die mediale Dimension dermodernen Lebenswelt, die aus Szenen gemeinsamerAufmerksamkeit zusammengesetzt ist, noch einmalunter Beobachtung gestellt wird. So offensichtlich es

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Das Fernsehstudio imElektronischen Medienzentrum(EMZ) in der Wallstrasse, unteranderem genutzt von Campus-TV.

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einerseits ist, dass die Konvergenz der Medien dieLebenswelt mit einer zusätzlichen Erlebnissphäreausgestattet hat, die nahezu alle Sinne anspricht undmittlerweile Echtzeit-Interaktionen mit Menschenüberall auf dem Globus ermöglicht, so unübersicht-lich erscheint andererseits die Medienperformanz,die in unzählige Einzelszenen und Formate zerfällt.Diese Unübersichtlichkeit steuert auf jenen Limes zu,an dem das Prinzip der gemeinsamen Aufmerk-samkeit radikal und irreversibel unterlaufen wird.

Als Joshua Meyrowitz die Fernsehgesellschaftbeschrieb, konnte er nur einen Ausblick auf die On-line-Nomaden geben, die sich im Internet verlieren(vgl. 6). Sein Ausblick ließ aber immerhin schon er-kennen, dass die beiden Modelle der Medienkonver-genz und der Medienperformanz, auf die er seineUntersuchung abgestellt hatte – Marshall McLuhansVision vom globalen Dorf und Erving GoffmansKopplung von sozialer Szene und Rahmenanalyse –problematisch werden könnten. Inzwischen ist dieseKrise akut geworden. Zwar kann man nach wie vormit Goffman sagen: „Wir alle spielen Theater“ unddann die alltäglichen Interaktionsrituale sowie dieModulation ihrer Bedeutung durch die Medien unter-suchen (vgl. 7), die entscheidende Integrationsleis-tung der Massenmedien, die davon abhing, dass sichdie Fernsehgesellschaft auf einige wenige Szenen ge-meinsamer Aufmerksamkeit fokussierte, ist unter denaktuellen Rahmenbedingungen der Medienkonver-genz jedoch nicht mehr ohne weiteres zu erbringen.Die Medienlandschaft ist in eine Vielzahl von Aktio-nen und Szenen zerfallen, die sich der gemeinsamenAufmerksamkeit entziehen. Zunehmend fehlt genaudas, was für die Fernsehgesellschaft so charakteris-tisch war: die Publizität der Szenen. Keineswegs istdaher noch selbstverständlich, was für McLuhan,Goffman und Meyrowitz galt, dass es nämlich eine

strukturelle Kopplung zwischen den Szenen gemein-samer Aufmerksamkeit gibt, die sich in derMikrosphäre der Gesellschaft, etwa in der Familie,ereignen, und den Szenen, die der öffentliche Diskursdurchläuft, der sich dank der Massenmedien in derMakrosphäre der Gesellschaft vollzieht.

Rhetorik versus Performanz

Als die Erforschung der Wirkung von elektronischenMassenmedien begann, war diese Entwicklung un-möglich abzusehen. Öffentliche Kommunikation wirdin der berühmten Lasswell-Formel von 1948 – „Whosays what to whom in which channel with whateffect?“ – als eine monologische Veranstaltung derBeeinflussung konzipiert, also letztlich auf die alteTradition der abendländischen Rhetorik zurückge-führt. Diesem Konzept widerstreitet nicht nur die psy-chologische Zerstreuung des Publikums durch Unter-haltungsprogramme. Ihr widerstreitet vor allem, dasses unter den Bedingungen der Medienkonvergenznicht mehr jene ideale Szene gemeinsamer Aufmerk-samkeit gibt, die bei diesem Konzept der öffentlichenMeinung und politischen Rhetorik stets vorausge-setzt wird: das Forum, auf dem sich die Mitgliederder Bürgergesellschaft versammeln, um die res publi-ca zu verhandeln. Die Annahme, dass dieses Forumdurch die konsonante Berichterstattung von Presse,Rundfunk und Fernsehen sowie durch die in ihnenstellvertretend für die Vollversammlung der Bürgerinszenierten Diskurse und Diskussionen hergestelltwird, hat sich zunehmend als illusionär erwiesen.

Neben der oft dysfunktionalen Programm-struktur der Massenmedien ist es vor allem die Me-dienkonvergenz, die zu dieser Diffusion derInteressen, Foren und Szenen geführt hat. VieleMenschen halten sich in spezifischen Subsinnweltenund Medienzonen auf, ohne überhaupt noch an poli-tisch relevanter Kommunikation zu partizipieren. DieBürgergesellschaft lässt sich somit nicht mehr alshomogenes Publikum konzipieren und adressieren.Folglich reicht es auch in der Medienforschung nichtmehr aus, Sender und Empfänger, Botschaft undWirkung zu identifizieren und zu quantifizieren. Zureflektieren ist die spezifische Qualität jener Szenengemeinsamer und nicht mehr gemeinsamer Aufmerk-samkeit, die medial vermittelt werden.

Was zum Beispiel in einer Talkshow geschieht,was im Rahmen dieses Fernsehformats erlaubt oderunerlaubt ist und erwartet oder nicht erwartet wer-den kann, wird immer wieder von neuem entschie-den – aber eben nicht expressis verbis oder gar excathedra, sondern durch die Handlungen der beteilig-ten Akteure und Zuschauer, die kumulativ bestimmteVerhaltensmuster und damit auch bestimmte Erwar-tungen erzeugen, so dass es alsbald die Möglichkeit

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Medienperformanz praktisch:Arbeit am Computer-Schnittplatz.

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gibt, gerade dadurch Aufmerksamkeit zu erregen,dass man gegen diese Muster und Erwartungen ver-stößt. Dabei befinden sich diejenigen, die im Fokusder Kamera agieren, zwar prinzipiell in einer anderenWahrnehmungs- und Gesprächssituation als diejeni-gen, die ihre Aktionen am Bildschirm verfolgen. Dasmuss jedoch keineswegs bedeuten, dass die Szene imStudio, für sich betrachtet, keine mediale Dimensionaufweist. Denn im Unterschied zu den Teilnehmernan einem face-to-face-Dialog in der „natürlichen“Lebenswelt handeln die Moderatoren und ihreGesprächspartner ja in dem Bewusstsein, dass sieunter der Beobachtung von Zuhörern und Zuschau-ern stehen, die zugleich abwesend und doch auf selt-same Weise anwesend sind. Das Bewusstsein, Akteurin einer medial verfassten und medial vermitteltenSzene zu sein, verändert also die ‚performance‘ unddamit „in the long run“ sowohl die Mentalität desPublikums als auch das Format des Mediums.

Da es heute zum technischen Standard gehört,ein Studio mit Monitoren auszustatten, auf denensich die Gäste einer Talkshow beobachten können,während sie vor der Kamera agieren, muss man inder Medienreflexion einerseits zwischen der Selbst-und der Fremdreferenz von Beobachtung unterschei-den. Andererseits gilt es die performative Dimensionder Interaktion, die sich in einer Szene gemeinsamerAufmerksamkeit abspielt, in ihrer Wechselwirkungmit der medialen Dimension der modernen Lebens-welt zu sehen, auch wenn sie von der Forschung nurals synreferentieller Bezirk der sozialen Kommuni-kation angesprochen werden kann – das heißt alshermeneutisches Konstrukt. Vor allem aus diesemGrund ist es für die Medienforschung unabdingbar,empirische Indikatoren zu ermitteln, die sich auf denWandel der Medienperformanz beziehen. Das abererfordert zum einen immer neue Akte der Konjektursowie zum anderen eine Problemsensitivität, dieihrerseits wiederum nur performativ erworben wer-den kann.

Mainz Media Zentrum und Mainz Media Forum

Dazu hat die Johannes Gutenberg-Universität in denletzten Jahren gute Voraussetzungen geschaffen, diesystematisch ausgebaut werden müssen und – ent-gegen mancher Unkenrufe – sehr wohl zu einemintensiven Austausch von Forschung und Lehre bei-tragen können. Mit dem von Campus-TV genutztenFernsehstudio, der elektronischen Druckwerkstatt derBuchwissenschaft, der Initiative ‚Medienintelligenz‘und dem Medien Didaktik Zentrum verfügt dieUniversität über Einrichtungen, in denen die Gestal-tung und Nutzung, Bedeutung und Wirkung vonSzenen gemeinsamer Aufmerksamkeit, die medialverfasst sind, performativ kennen gelernt und unter-sucht werden können. Das ist für die Ausbildung der

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Das Medienhausprojekt desMasterstudiengangs Journalismus

Von Karl N. Renner

Für praxisorientierte Studiengänge wie den Masterstudiengang Journalismusspielt die Vermittlung subjektiver Theorien eine wichtige Rolle. Das sindWissensbestände, die auf subjektiven Erfahrungen aufbauen und als impliziterReflexionsrahmen für die Anforderungen des praktischen Handelns dienen. Sub-jektive Theorien und wissenschaftliche Theorien sind dabei nicht als Gegensätzezu sehen, man sollte vielmehr einen fruchtbaren Austausch zwischen beidenWissensbeständen anstreben.

Um solche subjektiven Erfahrungswerte aufzubauen, führt das Elektro-nische Medienzentrum (EMZ) für den Masterstudiengang Journalismus alljähr-lich ein Medienhausprojekt durch. Hier erhalten die Studierenden eine prakti-sche Einführung in den Betrieb des Fernsehstudios. Anschließend produzierensie eine Studiosendung „Live on Tape“. Im Sommer 2007 wurde dieses Projektzum ersten Mal in Kooperation mit der Hochschule für Musik durchgeführt.Dabei entstanden Mitschnitte eines Jazz- und eines Violinkonzerts, die dann alsSendungen des Campus TV Mainz im Mainzer Kabelnetz ausgestrahlt wurden.

Die Studierenden bekommen durch das Medienhausprojekt nicht nureinen Eindruck von der elektronischen Technik. Viele müssen sich hier auch erst-mals mit den besonderen Anforderungen auseinandersetzen, die audiovisuelleMedien an das Gelingen kommunikativer Handlungen stellen. Denn der alltäg-liche Fernsehkonsum vermittelt nur eine passive, aber keine aktive Handlungs-kompetenz. Das ist bei schriftlichen Medien ganz anders. Bei ihnen werden alleelementaren Fähigkeiten, die man zu ihrer kommunikativen Benutzung braucht,bereits in der Grundschule vermittelt.

Das Fehlen subjektiver Theorien über die Ausführung kommunikativerHandlungen mithilfe audiovisueller Medien ist aber nicht allein ein Problem derLehre. Es betrifft ebenso die Forschung. Gerade bei wissenschaftlichen Arbeitenüber audiovisuelle Medien sind allzu viele Ergebnisse für eine praktischeUmsetzung unbrauchbar, weil wichtige Zusatzbedingungen übersehen werden.Daher ist das audiovisuelle Ausbildungsangebot des EMZ nicht nur für die Lehrevon Bedeutung. Es kann auch jenes intuitive Wissen vermitteln, ohne das man inder Forschung nicht auskommt.

Studierenden genauso wichtig wie für die Entwick-lung neuer Forschungsansätze. Eine zentrale Rollebei der Schulung von Studierenden wie Dozenten,aber auch bei der technischen Unterstützung ihrerProjekte spielt dabei das Elektronische Medienzen-trum (EMZ), trotz der beengten Räume, in denen esuntergebracht ist (siehe Kasten).

Sollte es gelingen, diese Situation, beispiels-weise mit einem elektronischen Archiv zur Aufzeich-nung der reichweitenstärksten Fernsehsender in

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MEDIEN – FORSCHUNG

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1) Marshall McLuhan: Die magischen Kanäle. (Understanding Media). Düsseldorf Wien 1986. Ausdrücklich heißt es dort S. 10f.:

„Elektrisch zusammengezogen ist die Welt nur mehr ein Dorf.“

2) Sybille Krämer: Was haben ‚Performativität‘ und ‚Medialität‘ miteinander zu tun? Plädoyer für eine in der ‚Aisthetisierung‘

gründende Konzeption des Performativen. In: Sybille Krämer (Hrsg.): Performativität und Medialität. München 2004, S. 13-32,

hier: S. 14f.

3) The Image or what happened to the American dream. New York 1981.

4) Michael Tomasello: Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition. Frankfurt am Main

2002, S. 71-159, insbesondere S. 117-125.

5) Joshua Meyrowitz: Die Fernseh-Gesellschaft. Wirklichkeit und Identität im Medienzeitalter. Weinheim Basel 1987, S. 14ff.

6) Meyrowitz, Die Fernseh-Gesellschaft. S. 212ff.

7) Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. 7. Aufl. München 1991 sowie: Erving Goffman:

Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation. Frankfurt am Main 1986 und: Erving Goffman: Rahmenanalyse.

Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen. Frankfurt am Main 1977.

Literatur

PD Dr. Matthias Bauer

Matthias Bauer, Jahrgang1962, studierte Germanis-tik, Publizistik und Ge-schichte. Die Promotion er-folgte 1992, danach war erfür die Gesellschaft fürZeitungsmarketing in Frank-furt am Main und im Lite-

raturBüro Mainz tätig. Nach der Habilitation 2002begann seine Lehrtätigkeit als Literatur- und Film-wissenschaftler an den Universitäten Mainz, Baselund Flensburg. Forschungsschwerpunkte sind: Er-zähltheorie, Szenografie und Diagrammatik, Wissen-schaftsgeschichte und Medienforschung.

� Kontakt

PD Dr. Matthias BauerDeutsches InstitutJohannes Gutenberg-Universität MainzD-55099 MainzTel. +49 (0)6131-39 26 976Email: [email protected]

� Summary The digital revolution of the media has deeplychanged the performance in the public sphere ofmass communication as well as in daily life. Whilethe new features of the internet allow dialogic andmultimodal interaction of users all over the world,newspapers, broadcast and television are not able toestablish a common place of interest and attentionanymore. Their agenda setting function is reduced tosmaller, more specific audiences. Loosing its integra-ting powers public opinion has to be re-conceptuali-sed as a network of performing activities. Crucial isthe notion that the new media performance cannotbe understood as a rhetorical force which impact onsociety is indicated by empirical data denoting ex-plicit messages and meanings. Rather the impact isbased on the display of the social implicationscertain ways of behaviour might have. Therefore par-ticipating in the performance is a necessary traineefor students of the media. The University of Mainzalready offers a variety of performing skills and tea-ching programmes. The new media research centrewill include further laboratories for advanced studies.

Deutschland, mit einem leistungsstarken Multi-media-Labor und neuen features im Bereich der blog-und online-Kommunikation systematisch zu einemMainz Media Zentrum (MMZ) auszubauen, würdean der Johannes Gutenberg-Universität ein bundes-weit einmaliges Zentrum für die Lehre und Forschungan der Schnittstelle von Medienkonvergenz und Me-dienperformanz entstehen. Komplementär zum Auf-und Ausbau des MMZ soll es im Mainz MediaForum (MMF) um die theoretische und methodolo-gische Weiterentwicklung disziplinärer und interdis-ziplinärer Projekte gehen. Zudem soll der in Mainzversammelte Sachverstand mit Experten aus allerWelt zusammengeführt werden. Beispielhaft dürftein diesem Zusammenhang die nächste RIPE-Kon-ferenz (Re-Visonary Interpretations of the PublicEnterprise) werden, die im November 2008 an derJohannes Gutenberg-Universität stattfindet. DasThema der Veranstaltung, die von der Initiative‚Medienintelligenz‘ gemeinsam mit dem ZweitenDeutschen Fernsehen organisiert wird, lautet: MediaIntelligence: Cross Border Enrichment of TV andInternet. �

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MEDIEN – RATGEBER

13FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Von Timo Heimerdinger, Michael Simon und Natalie Voges

Aporien des Alltags – Ratgeberliteratur und spätmoderne Ratlosigkeit

Besonders für existentielle Lebensbereiche suchenMenschen Rat und kaufen in großer Menge ent-sprechende Literatur. Aber richten sie sich auchnach den Empfehlungen?

Unter allen Printmedien gibt es kaum eines, das eineso große Nähe zur gelebten Alltagskultur versprichtwie das der Ratgeberliteratur. Sie kommt als medialeHandreichung für das gelebte Leben daher, hier wirddie Medialität des modernen Alltags greifbar. Dergroße ökonomische Erfolg scheint diese Annahmenoch zu bestätigen, denn seit der politischen Wendevon 1989 zeichnet sich auf dem deutschsprachigenBuchmarkt eine Verlagerung der Schwerpunkte ab:Der Marktanteil praktischer Ratgeberliteratur hatkontinuierlich zugenommen; seit 1996 bildet sie nachAuskunft der Gesellschaft für Konsumforschung daszweitgrößte Segment nach der Belletristik. DieserBefund ist von kulturwissenschaftlichem Interesse,denn er verweist darauf, dass sich die Praktiken desRatsuchens und des Ratgebens geradezu zu Signender Spätmoderne entwickelt haben. TraditionaleAutoritäten und Strukturen der Lebensgestaltung(Familie, Gemeinschaften, Kirchen, der Staat, Deu-tungs- und Funktionseliten) scheinen an Relevanzeingebüßt zu haben oder stehen zumindest in einemveränderten funktionalen Verhältnis zum Menschen.Die permanente Erzeugung und massenmedialeVerbreitung von Wissensbeständen gehen dabei ein-her mit einer Verunsicherung im alltäglichen Handelnund führen vor allem in existentiellen Lebensberei-chen wie Ernährung, Gesundheit, Zeitmanagement,soziale Beziehungen oder Gefühlshaushalt zu gera-dezu aporetischen Situationen. Aporie ist hier – all-tagskulturell gewendet – als Situation der Ratlosig-keit und Verhaltensunsicherheit zu verstehen, in derdie eingeübten und bekannten Muster der Alltags-bewältigung versagen und somit der Bedarf nachOrientierung und Beratung wächst. Die Ratgeberlite-ratur und ihre hohe Beliebtheit treten als die sachkul-turelle Ausprägung der individuellen Erfahrung einesstrukturellen Konflikts auf. Zunächst unklar erscheintjedoch, wie genau das Verhältnis zwischen diesenTexten, der Medienwirklichkeit also, und der gelebtenPraxis beschaffen ist. Bieten Ratgeber tatsächlichHandreichung und Orientierung und haben sie Ein-fluss auf das Leben ihrer Leser, wirken also normativ?Oder sind sie nicht eher Unterhaltungslektüre, diezwar gerne gelesen, dann jedoch in den Schrankgestellt und nicht weiter umgesetzt wird? Vielleichtist ihre Bedeutung auch als eine Art „Amulettfunk-tion“ zu beschreiben: Ihr bloßes Vorhandensein stif-tet Sicherheit und Halt, ganz unabhängig von ihrer

konkreten Nutzung. Schließlich wären sie noch alsretrospektive Legitimationshilfe für die gelebte Praxisdenkbar: Demnach hätten sie weniger Wirkung aufdie konkrete Handlungsgestaltung als vielmehrdarauf, wie bereits getroffene Entscheidungen nach-träglich gerechtfertigt und begründet werden.

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive giltes in jedem Fall, die Popularität von Ratgeberliteraturernst zu nehmen und nach ihrer Bedeutung für denAlltag zu fragen, denn wenn sie diese tatsächlichnicht hätte, wäre sie als Textsorte nicht so stark nach-gefragt. Anhand der im folgenden erläuterten thema-tischen Felder, drei Arealen gegenwärtiger Ratsuche,werden die Konturen einer alltagskulturellen Prag-matik der Ratsuche und des Ratgebens deutlich:Säuglingsernährung, Männlichkeitsvorstellungenund medizinische Fragen.

Säuglingsernährung

Für die Ernährung von Neugeborenen gibt es hierzu-lande bekanntermaßen zwei Möglichkeiten: Mutter-milch oder künstliche Säuglingsmilch. Grob gesagtbedeutet dies meistens: Brust oder Flasche, eventuellauch in Kombination. Was genau in der Flasche drinsein sollte und wie die richtige Wahl zwischen denbeiden Alternativen zu treffen ist, darüber gibt es seitmindestens 150 Jahren eine lebhafte wissenschaftli-che Auseinandersetzung, die sich auch in vielfältigenpopulären Veröffentlichungen und Verlautbarungenniedergeschlagen hat. Säuglingspflege ist seit langerZeit ein prominentes Sujet der populären Ratgeber-literatur. Für die vergangenen rund 100 Jahre ist einreichhaltiges Quellenkorpus aus Anleitungstextenverfügbar, das sich als Gemengelage unterschiedli-cher Texttypen mit denkbar fließenden Übergängendarstellt: Werbeschriften der Säuglingsmilchindustriesind hier ebenso zu nennen wie populärwissen-schaftliche Texte, medizinische Schriften als Exper-ten- bzw. Multiplikatoreninstruktionen und pädago-gisch-aufklärerische Ratgeberliteratur. Was die kultu-relle Praxis angeht, so waren die Präferenzen undVorlieben der Ernährung von Säuglingen in Deutsch-land in den letzten Jahrzehnten mehrfach gravieren-den Umschwüngen unterworfen: Nach dem ZweitenWeltkrieg ging es, besonders seit der Erfindung deradaptierten Säuglingsmilch im Jahr 1950, mit derStillfreudigkeit abwärts. Sie erreichte 1976 ihrenTiefstand, weniger als die Hälfte der Kinder wurdeseinerzeit gestillt. Seitdem, besonders ab zirka 1980,kam es wieder zu einem Anstieg der Stillquote, undseit einigen Jahren wird hierzulande so viel gestillt

Ein Klassiker unter den Säuglingspflege-ratgebern: Barbara Sichtermanns „Lebenmit einem Neugeborenen“ ist seit 1981in 25 Auflagen erschienen.

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wie nie zuvor. Auch wenn sie heute qualitativ besserist denn je, so gilt künstliche Säuglingsmilch gegen-wärtig als die zweite Wahl.

Fragt man nun, ob sich dieses markante Aufund Ab in der Ernährungspraxis auch in der Ratgeber-literatur spiegelt, so muss man erstaunlicherweisefeststellen, dass es hier keine eindeutigen Zusam-menhänge gibt. In allen verfügbaren Texten wirdletztlich eindeutig zum Stillen geraten und erst inzweiter Linie die Flaschennahrung als Ausweich-möglichkeit vorgestellt. Was beobachtet werdenkann, ist eine durchaus unterschiedliche Bewertungder künstlichen Säuglingsnahrung, die von grund-sätzlicher Ablehnung und Klassifikation als eine Art„Medikament“ für besondere Not- und Ausnahme-fälle auf der einen Seite bis hin zu einer fast, aber nievollständigen Äquivalenz mit der Muttermilch aufder anderen Seite reicht. Als der Muttermilch unddem Stillen qualitativ völlig ebenbürtig oder garüberlegen wird die künstliche Säuglingsnahrung inkeinem einzigen Fall dargestellt, nicht einmal in denBroschüren der Babynahrungshersteller. Mit der nor-mativen Wucht und der Alltagsgängigkeit derRatgebertexte kann es also nicht allzu weit hergewesen sein, wie der Vergleich mit der Praxis zeigt.

Am Beispiel der Säuglingsernährung kann alsoder Einfluss von Ratgeberliteratur auf die Alltags-praxis kritisch überprüft werden, und es zeigt sichdeutlich, dass dieser nicht überschätzt werden sollte.Wozu dienen die Ratgebertexte jedoch dann?Möglicherweise stehen sie alltagslogisch nicht vor,sondern nach der Entscheidung für ein bestimmtesVerhalten. In jedem Fall können sie als nur ein einzel-ner Faktor in einem vielfältigen Geflecht handlungs-leitender Faktoren gelten. Die Entscheidung, wie dasKind ernährt wird, fällt auf der Basis der gesamtenLebensumstände und nicht nur durch den Blick ineinen Ratgeber. Viele aktuelle Bücher zur Säuglings-pflege sind interessanterweise mehrgleisig angelegt:

sie offerieren unterschiedli-che Handlungsoptionen undbieten sowohl für die „Brust“als auch für die „Flasche“gute Argumente. Es steht da-her zu vermuten, dass dieEltern eher das Argumentnach der Praxis wählen alsumgekehrt.

Men’s health

Die Mitsprache des moder-nen Mannes bei der Säug-lingsernährung verweist be-reits auf ein neues Männlich-keitsbild in unserer Gesell-schaft mit konfligierendenAnforderungen. Zwar sind

traditionell männliche Qualitäten wie Führungsstär-ke, Rationalität, Tapferkeit und körperliche Kraft wei-terhin gefragt, gleichzeitig soll der moderne Mannaber seine über Jahrhunderte beanspruchten Privile-gien zugunsten der Emanzipation der Frau weitge-hend aufgeben. Das Fehlen eines kohärentenOrientierungsbildes führt für ihn zu einer tief greifen-den Krise und damit zu Ratlosigkeit: Wo soll er sichnun zwischen Macho und Softie positionieren?

Als Produkt dieses Konflikts und gleichzeitigals Beratungsangebot präsentiert sich eine neueForm von Männerzeitschriften. Seit 1996 verlegt dieMotor Presse Stuttgart neben klassischen Formatenwie „Auto, Motor und Sport“ ein neuartiges Männer-Lifestyle-Magazin nach amerikanischem Vorbild:„Men’s Health“ konnte sich mit überraschendemErfolg schnell auf dem deutschen Markt als auflagen-stärkste Zeitschrift etablieren. Zielgruppe ist der„neue Mann“, jung, überdurchschnittlich aktiv undgebildet, stets offen für gute Ratschläge, um seinLeben zu optimieren.

Der redaktionelle Zuschnitt lässt erstaunlicheÄhnlichkeiten mit dem Format der klassischenFrauenzeitschriften erkennen. Es geht um Fitness-und Diätprogramme, Fragen zu Körperpflege, Modeund Freizeitgestaltung, um Themen wie Beziehungen,Sexualität und Gefühlshaushalt bis hin zur Vermitt-lung von praktischem Alltagswissen: Woran erkenneich eine frische Ananas? Wie entferne ich einenRotweinfleck? Warum will das Kind nicht einschla-fen? Tatsächlich scheint das Format der Zeitschrift„Men’s Health“ den Schluss nahe zu legen, derFeminismus sei im besten Sinne an seinem Ziel ange-langt. Jenseits des ungeliebten „Softie“-Images habesich der „neue Mann“ vom Patriarchat emanzipiert,er definiere seine Identität nicht mehr ausschließlichüber beruflichen Erfolg, sondern engagiere sich stär-ker in Haushalt und Familie, besitze ein Bedürfnisnach emotionaler Selbstreflexivität und lebe gesund-heitsbewusster.

Freilich zeigt eine genauere Untersuchung desin „Men’s Health“ vermittelten Männerbildes, dasses durch eine tiefe Ambivalenz gekennzeichnet ist:Der „neue Mann“ wird nämlich weiterhin als Held,als Beschützer oder stürmischer Liebhaber darge-stellt, aber es ist nicht mehr das schlichte Drauf-gängertum, das für ihn als Schlüssel zum Erfolg gilt,sondern physische wie mentale Gesundheit, Exper-tenwissen und Einfühlungsvermögen, mit dem er nunzu überzeugen weiß. Heldenhaft ist jetzt das gekonn-te Annähen eines Knopfes oder der sensible Umgangmit dem Prämenstruellen Syndrom (PMS) derPartnerin.

Text und Bild der Zeitschrift präsentieren einen„reformierten“ Männertypus, der traditionelle Rol-lenbilder mit modernen Inhalten verbindet. Die

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Die Zeitschrift „Men’s Health“ imUmfeld anderer populärer Männer-magazine in einem Mainzer Zeit-schriftengeschäft.

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Wiederverwendung traditioneller Vorstellungen soll-te jedoch nicht einfach mit einem „patriarchal-sexis-tischen Backlash“ (vgl. 3) verwechselt werden. Viel-mehr erscheint sie als Rückversicherung der eigenenmännlichen Identität, deren Definition unscharf undfragwürdig geworden ist. Die Rezeption von „Men’sHealth“ kann demnach als Identitätsarbeit verstan-den werden, wohingegen die normative Funktion derTexte in Frage zu stellen ist. Ihre Inhalte sind eherAusdruck einer zeitspezifischen Krise im Umgang mitder neuen Männlichkeit als der Wegweiser aus demDschungel konkurrierender Männlichkeitsbilder.

Krankheit und Gesundheit

Ein weiterer Bereich klassischer Ratsuche umfasstalles, was mit dem Erhalt der eigenen Gesundheitoder den Möglichkeiten der Behandlung einer diag-nostizierten Krankheit bzw. der Suche nach einerSelbstdiagnose zu tun hat. Das mediale Beratungs-angebot, in dessen Mittelpunkt früher das so ge-nannte „Doktorbuch“ stand, hat sich zur Gegenwarthin vervielfacht und bietet jeder interessierten Personneben speziellen Publikationen einschlägige Infor-mationen in Zeitschriften, Zeitungen, TV, Radio oderInternet. Die hier offerierten Wissensbestände, diesich ohne Frage am Wohl der Rat suchenden Laienorientieren, stellen sich aus deren Perspektive viel-fach als unüberschaubare Flut von teilweise konkur-rierenden Meinungen dar, die überdies in das beimArzt oder Spezialisten vermittelte Wissen sowie infamiliär oder gemeinschaftlich tradierte Vorannah-men zu integrieren sind. Wie sich für den Einzelnenunter diesen Bedingungen die Entscheidungsfindungabspielt, wem er mehr „glaubt“ oder vertraut undwie widersprüchlich er die an ihn herangetragenenMeinungen empfindet, dürfte letztlich zentral für seinweiteres Verhalten und seine „Prognose“ sein.Konkrete Beobachtungen unterstreichen die Notwen-digkeit einer kulturwissenschaftlichen Forschung indiesem Bereich, die sich als Beitrag zu einer Medi-zinischen Anthropologie im Sinne von Viktor vonWeizsäcker (1886-1957) versteht.

Dabei ist nicht nur der Vielstimmigkeit desBeratungsangebotes, sondern auch den unterschied-lichen Motivlagen und Umgangsweisen mit der nichtpersonalisierten Ratgebung Rechnung zu tragen, diebei allen Hilfsangeboten eben auch Verwirrung undneue Probleme schaffen kann. Ein zugegebenerma-ßen extremes Beispiel dafür ist der „Morbus Mohl“,der nach dem Gründungsvater und ersten Moderatorder ZDF-Sendereihe „Gesundheitsmagazin Praxis“Hans Mohl (1928-1998) benannt wurde. Der Namesteht in Fachkreisen für Anfragen aufgeregterZuschauer, die sich nach der Ausstrahlung einerRatgebersendung über die spezifischen Symptomeeiner vorgestellten Krankheit besorgt zeigen und inden Praxen ihrer Hausärzte gehäuft vorsprechen, umdie bei ihnen geschürten Ängste wieder loszuwer-

den. Rat und Wissen sind in allen Kulturen Funda-mente der sozialen Organisation, unterliegen aber inkomplexen Gesellschaften wie unserer den Beschrän-kungen der massenmedial beeinflussten Verstehens-und Interpretationsprozesse. Wie das vorgestellteBeispiel zeigt, kann der mediale Ratschlag gerade beiGesundheitsfragen auch kontraproduktiv wirken unddamit die Probleme, die er zu lösen vorgibt, ersterzeugen. Der Rat führt dann hier zur Ratlosigkeit.

Ratsuche als Identitätsarbeit des autonomen Selbst

Die Ratgeberliteratur ermächtigt und unterwirftihre Leser zugleich: der Teilhabe am Expertenwis-sen steht das Eingeständnis der eigenen Bedürf-tigkeit, des Selbst-Nicht-Mehr-Weiter-Wissensgegenüber. Hinsichtlich der Wirkung des Ratge-berkonsums steht die angestrebte Verhaltens-sicherheit als nur eine Variante neben anderenwie Verunsicherung, Selbstzweifel oder schlichtÜberforderung. Im weiteren Sinn geht es wenigerum Normierungen bei der Ratsuche, wie von derfrüheren Forschung immer wieder herausgestelltwurde, sondern tatsächlich auch um eine zuneh-mende Individualisierung. Jeder kann prinzipielltun, was er will, ist jedoch für das Ergebnis am Endeselbst verantwortlich. Diese radikale Freisetzungdes Individuums erweist sich als janusköpfige Figur:Auf der einen Seite kann sie als Entlastung von denZwängen normativer Setzungen gelten, auf der ande-ren Seite steht dahinter eine beträchtliche Belastung,denn das gesamte Wohl und Wehe liegt in denHänden des Einzelnen. Im Ergebnis bedeutet dies:Wem es nicht gut geht, der ist selbst daran schuld. ImHintergrund dieses Denkens steht ein Menschenbild,das jedes einzelne Subjekt als „autonomes Selbst“(vgl. 2) imaginiert und mit diesem Leitbild denAkteuren die Idee der totalen Machbarkeit undEigenverantwortlichkeit aufbürdet. Diese radikaleRückverweisung des Individuums auf sich selbst istfreilich ein Rat, der in seiner letzten Konsequenz anden Erfordernissen der Alltagslogik vorbeigeht. �

Als „Helfer in der Not“ empfehlensich seit dem 19. Jahrhundert die sogenannten „Doktorbücher“, hierein Titel aus der Zwischenkriegszeit.

� Summary Advice literature has been one of the most populargenres on the German book market for several years.Two central questions appear most striking from acultural-anthropological perspective: what are thecauses for this increase in need for media advice, andin what sense is the advice given translated intoeveryday life? On the basis of three examples (infantcare, medical advice books, and lifestyle magazinesfor men) it becomes obvious that the interrelationbetween media advice and everyday life practiceis definitely a tricky one – advice manuals do notonly generate orientation, but also confusion ineveryday life.

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� Kontakt

Prof. Dr. Timo HeimerdingerJuniorprofessor für Kulturanthropologie/VolkskundeJohannes Gutenberg-Universität MainzDeutsches Institut; Abt. Kulturanthropologie/VolkskundeJakob Welder-Weg 18D-55099 MainzTel. +49 (0) 6131-39 25 129Email: [email protected]

Prof. Dr. TimoHeimerdinger (JP)

Timo Heimerdinger, Jahr-gang 1973, studierte inFreiburg und Pisa Volks-kunde, Neuere DeutscheLiteraturgeschichte undDeutsche Philologie (Lin-

guistik). 1999 schloss er sein Studium mit demMagister Artium ab. Nach einer Beschäftigung imJahr 2000 am Institut für Sächsische Geschichte undVolkskunde e.V. in Dresden erfolgte 2004 diePromotion zum Dr. phil. an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit einer Arbeit zu populärenSeemannsbildern. Seit Ende 2004 ist er Juniorprofes-sor für Kulturanthropologie / Volkskunde an der Jo-hannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine gegen-wärtigen Forschungsschwerpunkte liegen in denBereichen der Elternschaftskultur und der Nahrungs-forschung.

Univ.-Prof. Dr. MichaelSimon

Michael Simon, Jahrgang1956, studierte Ethnologie,Allgemeine Sprachwissen-schaft und Volkskunde inMünster. Nach dem Magis-terabschluss mit dem

Hauptfach Ethnologie wurde er 1988 mit einerDissertation über „Vornamen“ im Fach Volkskundepromoviert und war danach Assistent an derUniversität Münster. Im Jahr 1997 habilitierte er sichmit einer Arbeit über „Volksmedizin“ und waranschließend drei Jahre Leiter des Bereichs Volks-kunde am Institut für sächsische Geschichte undVolkskunde in Dresden sowie zugleich Privatdozentan der Universität Leipzig. Die Berufung als Professorfür Kulturanthropologie / Volkskunde nach Mainzerfolgte dann 2000. Seine aktuellen Forschungs-schwerpunkte betreffen die Fachgeschichtsschrei-bung, Fragen der Medikalkulturforschung sowie derregionalen Volkskunde.

Natalie Voges M.A.

Natalie Voges, Jahrgang1978, studierte in MainzKulturanthropologie/Volks-kunde und Amerikanistik,sowie Deutsch als Fremd-sprache. Im Jahr 2007

schloss sie ihr Studium mit dem Magister Artium(M.A.) ab; ihre Examensarbeit beschäftigte sich mitSelbst- und Fremdwahrnehmung am Beispiel vonVietnam. Im Sommersemester 2007 war sie im For-schungsprojekt „Aporien des Alltags“ in der Abtei-lung Kulturanthropologie an der Johannes Guten-berg-Universität tätig und ist jetzt dort als Doktoran-din mit der Arbeit an ihrer Dissertation zu aktuellenMännlichkeitskonzepten befasst. Ihre weiteren In-teressensschwerpunkte liegen in den BereichenInterkulturelle Kommunikation und Migration.

Literatur

1) Heimerdinger, Timo, 2006: Alltagsanleitungen? – Ratgeberliteratur als Quelle für die volkskundliche Forschung.

In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 51 (2006), S. 57-72.

2) Neckel, Sighard, 2005: Emotion by design. Das Selbstmanagement der Gefühle als kulturelles Programm.

In: Berliner Journal für Soziologie, 15. Jg. (2005), Nr. 3, S. 419 - 430.

3) Walter, Willi, 1996: „Männer entdecken ihr Geschlecht. Zu Inhalten, Zielen, Fragen und Motiven von Kritischer Männerforschung.“

In: BauSteineMänner (Hg.): Kritische Männerforschung: Neue Ansätze in der Geschlechtertheorie. Berlin, S. 13-26.

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MEDIEN – KOMMUNIKATION

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Von Karl N. Renner

Kommunikatives Handeln – eine Schnittstelle vonKommunikations- und Medienwissenschaft

Bücher, Filme, Zeitungsartikel: alle Medienbeiträgesind hoch komplexe Kommunikationsinstrumente,die im Idealfall alle Signale, die bei einem persön-lichen Gespräch ausgetauscht werden können, ver-mitteln sollen.

Heute ist es Stand der wissenschaftlichen Praxis, dassFächer, deren Forschungsgegenstände sich über-schneiden, interdisziplinär zusammenarbeiten. Beider Erforschung der Medien und ihrer Kommunika-tionszusammenhänge findet eine solche interdiszipli-näre Zusammenarbeit jedoch kaum statt. Denn hiertreffen zwei Wissenschaften aufeinander, die inunterschiedliche Traditionen eingebunden sind undein völlig anderes Selbstverständnis entwickelthaben. Kommunikationswissenschaftlich orientierteDisziplinen wie die Publizistik und die Journalistikverstehen sich als empirische Sozialwissenschaften,die vor allem mit statistisch induktiven Methodenarbeiten. Die verschiedenen medienwissenschaftli-chen Disziplinen stehen dagegen in einer geisteswis-senschaftlichen Tradition und stützen sich auf her-meneutisch interpretierende oder auf nomologischdeduktive Methoden. Doch so tiefgreifend dieseUnterschiede auch sind, die Gegenstandsbereichevon Kommunikations- und Medienwissenschaftenlassen sich kaum voneinander trennen.

Exemplarisch demonstrieren das der Journalis-mus und die Werbung. Diese beiden Kommunika-tionsgattungen findet man in allen Medien. Das kannman am ehesten damit erklären, dass Kommunika-tionsgattungen eine medien-unabhängige Größesind. Dem stehen jedoch die erheblichen Unterschie-de entgegen, die zwischen dem Zeitungs- und demFernsehjournalismus oder der Zeitungs- und derKinowerbung bestehen und die man nur als Abhän-gigkeiten von den jeweiligen Medien interpretierenkann.

Eine Lösung dieses Widerspruchs bietet dasKonzept des kommunikativen Handelns, das Kom-munikation als Handeln mit Hilfe von Zeichen undZeichenkomplexen versteht (1). Man findet dieseIdee sowohl in der Kommunikationswissenschaft alsauch in der Zeichentheorie oder der Textlinguistik.Folgt man diesem Theorieansatz, dann kann manKommunikationsgattungen als Formen des kommu-nikativen Handelns auffassen, die unabhängig davondefiniert sind, welche Kommunikationsinstrumentefür den Vollzug dieser Handlungen verwendet wer-den.

So kann man den Journalismus damit definie-ren, dass Journalisten ihre Rezipienten eigenverant-wortlich, aktuell und möglichst wahrheitsgetreu überwichtige Sachverhalte informieren sollen. WelchesMedium sie dabei verwenden, ist zunächst unerheb-lich. Das ist nur deswegen von Bedeutung, weil dieunterschiedlichen Medien eine unterschiedlicheAusdrucksfähigkeit besitzen. Kann man mit denMitteln sprachlicher Medien gut argumentativeZusammenhänge herstellen, so sind die bewegtenBilder der audiovisuellen Medien für diesen Zweckweniger gut geeignet. Sie eignen sich besser dazu,Geschichten zu erzählen.

Gerade im Fernsehjournalismus wird manimmer wieder mit dieser unterschiedlichen Aus-drucksfähigkeit konfrontiert. Ein Beispiel dafür ist dieFernsehdokumentation „Wohnmodelle“, die den Zu-schauern neue Formen der Wohnungsarchitektur unddes Siedlungsbaus vorstellen soll. Diese neuen Ideenwaren in Fachbüchern publiziert, wo sie mit Plänenund Fotos dokumentiert wurden. Um sie fernsehge-recht umsetzen zu können, war es dann nötig, alltäg-liche Handlungsabläufe zu finden, mit denen man sieanschaulich darstellen konnte. So rücken beispiels-weise moderne Siedlungsanlagen die Stellflächen derAutos an ihren Rand (in Abb.1a gelb markiert). Siereduzieren dadurch die Verkehrsflächen und gewin-nen damit Platz für Gärten und Spielwiesen. Ande-rerseits verlängert sich nun der Weg zwischen Autound Wohnung. Eine alltägliche Geschichte, die diesenZusammenhang im Film illustriert, ist die „Heimkehrvom Einkaufen“ (Abb. 1b und 1c).

Aus wissenschaftstheoretischer Perspektivebetrachtet, markiert das Konzept des kommunika-tiven Handelns eine Schnittstelle von Kommunika-tions- und Medienwissenschaft. Es verbindet diesozialwissenschaftliche Überzeugung, dass die Face-to-Face-Situation den Prototyp aller gesellschaftli-chen Interaktion bildet (2), mit der zeichentheoreti-schen Auffassung, dass menschliche Kommunikationohne materielles Substrat unmöglich ist (3). NurEngel kommunizieren Brain-to-Brain. Damit kanndieses Konzept eine Plattform bilden, auf der mankommunikations- und medienwissenschaftlicheForschungs-ansätze aufeinander beziehen und ihreBegriffe und Fragestellungen miteinander korrelierenund systematisieren kann.

Kommunikationswissenschaftliche Untersu-chungen der Rezeption fotografischer Bilder zeigen

Abb. 1 (a bis c):Der Plan einer Siedlung und eineSzene im Film. Moderne Siedlungs-anlagen rücken die Stellflächen derAutos an ihren Rand (hier gelb mar-kiert). Sie reduzieren dadurch dieVerkehrsflächen und gewinnen damitPlatz für Gärten und Spielwiesen.Andererseits verlängert sich nun derWeg zwischen Auto und Wohnung (a). Eine alltägliche Geschichte, die diesenZusammenhang im Film illustriert, istdie Heimkehr vom Einkaufen (b und c).

Abb. 1b: Die Carports am Rande der Siedlung

Abb. 1c: Der Weg zur Wohnung

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etwa, dass bei illustrierenden Bildern Bearbeitungenakzeptiert, bei Nachrichtenfotos aber strikt abge-lehnt werden. Diese isolierten Ergebnisse lassen sichnun in einen systematischen Zusammenhang brin-gen. Diese Bilder sind nämlich Kommunikations-instrumente für unterschiedliche kommunikativeHandlungen. Nachrichtenfotos dienen dazu, Einzel-ereignisse zu dokumentieren, Illustrationen informie-ren dagegen über typische Vorgänge.

Eine Explikation dieses kommunikativen Han-delns kann an den integrativen Zeichenbegriff vonKeller anknüpfen, der den Zusammenhang zwischender repräsentativen und der kommunikativen Funk-tion von Zeichen herstellt. Zeichen sind hinsichtlichihrer repräsentativen Funktion unmittelbar wahr-nehmbare Dinge, mit deren Hilfe die Zeichenbenutzerauf Sachverhalte schließen, die sie nicht unmittelbarwahrnehmen. Diese Schlüsse stützen sich bei Bildernauf Ähnlichkeiten und bei sprachlichen Zeichen aufsoziokulturell vorgegebene Regelsysteme, die denGebrauch dieser Zeichen organisieren. Das erklärt dieunterschiedliche Ausdrucksfähigkeit schriftlicher undaudiovisueller Medien.

Die kommunikative Funktion der Zeichen bautauf dieser repräsentativen Zeichenfunktion auf. DerSprecher einer sprachlichen Äußerung bringt struktu-rierte akustische, gestische und mimische Zeichen-körper hervor, von denen er hofft, dass sie die Hörerin seinem Sinne interpretieren. Er nutzt also ihre In-terpretationsfähigkeit zu seinen Gunsten aus. Kom-munikation ist demnach weder als Fluss von Zeichennoch als Austausch von Informationen, sondern alseine gemeinsame Benutzung von Zeichenkörpern zuverstehen.

Die elementaren Handlungen, die Sprecherund Hörer bei ihren kommunikativen Bemühungenvollziehen – das Äußern,Wahrnehmen und Verstehenvon Zeichen und Zeichenverwendungen – lassen sichmithilfe der Sprechakt-Theorie erfassen. Eine dritteGröße, die für das Gelingen der Face-to-Face-Kommunikation unentbehrlich ist, ist die Sprecher-Hörer-Kooperation, wie das die Sprachphilosophieund die Systemtheorie gleichermaßen betonen. Denn

ein Sprecher mag zwar die Zeichen erzeugen, welchedie Hörer zur Grundlage ihrer interpretatorischenBemühungen machen, doch die Hörer müssen dieseZeichen nicht so interpretieren, wie das der Sprechererwartet. Daher ist das Gelingen kommunikativerHandlungen letztlich davon abhängig, inwieweitSprecher und Hörer miteinander kooperieren. Dahierzu der Wechsel von Sprecher- und Hörerrolleeinen wesentlichen Beitrag leistet, ist das Gesprächdie typische Form der Alltagskommunikation.

Geht man nun davon aus, dass die Face-to-Face-Kommunikation den Prototyp aller menschli-chen Kommunikation bildet, dann müssen sich alleanderen Kommunikationsformen als Transforma-tionen dieses Basismodells darstellen lassen (Abb. 2).

Hier sind zwei Transformationen gleicher-maßen von Bedeutung. Zum einen werden die flüch-tigen Äußerungen des Sprechers durch technischerzeugte, dauerhafte Zeichenkörper ersetzt: durch dieSchrift, durch Bilder, durch die analogen und digita-len Signale der elektronischen Medien. Zum anderenwird die Face-to-Face-Situation so erweitert, dassnicht mehr ein einzelner Sprecher und ein einzelnerHörer miteinander kommunizieren, sondern viele.Beides verändert die Wahrnehmbarkeit der verwen-deten Zeichenkörper, was wiederum zu tiefgreifen-den Veränderungen der Kommunikationsbeziehun-gen insgesamt führt.

Werden die gesprochene Sprache und dieGestik durch dauerhafte Zeichen ersetzt, ermöglichtdas den Aufbau von Kommunikationsbeziehungen,die über die räumlichen und zeitlichen Grenzen einerFace-to-Face-Situation weit hinausreichen. Denndauerhafte Zeichenkörper müssen vom „Hörer“ nichtmehr im gleichen Moment wahrgenommen werden,in dem sie ein „Sprecher“ hervorbringt. Diese Trans-formation ist der Ausgangspunkt für die Entwicklungder Medien.

Vergrößert sich dagegen die Anzahl der Kom-munikationsteilnehmer, dann muss sichergestelltwerden, dass sich die einzelnen mit ihren sprachli-chen Äußerungen nicht gegenseitig behindern.Reden nämlich zu viele Menschen durcheinander,dann kann man die einzelnen Äußerungen nichtmehr wahrnehmen. Eine Lösung dieses Problems istdie Reglementierung der kommunikativen Handlun-gen. Nur einer spricht und alle anderen hören zu.Eine zweite Lösung ist die Verwendung von Zeichen-körpern, die man kollektiv erzeugen kann, wie Bei-fall, gemeinsame Gesänge und Gebete. Hier hat dieArchitektur für die spezifischen Anforderungen kol-lektiver Kommunikationssituationen auch eigeneKommunikationsbauten hervorgebracht: den Hör-saal, das Theater, die Arena und andere mehr.

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Abb. 2: Das Zeichen als Kommunikations-instrument. Unmittelbar wahr-nehmbare Sachverhalte sindschwarz, nicht unmittelbar wahr-nehmbare sind blau ausgezeichnet.Die Zeitindizierung stellt denSprecherwechsel und Rückkopplun-gen sicher. (in Anlehnung an Keller1995: 113).

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Das Konzept des kommunikativen Handelnskann damit den strukturellen Zusammenhang vonMedien- und Versammlungskommunikation erklären.Beide Kommunikationsformen haben, wie das dieKommunikationswissenschaft festhält, einen spezifi-schen Einfluss auf die Entstehung von Öffentlichkeitund öffentlicher Meinung. Die Cultural Studies, eineher medienwissenschaftlicher Forschungsansatz,betonen wiederum, dass die Medien die Ausbreitungvon Macht und Herrschaft ermöglichen, währendVersammlungen für den Zusammenhalt sozialerGemeinschaften eine integrierende Funktion haben.

Beide Transformationen verändern aber nichtnur die sozialen und kulturellen Funktionen kommu-nikativer Handlungen. Sie verändern auch die Zei-chen und Zeichenkomplexe, die dabei als Kommu-nikationsinstrumente dienen. Das Gespräch wirdzum Text bzw. zu einem medienspezifischen, textähn-lichen Gebilde. So lässt sich hier eine weitere Brückezwischen der Kommunikationswissenschaft und denText- und Medienwissenschaften schlagen.

Texte sind, wie das die Textlinguistik definiert,kohärente und ganzheitliche Zeichenkomplexe, dieals Ganzes ihre kommunikative Funktion signalisie-ren (4). Sprachliche Texte, Filme und sonstigeMedienbeiträge können sich nämlich nicht damitbegnügen, die vom „Sprecher“ intendierten kommu-nikativen Handlungen zu vermitteln. Sie müssenauch all die zusätzlichen Informationen signalisieren,die in der Face-to-Face-Situation durch den gemein-samen Kontext der Sprecher-Hörer-Kooperationsichergestellt sind. Sie leisten das durch ihren spezi-fischen Aufbau, ihre Perspektive und ihren Stil, diesich alle an der kommunikativen Funktion des jewei-ligen Medienbeitrags orientieren.

Die Produktion dieser höchst komplexen Kom-munikationsinstrumente wird dadurch erleichtert,weil nun die kommunikativen Äußerungen in eineHerstellungs- und in eine Mitteilungshandlung aus-einander fallen. Ein Buch muss erst geschrieben wer-den, bevor man es drucken und verkaufen kann.Dabei kann der Autor sein Manuskript immer wiederüberarbeiten, korrigieren und neu gestalten. Das istnur möglich, weil die Schrift seine früheren Formu-lierungen und Überlegungen fixiert und aufbewahrthat. Das ist bei der gesprochenen Sprache nicht derFall.

Besonders aufwendig sind diese Herstellungs-handlungen bei der Produktion audiovisueller Me-dien-beiträge (Abb. 3). Denn diese setzen sich auseinem Konglomerat heterogener Zeichen zusammen:aus bewegten Bildern und Tönen, aus Sprache undMusik, aus grafischen und schriftlichen Elementen.Zusätzlich kennt das Fernsehen noch zwei Produk-tionsmethoden, eine sukzessive und eine simultane.Bei Filmproduktionen wird zunächst gedreht, dann

geschnitten und gesendet, bei Live-Sendungen findetdas alles gleichzeitig statt.

Diese beiden Produktionsverfahren erfordernunterschiedliche technische Ausstattungen undOrganisationsstrukturen. Das Fernsehen unterglie-dert sich auf diese Weise in mehrere Submedien, dieauch unterschiedliche Kommunikationsbeziehungenetablieren. Filmbeiträge entwickeln ähnliche medialeKommunikationszusammenhänge wie Bücher oderZeitungen. Live-Sendungen orientieren sich dagegenam Modell der Versammlungskommunikation. Ge-sprächssendungen sind elektronische Erweiterungenvon Podiumsdiskussionen und Live-Übertragungensind virtuelle Tribünen der Veranstaltungsorte derjeweiligen Ereignisse. Die Fans in einer Public-Viewing-Aera jubeln und pfeifen genauso wie die ineinem Stadion.

Auf diese interne Ausdifferenzierung des Me-diums Fernsehen lassen sich wiederum die spezifi-schen Ausdifferenzierungen der journalistischen Rol-len, Arbeitsroutinen und Darstellungstechnikenzurückführen, die den Fernsehjournalismus deutlichvom restlichen Journalismus unterscheiden. So kenntder Fernsehjournalismus nicht nur Reporter und Re-dakteure als Ausdifferenzierungen der journalisti-schen Autorenrolle, sondern auch Moderatoren undLive-Kommentatoren. Eine weitere Besonderheit vonFernsehjournalisten ist ihre intensive Zusammenar-beit mit einem Team, während die Journalisten sonstlediglich in die organisatorische Einheit einer Redak-tion eingebunden sind.

Das Konzept des kommunikativen Handelns er-möglicht damit ein theoretisch fundiertes Verständ-nis des Fernsehjournalismus, was der Ausbildung aufdiesem Gebiet nur zu Gute kommt. Inwieweit dieserintegrative Ansatz auch die interdisziplinäre Zusam-menarbeit von Kommunikations- und Medienwissen-schaften anregen und erleichtern kann, muss sichnoch erweisen. �

Abb. 3:Dreharbeiten „Heimkehr vom Einkaufen“. Die Produktioneines Films verbindet Technik undGestaltung. Die Kamerahöhe isthier so gewählt, dass man dasGewicht der Einkaufstaschen„sieht“. Der Ton muss das Geräuschder Schritte klar erfassen. Geradewerden der Kameraschwenk, dieGehrichtung und das Tempo derProtagonistin aufeinander abge-stimmt. Die Gestaltung der Ein-stellung orientiert sich dabei anihrer kommunikativen Funktion. Sie soll den Weg zwischen Autound Wohnungstür illustrieren.

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1) Siegfried J. Schmidt / Guido Zustiege (2000): Orientierung Kommunikationswissenschaft. Reinbek. S. 147.

2) Peter L. Berger / Thomas Luckmann ([1966] 2003): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt a. M. S. 31.

3) Rudi Keller (1995): Zeichentheorie. Zu einer Theorie semiotischen Wissens. Tübingen. S. 12.

4) Klaus Brinker (1997): Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. Berlin. S. 17.

5) Karl N. Renner (2007): Fernsehjournalismus. Entwurf einer Theorie des kommunikativen Handelns. Konstanz.

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Literatur

� Summary The present-day situation of scientific practice is thatacademic subjects whose research topics overlap,approach these interdisciplinary. In the case of mediaand their communicative relationships sadly, no suchinterdisciplinary cooperation takes place. This islargely due to the clash of two academic disciplinesrooted in different traditions. Communication scienceoriented disciplines like mass communication andjournalism see themselves as empirical social studies,using mainly statistical-inductive methods. The

� Kontakt

Prof. Dr. Karl N. RennerJournalistisches SeminarJohannes Gutenberg-Universität MainzAlte Universitätsstraße 17D-55116 MainzTel. +49 (0)6131-39 39 306Fax +49 (0)6131-39 39 302Email: [email protected]

Prof. Dr.Karl Nikolaus Renner

Karl Nikolaus Renner wur-de 1949 in Ruhpolding ge-boren. Er hat an der Uni-versität München DeutscheLiteraturwissenschaft, Film-

philologie, Linguistik, Wissenschaftstheorie und for-male Logik studiert. Nach seiner Promotion über dieFunktion narrativer Strukturen bei der Verfilmungliterarischer Texte (1981) war er wissenschaftlicherMitarbeiter der Münchener DFG Forschergruppe„Sozialgeschichte der Deutschen Literatur 1770-1900”. Von 1985 bis 1995 arbeitete er als freierFernsehjournalist und Filmautor beim BayerischenRundfunk in München und drehte wissenschaftsjour-nalistische Beiträge, Features über kulturpolitischeThemen und historische Dokumentationen. 1995wurde er an das Journalistische Seminar der Johan-nes Gutenberg-Universität berufen, wo er seitdemdas Gebiet Fernsehjournalismus vertritt. Von 1998 bis2002 war er außerdem geschäftsführender Leiter desElektronischen Medienzentrums, seit 2005 ist ergeschäftsführender Leiter von Campus TV Mainz.

different media-studies disciplines on the other handare rooted in a humanities tradition and argue usinginterpretative and deductive methods. How dramaticthe differences may be, the subjects of communica-tion and media studies can almost not be separated.A solution for overcoming this gap is offered by theconcept of communicative action, which regardscommunication as acting with the help of signs andsign complexes, an idea that can be found both incommunication studies as well as in sign theory ortext linguistics.

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Von Jürgen Wilke

Massenmedien und Spendenkampagnen

Bereits im 18. Jahrhundert machten ZeitungenWerbung für Lotterien, mit denen gemeinnützigeEinrichtungen finanziert wurden. Heute wird Geldfür humanitäre Hilfe vor allem mit TV-Sendungengesammelt.

Auch vier Jahre später ist die Erinnerung daran nichtverblasst: Am 26. Dezember 2004 löste ein Seebebenim Indischen Ozean eine Flutwelle aus, die in weni-gen Stunden verheerende Schäden in Indonesien,Sri Lanka und anderen Teilen Ostasiens verursachte.Dem Tsunami fielen mehr als 220.000 Menschenzum Opfer – man sprach von der größten Natur-katastrophe seit Menschengedenken. Kein Wunder,dass diese zu einem überwältigenden Thema derMassenmedien wurde. Wochenlang berichtetenPresse, Hörfunk und Fernsehen in Wort und Bild überdie angerichteten Zerstörungen und deren Folgen fürdie Menschen (Abb. 1). Auch das Internet wurderasch dazu genutzt. Die Medien stellten sich aberzugleich in den Dienst der anlaufenden Hilfsaktionenund riefen die Leser und Zuschauer auf, den in Notgeratenen Menschen mit Spenden zu helfen. Insge-samt kamen in Deutschland dadurch 670 MillionenEuro zusammen, der größte jemals zu einem solchenEreignis gesammelte Betrag. Einmal mehr erwiessich: Die Massenmedien sind dazu prädestiniert, diebreite Bevölkerung zur Unterstützung wohltätigeroder karitativer Zwecke zu bewegen. Außer denFunktionen der Information, der Unterhaltung undBildung, die man ihnen herkömmlich zuspricht,betreiben die Medien damit auch so etwas wie„Fundraising“. Aber so jung wie dieser Begriff ist dieSache selbst keineswegs. Wie sich diese Sache entwi-ckelt hat, nach welchen Regeln sie funktioniert undwelche Ambivalenzen sie auslöst, ist Gegenstand derMedienforschung.

Frühe Anfänge

Der Einsatz der Massenmedien zur Unterstützungwohltätiger Zwecke ist fast so alt wie die Presseselbst. Schon früh geschah dies im Zusammenhangmit Lotterien. So wurden bereits im 18. Jahrhundertin Hamburg Lotterien veranstaltet, bei denen mandurch den Kauf von Losen Preise gewinnen konnte.Die Einnahmen daraus dienten der Stadtregierungdann auch dazu, Zucht- und Waisenhaus zu finan-zieren. Damit sie ertragreich waren, mussten dieseLotterien in „Avertissements“ öffentlich bekanntgemacht werden. Diese Aufgabe übernahmen diegedruckten Zeitungen. Vor allem die Intelligenz-

blätter, die in erster Linie Inseraten und amtlichenBekanntmachungen gewidmet waren, sind im späte-ren 18. Jahrhundert voll von Lotterie-Nachrichten,Hinweisen auf anstehende Ziehungen ebenso wieBekanntgaben der Gewinnlose (wenn nicht derGewinner selbst). In den „Hamburgischen AdreßComtoir Nachrichten“ findet sich 1772 aber aucheine erste Spendenkampagne im eigentlichen Sinne:Die Leser wurden über mehrere Monate hinweg wie-derholt aufgerufen, der von einer Hungersnot betrof-fenen Bevölkerung in Sachsen zu helfen. Das Intelli-genzblatt publizierte dann die Liste eingegangenerSpenden und auch die Namen mancher Spender.

Ging es in Sachsen 1772 um soziale Wohl-tätigkeit, so stellten sich in anderen Fällen Notlagen,die nach patriotischen Opfergaben verlangten. In denJahren1812/13 versuchte Preußen in den Befreiungs-kriegen, die Herrschaft Napoleons abzuschütteln.Dies erforderte eine große nationale Kraftanstren-gung, an der das ganze Volk Anteil nahm. Dies fandauch darin seinen Ausdruck, dass zur Ausrüstung derKriegsfreiwilligen Spendenaufrufe in den BerlinerTageszeitungen eingerückt wurden. Die Namen derSpender und die gespendeten Beträge wurden eben-falls abgedruckt, als Anerkennung und zur Doku-mentation beispielhaften Verhaltens, das auch ande-re zum Nachahmen anregen sollte. Der Besitzer einerBerliner Zeitungshalle rief dazu auf, goldene Trau-und Verlobungsringe einzusammeln und aus demErtrag freiwillige Jäger einzukleiden und zu bewaff-nen. Jeder eingelieferte Ring sollte zur Erinnerung andie patriotische Tat gegen einen eisernen einge-tauscht werden, der auf der Innenseite die Inschrift

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Abb. 1: Fotos wie dieses lösten nachdem Tsunami 2004 eine enormeSpendenbereitschaft aus.

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„Gold gab ich für Eisen 1813“ eingraviert bekam.Auch sollten wiederum die öffentlichen BlätterRechenschaft vom Erfolg dieser Aktion geben. Andieses Vorbild schloss man noch im Ersten Weltkriegmit einer ähnlichen Aktion in Österreich an. Nach-folge fand das Eheringopfer auch noch 1935/36 imfaschistischen Italien.

Kriegsanleihen im Ersten Weltkrieg

Im Ersten Weltkrieg erreichte der Einsatz von Medienund Propaganda neben den militärischen Waffeneinen neuen Höhepunkt. Um die Kriegsführung über-haupt finanzieren zu können, legte die Reichsbank sogenannte Kriegsanleihen auf (Abb. 2), durch derenZeichnung sich die Bevölkerung direkt an denKriegskosten beteiligen sollte, unter der Zusicherungauf verzinste Rückzahlung. Von diesem Mittel habenauch die Kriegsgegner Gebrauch gemacht. InDeutschland wurden zwischen 1914 und 1918 halb-jährlich solche Kriegsanleihen ausgegeben, insge-samt neun. Sie erbrachten ein Volumen von 95Millionen Reichsmark. Begleitet wurde die Ausgabeder Kriegsanleihen von einer intensiven Werbungdafür. In der Tagespresse wurden die Kriegsanleihenerklärt und begründet, über ihre Ergebnisse berich-tet, durch Anzeigen der Reichsbank sowie von Firmenund Verbänden dafür geworben. Auch Plakate undFlugblätter wurden eingesetzt, sogar im Kino propa-gierten Filme und Lichtbildervorträge die Kriegs-anleihen. Niemand sollte sich dem „Öffentlichkeits-druck“ entziehen können. Wer dies dennoch tat, ent-larvte sich als „Vaterlandsverräter“. Darüber hinausgab es im Ersten Weltkrieg noch andere Kampagnen,auch zu Materialsammlungen (Wolle, Schmuck usw.)oder zur „Ludendorff-Spende“, mit der Mittel zurKriegsbeschädigten-Versorgung akquiriert wurden.

Das Winterhilfswerk

Das nächste historisch bemerkenswerte Beispiel fürden Medieneinsatz zu Spendenzwecken war dasWinterhilfswerk des Deutschen Volkes. Seine Anfängeliegen noch in der Weimarer Republik, als lokale undreichsweite Initiativen entstanden, um Menschen, diedurch Arbeitslosigkeit in Not geraten waren, Überle-benshilfe im Winter zu leisten. Auch hier hing derErfolg von wirksamen Werbemaßnahmen durchPlakatierung und Slogans ab. Auch die jungenRundfunkgesellschaften trugen mit Konzerten zu denAktionen des Winterhilfswerks bei (Abb. 3), dochkamen dabei nicht alle interessierten Organisationenzum Zuge. Nach der „Machtergreifung“ machten dieNationalsozialisten das Winterhilfswerk zu einemzentralen Instrument ihres viel beschworenen„Sozialismus der Tat“. Das Winterhilfswerk wurdedem Propagandaminister Goebbels unterstellt, AdolfHitler selbst hielt in der Regel die jährlicheEröffnungsrede. Das Winterhilfswerk bediente sichverschiedener Spendenformen und inszenierte dazu

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auch Gemeinschaftsaktionen wie den „Eintopfsonn-tag“. Die auf verschiedenen Wegen gesammeltenMittel stiegen laut offiziellen Angaben von 184 Mio.Reichsmark (1933/34) auf knapp 1,6 Milliarden(1942/43) an. Die Werbemaßnahmen für das Winter-hilfswerk erstreckten sich wieder auf alle verfügba-ren Medien. Die Presse hatte die Eröffnungskund-gebungen und Eintopfsonntage in der Berichterstat-tung groß aufzumachen, die Ergebnisse derStraßensammlungen zu vermelden und Spenden-listen zu veröffentlichen. Im Rundfunk wurden Über-tragungen zum Winterhilfswerk gebracht, sogar eige-ne Hörspiele produziert und auch das Wunschkonzertzur Spendenwerbung eingesetzt. Ferner nutzte mandazu die Wochenschau.

Die Möglichkeiten des Fernsehens

Nach dem Zweiten Weltkrieg, ab dem Ende der1940er Jahre, rief der Rundfunk wieder zu Spendenauf. Der Nordwestdeutsche Rundfunk sammelte1948 in Hamburg eine Million DM für Not leidendeStudenten. Radiolotterien wurden eingerichtet, diewiederum persönliche Gewinnchancen mit wohltäti-gen Zwecken verbanden. Hinzu kamen Einzelaktio-nen, beispielsweise 1953 zugunsten von DDR-Flüchtlingen. Mit dem Aufkommen des Fernsehenssollte sich auch dieses neue Medium zur Spenden-generierung anbieten, und zwar noch mehr als alleanderen bis dahin. Wohl finden sich Spendenaufrufeoder zumindest die Angabe von Spendenkonten auchweiterhin und bis heute in der Tagespresse. GroßeTageszeitungen starten vor allem in der Vorweih-nachtszeit Aktionen zur Sammlung von Geldspendenfür bestimmte soziale oder karitative Zwecke in ihrerStadt oder Region. Doch hat sich das Fernsehen auchin dieser Hinsicht längst als das effektivste Mediumerwiesen.

Abb. 2: Werbung für die Kriegs-anleihen im Ersten Weltkrieg.

Abb. 3: Plakat, das ein Konzert zu Gunsten derWinterhilfe im nationalsozialistischen Deutschlandankündigt.

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Zuschauer unmittelbar zum Spendenakt motiviertwerden sollen, erfolgt die Abwicklung über Telefon-anrufe. Damit keine Spende verloren geht, müssenentsprechend viele Leitungen geschaltet werden. Biszu 2.000 Telefonisten sind schon notwendig gewe-sen, um die Spendenzusagen, Einzugsermächtigun-gen sowie Adress- und Kontodaten aufzunehmen.Übrigens geht es dabei nicht ohne Stornierungen ab,die Fernsehanstalten rechnen mit einer Quote von10 bis 15 Prozent.

Wirkungsmechanismen

Mit den Wirkungsmechanismen von Überzeugungs-kampagnen hat sich die Kommunikationswissen-schaft schon früh befasst. Zu einem Klassiker derDisziplin wurde die Studie „Mass Persuasion“ desSoziologen Robert K. Merton (1946). Er untersuchtedarin einen achtzehnstündigen „Radiomarathon“, indem der Radiostar Kate Smith am 21. September1943 über das Columbia Broadcasting System für dieZeichnung amerikanischer Kriegsanleihen warb.Auch wenn diese nur eine von zahlreichen „WarBond Drives“ war, so war sie aufgrund von Smith’Popularität die erfolgreichste und erbrachte eineZeichnung von über 600 Millionen US-$. Wie Mertonherausfand, trugen zu diesem Rekord verschiedene

Eine ARD-Fernsehlotterie (zunächst im Dienstdes Hilfswerks Berlin, später des Deutschen Hilfs-werks) begann 1956. Das ZDF rief schon bald nachseiner Gründung 1964 die „Aktion Sorgenkind“ insLeben, eine Reaktion auf die Contergan-Katastrophe.Sendungen, die veranstaltet wurden, um hierzuHilfsgelder zu beschaffen, waren zunächst das Rate-spiel „Vergissmeinnicht“, später „Drei mal Neun“und „Der große Preis“ (Abb. 4). Der ConferencierHans Rosenthal sammelte für die SOS Kinderdörfer.Damit erweiterte sich auch das Sendungsspektrumzur großen Fernsehshow. Zur Finanzierung derOlympischen Spiele in München veranstalteten ARDund ZDF gemeinsam die Glücksspirale, die später zueiner rein kommerziellen Lotterie wurde.

Die Bedeutung der Spendenwerbung im Fern-sehen hat im Laufe der Jahre immer mehr zugenom-men. Die Sendungsarten und Programmelemente, indenen sie heute ihren Platz findet, haben sich diver-sifiziert. Anlässe für Spendenaufrufe liefert zunächstschon die journalistische Berichterstattung überKatastrophen und Krisenerscheinungen in der Welt.Bei solchen Anlässen werden Spendenkonten inNachrichtensendungen eingeblendet oder im Inter-net genannt. Üblich ist dies auch in aktuellen Zu-satzangeboten wie „ARD-Brennpunkt“ und „ZDF-Spezial“ oder in eigenen Sondersendungen. DieHilfsorganisationen selbst schalten Werbespots oderso genannte „Infomercials“, in denen prominente„Paten“ ihre Anliegen vorstellen und die Zuschauerum Spenden bitten.

Als eigene Gattung ist zudem die Benefiz-sendung eingeführt worden. Sie ist eigens für denguten Zweck geschaffen und attraktiv im Programmplatziert. Ihre Zahl hat seit Mitte der 1990er Jahrestark zugenommen (Abb. 5). Es gibt davon wiederummehrere Typen. Benefizsendungen können bei gege-benem Anlass ausgestrahlt werden, zur Hilfe in aktu-eller Not. Es gibt aber auch Regelsendungen zuguns-ten bestimmter Hilfsorganisationen wie dem RotenKreuz, der Welthungerhilfe oder der Aids-Hilfe. In-zwischen werden solche Sendungen aufwändig inForm von „Spendengalas“ inszeniert (z. B. JoséCarreras Gala). Verglichen mit den Spendenaufrufenim laufenden Programm umgibt solche Sendungendie Aura des Außergewöhnlichen. Prominente ausPolitik, Kultur und Medien treten darin als Spenden-werber auf. Letztere verzichten uneigennützig aufHonorare, profitieren aber gleichwohl von ihren Auf-tritten dort. Der Marktanteil solcher Benefizsendun-gen ist doppelt so hoch wie bei „normalen“ Sen-dungen.

Benefizsendungen können beträchtliche Er-träge erzielen. Die jüngste ZDF „Stargala“ vom18. Oktober 2007 spielte bis zum Ende der Sendung1,7 Millionen Euro ein. Solche Sendungen bedürfenintensiver Vorbereitung und Organisation. Da die

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Abb. 4: Der große Preis – ZDF-Wohl-tätigkeitslotterie zu Gunsten derAktion Sorgenkind.

Abb. 5: Zunahme der TV-Benefizsendun-gen zwischen1950 und 2005 in Deutschland.

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� Kontakt

Prof. Dr. Jürgen WilkeInstitut für PublizistikJohannes Gutenberg-Universität MainzColonel Kleinmann Weg 2D-55099 MainzTel. +49 (0)6131-39 22 539Fax +49 (0)6131-39 24 239Email: [email protected]

Ursachen bei: Kommunikator-Eigenschaften, dieZahl, Art und Einseitigkeit der Appelle, die Situations-und Persönlichkeitsfaktoren der Rezipienten sowieEigenschaften des Mediums Radio. Als höchst förder-lich erwies sich der auch aus anderen sozialenZusammenhängen bekannte „Schrittmachereffekt“:Nämlich dass die laufende Bekanntgabe des Standesder Spenden eine mitreißende Wirkung auf andere,besonders auf noch Unentschlossene, hatte. DiesenEffekt machen sich noch heute die Spendengalas imFernsehen zunutze, indem laufend die Höhe der ein-gegangenen Spenden bekannt gegeben wird.

Ambivalenzen

So unzweifelhaft die Spendenkampagnen in denMassenmedien menschliche Hilfsbereitschaft auslö-sen und dadurch heute erhebliche Mittel für medizi-nische, soziale oder karitative Zwecke zusammenkommen, so hat doch auch dies alles seine Ambiva-lenzen. Erst jüngst hat der Notfallarzt und ChirurgRichard Munz, der über 20 Jahre für verschiedeneHilfsorganisationen in der Welt unterwegs war, in sei-nem Buch „Im Zentrum der Katastrophe“ (Frankfurt2007) über die negativen Folgen des Katastrophen-journalismus berichtet, der häufig der Auslöser fürdie Spendenbereitschaft der Menschen ist. Erschreibt (S. 8): „Es ist die extreme Berichterstattungin den Medien, die zunächst aus übertriebenenSchlagzeilen und aus vorschneller Heroisierung derhumanitären Hilfe besteht und später sehr häufig inheftigste Kritik mündet, die den Spender in einWechselbad aus spontaner Hilfsbereitschaft und spä-terem Frust stürzt. Eine ausgewogene und sachge-mäße Berichterstattung über internationale Katas-trophen und die darauf folgenden Hilfsmaßnahmenist leider eine allzu seltene Ausnahme.“ Zudem kann,wie sich nach der Tsunami-Katastrophe 2005 zeigte,ein Übermaß an Spenden für die Hilfsorganisationenzum Problem werden. Ihre Möglichkeiten sachgemä-ßer Verwendung werden in einem solchen Fall über-strapaziert, aber wegen der Zweckbindung der Spen-den können diese nicht auf andere, vielleicht nichtweniger bedürftige Projekte umgeleitet werden. �

Prof. Dr. Jürgen Wilke

Jürgen Wilke, geb. 1943in Goldap/Ostpreußen, Stu-dium der Germanistik,Publizistik und Kunstge-schichte in Mainz undMünster (Westf.), Promo-

tion 1971, Journalistische Tätigkeit, Wissenschaftli-cher Mitarbeiter am Institut für Publizistik derUniversität Mainz, 1983 Habilitation, 1984 LehrstuhlJournalistik I der Katholischen Universität Eichstätt,1985 Ruf an die Universität München (abgelehnt),seit 1988 Professor für Publizistik in Mainz. 1993und 1999 Visiting Scholar an der University ofWashington (Seattle, USA), 2004 Prof. h.c. derLomonossow-Universität Moskau, 2005 Korrespon-dierendes Mitglied der Österreichischen Akademieder Wissenschaften, Gastprofessor an der UniversitätLugano (seit 2001). Forschungsgebiete: Medienge-schichte und Medienstruktur, Nachrichtenwesen,Politische Kommunikation, Internationale Kommuni-kation.

� Summary Mass Media, Fundraising and Public Charity: Themass media are important means for fundraising forpublic charity. After the Tsunami catastrophe 2004 inEast-Asia 670 Mio. Euro have been collected inGermany, stimulated particularly by the media’sreporting and their call for help. But this function isnot new. The article gives an overview of the use ofthe mass media for such goals from the 17th to the21th century, from the early press to Charity-TV. Thereasons and formats of campaigning have changedover time. The mechanisms of effects are mentionedas well as the potential ambivalence of collectinghigh amounts of money for relief organizations.

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MEDIEN – WISSENSCHAFT

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Von Hans Mathias Kepplinger und Senja Post

Der Einfluss der Medien auf die Klimaforschung

Droht ein Autonomieverlust der Wissenschaft,weil sie partiell durch die Medien gesteuert wird?Ein Beispiel aus der Klimaforschung weist auf einesolche Mediatisierung der Wissenschaft hin.

Ein Charakteristikum der europäischen Kultur ist dieAusdifferenzierung von gesellschaftlichen Teilsys-temen. Die Teilsysteme entwickeln eigene Sprachen,eigene Erfolgskriterien und relative Autonomie, dasheißt sie werden unabhängig von anderen Teilsyste-men. Ihre relative Autonomie erstreckt sich unteranderem auf die Rekrutierung des Nachwuchses, dieVerteilung der Finanzmittel sowie die Bestimmungihrer Tätigkeitsfelder. Die Medien sind ein Teilsystemmoderner Gesellschaften. Ihre Eigenrationalitätunterscheidet sich von der Eigenrationalität derTeilsysteme, über die sie berichten: Für die Medienzählt zum Beispiel vor allem die Größe eines Scha-dens, seine Eintrittwahrscheinlichkeit spielt dagegennahezu keine Rolle; zudem billigen fast alle Jour-nalisten die Übertreibungen von Gefahren zur Ver-meidung von Schäden. Beispiele hierfür liefert dieBerichterstattung über die Risiken (1) durch Kern-kraft, BSE und SARS. Die Medien haben sich im Laufeder Zeit zu einer Voraussetzung für die Funktions-fähigkeit anderer Teilsysteme entwickelt. Eine Folgedavon ist die „Mediatisierung“ der Gesellschaft. DerBegriff bezeichnet die Orientierung von Teilsystemenan den Erfolgskriterien der Medien. Damit verbundenist die Überlagerung ihrer Eigenrationalität durch dieRationalität der Medien. Eine Ursache dieserEntwicklung sind die „reziproken Effekte“ der Me-dien, ihr Einfluss auf jene, über die sie berichten (2).Intensive Berichterstattung schafft Aufmerksamkeitfür Probleme und Forschungsrichtungen, die sichdamit befassen. Sie lässt einzelne Ansätze erfolgver-sprechend erscheinen, was sich auf ihr Ansehen beider Bevölkerung, in der Politik sowie bei Förderungs-einrichtungen auswirken und in der Zuweisung vonFinanzmitteln niederschlagen kann. Die Folge ist einAutonomieverlust der Wissenschaft, ihre partielleAußensteuerung durch die Medien.

Grundgesamtheit der Klimaforscher

Einen Schwerpunkt der Medienberichterstattung bil-det seit Jahren die Klimaforschung. Wie hat sich dasauf die Klimaforschung ausgewirkt? Die scheinbareinfache Frage ist schwer zu beantworten, weil es„die“ Klimaforschung nicht gibt. Mit dem Klimabeschäftigen sich Naturwissenschaftler aus ganzunterschiedlichen Disziplinen, die zudem an sehr ver-

schiedenen Einrichtungen tätig sind. Physiker, Che-miker, Geologen, Biologen, Meteorologen undMathematiker, all diese Klimaforscher sind auch inverschiedenen Fachgesellschaften organisiert. Dieeinen sind Mitglieder in der Deutschen Meteorolo-gischen Gesellschaft (DMG), die anderen in derDeutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG) und wie-der andere gehören keinem Fachverband an. DerGrund für die Zersplitterung derKlimaforschung liegt in derkomplexen Natur ihres Gegen-standes – es geht um die At-mosphäre und die Weltmeere,um Niederschläge und Ver-dunstung, um physikalische,chemische und biologischeProzesse, um Erklärungen desWeltklimas aus der Vergangen-heit und Prognosen für dieZukunft. Einen Ausweg für dienachfolgend geschilderte Un-tersuchung bildet eine formaleDefinition: Danach sind Kli-maforscher alle Naturwissen-schaftler, die die unterschied-lichen Komponenten des Klima-systems erforschen und derenUntersuchungen von ande-ren Naturwissenschaftlern zurKenntnis genommen werden.Sie schließt einen Physiker ein,

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der die Auswirkungen kosmischer Partikel auf atmo-sphärische Prozesse untersucht, jedoch einen Ökono-men aus, der sich mit den Auswirkungen desKlimawandels auf das Wirtschaftswachstum befasst.Ausgehend von dieser Definition wurden in einermehrstufigen Vorstudie 85 universitäre und außer-universitäre Einrichtungen sowie alle dort tätigenProfessoren identifiziert. Deren Relevanz im Sinnedieser Untersuchung wurde in Vorgesprächen mit elfSachverständigen ermittelt. Dadurch wurden 239Klimaforscher identifiziert, die als Professoren anwissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschlandtätig sind (3). Zwar kann angesichts der Komplexitätdes Forschungsfeldes und seiner unscharfen Grenzennicht ausgeschlossen werden, dass der eine oder an-dere Wissenschaftler, der sich zu Recht als Klimafor-scher im Sinne dieser Studie versteht, nicht aufge-nommen wurde. Dennoch wird hier im Unterschiedzu allen anderen Untersuchungen erstmalig dasganze Spektrum der beteiligten Disziplinen berück-sichtigt. Von den 239 Klimaforschern nahmen 133 imSommer 2006 an einer Online-Befragung teil. Diemeisten von ihnen haben Geowissenschaften (38 %),Physik (28 %) und Meteorologie (25 %) studiert.Daneben finden sich unter anderem Chemiker (8 %),Mathematiker (7 %), Biologen/Ökologen (6 %) undMeereskundler (5 %). Die Summe der Prozentwertebeträgt mehr als 100, weil zahlreiche Klimaforschermehrere Fächer studiert haben.

Medieneinfluss auf die Klimaforschung

Die „Berichterstattung der Medien über Klimafor-schung“ hat nach Ansicht der meisten deutschenKlimaforscher „einen Einfluss auf die Zuweisung vonForschungsgeldern“ (74 %). Verneint wurde dies nurvon einer kleinen Minderheit (18 %). Der Rest mach-te dazu keine konkreten Angaben. Diese Antwortensind auch deshalb bemerkenswert, weil die weitüberwiegende Mehrheit der Befragten die Masse derMedienberichte sehr negativ beurteilte. So erklärtenbeispielsweise 74 Prozent, in den Medien werde „dieLeistungsfähigkeit von Klimamodellen … überwie-gend überschätzt“. Nur sieben Prozent meinten, siewürden „überwiegend realistisch“ eingeschätzt. DieUrteile der Klimaforscher über die Qualität der Me-dienberichterstattung und die Qualifikation derBerichterstatter wurde mit 14 Fragen ermittelt. Sieoffenbaren Unterschiede im Urteil über einzelneMedien, die hier nicht referiert werden können. DieKlimaforscher, die einen Einfluss der Berichterstat-tung auf die Zuweisung von Forschungsgeldern kon-statierten, wurden gefragt, wer davon profitiert undwer darunter gelitten hat. Legt man für eine ersteOrientierung die Antwortverteilungen zugrunde,haben per saldo alle Forschungsrichtungen profitiert.Allerdings gibt es erhebliche Unterschiede. NachAussagen der weit überwiegenden Mehrheit habendie Forschungen „zum menschlichen Einfluss auf dasKlima“ und zur Entwicklung von „Klima-Modellen“

profitiert. Auf Forschungen zur „natürlichen Variabi-lität des Klimas“ und zur „Paläoklimatologie“ trifftdas nur nach Einschätzung einer kleinen Minderheitzu. Dies deutet darauf hin, dass die Mittel aufgrundder Berichterstattung nicht in gleichem Maße in alleBereiche geflossen sind. Das liefert einen erstenHinweis auf die Mediatisierung der Wissenschaft –die besondere finanzielle Förderung einzelner For-schungsrichtungen (Tabelle 1).

Die Zuweisung von Forschungsgeldern ist nureines von mehreren Mitteln zur Steuerung derWissenschaft. Deshalb wurde gezielt danach gefragt,ob die Berichterstattung über Klimafragen einen„Einfluss auf die Ausrichtung der Klimaforschung“gehabt hat und worin diese Auswirkungen bestan-den. Einen Einfluss der Medien auf die Ausrichtungder Klimaforschung erkennen fast zwei Drittel derKlimaforscher (62 %). Gegenteiliger Ansicht warweniger als ein Drittel (29 %) der Befragten. NachAnsicht der weitaus meisten (85 %) wird wegen derBerichterstattung vor allem der menschliche Einflussauf das Klima mehr erforscht, gegenteiliger Ansichtsind fünf Prozent. Der Rest sieht keinen Unterschied(5 %) oder äußert sich nicht (5 %). Dagegen wird dienatürliche Variabilität des Klimas nach Ansicht vielerKlimaforscher weniger erforscht. Dies erklärte einDrittel, fast genau so viele (32 %) waren jedoch ge-genteiliger Ansicht. Der Rest sah keinen Unterschied(32 %) oder gab keine konkrete Antwort. Der Einflussder Medien auf die Ausrichtung der Klimaforschungliefert einen zweiten Hinweis auf die Mediatisierungder Klimaforschung – die Stärkung einzelner For-schungsrichtungen.

Zwischen der Einschätzung der Mittelvertei-lung und der Verlagerung der Forschungsschwer-punkte bestehen enge, statistisch signifikanteZusammenhänge: Klimaforscher, die der Ansicht sind,die Medienberichterstattung hätte einen Einfluss aufdie finanzielle Förderung einer Forschungsrichtung,sind auch davon überzeugt, dass sie die Ausrichtungder Forschung im gleichen Sinne beeinflusst. DerEinfluss der Medienberichterstattung auf die finan-zielle Förderung schlägt auf die Ausrichtung derForschung durch (Tabelle 2).

Dass die Klimaforscher einen Zusammenhangzwischen dem Einfluss der Medien auf die Verteilungder Finanzmittel und der Ausrichtung der Forschungsehen, dürfte kaum überraschen. Umso bemerkens-werter sind die unterschiedlichen Sichtweisen derskeptischen Beobachter und der überzeugten Warnerunter den Klimaforschern. Diese beiden Gruppenwurden anhand ihrer Aussagen zu zwölf Testfragenermittelt, die mehrere Aspekte der Klimaforschungbetreffen: die Menge und Genauigkeit der verfügba-ren Daten, die Interpretation der vorhandenen Er-kenntnisse sowie die Qualität der vorhandenen Theo-rien und Modelle zur Erklärung und Prognose der

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Klimaentwicklung. Auf der Grundlage der Aussagenwurde ein Index berechnet, der drei gleich große Teil-gruppen erkennen lässt – skeptische Beobachter,überzeugte Warner und eine Mittelgruppe. Die skep-tischen Beobachter unterscheiden sich von den über-zeugten Warnern kaum in ihrem Urteil über die Exis-tenz des Klimawandels, sondern dadurch, dass siestärker an den theoretischen Grundlagen der Klima-forschung, an der Menge und Qualität der verfügba-ren Daten sowie an der Erklärung der Ursachen desKlimawandels und an der Möglichkeit von Klima-prognosen zweifeln.

Aus Sicht der skeptischen Beobachter bestehteine negative Beziehung zwischen dem Einfluss derMedien auf die Zuweisung von Forschungsmitteln fürdie Paläoklimatologie und dem Einfluss der Medienauf die Förderung der Entwicklung von Klimamodel-len: Je mehr die Medien die Entwicklung vonKlimamodellen vorantreiben, desto weniger Geldfließt in die Paläoklimatologie und umgekehrt(r = -.528; p ≤ 0,01); je mehr Geld in die Entwicklungvon Klimamodellen fließt, desto mehr verliert die Pa-läoklimatologie an Bedeutung (r = -.415; p ≤ 0,05).Die überzeugten Warner erkennen dagegen keine Be-ziehung zwischen der Zuweisung von Forschungsmit-teln für die Paläoklimatologie und der Entwicklungvon Klimamodellen. Stattdessen sehen sie einenbesonders engen Zusammenhang zwischen derZuweisung von Forschungsgeldern zur Entwicklungvon Klimamodellen und der Erforschung des mensch-lichen Einflusses auf das Klima (r = .666; p ≤ 0,01).Die gegenläufigen Sichtweisen der skeptischen Be-obachter und der überzeugten Warner liefern einendritten Hinweis auf die Mediatisierung der Klima-forschung – die Stärkung von einzelnen Forschungs-richtungen zu Lasten anderer.

Folgerungen

Betrachtet man die Aussagen der Kli-maforscher als valide Indikatoren fürdie erfragten Sachverhalte, kann manvon einer Mediatisierung ihrer Wis-senschaftsdisziplin sprechen. Siemanifestiert sich in der Zuweisungvon Finanzmitteln und in der fachli-chen Ausrichtung der Klimafor-schung. Dies deutet darauf hin, dasswesentliche Entscheidungen vomWissenschaftssystem ins Medien-system verlagert wurden, wovon vorallem die Modelltheoretiker profitierthaben. An dieser Stelle ist daran zuerinnern, dass in den Medien dieLeistungsfähigkeit von Klimamodel-len überwiegend überschätzt wird.Dieser Ansicht sind neben den skeptischen Beobach-tern (81 %) auch die überzeugten Warner (63 %). DieModelltheoretiker profitieren folglich von Berichten,

die die meisten Klimaforscher für falsch halten. Dasdeutet auf einen Autonomieverlust der Forschunghin: Die Zuweisung der Forschungsmittel und dieAusrichtung der Forschung wird von äußeren Kräftenbeeinflusst, denen die Forscher wissenschaftlicheQualifikation absprechen. Dies dürfte unter anderemdarauf zurückzuführen sein, dass Journalisten vorallem spektakuläre Befunde sowie solche Ergebnis-se publizieren, die ihre eigenen Sichtweisen stützen(4). Ein weiterer Grund könnte sein, dass einige Wis-senschaftler durch die mediengerechte Zuspitzungihrer Befunde Meldungen mit hohem Nachrichten-wert kreieren, die ihnen Medienöffentlichkeit und diedamit verbundenen Gratifikationen verheißen. ■

Tabelle 2 : Zusammenhang zwischen den Ansichten aller Klimaforscher über (1) den Einflussder Medien auf die Zuweisung von Forschungsgeldern und (2) ihrem Einfluss auf die Aus-richtung der Klimaforschung.

Tabelle 1: Einfluss der Medien auf die Zuweisung von Forschungsgeldern. Frage: „WelcheForschungsschwerpunkte haben davon profitiert, welche haben darunter gelitten?“

Ausgewiesen sind Produkt-Moment-Korrelationen. ** signifikant auf dem 0,01-Niveau (beidseitig), * signifikant auf dem 0,05-Niveau (beidseitig).

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� Summary According to the majority of German climate scien-tists, media coverage on global warming has had astrong impact on the distribution of research grantsand on the scientific process in climate science.Research on human influences on climate changeand on climate modelling has profited most frommedia impact whereas research on the natural varia-bility and on climate history has profited only little.However, the opinions of climate scientists whoquestion the quality of data, theories and models(sceptical observers) and of climate scientists whobelieve in the quality of data, theories and models

Senja Post

Senja Post, geboren 1980in Dorsten, studierte Kom-munikationswissenschaft,englische Sprachwissen-schaft und Politikwissen-schaft in Dresden, Boston

und Mainz. Während des Studiums absolvierte siemehrere Praktika im Bereich Öffentlichkeitsarbeit inUnternehmen und Forschungseinrichtungen. IhreMagisterarbeit mit dem Titel „Die Berichterstattungüber den Klimawandel aus Sicht der Klimaforscher“verfasste sie 2007. Seit November 2007 arbeitet sieals wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut fürPublizistik der Johannes Gutenberg-UniversitätMainz.

Univ.-Prof. Dr. phil.Hans MathiasKepplinger

Hans Mathias Kepplinger(Jahrgang 1943) studiertePolitikwissenschaft, Publi-zistik und Geschichte in

Mainz, München und Berlin. Die Promotion erfolgte1970 und die Habilitation 1977 an der Universität inMainz. Von 1970 bis 1978 war er wissenschaftlicherAssistent von Elisabeth Noelle-Neumann am Institutfür Publizistik der Johannes Gutenberg-UniversitätMainz und von 1978 bis 1982 Heisenberg-Stipendiatder Deutschen Forschungsgemeinschaft. Seit 1982 ister Professor für Empirische Kommunikationswissen-schaft am Institut für Publizistik der Johannes Guten-berg-Universität Mainz. Außerdem war er Fellow ander University of California Berkeley (1980) und ander Harvard University (2005), Gastprofessor an derUniversité Tunis (1980-1982), der Southern IllinoisUniversity (1982) und der Università della Svizzeraitaliana (2000).

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. phil. Hans Mathias KepplingerInstitut für PublizistikColonel-Kleinmann-Weg 2Johannes Gutenberg-Universität MainzD-55099 MainzTel. +49 (0)6131-39 22 579Email: [email protected] http://www.ifp.uni-mainz.de/index.html

1) Hans Mathias Kepplinger: Künstliche Horizonte. Folgen, Darstellung und Akzeptanz von Technik in der Bundesrepublik.

Frankfurt am Main: Campus 1989

2) Hans Mathias Kepplinger: Reciprocal Effects: Towards a Theory of Mass Media Effects on Decision Makers.

In: The Harvard International Journal of Press/Politics 12 (2007) 3-23

3) Senja Post: Klimakatastrophe oder Katastrophenklima? Die Berichterstattung über den Klimawandel aus Sicht der Klima-

forscher. München: Verlag R. Fischer (erscheint 2008)

4) Hans Mathias Kepplinger, Hans-Bernd Brosius, Joachim Friedrich Staab, Günter Linke: Instrumentelle Aktualisierung.

Grundlagen einer Theorie publizistischer Konflikte. In: Max Kaase, Winfried Schulz (Hrsg.): Massenkommunikation. Theorien,

Methoden. Befunde. Opladen: Westdeutscher Verlag 1989, S. 199-220

Literatur

(devoted alarmists) partly contradict each other. Inthe sceptics’ views, climate modelling profits fromthe impact of media coverage at the expense ofpaleoclimatology. In the devoted alarmists´ viewsboth climate modelling and research on the anthro-pogenic influences profit from media impact onclimate research. Nevertheless, even the majority ofthe devoted alarmists indicate that the mass mediapresent a misleading picture of climate research.From these data one can conclude that the scientificprocess of climate science is driven by a non-acade-mic force which lacks scientific quality and reducesits autonomy.

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Digitale Medientechnik ist relativ schnell aktiv zubeherrschen, so dass medienintelligente Nutzerihre eigenen Inhalte im Web produzieren und dis-tributieren können. Dieser umfassende Prozess derDemokratisierung der Medien, mit allen sozialenund ethischen Konsequenzen, wird zum Gegen-stand der medienwissenschaftlichen Forschung.

Mensch – Ethik – Demokratie – Inhalt – Effizienz –Netzwerk: Buchstabiert man das schillernde WortMedien einmal im Sinne der universitären InitiativeMedienintelligenz, so liest sich das Ergebnis wie einArbeitsprogramm für Medienforscher und Medien-praktiker gleichermaßen. Angesichts der Durchdrin-gung aller Lebens- und Arbeitsbereiche mit Medien-technik und Medienangeboten müssen Medienfor-scher die Wirklichkeit auch jenseits hehrer Theorien inden Blick nehmen, um reale Gefahren aber auchgesellschaftliche Chancen der Mediatisierung unse-rer Kultur frühzeitig erkennen und beurteilen zu kön-nen. Umgekehrt sind auch Medienmacher dazu ge-zwungen, über ihr Handwerk und dessen konkretesoziale Macht zu reflektieren, um Qualitätsstandardszu sichern und auf dieser Basis neue Formen dermedialen Kommunikation zu entwickeln. Auslöserhistorischer Medienevolutionen waren stets techni-sche Innovationen, aktuell vor allem die umfassendeDigitalisierung der Medienwelt, die neue Produk-tionsformen und Distributionswege ermöglicht, denMarkt der Massenmedien ausdifferenziert und zu-gleich für nichtkommerzielle Angebote öffnet. DieseAusweitung der Medien hat enorme gesellschaftlicheKonsequenzen: Erst seit der zweiten Hälfte des zwan-zigsten Jahrhunderts stellen Massenmedien einenrelevanten Faktor innerhalb der familiären Kommu-nikation und der Erziehung dar, allerdings als weitge-hend nur passiv konsumierbares Rezeptionsangebotvia TV und Radio. Durch die Digitalisierung der Me-dien und die mit diesem technischen Fortschritt ein-hergehende (kinder-)leichte Handhabbarkeit von PC,Handy und Co sind private wie öffentliche Räumezum einen mittlerweile multimedial gesättigt, zumanderen – und dies ist ein entscheidender Punkt desWandels – stimulieren die neuen Gerätschaften zu-mindest potentiell eine aktive Medienproduktion derMediennutzer. Die passive Medienkonsumgesell-schaft schickt sich also derzeit an, die Schwelle zueiner multimedial aktiven Nutzergemeinde zu über-schreiten, in der jeder Mensch – ob Medienprofi oderAmateur – weltweit Texte, Bilder und Töne publizie-ren kann. Gerade an dieser Möglichkeit kann derTraum einer demokratischen Medienwelt zerbrechen,

weil ungeschulten Nutzern die künstlerische undhandwerkliche Befähigung fehlt. Auf den ernüchtern-den Blick auf die Wirklichkeit einer aktiven und pas-siven Mediennutzung folgt zwangsläufig die drin-gende Forderung nach umfassender Förderung derallgemeinen Medienkompetenz: die Stimulation derkreativen und rezeptiven Medienintelligenz.

Das Projekt

Am 25. Mai 2007 gab die rheinland-pfälzische Wis-senschaftsministerin Doris Ahnen in einer Presse-konferenz den Startschuss zur einjährigen Pilotphaseder Initiative Medienintelligenz an der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Sie wird seither vonMedienwissenschaftlern und Medienpraktikern ingleichberechtigter Weise und engem Austausch be-trieben. An einer Hochschule mit einem breit aufge-stellten und qualitativ hochwertigen Angebot anMedienfächern von Buch- bis Filmwissenschaft, vonPublizistik bis Medienrecht und Medienmana-gement, flankiert durch medienkünstlerische Stu-diengänge und das erfolgreiche Universitätsfernse-hen Campus TV, liegt ein solches integratives Modellnahe. Die im Bereich der Medienwissenschaften mitbesonderer Expertise ausgestattete Johannes Gu-tenberg-Universität liegt im Zentrum eines dicht vonFernsehanstalten, Verlagen und Medienfirmen besie-delten Medienstandorts und ist somit Teil eines weitverzweigten Netzwerks von Fachkräften aus Theorieund Praxis.

Ein medienintelligentes Forschungsportal

In derart idealer Umgebung nimmt die Initiative Me-dienintelligenz im umfassenden Sinne einen For-schungs- und Lehrauftrag wahr, der aktuelle Ent-wicklungen in die bestehenden und projektiertenAktivitäten des Interdisziplinären Arbeitskreis Me-dienwissenschaften integriert. Dazu zählen: (1)Lehrangebote für alle Medienfächer (z. B. zum kreati-ven Umgang mit dem Web 2.0), (2) Kurse zur berufli-chen Weiterbildung, (3) Erprobung von neuen For-men des schulischen und außerschulischen Lernens,(4) der Aufbau einer Website zu einer quantitativewie qualitative Methoden integrierenden Medien-forschung der Zukunft, (5) die Durchführung interna-tionaler Tagungen und Festivals, (6) das Angebothochwertiger Weiterbildungsveranstaltungen fürMedienpraktiker aus den traditionellen Medien, diesich neuen Herausforderungen stellen müssen, (7)die Konzeption und Durchführung medienpädagogi-

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Von Susanne Marschall

Was bedeutet Medienintelligenz?

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scher Projekte sowie (8) die Entwicklung von netzba-sierten Forschungsprojekten mit internationaler undinterdisziplinärer Ausrichtung. Alle Aktivitäten vonMedienintelligenz werden für die Öffentlichkeittransparent aufgearbeitet und im Internet zugänglichgemacht. Auf diese Weise entsteht mittelfristig eindynamisches und integratives Feld der Medienfor-schung und aktiven Medienanwendung, dessenPhilosophie im Begriff Medienintelligenz auf einenNenner gebracht wird. Aus der Vielfalt der gegenwär-tigen Aktivitäten der Initiative Medienintelligenzmöchte ich an dieser Stelle zwei Beispiele zur Illustra-tion des Projekts herausgreifen: die Generationen-übergreifende Medienwerkstatt und das den Leitge-danken des Web 2.0 aufgreifende ForschungsprojektInternational Women´s Film Research Network.

Plädoyer für einen multimedialenGenerationenvertrag

Im Mai 2007 titelte Der Spiegel mit der Schlagzeile„Wie viel Computer und Fernsehen verträgt einKind?“ und analysierte das Leitthema in vier um-fangreichen Artikeln, die viele aktuelle Entwicklun-gen durchaus zutreffend und genau in den Blick nah-men, in ihren Lösungsansätzen allerdings rechtunentschieden blieben. Die Kernfrage moderner Me-dienerziehung lautet immer wieder: Wäre es nichtbesser, angesichts der lauernden Gefahren für diekindliche Psyche, wenn Kinder in einem medial jung-fräulichen Raum aufwachsen könnten? Doch einesolche, ohnehin nur mit äußerstem Bemühen herzu-stellende, mediale Abstinenz verweigert Heranwach-senden das Basiswissen moderner Medienkommu-nikation und damit die Beherrschung elementarerKulturtechniken des 21. Jahrhunderts. Aus der Nähe,das heißt mit Blick auf die reale Mediennutzung inden Industrieländern, entpuppt sich die Idee der radi-kalen Abschirmung von Kindern und Jugendlichenvon der Medienwelt schon im Ansatz als Irrweg. Pro-blematisch am Umgang Jugendlicher mit den NeuenMedien ist nicht die Sache an sich, sondern imGegenteil der Mangel an Medienkompetenz derElterngeneration, die im Umgang mit den Massen-medien Fernsehen, Radio und Zeitung zwar einiger-maßen vertraut sein mag, aber mit dem facettenrei-chen Medium Internet sowie den Unterhaltungs-angeboten der Computerindustrie zumeist noch nichtoder kaum in Berührung gekommen ist. Letzteredominieren aber den Mediengebrauch von Kindernund Jugendlichen, die sich in einer den Erwachsenenunzugänglichen Cyberwelt tummeln, über die sie mitihren Eltern in der Regel nicht kommunizieren kön-nen. Diese Sprachlosigkeit empfinden viele Eltern,aber auch Kinder und Jugendliche als Mangel.

Auf dieses Kommunikationsdefizit reagiert dieInitiative Medienintelligenz mit der Entwicklung,praktischen Erprobung und Evaluation einerMedienwerkstatt, an der Eltern und Kinder gemein-

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sam teilnehmen können. Im August 2007 fand dieerste viertägige Veranstaltung der generationsüber-greifenden Medienwerkstatt im Rahmen einer vonWissen schafft Zukunft geförderten Pilotstudie an derIntegrierten Gesamtschule (IGS) in Mainz-Bretzen-heim unter Beteiligung von sechs Eltern-Kind-Paarenstatt. Diese erste Auftaktveranstaltung konnte bereitsals großer Erfolg verbucht werden, da wesentlicheZiele des Projekts auf Anhieb erreicht wurden und dieTeilnehmerinnen und Teilnehmer das Programmüberwiegend positiv bewerteten. Generell hat dieAuseinandersetzung mit den Angeboten der NeuenMedien unter Anleitung von Fachleuten und betreutdurch das Team von Medienintelligenz dazu geführt,dass vor allem den Eltern die Faszination an den vonihren Kindern bevorzugten Medienangeboten nähergebracht wurde. Zukünftig können sie nun ihreKinder bei ihrem medialen Tun begleiten und besserverstehen. Die gemeinsame Beschäftigung mit Com-puterspielen, wie dem beliebten World of Warcraft,das Erstellen eines Weblogs, eines Handyfilms odereines Photoalbums mit Hilfe des Programms i-Photo,eröffnete den anwesenden Eltern eine bislang voll-kommen unbekannte Medienwelt, in der sich ihreKinder durchweg souverän, aber überwiegend ohnekritische Distanz zu bewegen wussten. Ein diesbe-zügliches Problembewusstsein vor allem bei den ju-gendlichen Nutzern zu fördern, gehört zu den zentra-len Lernzielen der Medienwerkstatt, die – einemkomplexen Puzzle vergleichbar – individuell konzi-pierte Lehr- und Lernmodule zu einem Programm zu-sammenfügt. Dessen Tragfähigkeit muss angesichtsder dynamischen Medienentwicklung jedoch immerwieder neu überprüft werden. Dementsprechendwerden die Erfahrungen mit dem Arbeitsprogrammder Medienwerkstatt im Anschluss an jede erneuteVeranstaltung aufbereitet und im Grundkonzept be-rücksichtigt. Dies betrifft vor allem die Notwendig-keit, in das Angebot der prinzipiell generationsüber-greifend konzipierten Module schließlich doch einigevon Eltern und Kindern getrennt zu absolvierendeArbeitsphasen zu integrieren, um Wissensstände an-zugleichen oder komplexe Rechtsfragen zu vertiefen.

Angebote wie die generationsübergreifende Medien-werkstatt sind äußerst sinnvoll und unbedingt not-wendig. Aber – dies ist unübersehbar – das Angebotist auch mit einem erheblichen Arbeitsaufwand ver-bunden und vor allem in der Phase der Entwicklungkostenintensiv. Wenn die Veranstaltungen erfolgreichverlaufen sollen, erfordern sie zum einen eine stren-ge Beschränkung der TeilnehmerInnenzahl, zumanderen den Einsatz einer ganzen Reihe von Fach-leuten, die neben der Wissensvermittlung dazu bereitsind, die speziellen Erfordernisse einer solchen gene-rationenübergreifenden Medienwerkstatt in ihrerDidaktik zu berücksichtigen. Auch für die Eltern-Kind-Paare bedeutet die Teilnahme an dem Programm eineAnstrengung, denn es handelt sich um ein den Me-dienunterricht der Schule ergänzendes Angebot, das

Gemeinsames Lernen: die erstegenerationenübergreifende

Medienwerkstatt an der IGS Mainz Bretzenheim.

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Freizeit kostet. Der zeitliche Einsatz muss sich in einernachhaltigen Verbesserung der innerfamiliären Kom-munikation und einer generationenübergreifendenKompetenz im Umgang mit den Neuen Medien nie-derschlagen. Die universitäre Initiative Medienintel-ligenz widmet sich der Entwicklung von auf diesenEffekt abgestimmten Lehr- und Lernprogrammen mitdem erklärten Ziel, die Medienwerkstatt für Familienzum Beispiel im regelmäßigen Betrieb eines Jugend-medienlabors und/oder als Angebot eines regionalenMedienkompetenznetzwerks zu etablieren.

Netzbasierte Forschung: das „InternationalWomen’s Film Research Network“

Das International Women’s Film Research Networkist ein sehr gutes Beispiel für eine intelligenteNutzung des Mediums Internet zu wissenschaftlichenZwecken. Im Hinblick auf die Zukunft unserer Bil-dungsgesellschaft ist nicht nur die Medienkompetenzim Bereich der privaten Nutzung förderungswürdig,sondern es ist unerlässlich, auch an den Hochschulenein Bewusstsein für die Möglichkeiten des Internets(z. B. globaler Wissensaustausch, neue Publikations-wege) zu schaffen. Das International Women’s FilmResearch Network arbeitet an einer neuartigen Formder Wissensgenerierung und -vermittlung zu demThemenschwerpunkt Das Filmschaffen weiblicherRegisseure.

Die Filmregie ist nach wie vor ein von Männernbeherrschtes Feld, obgleich sich immer mehr Frauenauf dem hart umkämpften Markt zu behaupten wis-sen. Die Oscar-Preisträgerinnen Jane Campion undSofia Coppola sind gute Beispiele für bahnbrechendeRegiearbeiten mit wirtschaftlichem Erfolg. Längst istdie Arbeit von Frauen am Set nicht mehr hauptsäch-lich auf Schauspiel, Kostüm, Ausstattung und Schnittbeschränkt – und dieser Trend setzt sich fort, wiegleich zwei Nominierungen von Regisseurinnen beiden Academy Awards im letzten Jahr bestätigen:Susanne Bier für After the Wedding (DK/SE 2006)und Deepa Mehta für Water (CA/IN 2005). BeideFilme fanden auch auf anderen nationalen und inter-nationalen Filmfestivals starke Beachtung. Dennochweist die Berücksichtigung der Arbeit von Filme-macherinnen sowohl im wirtschaftlichen als auch imwissenschaftlichen Sektor noch gravierende Lückenauf. Auch für die Filmwissenschaft gilt bis dato, dassdie Arbeiten von Filmemacherinnen von derForschung zu selten und zu unsystematisch beachtetwerden. Dies ist angesichts der Menge des zurVerfügung stehenden, ausgezeichneten Materials aufDauer nicht zu akzeptieren. Das Projekt InternationalWomen’s Film Research Network hat es sich zurAufgabe gemacht, diesen fundamentalen Mangel zubeheben. Insbesondere fehlt es in Bezug auf denkünstlerischen Beitrag von Filmregisseurinnen amWeltkino an einem mit einer Datenbank kombinier-ten Lexikon, das forschungsrelevante Materialen

(Dokumente, Medien etc.) im Internet uneinge-schränkt zugänglich macht und wissenschaftlich aus-wertet. Das Konzept des Archive of Female Film Art –kurz AFFA – nutzt das Internet als wissenschaftlichesMedium zur Veröffentlichung von Forschungsergeb-nissen sowie zur Online-Kommunikation über prakti-sche, theoretische, ethische und ästhetische Ge-sichtspunkte der internationalen Filmkunst. Für AFFAwird eine benutzerorientierte Infrastruktur entwi-ckelt, welche den Zugriff auf und die Rezeption vonwissenschaftlichen Informationen unabhängig vonOrt und Zeit ermöglicht. AFFA trägt dazu bei, dieVerbreitung qualitativ hochwertiger digitaler Infor-mation für Wissenschaft und Bildung zu etablierenund zu sichern. Darüber hinaus richtet dasInternational Women’s Film Research Network einglobales Forum zur Erforschung des Filmschaffensvon Frauen ein, um ein virtuelles ForscherInnen-Netzwerk zu etablieren, dessen VertreterInnen sichim zweijährigen Turnus auf einer themenspezifischenKonferenz an wechselnden Standorten zum direktenAustausch treffen sollen.

Die Untersuchung der kulturellen und politi-schen Bedeutung des Filmschaffens von Frauensowie die Bereitstellung wissenschaftlicher Infor-mationen sind die Hauptziele von InternationalWomen’s Film Research Network. Dabei lässt sich dasProjekt in zwei ineinander verzahnte und sich wech-selseitig ergänzende Arbeitsfelder gliedern: zumeinen die Forschung und Bil-dung von wissenschaftlichenNetzwerken zu speziellenThemenfeldern der Filmwis-senschaft, der Kulturwissen-schaft sowie generell derinternational ausgerichtetenGenderforschung; zum ande-ren die Erstellung und Pflegedes Lexikons AFFA. Informa-tionssuchende werden dortnicht nur fundiertes Materialund umfangreiche Studienzum Beispiel zu den zu ihrerZeit erfolgreichen, aber durcheine gezielte Verdrängungspolitik der Filmindustrieweitgehend in Vergessenheit geratenen Pionierinnendes Stummfilms Alice Guy-Blaché, Lois Weber oderDorothy Arzner und vielen anderen Filmemacherin-nen vorfinden, sondern auch seltenes Film- undFotomaterial. Darum zählt die Klärung derRechtelage für Filme, Bilder und sonstige Quellenneben der Materialrecherche, der Auswertung derbereits zur Verfügung stehenden Filmdatenbankenund Sammlungen sowie dem Verfassen von wissen-schaftlichen Aufsätzen und Lexikonartikeln für AFFAzu den elementaren Herausforderungen des Projekts.Die Initiative Medienintelligenz ist bei der techni-schen Realisation von AFFA federführend. In exem-plarischer Weise soll das langfristig angelegte

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Die Wirklichkeit im Blick: „Salaam Bombay!“ Regie: Mira Nair,Indien 1988.

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Gesamtprojekt eine netzbasierte Forschung im inter-nationalen Kontext nachhaltig fördern. Das Projektwird regelmäßig durch themenspezifische Lehrveran-staltungen begleitet, so dass der Rückfluss der For-schungsergebnisse in die universitäre Lehre gewähr-leistet ist. Entsprechend hervorragende Abschluss-arbeiten haben umgekehrt die Chance, im Rahmender netzbasierten Forschung ausgewertet zu werden.

Forschungsvorhaben wie das International Women’sFilm Research Network nutzen die Neuen Medien aufkonstruktive Weise, was unter anderem bedeutet,dass die Initiatorinnen das Projekt mit thematischverwandten Initiativen weltweit zu vernetzen versu-chen und somit auch darauf verzichten, als Konkur-renzprojekt aufzutreten. Im Sinne des „Geistes“ vonWeb 2.0 werden Inhalte in hochwertig aufbereiteterForm öffentlich zugänglich gemacht, ohne dass diebei Lexika in Buchform unumgänglichen redaktionel-len Debatten geführt werden müssen, ob eine Regis-seurin und ihr Werk dem Umfang nach bereits einenEintrag „verdiene“ oder nicht. Entscheidend ist dieQualität eines Films, so dass AFFA gerade auch De-bütfilmen von noch unbekannten Filmemacherinnenein Forum bietet. Häufig widmen sich die Filme gera-de von Regisseurinnen aus den Schwellenländern inkritischer Weise dem Alltag der Familien mit ihrenexistentiellen Problemen. Im Fokus stehen immerwieder Genderkonflikte, der Konfliktherd schlechthinin traditionell-patriarchalisch organisierten Kulturen.Durch die systematische Aufbereitung des reichhaltigvorhandenen Filmmaterials im Bereich von Spiel- undDokumentarfilm wird die künstlerische Transformati-on und Reflektion von Wirklichkeit im internationalenVergleich sichtbar, ein reiches Forschungsfeld fürFilmwissenschaftler und Kulturanthropologen glei-chermaßen. Das International Women’s Film Re-search Network fördert und fordert eine Gleichstel-lung der Geschlechter auf dem kreativen Sektor derinternationalen Filmproduktion, die im Übrigen auchdurch neue Produktionstechnologien vorangetriebenwird, weil Filme in der digitalen Welt auch mit einemrelativ geringen Budget realisierbar sind und mancheGeldgeber sich gerade bei gesellschaftskritischenProjekten von Regisseurinnen weniger großzügig er-weisen. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zuranfänglichen Argumentation dieses Artikels, denntechnische Medienevolutionen stimulieren den sozia-len Wandel innerhalb einer Kultur bei weitem nichtnur in negativem Sinne. �

MEDIEN – KOMPETENZ

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� Summary The digital media world entails new forms of globalcommunication. This development implies a demo-cratization of the media world and enables users notonly to consume but also to actively produce and dis-tribute media content. The project media intelligenceof the Johannes Gutenberg-University in Mainzresearches and supports these new developments inpractical and scientific ways. The overall aim is theforming of intelligent and competent media users.Among many other projects, two initiatives illustratehow media intelligence works: the Generation-span-ning Media Workshop enhances the communicationbetween parents and children and educates them inmedia competence; AFFA, the Archive of Female FilmArt, is conceived as a publicly accessible forum forscientific research on female film directors andfunctions as an online communication tool that willconstitute a network of female researchers.

Dr. habil.Susanne Marschall

Susanne Marschall, Jahr-gang 1963, studierte stu-dierte Deutsche Philologie,Philosophie und Kompa-ratistik, Promotion im Gra-duiertenkolleg der Theater-

wissenschaft, ist Akademische Rätin am Institut fürFilmwissenschaft der Johannes Gutenberg-Univer-sität in Mainz. Sie war maßgeblich an der Konzeptionund Realisation des Medienhauses der Universitätbeteiligt und ist wissenschaftliche Leiterin des Pro-jekts „Medienintelligenz“. Außerdem ist sie Spre-cherin der Sektion Bild im Interdisziplinären For-schungszentrum Neurowissenschaften (IFZN) undGutachterin beim DAAD. 2003 erhielt sie denLehrpreis und 2005 erfolgte ihre Habilitation mit demThema Farbe im Kino (veröffentlich bei Schüren inMarburg, 2005). Susanne Marschall verfasste zahlrei-che Bücher, Aufsätze, Lexikonartikel etc.

� Kontakt

Dr. habil. Susanne MarschallAkademische Rätin im Fach FilmwissenschaftJohannes Gutenberg-Universität MainzMedienhausWallstraße 11D-55122 MainzTel. +49 (0)6131-39 31731Fax +49 (0)6131-39 31731Email: [email protected]

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MEDIEN – DIGITAL

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Von Stephan Füssel

Electronic Paper – ein technisches Medium fördert die Konvergenz der Medien

Schnelle, stets aktuelle Information ist das Eine,der haptische Genuss, ein Buch oder eine Zeitungin der Hand zu halten, das Andere. Mainzer Buch-wissenschaftler analysieren den Versuch desMassachusetts Instituts of Technologie, beides zukombinieren. Eine weitere mediale Revolutionsteht bevor.

Der spektakuläre Science-Fiction-Film aus dem Jahre2002 „Minority Report“ – das Drehbuch basiert aufder gleichnamigen Kurzgeschichte des AmerikanersPhilip K. Dick aus dem Jahr 1956 – handelt von derVorhersehbarkeit von Verbrechen in einer künftigenGesellschaft. Regisseur Steven Spielberg hat dazudas Szenario des Jahres 2054 durch eine Gruppe vonZukunftsforschern entwickeln lassen, so dass im Filmdargestellte Requisiten als Trendprognose vonStädteplanung, Industriedesign und Informations-technik verstanden werden können. In einer Schlüs-selszene liest der Hauptdarsteller, dargestellt vonTom Cruise, in der Untergrundbahn eine Zeitung, diezunächst wie eine Papierausgabe aussieht. Dann ver-ändert sich aber ihre Hauptschlagzeile während desLesens durch „breaking news“ – und meldet dieFahndung nach seiner eigenen Person. In dieser über-aus beeindruckenden Schlüsselszene des Filmes wirddas Zusammenwachsen der statischen Printversionund der aktualisierbaren elektronischen Informationfür jedermann sinnfällig demonstriert.

Die Ausgangslage

In der gegenwärtigen Umbruchsituation, in der Zei-tungs- und Zeitschriftenverlage ihre Online-Redak-tionen ausweiten, Leserinnen und Leser ihre Ge-wohnheiten umstellen und nach der Printausgabeder Zeitung am Morgen in Spiegel-Online oder in derFeuilleton-Übersicht www.perlentaucher.de aktuelleNachrichten abrufen und in der die Fernseh-Redak-tionen von ZDF und ARD ergänzende Nachrichtenganztägig aktuell bereitstellen, gewinnt die Fragenach dem zukünftigen Informationsmonopol Internetan Bedeutung. Ebenso wie die Zeitungs- und Zeit-schriftenverlage sich neben dem gedruckten Wortnun auch der Video- und Audioinformation bedienen,dringt das audiovisuelle Medium Fernsehen mit derstärker textgebundenen Hintergrundinformation imInternet in die Domäne der Verlage ein. Diese De-batte hat jüngst durch die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichtes vom 11. September 2007 anAktualität gewonnen – ARD, ZDF und Deutschland-radio hatten Verfassungsbeschwerde gegen die

Einsetzung der Rundfunkgebühr 2005-2008 einge-legt – da bei diesem Urteil auch festgehalten wurde,dass sich das Programmangebot des öffentlich-recht-lichen Rundfunks auch für neue Inhalte, Formate undGenres sowie für neue Verbreitungsformen öffnendarf. Man kann also von einer Bestands- und Ent-wicklungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk sprechen. Diesesin den Feuilletons der Tagespresse hef-tig umstrittene und zum Teil polemischkommentierte Grundsatzurteil wirddie Dynamik des Zusammenwachsensaller Medien im Internet massiv be-schleunigen. Parallel zu der redaktio-nellen Entwicklung hat die Online-Werbung im Internet bereits im Juni2007 die bisher klassische Werbungim Radio überholt und nach Schätzungdes britischen Unternehmens Zenith-optimedia vom Dezember 2007 wirdsie auch die Werbung in den Zeit-schriften und Magazinen bis spätes-tens 2010 überflügeln.

Während sich also die Rechts-entwicklung in der BundesrepublikDeutschland in einem dynamischenProzess befindet und die Praxis derOnline-Redaktionen neue, unumstößli-che Fakten schafft, ist parallel dazuauf dem Technikmarkt seit sieben Jahren ein hekti-scher Wettbewerb zu spüren, in welchem Mediumdiese Daten künftig im mobilen und im stationärenEinsatz so praktikabel wie möglich abzurufen sind.Dahinter steht der Wunsch, die haptischen, ästheti-schen und funktionalen Qualitäten des Buches undder Zeitung mit ihrem handlichen Format, der gutenLesbarkeit und der unkomplizierten Benutzungsmög-lichkeit auch auf die neuen Medien mit der Möglich-keit der ständigen Aktualisierbarkeit zu übertragen.

Wandel des Beschreibstoffes

Der Buchhistoriker reflektiert, dass der Wandel derjeweiligen „Beschreibstoffe“ jeweils eine medialeRevolution bewirkte: So war der Wechsel von In-schriften in Stein zum Papyrus, von der Buchrolle zumCodex oder vom Pergament zum Papier jeweils Aus-löser eines Quantensprungs in der Kommunikations-entwicklung. Gutenberg könnte heute nicht als Vaterder Massenkommunikation gelten, hätte er seine Er-findung des Satzes von beweglichen Typen und des

Abb. 1: E-paper

Abb. 2: Schematische Darstellung der microcapsules

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MEDIEN – DIGITAL

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Druckens mittels einer Spindelpresse auf der Verbrei-tung auf Tierhaut, dem Pergament, aufbauen müs-sen. Die seit 1390 in Europa verfügbare Papierpressevon Ulman Stromer in Nürnberg war die entscheiden-de Grundlage für seine technische Meisterleistung.

Das elektronische Papier

Heute ist das Media-Lab am MIT (MassachusettsInstitute of Technology in Cambridge/Mass.) feder-führend bei der Entwicklung eines neuen „Papiers“,des e-papers. In verschiedenen Forschungsgruppenwird damit experimentiert, die Alltagswelt mit der„Intelligenz“ der PCs zu verknüpfen. Visitenkarten,Kühlschränke und Kleidung werden auf ihre elektro-nische Weiterentwicklung überprüft (1).

In einer der innovativen Abteilungen desMedia Labs, im Nano-Media-Lab, arbeitet der Nano-Physiker Dr. Joseph M. Jacobson (Abb. 4). Sein Haupt-arbeitsgebiet ist die Miniaturisierung von Maschinen,sowohl für die Kommunikationsindustrie als u.a.auch für der Pharmaindustrie. Bei dem Projekt eineselektronischen Papiers ging es ihm darum, die hapti-schen und ästhetischen Qualitäten des Buches undder Zeitschrift zu bewahren. Er wollte aber nicht wieGutenberg einen Text tausendfach immer wiederabdrucken, sondern tausendfache, unterschiedlicheInformation in nur ein, immer wieder „bedruckba-res“, Papier hinein laden. Er experimentiert mit einer„digital ink“, die ein Blatt von den äußerenQualitäten einer Zeitung oder eines Buches elektro-nisch bebilderbar und betextbar macht. Unter digita-

lem Papier verstehen wir ultraflache und biegsameDisplays, auf denen Buchstaben und Bilder auchdann noch zu sehen sind, wenn die Stromzufuhrlängst unterbrochen ist (Abb. 1 und 3).

Vergegenwärtigen wir uns, dass sich der Bild-druck in Zeitungen aus mikroskopisch kleinen Pixelnzusammensetzt, die durch ihre unterschiedlicheDichte die schwarzen bzw. weißen Flächen des Bildesentstehen lassen. Der Grundgedanke von Joseph M.Jacobson und seinem Team besteht nun darin, dieseweißen und schwarzen Flächen nicht immer wiederneu zu drucken, sondern einmalig solche „Pixel“ be-reit zu stellen, die sich je nach Ladung des elektri-schen Feldes zur weißen oder zur schwarzen Seite hinverändern können.

Die schematische Darstellung der Veränderungder zwei Farben (Abb. 2) zeigt die mikroverkapseltenKügelchen, die eine schwarze „Tinte“ enthalten, inder weiße Farbpigmente schweben (www.eink.com;www.mit.edu). Diese Farbpigmente sind positiv gela-den und die ebenfalls mitgedruckte Elektronik er-möglicht es, an der Oberseite eine negative Ladunganzubringen. Diese Kügelchen verändern sich daherzur Oberseite hin weiß (Abb. 6). Viele 10.000 vondiesen Kügelchen bilden dann zusammen ein neuesBild (2, 3). Diese Farbpigmente verharren in derStellung, in der sie durch die letzte Ladung fixiertwurden; Strom wird also nur bei Einspeisung neuerDaten benötigt. Die bisher schon erreichte Auflösungbei schwarz-weiss-Abbildungen liegt bei etwa800 x 600 Pixeln, also deutlich über dem Zeitungs-

Abb. 6: Schematische Darstellungder microcapsules

Abb. 4: Joe Jacobson mit e-ink

Abb. 3: E-paper (Montage)

Abb. 5: E-ink unter dem Mikroskop

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druck (Abb. 5); das Bild ist gestochen scharf undbenötigt daher auch keine Hintergrundbeleuchtung.Eine ständige Energiezufuhr wie am PC ist nicht er-forderlich, es arbeitet also sehr energieeffizient. Dase-paper ist nur zwischen 0,3 und 1,2 mm stark undkann praktisch auf jedes Material aufgetragen wer-den (www.eink. com/ products/matrix).

Einen Einsatzbereich haben diese Displaysbereits gefunden: den bisherigen Akzidenzdruck.Verschiedene Supermarktketten in den USA verwen-den bereits diese Displays, um damit die Werbung fürihre Häuser auf Knopfdruck jederzeit auf den neues-ten Stand bringen zu können. Diese elektronischenPapiere lassen sich theoretisch unbegrenzt oft „wie-derbeschreiben“. Dies hat zur Folge, dass man mor-gens seine Zeitung, tagsüber seine Akten und abendsden Unterhaltungsroman auf diese eine Seite ladenkann. Der Ladevorgang kann entweder über Down-load aus dem Internet (per Festanschluss oder wire-less) oder über beliebige Datenträger erfolgen. Durchdie zunehmende Konvergenz von Internet und Mobil-funk und die Steigerung der Übertragungsgeschwin-digkeiten sind bereits jetzt gute Einsatzmöglichkeitengegeben.

Es zeichnet die Pläne von Joseph M. Jacobsonund seinem Team aus, dass sie nicht nur an eine ein-zelne Seite, sondern an ein vollständiges Buch mitetwa 240 leeren Seiten aus elektronischem Papierdenken, in das alle Informationen geladen werdenkönnen (4). Die weitere Speicherkapazität der Chip-Technologie wird es ermöglichen, dass jedermanneine vollständige Bibliothek in dieses eine Buch ein-speichern und beliebig abrufen kann. Da u.a.GoogleBookSearch dabei ist, das Wissen der Welt ausden führenden Bibliotheken zu retro-digitalisieren, istder freie Datenzugang in Kürze gewährleistet. Auchfür Geschäftsmodelle von Verlagen ist Platz, die ihreaktuelle Produktion anbieten können. Jacobsonwünscht sich den omnipräsenten Leser: „The electro-nic book that we are developing has hundreds ofelectronic page displays formed on real paper. […]The user may leaf through several thousand titles,select one he likes, wait a fraction of a second andopen the book to read King Lear. When done withKing Lear, another title may be selected; after thesame waiting period, the user opens Steve Wein-berg’s General Relativity.” (www.research.ibm.com/journal/sj/363/jacobson.html)

Es besteht mit dem electronic paper die Mög-lichkeit, die Vorteile des Internet, das heißt die rascheund aktuelle Information, die weltweite Verknüp-fung, die schnelle Recherchemöglichkeit und die Ver-bindung mit Audio- und Videodateien, mit den jahr-hundertealten Vorteilen des Buches, der hervorragen-den Abbildungsqualität, der bewährten Form desCodex mit seiner guten Lesbarkeit und den hapti-schen und ästhetischen Komponenten für die ruhige

Hintergrundinformation zu ver-binden. Wir haben es mit einerneuen Form von Display zu tun,das unser aller Medienverhaltenrevolutionieren kann.

Aber nicht nur die Buch-sondern auch die Zeitschriften-und Zeitungslektüre profitiertvon der Erfindung. Die Vertriebs-partner von E-Ink, seit dem Jahr2005 Sony in Japan (Produktname LIBRIé; Abb. 7)und von I-Rex, einem spin off von Philips Niederlande(Produktname ILiad) zeigen die ungeheuren Einsatz-möglichkeiten; im Jahr 2007 fand mit der BrüsselerFinanzzeitung De Tijd ein Feldversuch statt, bei demeiner ausgewählten Zahl von Abonnenten eine-book-reader mit e-paper ausgehändigt wurde, aufdem neben der Printausgabe der Zeitung (Redak-tionsschluss: 22.00 Uhr) eine morgens bereits aktua-lisierte (6.00 Uhr) elektronische Ausgabe zur Ver-fügung gestellt wurde, die am Tag mehrfach weiteraktualisiert wurde.An Großversuchen beteiligten sich2007 die chinesische Zeitung Yantai Daily und diefranzösische Zeitung Les Echos. Verschiedene weitereErprobungsphasen unterschiedlicher Special-In-terest-Zeitungen werden im Laufe des Jahres 2008folgen. Die Nutzerbefragungen geben durchweg einpositives Echo. Nur wird es übereinstimmend als un-praktisch angesehen, ein solches Lesegerät lediglichals Zeitungs-Ersatz zu benutzen; ein weite-res Zusammenwachsen mit einem freienInternetzugang und den inzwischen bereitsliebgewonnenen Funktionalitäten von PDAswird gefordert. Diese Praxisberichte zeigen,welche kreativen Möglichkeiten hier in derEntwicklungsphase zusammenlaufen.

Inzwischen kann E-Ink auch Farbedarstellen (über Filter wie bei LCD), und Ein-satzbereiche sind durchaus neben den Zei-tungen der Akzidenzdruck, d.h. die Gestal-tung von Postern in Supermärkten, Kinos,Theatern oder Außenwerbung (Abb. 8);ebenso Einsatzmöglichkeiten von digitalen Visiten-karten oder Armbanduhren (mit erweiterten Daten-Aufgaben) etc. Gearbeitet wird an der Beweglichkeitder microcapsules, damit künftig auch bewegteBilder gezeigt werden können. Weitere Einsatzberei-che sind jetzt schon Mobiltelefone, digitale Alben,internetfähige Lesezeichen, Preisschilder, e-dictiona-ries, PDAs, Menukarten etc.

Joseph Jacobson, mit dem das Mainzer Institutfür Buchwissenschaft seit der Verleihung des Guten-berg-Preises im Jahr 2000 kontinuierlich in Lehre(studentische Exkursionen zum MIT) und Forschungzusammenarbeitet, hat seine Entwicklung zunächstals „last book“ bezeichnet; er ist aber eher auf dembesten Wege, das „new book“ zu kreieren. �

Abb. 7: Sony LIBRIé

Abb. 8: Erste Farbdarstellung(Gutenberg-Bibel mit e-ink)

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MEDIEN – DIGITAL

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� Summary Paper was the most important basis for Gutenberg’stechnical developments who consequently becamethe „father of the mass communication“. With a newelectronic paper, it is also possible to advance ourmedia evolution considerably. In 2000, the nano-physicist Joseph M. Jacobson developed a digitalpaper with digital ink so that new texts can be writ-ten again and again on a display. Experiments with

Univ.-Prof. Dr.Stephan Füssel

Stephan Füssel, geb. 1952,studierte Germanistik, Ge-schichtswissenschaft, So-ziologie und Politik, mitGastsemestern in Neu-latein und Kunstgeschichtean der Georg August Uni-

versität Göttingen und wurde 1981 mit einer Disser-tation über italienisch-deutsche Kulturbeziehungenin der Renaissance promoviert; nach einigen Jahrenals selbständiger Verleger einer wissenschaftlichenSchriftenreihe habilitierte er sich 1992 an der Univer-sität Regensburg mit einer Arbeit über den bedeu-tendsten Verleger der deutschen Klassik, GeorgJoachim Göschen. Seit 1992 ist er Inhaber des Gu-tenberg-Lehrstuhls und Leiter des Instituts für Buch-wissenschaft der Mainzer Universität. Er ist Directordes Weltverbandes der Buch- und Medienwissen-schaftler, der Society for the History of Authorship,Reading and Publishing (SHARP), Vizepräsident derPirckheimer-Gesellschaft für Humanismusforschung,Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirates derdeutschen Schiller-Gesellschaft, Mitglied der Histori-schen Kommission des Börsenvereins des DeutschenBuchhandels, Präsidiumsmitglied der InternationalenGutenberg-Gesellschaft und Herausgeber des Guten-berg-Jahrbuchs, der Mainzer Studien zur Buchwissen-schaft sowie des Lexikons des Gesamten Buchwe-sens. Zurzeit ist er außerdem Gründungsdekan desFachbereichs 05 Philosophie und Philologie sowieSenator der Johannes Gutenberg-Universität.

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Stephan FüsselLeiter des Instituts für BuchwissenschaftJohannes Gutenberg-Universität MainzWelderweg 18D-55099 MainzTel. +49 (0)6131-39 22 580Email: [email protected]

1) Neil Gershenfeld: When Things Start to Think. New York 1999; in deutscher Übersetzung: Wenn die Dinge denken lernen.

München, Düsseldorf 1999.

2) Charles Platt: Digital Ink. In: Wired (May 1997), S. 6ff.

3) Frank Vizard: Electric Tales. In: Popular Science (June 1997), S. 97-99.

4) J. Jacobson, B. Comiskey, C. Turner, J. Albert, P. Tsao: The Last Book. In: IBM Systems Journal 36, Part 3, p. 457-463.

Literatur

updatable daily newspapers, e. g. De Tijd in Brussels,show that by means of this digital paper the flow ofinformation on TV and in print media can be combi-ned. Since 2000 when Joe Jacobson was awarded theInternational Gutenberg Prize, the Institute for BookStudies in Mainz has had regular exchange of in-formation with the Nano Media Lab. of theMassachusetts Institute of Technology.

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MEDIEN – RECHT

37FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Von Dieter Dörr

Das Medienrecht vor den neuen Herausforderungen der Digitalisierung und der Konvergenz

Information und Unterhaltung erreichen die Kon-sumenten heute in digitaler Form, und zwar aufverschiedenen Übertragungswegen und auf belie-bigen Endgeräten. Dadurch wird zum Beispiel dierechtlich bedeutsame Unterscheidung, ob es sichum ein Rundfunk– oder Telemedienangebot han-delt, immer schwieriger.

Das Medienrecht ist eine vergleichsweise junge, aberüberaus dynamische und bedeutsame Disziplin.Ausgehend vom Grundrecht der Meinungs- bzw.Kommunikationsfreiheit leistet die massenmedialeVerbreitung von Meinungen einen unerlässlichenBeitrag zum Funktionieren einer Demokratie. Nebendieser gesellschaftlichen Funktion haben die Mas-senmedien zugleich auch eine kulturelle und wirt-schaftliche Komponente: sie sind einerseits kollekti-ver Ausdruck von Überzeugungen sowie Vervielfälti-gungsweg für Minderheitsinteressen, andererseitsaber auch und vor allem ein Wirtschaftsfaktor erstenRanges. Das Medienrecht in einem weit verstande-nen Sinne umfasst im Hinblick darauf die Gesamtheitaller gesetzlichen Regelungen und richterlichenVorgaben, die diese Arbeit und Wirkung von Medienrechtlich bestimmen. Die Dynamik des Medienrechtsresultiert aus den revolutionären technischen Verän-derungen, die wachsende Bedeutung aus der zentra-len wirtschaftlichen und demokratischen Rolle derMassenmedien.

Neben dem nationalen Recht wirkt sich dasGemeinschaftsrecht immer stärker auf die Medienaus. Die Europäische Gemeinschaft als Säule derEuropäischen Union hat sich nämlich längst voneiner reinen Wirtschaftsgemeinschaft zu einerRechts- und Wertegemeinschaft entwickelt. Daherkann es nicht verwundern, dass neben den nationa-len gerade die europarechtlichen Aspekte derMedienordnung und Medienpolitik in der letzten Zeitfortwährend an Bedeutung gewonnen haben. Es istdamit zu rechnen, dass sich dieser Prozess in Zukunftweiter beschleunigen wird. Der Grund für dieseEntwicklung erschließt sich gerade für den Rundfunkschon auf den ersten Blick, denn Rundfunkwellenmachen naturgemäß nicht an den StaatsgrenzenHalt, oder – wie es das Bundesverfassungsgericht(BVerfGE 12, 205, 251) formuliert hat – Funkwellenhalten sich nicht an Ländergrenzen.

Die Grenzüberschreitung war zwar bei Hörfunkund Fernsehen schon immer systemimmanent. Eineneue Dimension erhielt dieser Tatbestand aber mit

dem gerade in Europa weiterhin ungebrochenen Sie-geszug der Satellitentechnik. Über moderne Medium-Power-Satelliten ist es heute technisch möglich, miteiner Rundfunksendung allein in Europa etwa 400Millionen Menschen zu erreichen. Allerdings mussman in diesem Zusammenhang auch vor Überschät-zungen warnen. Diese 400 Millionen erreichbareneuropäischen Fernsehzuschauer leben in über 40Staaten mit 17 verschiedenen Sprachen, jeweilsunterschiedlichen historischen Traditionen und ver-schiedenen politischen Strukturen sowie kulturellunterschiedlichen Denk- und Verhaltensweisen.Anders als beispielsweise in Nordamerika gibt es inEuropa Sprachräume. Die Grenzen zwischen diesenSprachräumen sind gerade für das Fernsehen sehrschwer zu überwinden. Staatsgrenzen überschreiten-de Fernsehprogramme sind daher in erster Linie undauf längere Sicht Sprachraumprogramme. Die Ak-zeptanz ausländischer Pro-gramme in fremder Spracheist zurzeit vergleichsweisegering und wird dies auchauf mittlere Sicht bleiben.Gleichwohl ist auch eineEntwicklung zu Programmenfeststellbar, die mittels derMehrkanaltechnik bei glei-chem Bild mehrere Sprach-fassungen für die verschie-denen Sprachräume anbie-ten. Zudem haben sich in den letzten Jahren auchSendeformate wie etwa diverse Musikspartenpro-gramme durchgesetzt, für die die Sprachgrenzenkeine entscheidenden Barrieren mehr darstellen.

Auf diese Entwicklung hat der europäischeGesetzgeber reagiert, insbesondere durch dieFernsehrichtlinie. Damit soll versucht werden, deneuropäischen Binnenmarkt auch für das Fernsehenzu erschließen, das heißt also, einen Raum zu schaf-fen, in dem die Dienstleistung Fernsehen frei von stö-renden Grenzen ausgetauscht werden kann. DieserVersuch gerät gelegentlich in Konflikt mit denRegelungszielen der Mitgliedstaaten und ihrem kul-turell-demokratischen Verständnis von Fernsehen. Sosind unter anderem Tendenzen erkennbar, die derdurch das Grundgesetz vorgegebenen föderalen Me-dienordnung der Bundesrepublik Deutschland wider-sprechen und zunehmend den Widerstand der Bun-desländer und der öffentlich-rechtlichen Rundfun-kanstalten, in manchen Fällen auch der privatenRundfunkveranstalter, hervorrufen. Der stark wirt-

Abb.

:DLR

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schaftlich geprägte Regelungsansatz der Gemein-schaft stellt nach der Rechtsprechung des Bundes-verfassungsgerichts auch einen weiteren Punkt inFrage: die aus der Rundfunkfreiheit folgende zentra-le Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks in unse-rer dualen Rundfunkordnung und seine Gebühren-finanzierung. Es gilt, Lösungen zu finden, die sowohlden europarechtlichen als auch den verfassungs-rechtlichen Anforderungen gerecht werden. Zudemmüssen die gemeinschaftsrechtlichen und die mit-gliedsstaatlichen Regelungsbefugnisse sachgerechtvoneinander abgegrenzt werden.

Weiterhin versuchen sowohl der nationale alsauch der europäische Gesetzgeber sachgerechte Re-gelungen für die neuen Angebote zu treffen, die inEuropa als audiovisuelle Mediendienste und inDeutschland als Telemedien bezeichnet werden.Hintergrund dieser Angebote ist eine neue Entwick-lung, nämlich die Digitalisierung und die Konvergenzder Medien. So muss aufgrund der veränderten tech-nischen und ökonomischen Rahmenbedingungenauch die Frage neu gestellt und beantwortet werden,wie die Kommunikationswege in Zukunft offen ge-halten werden können. Aus Sicht der Zugangsregu-lierung ist ein Paradigmenwechsel eingetreten, fürden zwei Entwicklungen maßgeblich waren: erstensdie Digitalisierung der Kommunikationsinfrastruktu-ren und zweitens deren Privatisierung. Die Verbin-dung dieser beiden Faktoren wird durch die Begleit-erscheinung der sich rasch entwickelnden Digital-technik begünstigt: die Konvergenz der Medien.Denn erst die Möglichkeit, digitalisierte Kommunika-tionsinhalte auf verschiedenen Übertragungswegenzu verbreiten und somit die Empfänger auf beliebi-gen Endgeräten mit einem umfassenden Informati-ons- und Unterhaltungsangebot zu versorgen, machtprivate Investitionen in digitale Kommunikations-netze auch ökonomisch attraktiv.

Über diese neuen digitalisierten Kommunika-tionsnetze werden auch neue Angebote verbreitet.Diese in Deutschland als Telemedien bezeichnetenInhalte werden vor allem über das als Internet be-kannte Netzwerk von Rechnern verbreitet. Dadurchgelingt es Nutzern auf der ganzen Welt sehr einfach,auf unterschiedlichste, an anderen Orten gespeicher-te Informationen zuzugreifen. Telemedien wurdenzunächst unter dem Schlagwort Multimedia mit denUntergruppen Medien- und Teledienste zusammen-gefasst. Jetzt ist darunter eine Vielzahl unterschiedli-cher Erscheinungsformen elektronisch gespeicherterund verbreiteter Inhalte zu verstehen, die typischer-weise verschiedene Elemente der klassischen Medienkombinieren und sowohl zum individuellen Aus-tausch als auch zur massenhaften Verbreitung geeig-net sind. Der Versuch, die Informations- und Kommu-nikationsdienste nach der eher individuellen odermeinungsbildenden (Massen-) Ausrichtung mit Hilfeder Kategorien Tele- und Mediendienste zu unter-

scheiden, ist im Zuge der zunehmenden Konvergenzvon Medieninhalten aufgegeben worden.

Dennoch bleibt es dabei, dass die Abgrenzungweiterhin praktisch bedeutsam und rechtlich schwie-rig ist, zumal die Darstellung gleicher Inhalte überverschiedene Plattformen oder Verbreitungswege zu-nehmend technisch vereinheitlicht wird. Weil abergerade für den Rundfunk in Deutschland und dasFernsehen in Europa spezifische Besonderheiten gel-ten und diese deshalb auch einem eigenen Schutz-und Regulierungsregime unterstellt sind, spielt eseine erhebliche Rolle, ob ein bestimmtes Angebot einRundfunk- bzw. Fernseh-, ein Telemediendienst odereben ein Presse- oder Individualangebot ist. Dertechnische Aspekt der Verbreitung ist hierbei wenigerentscheidend als die Frage, ob die bisher verwende-ten Abgrenzungskriterien auch angesichts dieserdurch die technische Entwicklung bedingten Ver-änderungen weiterhin Bestand haben können, alsoinsbesondere wie die Unterscheidung der hier inte-ressierenden Rundfunk- und Telemedienangebotezukünftig zu handhaben ist. In diesem Zusammen-hang ist auch der von den Medien abzugrenzende,aber eng verbundene Bereich der Telekommunika-tion zu sehen. Mit diesem Begriff wird die technischeSeite des Übermittlungsvorgangs erfasst, unabhän-gig davon, ob es sich um Individual- oder Massen-kommunikation handelt und auf welchem Weg dieÜbermittlung erfolgt.

Diese neuen Angebote stellen auch die natio-nale Regulierung tendenziell in Frage, weil sie über-wiegend über das Internet und damit weltweit ver-breitet werden. Wie sollen etwa die deutschen Re-gelungen über den Jugendschutz, die auch für dengesamten Bereich der Telemedien gelten, durchge-setzt werden, wenn der Anbieter seinen Sitz auf denCayman-Inseln oder in Kanada hat? Kann man even-tuell diejenigen in Anspruch nehmen, die den Zugangzu diesen Diensten vermitteln? So lauten zum Bei-spiel nur einige Fragen, die sich für das Medienrechtstellen.

Auch die Vielfaltssicherung im bundesweitenprivaten Fernsehen wird in Frage gestellt, obwohl einvielfältiges, umfassendes, alle Strömungen der Ge-sellschaft widerspiegelndes Medienangebot für dieInformationsfreiheit der Rezipienten und damit fürdie Funktionsfähigkeit der Demokratie unverzichtbarist. So wird gelegentlich angenommen, dass im Zeit-alter der Digitalisierung und der Konvergenz derMarkt allein die notwendige Meinungsvielfalt her-stellt, was allerdings das Bundesverfassungsgerichtdezidiert bestreitet. Hinzu kommen die vielfältigentechnischen und politischen Herausforderungen, vordenen das Medienkonzentrationsrecht steht. Wie sollman „vorherrschende Meinungsmacht“ ermitteln?Welche Institutionen sollen darüber befinden? Auchbei den Antworten auf diese Fragen darf der verfas-

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� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Dieter DörrLehrstuhl für öffentliches Recht, Völker- undEuroparecht, MedienrechtJohannes Gutenberg-Universität MainzD-55099 MainzTel. +49(0)6131-39 23 044oder -39 22 681Fax +49(0)6131-39 25 697Email: [email protected]/~doerr

Univ.-Prof. Dr.Dieter Dörr

Dieter Dörr, geboren 1952in Tübingen, ist seit01.10.1995 Inhaber desLehrstuhls für ÖffentlichesRecht, Völker- und Euro-parecht sowie für Medien-

recht. Seit 01.01.2000 ist er außerdem Direktor desMainzer Medieninstituts und seit 11.05.2006Sprecher der Gutenberg-Akademie der Universität.Im Jahr 1977 legte er die Erste und 1980 die ZweiteJuristische Staatsprüfung ab. Seine Promotion zumDoktor des Rechts erfolgte 1983 an der Rechts- undWirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universi-tät des Saarlandes und 1987 habilitierte er sich ander Juristischen Fakultät der Universität zu Köln. An-schließend war er als Vertretungsprofessor und dannals Professor am Institut für Internationale Ange-legenheiten der Universität Hamburg tätig und be-kleidete dann von 1990 bis 1995 das Amt desJustiziars beim Saarländischen Rundfunk. Im Jahr2000 wurde er als Mitglied in die Kommission zurErmittlung der Konzentration im Medienbereich(KEK) berufen und war von Oktober 2004 bis März2007 deren Vorsitzender. Am 01.10.2003 erfolgte dieErnennung zum Richter im Nebenamt am Oberlan-desgericht Koblenz. Seine Forschungsschwerpunktesind das deutsche und europäische Medienrecht unddas Selbstbestimmungsrecht der indigenen Völker.

� Summary Media Law is a relatively young field, and yet itsimpact must not be underestimated. Due to rapiddevelopments in technology leading to digitalisationand convergence in the media, Media Law today isfaced with immense challenges. Sound regulation ofthe media is of vital importance to democracy itself.At the same time, the media sector represents astrong economic force. Freedom of information andconcentration control are just two important aspectswe are faced with. In order to deal with new challen-ges and ongoing developments, Media Law mustnecessarily co-operate intensively with the othermedia fields, such as Journalism and Publishing.

sungsrechtliche Rahmen als Basis für die medienpo-litischen Entscheidungen nicht außer Acht gelassenwerden.

Das Medienrecht bildet schon jetzt einen For-schungsschwerpunkt am Fachbereich Rechts- undWirtschaftswissenschaften. Dabei wird das gesamteSpektrum des Medienrechts, einschließlich des euro-päischen und internationalen Medienrechts mit sei-nen Bezügen zum Kulturrecht abgedeckt. Dies doku-mentiert nicht zuletzt die eigene Schriftenreihe„Studien zum deutschen und europäischen Medien-recht“, die – obwohl erst im Jahr 1999 entstanden –schon 28 Bände zählt. Auch trägt das mit der Univer-sität durch einen Kooperationsvertrag verbundeneMainzer Medieninstitut entscheidend mit dazu bei,dass die medienpolitischen und medienrechtlichenGrundsatz- und Detailfragen praxisnah und anwen-dungsorientiert einer Lösung zugeführt werden. Mitdem Weiterbildungsmasterstudiengang Medienrecht,einem in Deutschland in dieser Form einmaligen An-gebot, werden die neuesten Erkenntnisse an dieStudierenden vermittelt und der wissenschaftlicheNachwuchs gefördert. Nun gilt es, diesen Schwer-punkt weiter auszubauen und vor allem die fächer-übergreifende Zusammenarbeit zu verstärken. Esliegt auf der Hand, dass die medienrechtlichen Her-ausforderungen nur bei Kenntnis der technischenund wirtschaftlichen Zusammenhänge unter Berück-sichtigung publizistischer und journalistischer Er-kenntnisse bewältigt werden können. Mainz bietetals ausgewiesener Medienstandort mit hervorragen-den Medienwissenschaften ideale Voraussetzungendafür. �

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Von Gerhard Kruip und Katja Winkler

Bildungsethik – Ethische Bildung

Ein vom BMBF gefördertes Forschungsprojekt willdie in der Erwachsenenbildung auftauchendenethisch relevanten Fragen gezielt für ein ethischesLernen nutzen.

Bildung ist spätestens seit dem ‚PISA-Schock’ aus deröffentlichen und politischen Diskussion nicht mehrwegzudenken. Zuletzt alarmierten die neuestenResultate des OECD-Bildungsberichts die politischeÖffentlichkeit. Sie bestätigen, dass hierzulande diesoziale Herkunft immer noch das Bildungsniveau undden Bildungserfolg maßgeblich bestimmt. Zudemwurde ein Mangel an Hochschulabsolventen prog-nostiziert. Die Reihe von Analyseergebnissen, die aufDefizite innerhalb des deutschen Bildungssystemshinweisen, ließe sich fortsetzen. Insgesamt gesehenscheint es soziale Ungleichheiten eher zu befördern,als Chancengleichheit zu schaffen oder doch wenigs-tens ungleiche Ausgangschancen zu nivellieren.

Diese und andere Beispiele zeigen, dass Bil-dung eine der wichtigsten „sozialen Fragen“ derGegenwart darstellt. Sie ist deshalb auch ein wichti-ges Thema der Ethik und spezieller der Sozialethik.Da Bildung zweifellos ein Schlüssel zur gesellschaftli-chen Teilhabe und Partizipation ist, wird sie sozial-ethisch unter dem Aspekt der Beteiligungsgerechtig-keit behandelt. Es geht darum, wie Bildungsbeteili-gung sicher gestellt werden kann, damit Beteiligungdurch Bildung ermöglicht wird. Damit befasst sichGerhard Kruip in Kooperation mit Prof. Dr. MarianneHeimbach-Steins (Bamberg) in dem Projekt „Men-schenrecht auf Bildung“, das an der Universität Bam-berg und dem Forschungsinstitut für PhilosophieHannover (FIPH) angesiedelt ist (Näheres unterwww.menschenrecht-auf-bildung.de).

Bildungsethik muss aber über die gerechte Ge-staltung des Bildungssystems hinaus auch auf dieethische Qualität einzelner Bildungsprozesse achten.

Dies berührt auch die Definitionen von Bildungszie-len und -inhalten, die auf ihre ethische Relevanz hinzu überprüfen sind. Insofern umfasst Bildungsethikdrei miteinander in Verbindung stehende Aspekte,nämlich die Frage nach der Bereitstellung und demgerechten Zugang zu Bildungsangeboten, die Fragenach der Gestaltung von Bildungsprozessen sowiedie Frage nach den Bildungszielen und -inhalten.

Innerhalb des vom Bundesministerium für Bil-dung und Forschung (BMBF) geförderten Projekts‚Ethisches Lernen in der allgemeinen Erwachsenen-bildung’, dessen Träger die Katholische Bundesar-beitsgemeinschaft für Erwachsenenbildung (KBE) istund dessen wissenschaftliche Begleitforschung amLehrstuhl für Christliche Anthropologie und Sozial-ethik der Katholisch-Theologischen Fakultät im Fach-bereich 01 unserer Universität angesiedelt ist, liegtder Schwerpunkt auf der Frage nach der Gestaltungvon ethischen Bildungsprozessen im Bereich der Er-wachsenenbildung. Dabei muss der Stellenwert derErwachsenenbildung und der Zugang zu verschie-densten Erwachsenenbildungsangeboten innerhalbdes bundesdeutschen Bildungssystems stets mit be-dacht werden.

Angesichts derzeitiger gesellschaftlicher Ver-änderungen und aktueller Herausforderungen ist esnicht schwer zu begründen, dass ethische Bildungüberhaupt als ein Bildungsziel betrachtet und spe-ziell als Bildungsinhalt der Erwachsenenbildung eta-bliert werden muss. Offenbar wird von den Individu-en in spätmodernen Gesellschaften, in denen sichbeschleunigte wirtschaftliche, soziale, technische undwissenschaftliche Veränderungen vollziehen, einhohes Maß an ethischer Kompetenz verlangt, um sichangesichts neuer ethischer Probleme orientieren zukönnen, politisch Position zu beziehen und nichtzuletzt in Beruf und privatem Alltag eine Praxis zuentwickeln, die dem eigenen ethischen Selbstbildentspricht. Hitzige öffentliche Debatten lassen immerwieder ein Missverhältnis erkennen, zwischen einervon hohen ethischen Energien gespeisten morali-schen Empörung auf der einen Seite und fehlenderethischer Urteilskompetenz, die immer auch mit derFähigkeit zu rationaler Begründung verbunden seinsollte, auf der anderen Seite. Die notwendigenKompetenzen umfassen sowohl die Fähigkeit zurWahrnehmung einer ethisch relevanten Situation,das Wissen um die Vor- und Nachteile ethischer Argu-mente und Lösungsstrategien als auch die morali-sche Urteilskompetenz und die Haltung, überhaupt

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Ethisches Lernen – selbst erfahren.Treffen von Vertretern der Projekt-standorte 2007 in Warendorf.

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moralisch handeln zu wollen. Diese ethischen Kom-petenzen müssen im Zuge der Identitätsbildung mitden jeweils eigenen Vorstellungen vom Sinn desLebens und weltanschaulichen Einstellungen verbun-den werden. Insofern sind Kompetenzen der ethi-schen Urteils- und Handlungsfähigkeit für das gesell-schaftliche, das politische und das persönliche Lebenjedes Einzelnen von großer Bedeutung; sie stellen dieVoraussetzung dafür dar, auf allen Ebenen sozialerBezüge Verantwortung zu übernehmen. EthischeKompetenz ist eine Schlüsselkompetenz.

Um diese ethische Kompetenz zu stärken, be-darf es ethischer Bildung. Dabei genügt es jedoch ge-nauso wenig wie im Falle von sonstigen Kenntnissenund Fertigkeiten, auf das in Kindheit und Jugend ein-mal Gelernte zurückzugreifen. Ethisches Lernen mussheute das ganze Leben begleiten und hat innerhalbder Konzeption ‚Lebenslanges Lernen’ seinen Platz,insofern dieses nicht allein Aus-, Fort- und Weiterbil-dung, sondern auch Persönlichkeitsbildung umfasst.

Das zentrale Anliegen des Projekts ‚EthischesLernen in der allgemeinen Erwachsenenbildung’ liegtdarin, ethische Bildung als Querschnittsaufgabe derallgemeinen Erwachsenenbildung fest zu verankern.Ethisch relevante Fragen treten nämlich nicht nur inalltäglichen kulturellen Zusammenhängen, in Soziali-sations- und Kommunikationsprozessen auf, sondernauch in allen Fachbereichen der Erwachsenenbil-dung, hier allerdings meist in Form des implizitenLernens. Fragen des Sollens und Dürfens, des Erlaub-ten und Verbotenen sind in den unterschiedlichstenKursen und Seminaren Gegenstand des Gesprächs,werden jedoch häufig nur beiläufig behandelt undnicht ausreichend als explizite Gelegenheit für ethi-sches Lernen genutzt. Teilnehmerinnen und Teilneh-mern entgeht damit eine wichtige Möglichkeit, ihrLebens- und Daseinswissen nicht nur beiläufig, son-dern durch ausdrücklich methodisch kontrollierteDenk- und Lernprozesse zu erweitern. Das Projekt‚Ethisches Lernen in der allgemeinen Erwachsenen-bildung’ will dazu geeignete Modelle entwickeln,Kursleitende entsprechend schulen und anschließendin einer breiten Erprobungsphase die Reichweite sol-cher Modelle für die Entwicklung von Urteilskom-petenz, Überzeugungen, Einstellungen und Werthal-tungen erforschen. Ziel des Projekts ist es also, inKontexten der Erwachsenenbildung gegebene Lern-anlässe systematisch in ein explizites ethisches Ler-

nen zu überführen und dazu geeignete Instrumentezu entwickeln (Abb. 1).

Das Projekt greift auf ein ebenfalls vom BMBFgefördertes Projekt „Treffpunkt Ethik“ zurück (siehewww.treffpunkt-ethik.de), dessen Auswertung erge-ben hat, dass sich sowohl die Teilnehmer/innen vonErwachsenenbildungsveranstaltungen als auch diedort tätigen Dozenten/innen schwer tun, ethischeFragen in einer Weise aufzugreifen und zum Themazu machen, dass dies zur Weiterentwicklung ethi-scher Kompetenzen dient. Insgesamt haben unsereRecherchen hinsichtlich erwachsenenpädagogischerForschung ergeben, dass im Gegensatz zur politi-schen Bildung ethische Bildung bisher kaum Gegen-stand erwachsenenpädagogischer Forschung gewe-sen ist. Umgekehrt war auch Bildung, insbesondereErwachsenenbildung bisher kein prominentes Themader Sozialethik. Das Forschungsprojekt ‚EthischesLernen in der allgemeinen Erwachsenenbildung’möchte einen Beitrag dazu leisten, dieses For-schungsdesiderat zu beheben.

In den einzelnen Phasen wird stark praxisbezo-gen mit Erwachsenenbildungseinrichtungen zusam-mengearbeitet. Diese Projektstandorte liefern Mate-rial und Erfahrungen aus der Praxis und spiegeln dasbreite Spektrum der Erwachsenenbildungslandschaftwider, welches von der Landvolkshochschule über diekatholischen Akademien bis zur beruflichen Weiter-bildungseinrichtung reicht.

Aus der ersten Projektphase liegt bereits einvon der wissenschaftlichen Begleitforschung erarbei-tetes „Basispapier“ mit dem Titel ‚Ethisches Lernen

Der Projektverlauf gliedert sich in die folgenden sechs Phasen:

I. Vorbereitungsphase ab Januar 2007

II. Erhebungs- und Analysephase ab September 2007

III. Konzeptionsphase ab November 2007

IV. Qualifizierungsphase ab Mai 2008

V. Durchführungs- und Validierungsphase ab September 2008

VI. Präsentations- und Evaluationsphase ab Mai 2009

Abb. 1: Vom impliziten zum expliziten ethischen Lernen.

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in der allgemeinen Erwachsenenbildung’ vor, das dentheoretischen Bezugsrahmen und die Grundlagendes Projekts darstellt. Ethisches Lernen wird als daserfolgreiche Bearbeiten eines moralischen Problemsangesehen, das mit den bisher vorhandenen morali-schen Urteilen und den zur Verfügung stehendenethischen Kompetenzen noch nicht oder nicht gut ge-löst werden konnte. Ethisches Lernen führt zu einemZuwachs an ethisch relevantem Wissen und Kom-petenzen der ethischen Urteilsfindung sowie einemZuwachs an moralischer Sensibilität und moralischerMotivation. Zur Förderung ethischen Lernens in derallgemeinen Erwachsenenbildung wurde ein Konzeptdes „ethischen Lehrens“ entwickelt, das einen vier-stufigen Lehr-Lern-Prozess vorsieht, der die Kompo-nenten Entdecken, Initiieren, Begleiten und Ergeb-nisse sichern umfasst (Abb. 2).

Der ethische Lehr-Lern-Prozess findet seinenAusgangspunkt in einem konkreten moralischenKonflikt, der im Kursgeschehen entweder implizitauftritt oder als Teil des Kursthemas ausgewähltwurde. Nachdem ein impliziter Ausgangspunkt ent-deckt worden ist, muss er zum Thema gemacht unddamit ein Prozess initiiert werden, durch den dermoralische Konflikt einer ethischen Reflexion zu-gänglich gemacht werden kann. Die Dozenten/innenhaben dann die Aufgabe, den angestoßenen ethi-schen Diskurs durch notwendige Differenzierungen,Erklärungen, Ergänzungen und theoretische Bezügezur theologischen und philosophischen Ethik zubegleiten. Den Abschluss des Prozesses bildet dieErgebnissicherung, die zum Beispiel daraus bestehenkann, erreichte Konsense bzw. bestehen bleibendeDissense festzuhalten. Mit diesem sowohl situativenwie progressiven Ansatz wird den Besonderheitendes Erwachsenenbildungskontextes Rechnung getra-gen, wie beispielsweise der Motivationsstrukturerwachsener Lernender, die sich durch die zentraleBedeutung des persönlichen Zugangs zum Bildungs-inhalt auszeichnet, oder der Entwicklungsstufe desmoralischen Bewusstseins Erwachsener, die in derRegel bereits über ausgeprägte Überzeugungs- undGewohnheitsmuster verfügen.

Insgesamt dient das Projekt der Kompetenz-entwicklung von Kursleitenden in der Erwachsenen-bildung, welche durch die Beschäftigung mit derAnalyse ethischen Sprechens, mit Modellen der Argu-mentations- und Kontextanalyse sowie mit ethi-schem Grundlagenwissen über prominente ethischeArgumentationsmuster und ethische Theorien geför-dert werden soll. Es wird auch auf Seiten der Dozen-ten/innen ein Zuwachs an ethischer Wahrnehmungs-kompetenz und Argumentationskompetenz notwen-dig sein, um deren Professionalität zu erhöhen unddamit das bildungspolitische Ziel der Qualitätsent-wicklung in der allgemeinen Erwachsenenbildung zuunterstützen. Weitere Informationen finden Sie im In-ternet unter www.ethisches-lernen.de. �

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� Summary Education is an object of ethical reflection because ofits importance for social participation and inclusionin society. Especially ethical education is importantbecause moral competence is a key competence inmodern society. These two aspects constitute thecontext of the project ‘ethical learning in furthereducation’. The research objective is to develop atraining program – respectively a coaching courseconception for teachers in adult educational insti-tutions – to make them capable to react professio-nally to implicitly or explicitly given causes in theircourses to deal with moral questions. The purpose isthe implementation of ethical learning processes infurther educational contexts to enable people topractise active citizenship.

Abb. 2: Die vier Stufen des ethischen Lernens.

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Univ.-Prof. Dr.Gerhard Kruip

Gerhard Kruip, geb. 1957 inMünchen, ist seit 2006Professor für ChristlicheAnthropologie und Sozial-ethik an der katholisch-theologischen Fakultät der

Universität Mainz. Nach seinem Studium der Theo-logie und der Mathematik in Würzburg und Paris, warer von 1985 - 1995 Assistent am Lehrstuhl für Christ-liche Sozialwissenschaft der Universität Würzburg,seit 1996 Privatdozent und ab 2001 apl. Prof.für Sozialethik an der Universität Würzburg. Von1995 - 2000 arbeitete er als Direktor der Katho-lischen Akademie für Jugendfragen in Odenthal-Altenberg. Seit 2000 ist er Direktor des Forschungs-instituts für Philosophie Hannover, wo er das KBE-Projekt ‚Treffpunkt Ethik’ wissenschaftlich begleitete.Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter ande-rem im Bereich der Bildungsethik, der Gesundheits-ethik und der Ethik der Globalisierung unter beson-derer Berücksichtigung der Theologie der Befreiung.Gerhard Kruip ist u.a. Vorsitzender der Sachverstän-digengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik derKommission X Weltkirche der Deutschen Bischofs-konferenz, Berater der Kommission VI der DeutschenBischofskonferenz und der Unterkommission fürAdveniat, Mitglied der Bioethik-Kommission desLandes Rheinland-Pfalz und weiterer Kommissionenund Beratungsgremien. An der Universität Mainz istGerhard Kruip Mitglied des Koordinationsrates desZentrums für Interkulturelle Studien, des Koordina-tionsausschusses des Zentrums für Umweltforschungund des Interdisziplinären Arbeitskreises Latein-amerika.

Katja Winkler

Katja Winkler, geb. 1975, istseit 2007 wissenschaftlicheMitarbeiterin am Lehrstuhlfür Christliche Anthropo-logie und Sozialethik ander katholisch-theologi-

schen Fakultät der Universität Mainz. Nach ihremStudium der Fächer Katholische Theologie und Ger-manistik für das Lehramt an Gymnasien an der Jo-hannes Gutenberg-Universität Mainz war sie von2003 - 2006 Promotionsstipendiatin des DFG-Gra-duiertenkollegs ‚Anthropologische Grundlagen undEntwicklungen im Christentum und im Islam’ derUniversität Bamberg. Sie arbeitet zurzeit an einemDissertationsprojekt mit dem Arbeitstitel ‚Anthro-pologische Aspekte in Gerechtigkeitstheorien – dieSozialethik des Capabilities approach’. Seit Oktober2007 ist sie zusätzlich zu ihrer Mitarbeit am Projekt„Ethisches Lernen in der allgemeinen Erwachsenen-bildung“ in Mainz als wissenschaftliche Mitarbeite-rin am Institut für Christliche Sozialwissenschaftender Universität Münster tätig. Ihre Forschungs-schwerpunkte liegen im grundlagenethischen Be-reich und der Bildungsethik.

� Kontakt

Univ-Prof. Dr. Gerhard KruipJohannes Gutenberg-Universität MainzKatholisch-Theologische FakultätAbteilung Christliche Anthropologie und SozialethikForum 4, R- 01-531D-55099 MainzTel. +49 (0) 6131-39 22 699Email: [email protected]

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Der erste Marathonlauf der Weltgeschichte fandam 10. April 1896 im Rahmen der ersten Olym-pischen Spiele in Athen statt. Überraschungssiegerwurde ein Grieche, geehrt mit einem Pokal ausfeinster französischer Juwelierarbeit.

Die Wiedereinführung der Olympischen Spiele stellteinen Höhepunkt der Antikenrezeption des 19. Jahr-hunderts dar. Beschlossen wurde sie am 23. Juni1894 in der Sorbonne zu Paris, und zwar im Rahmeneines Kongresses, der zunächst die Gründung einesInternationalen Olympischen Komitees (IOC) zumZiel hatte. An diesem Kongress nahmen 78 Personenteil, die von 37 Sportorganisationen aus neun Län-dern gesandt worden waren (vgl. 1). In der gedruck-ten Liste der Teilnehmer suchen wir allerdings ver-geblich nach dem 1832 in Landau in der Pfalz gebo-renen Altphilologen und Sprachforscher Michel Bréal.Der Landauer Rechtsanwaltssohn entstammte einerangesehenen jüdischen Familie (vgl. 2). und warschon seit 1866 Professor für vergleichende Lite-raturwissenschaft am Collège de France sowie seit1875 Mitglied des Institut de France. Wir begegnenihm auch nicht in den Protokollen des Kongresses, indenen auch von einer möglichen olympischen Dis-ziplin „Marathonlauf“ keine Rede ist. Erst beimSchlussbankett saß der berühmte Bréal amEhrentisch und hielt eine viel beachtete Rede, indem

er den neuen olympischen Wahlspruch „citius-altius-fortius“ (schneller, höher, stärker) begeisternd inter-pretierte.

Was hat nun Michel Bréal in der olympischenGeschichte unsterblich gemacht? Es ist sein Briefvom 15. September 1894, den er aus dem schweize-rischen Glion an Baron Pierre de Coubertin schrieb,den Initiator der Konferenz und zweiten Präsidentendes IOC (1896-1925). Darin schlägt er vor, in das Pro-gramm der Olympischen Spiele von Athen 1896einen Lauf von Marathon zum Pnyx, dem berühmtenVersammlungsort der Athener, als offiziellen olympi-schen Wettbewerb aufzunehmen (Abb. 1). Gleichzei-tig bietet er an, für den Sieger den Pokal zu stiften(Abb. 2). Der für die Ursprungsfrage des Marathon-laufs wichtigste Satz steht am Ende des Briefes undhat folgenden Wortlaut: „Wenn Sie nach Athengehen, könnten Sie doch versuchen, ob nicht ein Laufvon Marathon zum Pnyx organisiert werden kann.Das würde den antiken Charakter unterstreichen.Wenn wir die Zeit, die der griechische Soldat (fürdiese Strecke) gebraucht hat, kennen würden, könn-ten wir einen Rekord führen. Für meine Person bean-spruche ich die Ehre, den ‚Marathon-Pokal’ zu stif-ten.“ Coubertin muss Bréal kurz zuvor über seinengeplanten Athen-Besuch informiert haben. Dieserwar nötig, um den Beschluss des Kongresses zurAbhaltung der ersten Olympischen Spiele 1896 vorOrt voranzutreiben. Auf jeden Fall bezieht sich derVorschlag, einen Marathonlauf durchzuführen, ein-deutig auf die geplante Griechenlandreise Couber-tins Ende Oktober 1894.

Bréal brauchte Coubertin von seiner Idee nichtlange zu überzeugen. Von entscheidendem Einflussfür Coubertins Antikenbild war nach eigenem Bekun-den seine Gymnasialzeit am Pariser Jesuitenkolleg inder Rue de Madrid. Mehrfach erwähnte er einen Leh-rer, den Jesuitenpater Jules Carron, der ihm die Liebezur Antike beigebracht habe. Carron unterrichteteCoubertin im Fach Rhetorik, das am Ende der weiter-führenden klassischen Studien in der Altersstufe der15-17jährigen täglich auf dem Stundenplan stand.Angesichts der Fülle griechischer und lateinischerAutoren, die dabei studiert wurden, ist davon auszu-gehen, dass Coubertin die Überlieferungen zurSchlacht bei Marathon gut kannte – und damit auchdie Legenden, die sich mit dem Lauf jenes atheni-schen Kriegers verbanden, der die Siegesmeldungden Athenern überbrachte und danach tot zusam-mengebrochen sein soll (vgl. 3).

SPORT

Von Norbert Müller

Der Ideengeber des olympischen Marathonlaufs:Der Pfälzer Michel Bréal (1832-1915)

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Abb. 1: Briefauszug Bréals anCoubertin vom 15.09.1894 mit der

Idee des olympischen Marathonlaufs(rot unterstrichen).

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zurückhaltenden griechischen Gastgebern gefallenhaben. Der Grund ist einfach: Die junge GriechischeRepublik war auf der Suche nach einer eigenen Iden-tität. Dabei kam ihr die Marathon-Idee in Ergänzungzu den Olympischen Spiele in ihrer Hauptstadt Athensicher gelegen, zumal der Ursprung der OlympischenSpiele im 400 km entfernten Olympia liegt.

In den überlieferten Briefen und Karten Bréalsan Coubertin aus dem fraglichen Zeitraum gibt eskeinen weiteren Hinweis auf die Idee des Marathon-laufs. Lediglich eine undatierte Visitenkarte (im

Archiv des IOC) mit GlückwünschenBréals zur Geburt von Coubertinserstem Kind, seinem Sohn Jacques,im Februar 1896, trägt den Hin-weis: „Fahren Sie nicht nach Athenab, ohne dass ich Ihnen etwas zumMitnehmen gegeben habe.“ MeinteBréal damit den von ihm gestiftetenSilber-Pokal, der von einem bekann-

ten Juwelier in Paris angefertigtwurde?

Den Leser wird überraschen, dassin dem handschriftlichen und in den ers-

ten beiden gedruckten Programmen voneinem Marathonlauf über 48 km die Rede ist

(vgl. 5). Hierzu gibt es nach K. Lennartz eineüberzeugende Erklärung: Zwischen der Ebene

von Marathon und der Stadt Athen befin-det sich das Pentelikon-Gebirge, des-sen höchste Erhebung 1.109 m überdem Meeresspiegel liegt. Der antike

Weg führte wahrscheinlich aufwärtsdurch das Gebirge bis zu einem Dionysos-

Heiligtum (350 m über dem Meeresspiegel), wardann etwas eben und fiel schließlich steil ab zu denheutigen Athener Vororten Ekali, Kifisia und Amorusi.Der griechische Sporthistoriker Ion Ioannidis unter-suchte in den 30er Jahren mögliche Pfade vomSchlachtfeld von Marathon hinauf ins Gebirge. Erfand auch eine gut laufbare Route, die bis zumStadion in Athen lediglich 34 km betrug. Ioannidisvermutet, dass am Ende des 19. Jahrhunderts zwi-schen Marathon und dem Dionysos-Heiligtum in derHöhe kein Weg mehr existierte und die Ausrichterdeshalb den längeren Weg südlich um das Gebirgeherum und dann zwischen den Pentelikon- undHymetos-Bergen nach Athen wählen mussten. DieseRoute ist zirka 40 km lang und geht über eineSteigung von 250 Meter (vgl. 6). In den erstengedruckten Programmen war also „grob gemessen“von 48 km die Rede, doch bei den zuletzt mitden Einladungen verschickten Programmen standnur noch: „Marathonlauf über 42 km“ (6). ImProgramme détaillé, das am 15. Februar 1896 imBulletin des Organisationskomitees veröffentlichtwurde, hieß es für den vierten Tag: „Course deMarathon (40 kilomètres)“ (7).

Bréals Marathon-Idee

Was konnte Bréal dazu bewogen haben, zweieinhalbJahrtausende später diesem sagenumwobenen Er-eignis mit einem Wettlauf von Marathon nach Athenzu solcher Bedeutung zu verhelfen? Dass er die viel-fach übertragene Legende vom Siegesboten und des-sen Erschöpfungstod, von der erstmals der Schrift-steller Plutarch 600 Jahre nach der Schlacht berichtethatte, unkritisch übernommen hätte, ist für einenAlt-philologen von der Qualität Bréals kaum vorstell-bar. Die Geschichte bezieht sich vielmehr auf denbewundernswert schnellen Rückzugder schwer bewaffneten siegrei-chen Athener von Marathon nachAthen; die Athener bewältigten diefür damalige Verhältnisse nichtgerade kurze Strecke von mehr als40 Kilometern in nur einem Tag, umihre Stadt vor einem möglichen An-griff vom Meer aus zu schützen (vgl.Herodot VI, S. 116f). Bréals Idee von1894 war ganz sicher von der aktuel-len Berichterstattung um die Auffin-dung des Grabhügels der gefallenenKämpfer von Marathon vier Jahre zuvor(1890) begünstigt. Damit verband sich fürBréal konkrete antike Anschauung mit derLehrweise der alten Sprachen, wie er diesein seinem bei Hachette 1891 erschienenen BuchDe l’enseignement des langues anciennesbeschrieb.

Umsetzung der Idee

Bréals Idee muss bei Coubertin gezündet haben,denn in dem im Bulletin Nr. 3 des IOC im Januar 1895veröffentlichten Programm für die in Athen geplan-ten Olympischen Spiele wurden die leichtathleti-schen Wettbewerbe folgendermaßen unterteilt:

Laufwettbewerbe: 100 m, 400 m, 800 m und 1500m, 110 m Hürden. Nach den Regeln der Union derfranzösischen Sportvereine.Sonstige Wettbewerbe: Weit- und Hochsprung,Stabhochsprung, Kugelstoßen und Diskuswurf. Nachden Regeln der englischen Amateur Athletic Asso-ciation.Laufwettbewerb genannt ,Marathon’: Über eineDistanz von 48 km von Marathon nach Athen, umden Pokal, gestiftet von Herrn Michel Bréal, Mitglieddes Institut de France.

Wenn wir dem späteren handschriftlichenVermerk Coubertins auf der Titelseite des Manu-skripts Vertrauen schenken dürfen, dass er dasProgramm im November 1894 anlässlich seinesBesuchs in Athen niedergeschrieben habe, muss dieIdee Bréals nicht nur seine Unterstützung gefundenhaben, sondern ganz sicher auch seinen sonst eher

Abb. 2: Der von Bréal gestifteteSilber-Pokal für den Marathon-Siegervon Athen 1896; die Inschrift lautete:OLIMPIAKOI AGONES / MARATHO-NION ATHLON / EDOKE MICHAELMPREAL (Olympische Spiele /Marathon Preis / gestiftet von Michel Bréal).

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Ein weiterer Hinweis für die konkrete Umset-zung finden wir im Nachlass des Gründungspräsi-denten des IOC Dimitrios Vikelas im Athener Natio-nalarchiv. Unter dem 9.1.1896 erbittet Bréal von die-sem eine Übersetzung der geplanten Eingravierungfür den Marathon-Pokal ins Neugriechische. Er be-gründet dies damit, dass der junge siegreiche Sport-ler sonst die Inschrift nicht verstehen könne (8). HatBréal demnach bereits fest an einen griechischenSieger geglaubt?

Marathon von Athen 1896

Die weitere Geschichte dieses legendären erstenMarathonlaufs der Weltgeschichte ist bekannt.Überraschend gewann der griechischeErsatzläufer Spiridon Louis, um densich zahllose Mythen ranken. SeinSieg vor einem weiteren Griechen,einem Ungarn und weiteren sie-ben Griechen ist deshalb solegendär, weil er die viel höhereingeschätzten Ausländer, denFranzosen Albin Lermusiaux,den Amerikaner Arthur Blakeund den Australier EdwinFlack, geschlagen hatte. Alledrei gaben auf dem letztenDrittel der Laufstrecke offen-sichtlich wegen Mangel an Glyko-genvorrat auf. Als einziger Auslän-der konnte der Ungar Gyola Kellnermithalten, der mit sieben Minuten Rück-stand auf Louis Dritter wurde. Der zweitplatzier-te Grieche Charilaos Vassilakos kam kurz vorher insZiel. Louis, erster griechischer Olympiasieger und dasnoch im legendären Marathonlauf, ließ nach zahllo-sen Erfolgen ausländischer Leichtathleten in denTagen zuvor die griechische Volksseele überschäu-men. Immerhin waren 60.000 Griechen im Stadionund auf den Hügeln darüber. Louis wurde zumVolkshelden und erhielt am Schlusstag derOlympischen Spiele aus der Hand des Königs den vonMichel Bréal gestifteten silbernen Pokal, der nochheute von seinem Enkel aufbewahrt wird. Vikelasehrte den Ideengeber Bréal, indem er ihm am glei-chen Tag, dem 10. April 1896, ein Telegramm überden erfolgreichen Verlauf und den Sieg des GriechenSpiridon Louis nach Paris sandte. Bréal bedankte sichin einem sehr netten Brief am Tag darauf undbeglückwünschte Vikelas zum Erfolg der Spiele undder griechischen Sache (8).

Das Verhältnis von Bréal zu Coubertin

Der junge Coubertin hatte offenbar schon zu Beginnder neunziger Jahre (des 19. Jahrhunderts) erkannt,wie wichtig ein so hoch angesehener Wissenschaftlerwie Michel Bréal zur Unterstützung seiner Vorhabenwerden könne. Aus den elf im IOC-Archiv aufbewahr-ten Briefen und Karten ist abzulesen, dass Bréal denjungen engagierten Baron offenbar schätzte undseine Aktivitäten unterstützen wollte. Das Verhältnisist aber auch dadurch charakterisiert, dass Bréal stetseinen höflichen, beratenden Ton wählte. Er war jaauch eine Generation älter. Dennoch erscheint mirdas Verhältnis Michel Bréals zu Coubertin von beson-

derer Qualität. Coubertin suchte offensichtlichin Fragen zur Antike immer wieder des-

sen Rat. Über 15 Jahre, zwischen1894 und 1909, hielt er Bréal regel-

mäßig auf dem Laufenden. Wennman diesen Briefwechsel etwamit demjenigen von Coubertinzum amerikanischen Präsi-denten Theodore Rooseveltvergleicht, so ist er ohne eineinhaltsreiche fortführendeThematik. Das RezeptCouber-tins, sich über Brief-

und Bü-chersendungen engereVerbin-dung zu politisch ein-

flussreichen Intellektuellen zuverschaffen, hatte bei Bréal nur

begrenzten Erfolg. Die Tatsache, dassCoubertin in seinen vielen Schriften die

Urheberschaft Bréals für die Initiative desMarathonlaufs nicht leugnete, sie aber auch nichtbesonders betonte, zeigt einen Stil, der bei Coubertinhäufig anzutreffen ist: Er möchte sein Lebenswerkmöglichst nur mit seinen eigenen persönlichenInitiativen geschmückt wissen; im Falle von MichelBréal konnte er dessen Urheberschaft nicht leugnen,aber auch keinen darüber hinausgehenden Nutzenziehen. Dennoch bleibt die grandiose Idee desMarathonlaufs das Vermächt-nis eines Pfälzers.�

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� Summary Born 175 years ago in Landau, Palatinate, MichelBréal is typically known as an outstanding linguistamong experts – this is also indicated on the memo-rial plate at his birth place. This contribution, how-ever, shows another Bréal: the man who provided theinspiration for the Olympic marathon in Athens 1896.Based on letters between Bréal and Pierre deCoubertin, who set up the Olympic Games by foun-ding the International Olympic Committee (IOC) in1894, the article traces the steps from the conceptua-lisation of the marathon to the first race in Athensin 1896.

Abb. 3: Michel Bréal (1832-1915)

aus Landau/Pfalz.

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47FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Univ.-Prof. Dr. phil.Norbert Müller

Norbert Müller, geboren1946, ist seit 1976 Pro-fessor für Sportwissen-schaft, Schwerpunkt Sport-geschichte, an der Johan-nes Gutenberg-Universität

Mainz. Er gründete die Forschungsgruppe Olympiaam Institut für Sportwissenschaft der UniversitätMainz und leitet diese seit 1992. Als Gastprofessorwar und ist er an den Universitäten Graz, Prag,Straßburg, Saskatchewan und Peking tätig. Präsi-dent der Nationalen Olympischen Akademie inDeutschland 1982 bis 1998. Präsident des Inter-national Pierre de Coubertin Committee seit 2002,Vizepräsident des Internationalen Fair-Play-Komitees(International Committee for fair Play) seit 1998,Vorsitzender des Kuratoriums für Sportwissenschaftdes Landessportbundes Rheinland-Pfalz (seit 1998).Auszeichnungen: IOC Preis für Erziehung 1998,Athen-Preis des Hellenic Olympic Committee 2005,Olympischer Orden 1996, Mitglied der EhrenlegionFrankreichs 2000.

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. phil. Norbert MüllerJohannes Gutenberg University MainzInstitute for Sport Sciences (Olympic Research Team) Department of Sport History & Sport SociologyD-55099 MainzTel. +49(0)6131-39 23 515Fax +49(0)6131-39 23 525Email: [email protected]

1) Müller, N. (1994): Cent ans de Congrès Olympiques 1894-1994. Lausanne: IOC. S. 34-47.

2) Volz,G.: Michel Bréal – ein Weltbürger aus Landau. In: Giessen,H.W./Lüger,H.-H./Volz,G.(Hrsg.)(2007):Michel Bréal –

Grenzüberschreitende Signaturen. Landau, S-15 – 41.

3) Müller, N (1997): Coubertin und die Antike. In: Nikephoros 10, 289 – 302.

4) Coubertin, P. de et al. (1896): Les Jeux Olympiques de 1896. Rapport Officiel. Athen, Paris: Beck / Le Soudier. S. 68.

5) Bulletin du Comité international des Jeux olympiques 1/1 (1894), 2/3 (1895), 2/4 (1895).

6) Lennartz, K. (1996): Der Marathonlauf – 1896 die Königsdisziplin. In: Lennartz, K. und Mitarbeiter (Hrsg.): Die Olympischen

Spiele 1896 in Athen. Erläuterungen zum Neudruck des Offiziellen Berichtes. Kassel: Agon. 126-132.

7) Messager d’Athènes (1986): Les jeux Olympiques. Supplément au n° 4. Athènes: 15. Februar 1896.

8) Georgiadis, K. (2000): Die ideengeschichtliche Grundlage der Erneuerung der Olympischen Spiele im 19. Jahrhundert in

Griechenland und ihre Umsetzung 1896 in Athen. [Diss. Sportwiss. Mainz 1999.] Kassel: Agon. S. 638ff.

Literatur

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Die Endomikroskopie erlaubt es, während einerMagen-Darm-Spiegelung nicht nur die Schleim-haut als Ganzes, sondern einzelne Zellen im Hin-blick auf krankhafte Veränderungen zu untersu-chen. Eine neue Ära der in-vivo-Diagnostik isteröffnet.

Krebsvorsorge im Bereich des Magen-Darm-Trakteswird heute standardmäßig per Videoendoskopie bzw.Weißlichtendoskopie durchgeführt. Damit kann dieDarmoberfläche inspiziert und beurteilt werden.Krebsvorstufen sowie frühe Krebsstadien könnenwährend der Endoskopie nicht nur erkannt sondernauch unmittelbar endoskopisch entfernt werden. Da-zu wird eine Schlinge um das veränderte Schleim-hautareal gelegt und mit Hochfrequenzstrom abge-tragen. Speiseröhren-, Magen- oder Dickdarmkrebskann so wirkungsvoll verhindert werden. Es ist je-doch eine tägliche Herausforderung, harmloseSchleimhautveränderungen (Polypen) von echtenKrebsvorstufen zu unterscheiden, da sie sich makros-kopisch ähneln. Daher wird empfohlen, möglichstalle Polypen aus dem Darm zu entfernen. Das ent-fernte Gewebe wird anschließend an die Pathologiegesandt, die mittels mikroskopischer Untersuchungklärt, ob es sich tatsächlich um Krebsvorstufen (intra-epitheliale Neoplasien) handelt. Dieser klinischeAlgorithmus hat einige wesentliche Nachteile. Zumeinen erhält man die finale Diagnose oft erst Tagenach der Untersuchung. Zum anderen besteht das

MEDIZIN

Von Ralf Kiesslich, Martin Götz und Markus F. Neurath

Endomikroskopie: Eine Reise durch den menschlichen Darm

Abb. 1: Technik der Endomikroskopie

A: Schematische Darstellung der Mikroarchi- tektur der Darmschleimhaut. Die Applikation von Kontrastmittel ist Voraussetzung zur Generierung endomikroskopischer Bilder. Das Endomikroskop wird mit leichtem Druck auf der Darmschleimhaut platziert.

B: Mittels Blaulichtlaser werden horizontale optische Schnitte durch die Mukosa in hoher Auflösung geführt. Die Graustufenbilder haben eine Fläche von 500 x 500 μm und können digi-tal gespeichert werden. Die Eindringtiefe des Systems ist in der Regel auf die Mukosa be-schränkt (250 μm).

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zwar geringe aber relevante Risiko, dass die Darm-wand bei der Abtragung von harmlosen Polypen ver-letzt wird; dies sollte jedoch unbedingt vermiedenwerden, da es sich ja um nicht krankhaftes Gewebehandelt.

Die Endomikroskopie ist ein neues diagnosti-sches Verfahren, welches erstmals die Endoskopiemit der Mikroskopie kombiniert. Die Videoendoskopieerlaubt hierbei das Auffinden verdächtiger Schleim-hautareale während die gezielte Endomikroskopiesimultan die hochauflösende, konfokale Mikroskopiedes entsprechenden Schleimhautabschnittes eröff-net. Dabei kann die Darmschleimhaut (Mukosa) vonder Oberfläche bis in tiefere Abschnitte (250 μm)mikroskopisch untersucht werden (Abb. 1). EinzelneZellen und Zellkomponenten werden erkennbar undkapilläre Strukturen inklusive der Blutkörperchensowie auch bindegewebige Elemente können inhoher Auflösung dargestellt werden. Noch währendder laufenden Endoskopie kann die Darmschleimhautsomit in-vivo histologisch untersucht werden. Dieshat zur Folge, dass die Dignität (Krebsvorstufe oderharmloser Polyp) unmittelbar erkannt werden kannund damit eine zielgerichtete Intervention mitEntfernung der krankhaften Zellen erfolgen kann. DieEndomikroskopie im Menschen wurde ermöglichtdurch die Miniaturisierung eines konfokalen Mikros-kops und die nachfolgende Integration desselben inein herkömmliches Endoskop.

A B

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Technik der konfokalen Endomikroskopie

Die konfokale Mikroskopie ist eine Adaptation derLichtmikroskopie. Hierbei wird ein Punkt innerhalbdes Gewebes fokussiert und mit einer definiertenWellenlänge über eine optische Faser bestrahlt. NurLicht eines bestimmten Spektrums, welches von die-sem einzelnen Punkt emittiert wird, wird über dieFaser wieder aufgenommen und die resultierendeLichtintensität gemessen. Licht außerhalb diesessingulären Punktes wird nicht wieder aufgenommen.Daraus resultiert die hohe Tiefenschärfe des Systems.Pro endomikroskopisches Bild können maximal1.024 x 1.024 Bildpunkte analysiert werden. Es resul-tiert ein Graustufenbild, welches in hoher Auflösungzelluläre und subzelluläre Komponenten darstellt(Abb. 1). Endomikroskopische Bilder werden durchdie Applikation eines Blaulichtlasers (488 nm) gene-riert. Dabei kann die Eindringtiefe von der Schleim-hautoberfläche bis in die tiefe Mukosa (250 μm) mit-tels zweier zusätzlicher Knöpfe am Handstück desEndoskops variiert werden. Pro Einzelbild werden1.024 x 1.024 (0,8 Bilder pro Sekunde) oder1.024 x 512 (1,6 Bilder pro Sekunde) einzelne Bild-punkte mit einem Gesichtsfeld von 500 x 500 μmanalysiert. Die laterale Auflösung des Systems istgeringer als 1 μm, so dass Kapillaren, Bindegewebeund Epithelzellen dargestellt werden können.

Kontraststoffe

Die Endomikroskopie basiert auf der exogenen Fluo-reszenztechnologie; das bedeutet, dass fluoreszieren-de Kontraststoffe vor oder während der Untersu-chung appliziert werden müssen, um endomikrosko-pische Bilder generieren zu können. Mögliche Kon-traststoffe, die im Menschen eingesetzt werden kön-nen, sind Fluorescein, Acriflavin, Tetracyclin undCresylviolett. Die Kontraststoffe können entwedersystemisch in Form einer Injektion (Fluorescein, Tetra-cyclin) oder lokal via Spraykatheter (Acriflavin, Cre-sylviolett) auf die Darmschleimhaut appliziert wer-den. Gängigste Kontrastmittel sind Fluorescein undAcriflavin. Fluorescein beispielsweise ist ein billiger,nicht mutagener Farbstoff, der seit Jahren in derAugenheilkunde eingesetzt wird und kaum uner-wünschte Nebenwirkungen, wie etwa Phototoxizität,hervorruft. Nur gelegentlich wird von allergischenReaktionen berichtet. Aufgrund der pharmakokineti-schen Eigenschaften von Fluorescein werden die Zell-kerne endomikroskopisch nicht sichtbar. Zelluläre,vaskuläre und bindegewebige Strukturen der Muko-sa können jedoch in hoher Auflösung dargestellt unddifferenziert werden (Abb. 2c). Die intravenöse Gabevon Fluorescein ermöglicht eine homogene Darstel-lung der kompletten Mukosa, so dass die gesamteEindringtiefe des endomikroskopischen Systems zurAnalyse der Mikroarchitektur des Magen-Darm-Trak-tes genutzt werden kann. Der Fluoreszenzeffekt hältetwa 60 Minuten an.

MEDIZIN

49FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Abb. 2: Laserendoskop und Kontraststoffe

A: Das Mikroskop innerhalb des Endoskops steht am Ende etwas hervor.B: Das videoendoskopische Bild wird simultan zur Endomikroskopie angezeigt (C, D).C: Systemisches Fluorescein erlaubt die Mikroskopie der Darmschleimhaut ohne Anfärbung

der Zellkerne. Im Mastdarm (Rektum) können einzelne rosettenartige Krypten (drüsige Öffnungen der Dickdarmschleimhaut) mit den typischen schwarzen Becherzellen identifiziert werden (siehe Pfeil).

D: Acriflavin betont die Zellgrenzen. Die Zellkerne werden bei dieser Färbung dargestellt (siehe Pfeil). Das endomikroskopische Bild zeigt eine normale Kryptenarchitektur ebenfalls im Rektum.

Im Gegensatz zu Fluorescein ist Acriflavin einso genannter topischer Kontraststoff, das heißt erwird direkt am Ort des Geschehens aufgebracht. MitHilfe eines Spraykatheters sprüht man bis zu 15 mlgezielt auf die Schleimhautoberfläche und erreichtdadurch eine lokale Fluoreszenz des entsprechendenSchleimhautareals. Aufgrund der topischen Applika-tion ist die Eindringtiefe des Systems beschränkt undes kann endomikroskopisch nur das obere Drittel derMukosa dargestellt werden. Acriflavin färbt beson-ders die Zellkerne und bindegewebige Strukturen(Abb. 2d). Um die unterschiedlichen Färbeeigen-schaften von Fluorescein und Acriflavin gleichzeitigzu nutzen, können die Farbstoffe auch in Kombina-tion eingesetzt werden. Zu beachten ist jedoch, dassbeim Einsatz von Acriflavin ein geringes Risiko fürDNA-Interaktionen besteht.

Untersuchungstechnik

Die Untersuchung mittels eines konfokalen Laser-endoskops entspricht einer üblichen Endoskopie.Zunächst erfolgt die Identifikation relevanter oderauffälliger Gewebeveränderungen (Läsionen) mittelsWeißlichtvideoendoskopie. Nachfolgend werden dieentsprechenden Läsionen gezielt endomikroskopisch

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untersucht. Dabei wird das untere Ende des Endos-kops, welches das Mikroskop beherbergt, sanft an dieSchleimhautoberfläche gedrückt. Um Bewegungsar-tefakte bei der Darstellung zu minimieren, muss diePosition des Endomikroskops möglichst stabil sein.Dies wird durch leichte Saugung oder vorsichtigenDruck erreicht, so dass dann gleichzeitig mit demvideoendoskopischen Bild auch die endomikroskopi-schen Bilder ohne „Verwacklung“ auf einem separa-ten Bildschirm angezeigt werden können. Die endo-mikroskopische Untersuchung erfolgt immer gezieltund sollte wegen des beschränkten Gesichtsfeldes(500 x 500 μm) auf ausgewählte Schleimhautarealebeschränkt werden.

Anschließend erfolgt die Analyse der Gewe-beveränderung von oberflächlichen bis hin zu tiefenAbschnitten der Schleimhaut. Dazu sind profundeKenntnisse der Mikroarchitektur der Darmschleim-haut notwendig, so dass der Pathologe essentiellerPartner des Endoskopikers ist. Die horizontalen, opti-schen Schnitte durch die Schleimhaut können jedochnach einer gewissen Lernphase auch durch den En-doskopiker verlässlich interpretiert werden. Er kanndann während der Untersuchung gezielt eine Ge-webeprobe (Biopsie) entnehmen. Dies ist in manchenFällen notwendig, denn die Endomikroskopie erlaubtwegen der begrenzten Eindringtiefe sowie der teil-weise fehlenden Kerndarstellung noch nicht eine sofeine Beurteilung der Gewebeveränderung wie dieklassische Histologie im Labor. Die wichtige Differen-zierung zwischen bösartigem (neoplastischem) undnicht-neoplastischem Gewebe gelingt jedoch endo-mikroskopisch mit hoher Präzision (2, 3). Dadurchentstehen unmittelbar zwei Vorteile: Die Rate an ge-zielten Schleimhautbiopsien kann deutlich gesteigertund die Gesamtzahl der Biopsien gesenkt werden.Daneben kann nach endomikroskopischer Diagnostik

die unmittelbare endoskopische Therapie (Entfer-nung krankhaften Mukosagewebes) erfolgen und ge-zielt auf neoplastische Veränderungen begrenzt wer-den.

Dickdarmkrebs

Das diagnostische Spektrum der Endomikroskopieumfasst aktuell insbesondere die Überwachung undVorsorge des Dickdarmkrebses (kolorektales Karzi-nom). Außerdem wird die Methode zurzeit bei derDiagnostik des Barrett-Ösophagus (mögliche Krebs-vorstufe der Speiseröhre, die durch sauren Refluxausgelöst wird), der Helicobacter pylori-assoziiertenGastritis sowie des Magenfrühkarzinoms angewen-det. Zur Früherkennung eines kolorektalen Karzinomsist es wichtig, dass alle prämalignen Schleimhaut-veränderungen (Adenome) und Frühkarzinome wäh-rend der Videoendoskopie (hier Koloskopie genannt)sicher erkannt werden. Die konfokale Endomikros-kopie eröffnet dabei die Möglichkeit, aus der Viel-zahl an Schleimhautveränderungen diejenigen zuidentifizieren, welche ein malignes Potential in sichbergen. Das zeigt auch eine erste prospektive Studiezur Effektivität der Endomikroskopie bei der Krebs-vorsorge. Dabei wurden insgesamt 390 unterschied-liche Schleimhautareale bei 42 Patienten mit demneuen Laserendoskop untersucht. Die daraus resul-tierenden 1.320 konfokalen Bilder wurden sodannmit den histologischen Ergebnissen der gezieltenBiopsien verglichen. Es ergab sich eine große Über-einstimmung in der Beurteilung der fraglichenSchleimhautbereiche, so dass die Endomikroskopieals ausgezeichnetes Diagnoseverfahren mit hoherSensitivität (97,4 %), Spezifität (99,4 %) und Ge-nauigkeit (99,2 %) eingestuft werden konnte (1). Dieakkurate Dignitätsvorhersage wurde dabei vor allemdurch die gleichzeitig vorhandenen Bildeindrücke derMakroskopie (Videoendoskopie) und der Mikroskopie(Endomikroskopie) erreicht (Abb. 3).

Chronisch entzündliche Darmerkrankung

Aufgrund ihrer hervorragenden optischen Möglich-keiten sollte die Endomikroskopie auch bei anderenPatientengruppen eingesetzt werden, die ein erhöh-tes Darmkrebsrisiko aufweisen. Dies sind beispiels-weise Patienten mit Colitis ulcerosa (chronisch ent-zündliche Darmerkrankung), deren Darmkrebsrisikoin Abhängigkeit von der Dauer, der Ausdehnung so-wie der Aktivität der Erkrankung deutlich erhöht ist.Gerade Patienten mit lang bestehender Colitis ulce-rosa sollten also von dem neuen Verfahren profitie-ren. Dies bestätigt eine aktuelle Studie mit 153 Pro-banden, von denen die eine Hälfte nur per Video-endoskopie, die andere Hälfte in Kombination mit derEndomikroskopie untersucht wurde (4). Es ergab sichzwar eine um 15 Minuten verlängerte Untersu-chungszeit bei Verwendung der Endomikroskopie-technik, aber es konnten auch signifikant mehr

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Abb. 3: Kolorektale Adenome

A: Mittels Videoendoskopie werden Gewebeveränderungen im Dick-darm sichtbar.

B: In der Nahansicht lässt sich ein typisches tubuläres Oberflächen-muster erkennen.

C: Die Endomikroskopie zeigt die typische tubuläre Epithelarchitektur eines gutartigen Tumors.

D: Die Reduktion und irreguläre Form des Schleimstoffes (Mucin) in den Becherzellen sind indirekte Zeichen der Zellkernvermehrung.

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Abb. 4: Colitis-assoziierte Neoplasien

A: Erhabene Gewebeveränderung im Dickdarm.B: Nach Videoendoskopie können die Grenzen sowie die Oberflächenarchitektur

besser erkannt werden.C: Die Endomikroskopie zeigt eine tubulovillöse Gewebearchitektur.D: Die Epithelzellen weisen unterschiedliche Längen und Formen auf. Die gezielte

Biopsie bestätigte die Verdachtsdiagnose einer Krebserkrankung.

Krebsvorstufen entdeckt werden (19 versus 4). MitHilfe der Endomikroskopie war es zudem möglich,neoplastische Veränderungen innerhalb der Mukosamit einer Sensitivität 94,7 % und einer Spezifität von98,3% vorherzusagen. Dadurch konnten die Biopsiengezielt durchgeführt werden und deren Anzahlum den Faktor 10 signifikant gesenkt werden (vgl.Abb. 4). Die Studie unterstreicht damit die Wertigkeitneuer endoskopischer Verfahren bei der Früherken-nung von Colitis-assoziierten Krebsleiden.

Molekulare und funktionelle Bildgebung

Aktuell ermöglicht die Endomikroskopie im Men-schen die morphologische Darstellung der Mikroar-chitektur der Darmschleimhaut. Doch die Technik derEndomikroskopie ist nicht auf das Darmlumenbeschränkt. So stehen bereits miniaturisierte, starreSonden zur Verfügung, die die endomikroskopischeExploration und in-vivo Histologie aller Organsyste-me ermöglichen. Im Tiermodell können so verschie-dene Kontrastmittel erprobt werden, die eine selekti-ve Darstellung von Gewebebestandteilen eröffnen.Die optische Biopsie könnte für viele Fachbereicheneue diagnostische Optionen bieten. Darüber hinauswürde die Grundlagenforschung von einer in-vivoHistologie profitieren, weil die Tötung der Versuchs-tiere nicht mehr zwingend erforderlich wäre. Dernächste Meilenstein der Endomikroskopie wird balddie molekulare und funktionelle Bildgebung sein.Durch die Entwicklung selektiver Farbstoffe oder dieKombination von spezifischen Medikamenten mitFluoresceinketten wird es möglich, einzelne Zell-bestandteile zu identifizieren und/oder Stoffwechsel-prozesse einzelner Medikamente in-vivo zu beobach-ten.

Fazit

Die Endomikroskopie ist ein neues diagnostischesVerfahren der gastrointestinalen Endoskopie. Sie er-möglicht neben der etablierten Videoendoskopie diesimultane Mikroskopie der Darmschleimhaut. Da-durch wird die in-vivo Histologie möglich und nochwährend der laufenden Endoskopie kann auf demBoden von zellulären, bindegewebigen und vaskulä-ren Strukturen eine relativ verlässliche Diagnosedurch erfahrene Untersucher gestellt werden. Dies er-öffnet die Möglichkeit der unmittelbaren, zielgerich-teten endoskopischen Therapie oder Biopsieent-nahme von Krebsvorstufen des Gastrointestinal-trakts. Es ist anzunehmen, dass die neu gewonnenenoptischen Möglichkeiten der Endomikroskopie raschzu einer Akzeptanz und Etablierung dieser neuenMethode in der gastroenterologischen Endoskopieführen werden. Durch Markierung von Antikörpernoder Hormonen ist zudem zu erwarten, dass dieEndomikroskopie in Zukunft eine molekulare Bild-gebung während der laufenden Endoskopie ermög-licht. �

� Summary Endomicroscopy – a journey into the human body with a microscopeEndomicroscopy becomes possible due to the integration of a miniaturized confocal micro-scope in the distal tip of a conventional endoscope. Endomicroscopy enables subsurfaceanalysis of the gut mucosa and in vivo histology during ongoing endoscopy in full resolutionby point scanning laser fluorescence analysis. Cellular, vascular and connective structure canbe seen in detail. Graduation of cellular changes with endomicroscopy allows an immediatein-vivo diagnosis of different gastrointestinal diseases. The new detailed images seen withconfocal laser endomicroscopy are unequivocally the beginning of a new era where thisoptical development will allow a unique look on cellular structures and functions at andbelow the surface of the gut.

1) Kiesslich R, Burg J, Vieth M, Gnaendiger J, Enders M, Delaney P, Polglase A, McLaren W, Janell D,

Thomas S, Nafe B, Galle PR, Neurath MF. Confocal laser endoscopy for diagnosing intraepithelial

neoplasias and colorectal cancer in vivo. Gastroenterology. 2004; 127:706-13.

2) Kiesslich R, Neurath MF. Endoscopic confocal imaging. Clin Gastroenterol Hepatol. 2005 Jul;3 (7 Suppl 1):

S58-60.

3) Inoue H, Kudo S, Shiokawa A. Technology insight: Laser-scanning confocal microscopy and endocytoscopy

for cellular observation of the gastrointestinal tract. Nat Clin Pract Gastr 2005 Jan; 2 (1): 31-37.

4) Kiesslich R, Goetz M, Lammersdorf K, Schneider C, Burg J, Stolte M, Vieth M, Nafe B, Galle PR,

Neurath MF. Chromoscopy-guided endomicroscopy increases the diagnostic yield of intraepithelial

neoplasia in ulcerative colitis. Gastroenterology. 2007 Mar; 132(3):874-82.

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PD Dr. med.Ralf Kiesslich

Ralf Kiesslich studierte von1990 bis 1996 Humanme-dizin an der Johannes Gu-tenberg-Universität (JGU) inMainz. Promotion im De-zember 1996 an der JGU

und Beginn seiner Facharztausbildung zum Internis-ten und Gastroenterologen 1997 am St. HildegardisKrankenhaus Mainz. Seit 2000 an der I. Medizini-schen Klinik und Poliklinik der JGU und nach abge-schlossener Facharztreife (Innere Medizin, 2003; Gas-troenterologie, 2004) habilitierte Ralf Kiesslich sich2005 an der Uniklinik Mainz mit dem Thema „Chro-mo-, Magnifikations- und konfokale Laserendoskopiezur Früherkennung gastrointestinaler Tumore undderen Vorstufen“. 2007 wurde er auf die Pentax Stif-tungsprofessur (W2) für gastrointestinale Endoskopiean der JGU berufen. Ralf Kiesslich erhielt für seinewissenschaftlichen Arbeiten multiple Preise: 2001das Ludwig Demling Stipendium der Gesellschaft„Endoskopie des Internisten“. 2002 folgte der För-derpreis der Gastroenterologischen Arbeitsgemein-schaft Rheinland-Pfalz Saarland. Der Don WilsonAward der American Society of GastrointestinalEndoscopy eröffnete ihm 2003 einen Aufenthalt amMass General Hospital in Harvard. 2004 verlieh ihmdie Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- undStoffwechselerkrankungen den Martin Gülzow Preis.Aufgrund der international anerkannten Expertise imBereich neuer bildgebender Verfahren der gastroin-testinalen Endoskopie bahnte sich die strategischePartnerschaft mit der Johns Hopkins Universität inBaltimore, USA (2006), sowie mit der Prince of WalesUniversity Hongkong, China (2007) an. Ralf Kiesslichist seit 2004 verantwortlicher Oberarzt der interdis-ziplinären Endoskopie der I. Med. Klinik und Poliklinikder Johannes Gutenberg-Universität Mainz und seit2006 Leiter der Arbeitsgemeinschaft EndoskopischeForschung der Deutschen Gesellschaft für Verdau-ungs- und Stoffwechselerkrankungen (DGVS), sowieseit 2007 Beiratsmitglied der Sektion Endoskopie derDGVS.

Dr. med. Martin Götz

Martin Götz studierte von1992-1994 an der Universi-tät Heidelberg und von1994 -1998 an der Ludwig-Maximilians-UniversitätMünchen. Beginn der Fach-arztausbildung am Klini-

kum Großhadern der LMU München (bis 2000) undPromotion zum Dr. med. 2000. Seit 2000 Beschäfti-gung an der I. Med. Klinik und Poliklinik der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Facharzt für InnereMedizin seit 2005, Schwerpunktsbezeichnung Gas-troenterologie 2007. Forschungsschwerpunkt ist dieintravitale morphologische, funktionelle und moleku-lare Darstellung von Gewebeeigenschaften durch diekonfokale Mikroskopie, die endoskopisch und laparo-skopisch angewandt beim Menschen eine unmittel-bare hochauflösende Bildgebung in circa 1.000facherVergrößerung während der laufenden Untersuchungermöglicht. Arbeiten und Publikationen aus diesemForschungsschwerpunkt wurden mehrfach ausge-zeichnet, u.a. durch den Förderpreis „Klinische Gas-troenterologie“ der Gastroenterologischen Arbeits-gemeinschaft Rheinland-Pfalz Saarland (GARPS)2006, den Young Investigator’s Award Gastroentero-logie der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin(DGIM) 2007 und die Nominierung zur Rising StarInitiative der Deutschen und europäischen Gesell-schaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankun-gen (DGVS, ASNEMGE) 2008.

Univ.-Prof. Dr. med.Markus F. Neurath

Markus Friedrich Neurath,geboren am 11.10.1965,studierte von 1984 bis 1990Humanmedizin an der Phi-lipps-Universität Marburg.Im Jahr 1990 Promotion

zum Doktor der Humanmedizin an der JohannesGutenberg-Universität Mainz. Ab 1992 Tätigkeit alswissenschaftlicher Assistent an der I. MedizinischenKlinik und Poliklinik der Johannes Gutenberg-

� Kontakt

PD Dr. med. Ralf KiesslichI. Med. Klinik und PoliklinikJohannes Gutenberg-Universität MainzLangenbeckstr. 1D-55131 MainzTel. +49 (0)6131-17 72 99Fax +49 (0)6131-17 55 52Email: [email protected]

Universität Mainz. Von 1992 bis 1995 DFG-Ausbil-dungsstipendium bei Prof. Dr. Warren Strober in derMucosal Immunology Section am National Instituteof Health, Bethesda, USA. Von 1995 bis 1997 Wis-senschaftlicher Assistent an der I. Medizinischen Kli-nik und Poliklinik der Johannes Gutenberg-Univer-sität Mainz. 1997 Facharzt für Innere Medizin.04/1998 Abschluss des Habilitationsverfahrens. 1998Prüfung zur Zusatzbezeichnung „Schwerpunkt Gas-troenterologie“. Siebenmonatige Tätigkeit als visitingprofessor an der Klinik für Gastroenterologie amBrigham and Women´s Hospital und der HarvardMedical School in Boston, USA; gefördert durch einStipendium der Fullbright Society für advanced scien-tists. 05/2001 Annahme einer Berufung auf eineC3-Professur für Molekulare Gastroenterologie ander I. Medizinischen Klinik und Poliklinik der Univer-sität Mainz. Tätigkeit als Oberarzt (Notaufnahme,Transplantationsstation) und Leiter der Crohn-/Colitis-Sprechstunde an der I. Medizinischen Klinik.Seit 4/2003 Leiter der Abteilung für Endoskopie ander I. Medizinischen Klinik. 10/2003 KontaktstudiumGesundheitsökonomie. Seit 04/2004 Sprecher desneuen, von der DFG geförderten Graduiertenkollegs„Antigenspezifische Immuntherapie“ an der Johan-nes Gutenberg-Universität Mainz. 2007 Ernennungzum W3 Professor.

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SPRACHWISSENSCHAFT

53FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Von Erika Worbs

„Neue Zeiten – neue Wörter – neue Wörterbücher“

Wörterbücher reflektieren eine veränderte Welt,vor allem dann, wenn es sich um Wörterbücherhandelt, die ausschließlich Neologismen, das heißtneu entstandene Wörter und Redewendungen ent-halten.

„Neue Zeiten – neue Wörter – neue Wörterbücher“,das war der Titel eines internationalen lexikografi-schen Symposiums, das der Arbeitsbereich Polnischim Institut für Slavistik des FB 06 Ende des Jahres2005 in Germersheim veranstaltete (Abb. 1). An derTagung nahmen Experten der Neologismenforschungsowie Autoren von jüngst erschienenen Neologis-men-Wörterbüchern des Deutschen, Russischen undTschechischen teil. Der Tagungsband wird demnächsterscheinen. Den unmittelbaren Anlass gab ein ge-meinsames Forschungsprojekt der Partneruniversitä-ten Mainz und Warschau, das Germersheimer undWarschauer Polonisten unter der Leitung von Prof. Dr.Erika Worbs und Prof. Dr. Andrzej Markowski verant-worteten und das zum Zeitpunkt der Konferenz kurzvor dem Abschluss stand: ein Wörterbuch der Neo-logismen, das den neuen polnischen Wortschatz nach1989 mit Blick auf das Deutsche registriert und doku-mentiert. Zum deutsch-polnischen Projektteam ge-hörten weiterhin Mitarbeiter und Studierende derGermersheimer Polonistik sowie des Instituts fürPolnische Sprache der Universität Warschau. Kon-ferenz und Wörterbuchprojekt wurden von derDeutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), demDeutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD),dem polnischen Komitee für Wissenschaftliche For-schung (KBN) sowie durch das Partnerschaftspro-gramm der Johannes Gutenberg-Universität Mainzgefördert. Unter dem Titel „Polnisch-deutsches Wör-terbuch der Neologismen. Neuer polnischer Wort-schatz nach 1989“ ist es gerade rechtzeitig zurFrankfurter Buchmesse 2007 auf den Markt gekom-men (Abb. 2).

Die politisch-gesellschaftliche Entwicklungnach dem Kollaps des kommunistischen Systems inMittel- und Osteuropa, aber auch die Globalisierung,haben den Sprachen des ehemaligen Ostblocks deut-lich ihren Stempel aufgedrückt. Am schnellsten undauffälligsten reagiert der Wortschatz dabei stets aufVeränderungen der außersprachlichen Wirklichkeit.Die Wörterbücher geben allerdings oft erst mit einemgewissen zeitlichen Abstand Auskunft über neueWörter und Wendungen. Spezielle Wörterbücher, dieausschließlich neue Wörter und Wendungen, sogenannte Neologismen, dokumentieren, gab es bis

vor kurzem weder für das Deutschenoch für das Polnische. UnserProjekt ist daher auch für die polni-sche Wörterbuchschreibung ein No-vum. Das erste deutsche Neologis-menwörterbuch im engeren Sinneist im Jahr 2004 unter dem Titel„Neuer Wortschatz. Neologismender 90er Jahre im Deutschen“ er-schienen und umfasst zirka 900neue Wörter.

Unsere Zielstellung war zu-nächst pragmatisch: Wir wollten denneuesten polnischen Wortschatzlexikografisch erschließen und damitdie Lücke zu den vorliegenden zwei-sprachigen Wörterbüchern ausfül-len. An einem Fachbereich, an demÜbersetzen gelehrt wird, gehörenWörterbücher zu den obligatori-schen Recherchemitteln. Darüberhinaus lassen sich am neuen Wort-schatz, linguistisch gesehen, die ak-tuellen Quellen und Mechanismender Wortbildung und deren Dynamik sowie dersprachlichen Konzeptualisierung erkennen. Durchden bilingualen Charakter des Wörterbuchs bietetsich zugleich eine kontrastive Perspektive, die Paral-lelen und Divergenzen in beiden Sprachen aufdecktund das Wechselspiel zwischen Internationalisierungund heimischer Sprachentwicklung, zwischen Frem-dem und Eigenem unter dem Einfluss der Globalisie-rung beleuchtet. Und schließlich ist ein Wörterbuchder Neologismen kein trockenes Register neuer Wör-ter mit bestimmten Suffixen und Präfixen, sondernmit seinen reichhaltigen Zitatbelegen zugleich einanschauliches Lesebuch zur Zeitgeschichte, Kulturund Mentalität der Sprachträger. So treten auch Ste-reotype und Vorurteile im deutsch-polnischen Ver-hältnis plastisch hervor. Die Lektüre ist besondersinteressant und ergiebig in Zeiten des Umbruchs, wiesie unser Wörterbuch umspannt.

Dem polnisch-deutschen Wörterbuch liegt eineweite Neologismus-Auffassung zugrunde: Erfasstwerden die im Zeitraum der letzten 15 bis 20 Jahreim Polnischen neu aufgekommenen heimischen wieentlehnten Wörter, Wortbedeutungen, festen Wort-gruppen und Phraseologismen. Sie müssen in Ab-grenzung von okkasionellen Neubildungen bereitsüberindividuelle Geltung erlangt und in die Allge-

Abb. 1: Konferenzplakat zurAnkündigung des Symposiums im Dezember 2005.

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meinsprache Eingang gefunden haben bzw. tenden-ziell auf dem Weg dorthin sein. Das größte Problemwar dabei, wie man den Zeitpunkt des Aufkommenseines Wortes bestimmen kann. Woher weiß man, obein gefundener datierter Beleg, zum Beispiel in einemWörterbuch, die tatsächliche Entstehungszeit doku-mentiert? Und wann tritt der Zeitpunkt ein, wo einneu aufgekommenes Wort, ein Okkasionalismus, zumAllgemeingut, zum Neologismus, wird? Schließlich –wann verliert ein neues Wort seinen Neuheits-charakter, wird zur „normalen“ lexikalischen Ein-heit? Wenn ein Wort zum ersten Mal in einem allge-meinen Wörterbuch auftaucht, sprechen einige Au-toren von so genannten lexikografischen oderWörterbuch-Neologismen; für andere hört in diesemMoment der Neologismus auf, ein Neologismus zusein. In diesem Sinne wären etwa deutsche Wörterwie probiotisch, kultig und Cybersex, die nachweis-lich in den neunziger Jahren in Gebrauch kamen undbereits im großen Dudenwörterbuch erfasst sind,keine Neologismen mehr. Nach unserer Auffassungbehält ein neues Wort, auch wenn es in einem allge-meinen Wörterbuch bereits verzeichnet ist, noch füreine Weile seinen Neuheitswert.

Mit derartigen Einordnungsproblemen warendie Autoren in ihrer Arbeit allenthalben konfrontiert.Insgesamt wurde durch ein aufwändiges Auswahl-verfahren – Quellen waren neue Wörterbücher,Frequenzlisten, elektronische Korpora, Pressetexteund das Internet – ein Korpus von etwa 3.500 neuenWörtern, Wortbedeutungen und Wortgruppengeschaffen, das unserem zeitlichen Kriterium weitge-hend entsprach. Das Material unseres Wörterbuchs

gibt vielfältige Auskünfte über die Veränderungen inder Lexik, das heißt im Wortschatz beider Sprachen.Es bestätigt sich, dass sich der Wortschatzzuwachsvor allem im substantivischen Bereich abspielt. Dasüberrascht nicht, denn der Hauptgrund für die Ent-stehung neuer Wörter ist die Schließung von Benen-nungslücken; sehr oft wird dabei zusammen mit derSache auch die neue Benennung übernommen, meistaus dem Englischen; Beispiele sind body, catering,curling, label, outsourcing, news, update oder auchsitcom (Abb. 3). Die Mechanismen zur Bildung neuerWörter mit eigensprachlichen Mitteln sind dennochweiterhin wirksam und es scheint, als würde sich im

Polnischen öfter als im Deutschen die heimischeWortbildung gegenüber dem Fremdwort behaupten,wie die folgenden Beispiele zeigen: ‚Software’ ist imallgemeinen Sprachgebrauch oprogramowanie, nurunter Spezialisten funktioniert software. Digitalnyfindet man im Polnischen äußerst selten, es wird inden meisten Verbindungen durch das heimischecyfrowy ‚Ziffer-’ ersetzt, also heißt es technika cyfro-wa – ‚Digitaltechnik’, cyfryzacja und digitalizacja –‚Digitalisierung’ bestehen nebeneinander. Anderer-seits ist das deutsche Wort ‚Wegfahrsperre’ imPolnischen immobilizer und das polnische grant stehtfür das deutsche ‚Stipendium’.

Der neue Wortschatz spiegelt zugleich die ge-sellschaftlich-soziale Situation Polens nach 1989wider. Und hier gibt es viel Kreativität bei der Ver-sprachlichung von Konzepten, die den Übersetzer –auch der Lexikograf ist schließlich in der Position desÜbersetzers – in Bedrängnis bringen. Lexik, die eineunterschiedliche Akzentsetzung der Sprachträger beider Wahrnehmung der Wirklichkeit offenlegt oderunterschiedliche Phänomene benennt, gibt wenigHoffnung auf das Vorhandensein einer lexikalisiertenEntsprechung in der jeweils anderen Sprache. Mankann in diesen Fällen nur die Bedeutung sehr aus-führlich beschreiben und so dem Übersetzer eineHilfestellung bei der Suche nach kontextuellenLösungen geben, vgl. blokers (von ‚Block’) –„Jugendlicher aus den Plattenbau-Wohnsiedlungen,der sich von der Gesellschaft nicht angenommenfühlt und deshalb, oft im Verband einer Gang, zu Ge-walthandlungen neigt“, oder dresiarz (wörtlich‚Dressträger’) – „Vertreter einer aggressiven polni-schen Jugend-Subkultur, oft aus sozial schwachemMilieu, äußerlich erkennbar am Outfit: Trainingsdress,Muskelshirt, Goldkettchen u. Ä“. Für das Deutschesind in Abhängigkeit vom Kontext mehrere Entspre-chungen denkbar, wie Rowdy, Proll, Assi, Prolet, diejedoch alle im Unterschied zu dresiarz deutliche sti-listische Unterschiede zeigen.

Neue Wörter schließen aber nicht nur Benen-nungslücken, sie bedienen auch als Zweitbenennun-gen die expressive Funktion der Sprache. Vor allemdie Jugendsprache ist bekanntlich sehr schöpferisch,wenn es um die Erneuerung von Wörtern geht, derenExpressivität sich im alltäglichen Gebrauch abge-nutzt bzw. verschlissen hat. Im Zuge der Demokrati-sierung der Sprache gelangen diese Neubildungenaus Soziolekten, aus dem Substandard und anderenVarietäten in die Allgemeinsprache. Die deutschenAdjektive super, spitze(nmäßig), abgefahren, abge-dreht, fett, cool, hammermäßig, (super)geil, krass (woes früher klasse, prima, dufte usw. hieß) dokumentie-ren diesen Erneuerungsmechanismus anschaulich. ImPolnischen finden wir czadowy, czaderski, cool, odlo-towy, odjechany, odjazdowy, jazzy, aus demSubstandard zajebisty. Hier gibt es in beidenSprachen sehr viele heimische Bildungen, offensicht-

Abb. 3: Beispiel einesNeologismus aus demneuen Wörterbuch.

Abb. 2: Umschlag des Wörterbuchs

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lich ist die Umgangssprache generell nicht so anfälligfür die Aufnahme fremder Wörter, im „familiären“Bereich, im Wohnzimmer der Sprache, geht es eherintim zu, da finden Außenstehende nicht so leichtZugang. Zwar gibt es in beiden Sprachen auch cool,trendy, im Polnischen jazzy, im Deutschen hip, hype,abgespaced, dem steht jedoch eine noch größereZahl heimischer Bildungen gegenüber.

Und schließlich fällt noch der Bereich der„politischen Wortbildung“ ins Auge, Wörter undWendungen also, die den politischen Alltag Polensnach 1989 reflektieren. So zum Beispiel das aufden legendären Präsidenten Walesa zurückgehendewalesizm. Insbesondere die Zeit nach 2005, als dieBrüder Kaczynski den Beginn der so genannten IV.Republik verkündeten, hat einen Schub an politi-schen Neubildungen ausgelöst. So ist ein ganzesWortnest um den Namen des Bauernführers Lepperwie lepperowac, lepperysta, lepperiada usw. entstan-den, denen jedoch kein allzu langes Leben beschie-den sein wird. Eine bereits idiomatische Wortverbin-dung, die über die Presse auch in der deutschenÖffentlichkeit Karriere gemacht hat, ist moheroweberety, wörtl. „Mohairmützen“ als sinnbildlicheBenennung für die Hörer- und Anhängerschaft desnational-katholischen Senders Radio Maryja inAnspielung auf die meist älteren und meist weibli-chen Besucher der Gottesdienste, die oft ausMohairwolle gestrickte Mützen tragen; dann auchals Synonym für die national-konservative Wähler-schaft der Partei „Recht und Gerechtigkeit“. Undkaum ist die Partei der Brüder Kaczynski abgewähltworden, spricht man schon von dekaczyzacja‚Dekaczysierung’.

Diese ersten Beobachtungen an Hand desWörterbuchs geben eine Vorstellung von den vielfäl-tigen Möglichkeiten der Interpretation des Materials.Wie geht es nun weiter? Ein Neologismen-Wörter-buch hat ein höheres Verfallsrisiko als ein allgemei-nes Wörterbuch, und in fünf bis zehn Jahren wird sichzeigen, welche der aufgenommenen neuen Wörterder letzten Jahre sich tatsächlich behauptet haben.Neue Wörter entstehen laufend. Ein Neologismen-Wörterbuch ist durch den ständigen Wandel ein Mus-terbeispiel für einen sinnvollen Einsatz als Online-Wörterbuch, ermöglicht diese Publikationsform docheine permanente Aktualisierung durch Neuaufnah-men und Aussonderung überholter Stichwörter. Ineinem Online-Wörterbuch können die Daten zudemadressatengerecht abgerufen werden. Nach einer ge-wissen Phase der geistigen Erschöpfung nach Ab-schluss des Manuskripts – die Germersheimer Polo-nistik ist ein kleiner Arbeitsbereich mit vielenAufgaben – hat uns das Erscheinen des Buches neumotiviert. Warschauer wie Germersheimer Mitar-beiterInnen sind überzeugt, dass wir diesen Weg zumOnline-Wörterbuch weiter verfolgen sollten, eineDissertation dazu ist in Arbeit.

Doch zunächst hat ein weiteres polonistischesProjekt Priorität: Unter der Schirmherrschaft desDeutschen Polen-Instituts Darmstadt entsteht gegen-wärtig ein Lehrwerk „Polnisch als dritte Fremdspra-che“ für deutsche Gymnasien, zu dem zwei Lehr-bücher, zwei Übungshefte, eine Grammatik sowieCD’s gehören und dessen Herausgeberin Prof. ErikaWorbs ist. Darin eingebunden sind wiederum studen-tische Arbeiten. Es zeigt sich immer wieder, dass dieStudierenden sich für die Forschung begeistern las-sen, wenn man ihnen dazu Gelegenheit gibt. Mit die-sem Lehrwerk sollen die Grundlagen dafür geschaf-fen werden, dass deutsche Schüler ohne Vorkennt-nisse die polnische Sprache „von der Pike“ auf in derSchule lernen können und zugleich an die Kultur undGeschichte Polens herangeführt werden. DieRahmenlehrpläne streben die Niveaustufe B 2 bzw.in Teilen C 1 des Europäischen Referenzrahmens an.Das Projekt ist auch für die Universität relevant: ImAugenblick klafft bei den Eingangsvoraussetzungenfür ein Polnisch-Studium eine große Lücke. Das ge-forderte Niveau B 1 erschwert deutschen Mutter-sprachlern von vornherein den Zugang, weil es bis-lang kaum Möglichkeiten gibt, die entsprechendenSprachkenntnisse bereits in der Schule zu erwerben.Dies soll sich in naher Zukunft ändern, denn 2009 solldas Lehrwerk eingeführt werden. Es hat zugleich einepolitische Dimension: Sowohl Deutschland als auchPolen haben es sich vertraglich zur Aufgabe gemacht,die Stellung ihrer Sprache im jeweils anderen Land zustärken. Dazu leistet die Germersheimer Polonistikihren Beitrag. �

� Summary The political and social changes in Poland since 1989have brought an enormous increase in new vocabu-lary in the past two decades. A systematic collectionand description of these new words and phrases ina special dictionary offers new insights into the rela-tionship between the national and internationaldevelopment of language, between native andforeign language. This dictionary of Polish neologism,edited by the department of Polish language andtranslation at the Germersheim Faculty of theUniversity of Mainz, is the first bilingual Polish-German dictionary of neologisms which also showsthe influence of globalization on the development ofboth neighbouring European languages.

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Univ.-Prof. Dr.Erika Worbs

Erika Worbs studierte dieFächer Russisch und Pol-nisch in der StudienrichtungDiplom-Übersetzer und Dol-metscher an der Humboldt-Universität zu Berlin, sowie

polnische Philologie in Poznan und Warschau. Bis1993 arbeitete sie an der Humboldt-Universität,1993 folgte sie dem Ruf an die Johannes Gutenberg-Universität auf eine Professur für Polnische Spracheund Kultur am Fachbereich Angewandte Sprach- undKulturwissenschaft in Germersheim. Ihre For-schungsschwerpunkte sind die Entwicklungstenden-zen der modernen polnischen Sprache, polnisch-deutscher Sprachvergleich, Phraseologie und Lexiko-grafie sowie die deutsch-polnischen Beziehungen.

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Erika WorbsJohannes Gutenberg-Universität MainzFB Angewandte Sprach- und KulturwissenschaftInstitut für Slavistik, Arbeitsbereich PolnischAn der Hochschule 2D-76726 GermersheimTel. +49 (0)7274-508 35 370Fax +49 (0)7274-508 35 463Email: [email protected]/inst/is/home-dt.html

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Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zu Wahr-nehmungen und Deutungen von deutschen unditalienischen Soldaten verspricht ganz neue, per-sönliche Einsichten in das menschenverachtendeSystem der Nationalsozialisten.

Kaum ein Feld der Zeitgeschichte ist so gut erforschtwie das „Dritte Reich“ und zugleich wird über kaumein historisches Thema in der Wissenschaft wie in derÖffentlichkeit so sehr gestritten. UnterschiedlicheDeutungen prallen immer dann besonders heftig auf-einander, wenn provokante Thesen zum Verhältnis„der“ Deutschen zum Nationalsozialismus aufge-stellt werden. Kurz, wenn nicht Einzelne, sondernweite Teile der deutschen Gesellschaft auf ihre NS-Vergangenheit hin durchleuchtet werden. Die De-batten um die Ausstellung „Verbrechen der Wehr-macht“ des Hamburger Instituts für Sozialforschungwaren deswegen so kontrovers, weil praktisch jededeutsche Familie Angehörige in der Wehrmachthatte. War also auch „Opa“ ein Verbrecher? DieseFrage mussten sich zahllose Kinder und Enkel derZeitzeugengeneration stellen. Die Debatte um dieWehrmachtausstellung zeigt, wie wenig die bisheri-gen Forschungsergebnisse der Historiker bis dahin indas öffentliche Bewusstsein eingedrungen warenund wie viel weiße Flecken es noch gab. Und nochimmer gibt es große Bereiche, über die nur wenigbekannt ist: Etwa, wie der Weg in den Krieg, dessenVerlauf und die Verbrechen von den Soldaten selbstwahrgenommen wurden. Dies mag überraschen. Gibtes denn nicht eine schier unüberschaubare Masse anDokumenten, Briefen und Tagebüchern, die zu Ge-nüge darüber Auskunft geben, wie die deutschenSoldaten – und damit ein Großteil der männlichenBevölkerung – das „Dritte Reich“ und den Krieg rezi-pierten? Ist die Materialfülle auf den ersten Blickauch erdrückend, so wird auf den zweiten Blick deut-lich, dass die Aussagekraft vieler Quellen begrenztist: Offizielle Dokumente sagen aufgrund ihres Ent-stehungscharakters meist wenig über die individuel-le Perspektive aus. Private Tagebücher sind der For-schung nur in seltenen Fällen zugänglich und wurdenmeist nur von solchen Personen verfasst, die über ei-nen höheren Bildungsgrad verfügten. Feldpostbriefeliegen zwar in sehr großer Zahl vor, sie eignen sichaber nur teilweise dazu, zeitgenössische Deutungenihrer Autoren wiederzugeben. Die Forschung fand inden 1990er Jahren nämlich heraus, dass die meistenSoldaten,nicht zuletzt aus Rücksicht auf ihre Familien,in ihren Briefen eine Gegenwelt schufen, in der etwader grausame Alltag des Krieges kaum vorkam.

Die mentalitätshistorische Forschung hat somitdas Problem, hinreichend dichtes Quellenmaterialüber zeitgenössische Wahrnehmungen von Krieg undPolitik zu erschließen. Sozialpsychologisch betrachtetsind aber gerade diese zeitgenössischen Wahrneh-mungen von entscheidender Bedeutung dafür, wel-che Entscheidungen Handelnde vornehmen. Die Tat-sache, dass Situationen und Gegebenheiten immergedeutet werden und erst diese Deutungen dieGrundlage für Schlussfolgerungen und Entscheidun-gen und damit auch für Handlungsergebnisse bildenhat etwa in der Holocaustforschung zu der lähmen-den Konfrontation zwischen so genannten „Intentio-nalisten“ und „Strukturalisten“ geführt – antagonis-tische wissenschaftliche Lager, die den Holocaustentweder auf Absichten oder auf strukturelle Ent-wicklungen zurückführen wollten. Handlungstheo-retisch ist der Versuch, Handlungsergebnisse auf sin-guläre Ursachen zurückzuführen, genauso sinnloswie die Absicht, Handlungsbereitschaften etwa vonHolocausttätern auf Persönlichkeitsmerkmale zurück-zuführen. Untersuchungen, die versuchen, die Ur-sachen für Entscheidungs- und Handlungsweiseneher in der Situation als in der Persönlichkeit zu loka-lisieren (vgl. 1-5), sind einstweilen noch selten undnach wie vor mit dem bereits skizzierten Quellen-problem konfrontiert. Die bestehenden Forschungs-defizite treten umso deutlicher zutage, als einschlägi-ge historische Untersuchungen etwa zur Mentalitätvon Tätergruppen kaum auf psychologische bzw.sozialpsychologische Ansätze zurückgreifen, undwenn sie das tun, meist psychoanalytische Theoremeheranziehen (6). Dies ist wenig zielführend, weildiese persönlichkeitstheoretisch und dispositionellorientiert sind und deshalb Konstitutions- undVeränderungslogiken von Gruppeneinstellungen und–mentalitäten nicht erfassen können.

GESCHICHTE

Von Sönke Neitzel

Lauschangriff im Lager – neue Quellen zum Referenzrahmen des Krieges

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Gefangene deutsche Offiziere inder Idylle des Herrensitzes vonTrent Park im November 1943.Sie ahnten nicht, dass der britischeGeheimdienst ihre Gesprächebelauschte.

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Der Verfasser stieß 2001 in den britischenNational Archives in London auf umfangreiche Ak-tenbestände des Combined Services DetailedInterrogation Centre (CSDIC). Dieser faszinierendeQuellenbestand stellt die Forschung zur Mentalitätsowohl der Wehrmacht als auch der italienischenArmee auf eine neue Grundlage. Die im September1939 gegründete Organisation hatte die Aufgabe, füralle drei Teilstreitkräfte (Luftwaffe, Heer, Marine) In-formationen von feindlichen Kriegsgefangenen zusammeln. Diese kamen zunächst in Durchgangslager,wo einige Tausend Männer vom einfachen Soldatenbis zum General zum weiteren Verhör ausgewähltwurden. Diese schickte man in das nördlich von Lon-don gelegene Speziallager Trent Park, und ab August1942 aufgrund der steigenden Gefangenenzahlenauch in die Lager Latimer House und Wilton Park,ebenfalls in der Nähe von London. Weitere Abhör-

lager entstanden in Kairo,in Malta, 1944 auch inItalien und Frankreich. Hierwurden die Gefangenennicht nur ausführlich be-fragt, sondern ihre Ge-spräche, die sie in denAufenthaltsräumen undmit den Zellenkameradenführten, auch systematischabgehört. Mit allerlei Tricksversuchte das CSDIC, dasmilitärische Wissen der Ge-fangenen anzuzapfen. ZurLenkung der Gesprächesetzte man Exilanten und

kooperationsbereite Gefangene als Spitzel ein. Wei-terhin legte man Gefangene etwa gleichen Dienst-ranges, aber unterschiedlicher Einheiten und Waf-fengattungen zusammen. Die Methode erwies sichals überaus effektiv: So erzählten U-Boot-Fahrer Sol-daten des Heeres in aller Ausführlichkeit ihre Erleb-nisse, Waffen-SS-Männer diskutierten mit Heeressol-daten über den Krieg im Osten und im Westen. DieSoldaten kamen bereits wenige Tage nach ihrer Ge-fangennahme in die Speziallager und standen dortnoch unter dem unmittelbaren Eindruck der oft dra-matischen Umstände ihrer Gefangennahme. Aus die-sen Erlebnissen resultierte vielfach ein besondersstarkes Mitteilungsbedürfnis. Schließlich waren dieMänner oft nur knapp dem Tod entronnen.

Die Gesprächsprotokolle dokumentieren, wieungezwungen sich die deutschen und italienischenSoldaten miteinander unterhielten und dass sieoffenbar nicht damit rechneten, abgehört zu werden.Die Sichtung des Materials zeigt, dass militärischeGeheimnisse in den Gesprächen ebenso unbedenk-lich preisgegeben wurden, wie die eigene Beteiligungan Kriegsverbrechen. Tagebücher von Gefangenenbelegen einmal mehr, dass diese vollkommenahnungslos waren. Nur in einem Fall lässt sich nach-

weisen, dass die versteckten Mikrofone entdecktwurden. Natürlich kann man nicht für jeden der über10.000 deutschen und italienischen Gefangenen denNachweis erbringen, dass er nicht mit einem Lausch-angriff rechnete. Die Quellen zeigen aber, dass sichdiejenigen, die sich mit ihren Kameraden austau-schen wollten, dies ohne besondere Rücksichtentaten (7).

Die mitgehörten Gespräche wurden in Wort-protokollen dokumentiert und liegen in der Original-sprache und einer englischen Übersetzung vor. Ins-gesamt sind allein in den Lagern in Großbritannien16.960 Abhörprotokolle von 10.195 deutschen und1.943 Abhörprotokolle von 563 italienischen Gefan-genen erstellt worden. Hinzu kommen einige hundertGefangene, die in den Lagern in Ägypten, Malta,Italien und Frankreich belauscht worden sind. DerQuellenbestand umfasst rund 53.000 Seiten. Der Ver-fasser stellte ihn 2004 erstmals vor (8), 2005 folgteeine Auswahledition von 189 Abhörprotokollen deut-scher Generäle, die ein außerordentlich positivesEcho hatte (9) und den außerordentlichen Quellen-wert publik machte. Die Erschließung, Auswertungund Interpretation des Gesamtbestandes konnte da-durch naturgemäß noch nicht geleistet werden.

Dies ist nun die Aufgabe eines interdisziplinä-ren und internationalen Forschungsprojekts, das dieGerda-Henkel-Stiftung mit 210.000,- Euro fördert.Der Essener Sozialpsychologe Professor HaraldWelzer und der Verfasser leiten in Verbindung mitdem Deutschen Historischen Institut in Rom und inKooperation mit dem Institut für Zeitgeschichte inMünchen eine Arbeitsgruppe, die mit dem Sozialpsy-chologen Dr. Christian Gudehus, dem italienischenZeithistoriker Dr. Amedeo Osti Guerrazzi und demMainzer Doktoranden Sebastian Groß bislang dreiMitarbeiter hat. Im Verlauf des nächsten Jahres wer-den vier Mainzer Magisterkandidaten und -kandida-tinnen hinzu stoßen und ihre Abschlussarbeit in die-ser internationalen Arbeitsgruppe verfassen.

Ziel ist es, das Kriegserlebnis, die Sinnkonstruk-tionen der Soldaten, die Erfahrungen des Todes, dieWahrnehmung der Binnenstruktur der Armee, dieDeutung von Verbrechen, das Verhältnis zur Staats-ideologie sowie Wahrnehmung des Gegners und derVerbündeten im deutsch-italienischen Vergleich zuanalysieren und so die Grundlage für eine Mentali-tätsgeschichte der deutschen und der italienischenWehrmacht zu schaffen. Sozialpsychologie und Ge-schichtswissenschaft ergänzen sich dabei geradezuideal. Die historische Analyse erschließt für die So-zialpsychologie einen Fundus reichhaltigen und be-sonders wertvollen Materials – eine einzigartigeGrundlage, um Wahrnehmungen und Deutungen inder Extremsituation des Krieges und in totalitärenpolitischen Systemen zu untersuchen. Gleichzeitigwird die militärisch-politische Lage zum Zeitpunkt

GESCHICHTE

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1943 zeichnete Leutnant KlausHubbuch das Lager Trent Park.

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der Gefangennahme historisch analy-siert sowie der Kontext von Kriegs-verbrechen, Kriegsverlauf und Bin-nenstrukturen der Wehrmacht mit denAussagen in den Abhörprotokollen inVerbindung gebracht. Die Sozialpsy-chologie wiederum liefert der Ge-schichtswissenschaft durch ihre quan-titativen und qualitativen Analyse-verfahren neue Erkenntnisse über dieWirkungsmächtigkeit nationalsozia-listischer, faschistischer und propa-gandistisch vermittelter Denkmusterinnerhalb der deutschen und italieni-schen Wehrmacht.

Methodisch wird ein Verfahrender Referenzrahmenanalyse weiter-entwickelt, das bisher nur heuristisch(10) bzw. exemplarisch (5) angewandtworden ist. Das Verfahren der Refe-renzrahmenanalyse geht davon aus,dass Menschen ihre Entscheidungenvor dem Hintergrund komplexer An-nahmen treffen, von denen nur dergeringere Teil die Ebene der bewuss-ten Reflexion erreicht – ein Ansatz,den die Psychologie mit der Sozial-psychologie, aber auch mit der kogni-tiven Neurowissenschaft teilt. AndereBezugspunkte für Wahrnehmungen,Deutungen und Entscheidungen sindselbstverständlich vorausgesetzteHintergrundannahmen („das ist so“,„das macht man so“ etc.), sozialisier-te Haltungen und Habitusformen,situativ gebildete Anforderungen, dasHandeln der Anderen, dezidierte Be-fehle und anderes mehr. Die Deutungvon Kriegshandlungen und die Be-gründung eigener Entscheidungen istalso in viel geringerem Maße durcheinfache Befehl-Gehorsam-Ketten de-terminiert, als durch mehr oder min-der weite Entscheidungsräume, dievon den Akteuren je nach Hierarchie-position ausgedeutet und erschlossenwerden. Hinzu kommt abstrakteresGedankengut wie rassistische Konzepte, Vorstellun-gen vom Krieg etc. Solche Faktoren bilden in abge-stufter Konkretion den Referenzrahmen für dieSituationswahrnehmung, die Schlussfolgerungen unddie Entscheidungen eines einzelnen Akteurs. Es istevident, dass die Abhörprotokolle eine ausgezeichne-te Datenbasis für die Rekonstruktion von individuel-len und gruppenspezifischen Referenzrahmen derKriegswahrnehmung und -erfahrung darstellen.

Am Ende des auf drei Jahre angelegten Pro-jektes wird es neue Antworten auf die Frage geben,

weshalb große Teile der deutschen Bevölkerung bisKriegsende bereit waren, einem menschenverachten-den System zu folgen und sich diesem als Werk-zeuge zur Verfügung zu stellen. Weiterhin wird manwesentlich mehr über darüber wissen, wie faschis-tisch die italienische Armee eigentlich gewesen ist.Somit wird die Debatte über das Verhältnis derDeutschen und Italiener zu Nationalsozialismus undFaschismus wesentliche Impulse erhalten. �

GESCHICHTE

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Abhörprotokoll aus dem Lager Trent Park.

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� Summary The research project reconstructs how members ofthe German and the Italian Army perceived and inter-preted contemporary situations during WW II byusing a so far unknown source: tapped conversationsbetween Axis Prisoners of War in British captivity,recorded between 1939 and 1945. These mostrevealing sources of about 53,000 pages will beexamined with the interdisciplinary frame-of-reference analysis, which was developed for the

� Kontakt

Prof. Dr. Sönke NeitzelJohannes Gutenberg-Universität MainzHistorisches Seminar Abt. IVJakob-Welder-Weg 18D-55128 MainzTel. +49(0)6131-39 22 776Fax +49(0)6131-39 25 480Email: [email protected]

Literatur

1) Raul Hilberg. Die Vernichtung der europäischen Juden. Frankfurt/M. 1988.

2) Christopher Browning. Ganz normale Männer: das Reserve-Polizei-Bataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, Reinbek 1993.

3) James Waller. Becoming evil. How ordinary people commit genocide and mass killing. Oxford 2002.

4) Harald Welzer. Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem Holocaust. Tübingen 1997.

5) Harald Welzer. Täter. Wie ganz normale Menschen zu Massenmördern werden, Frankfurt 2005.

6) Christian Gerlach (Hrg.). Durchschnittstäter. Handeln und Motivation“, Berlin 2000.

7) Sönke Neitzel. Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945. Berlin 2006, S. 21-24.

8) Sönke Neitzel. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942-1945. Eine Auswahledition der Abhörprotokolle des

Combined Services Detailed Interrogation Centre (UK), in: VfZG 52 (2004) 2, S. 289-348.

9) Rezensionen erschienen u.a. in: Spiegel, Spiegel-online, Zeit, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Welt, Welt am Sonntag, Bild, Aspekte,

sehepunkte. Übersetzungen in englischer Sprache: Tappinig Hitlers Generals, London 2007.

10) Erving Goffman. Rahmenanalyse. Frankfurt/M. 1979.

Prof. Dr. Sönke Neitzel

Sönke Neitzel, geboren1968 in Hamburg, hat inMainz Mittlere und NeuereGeschichte, Publizistik undPolitikwissenschaft studiertund lehrt seit 2005 alsaußerplanmäßiger Profes-

sor am Historischen Seminar Neueste Geschichte.2001 lehrte er als DAAD-Gastdozent an der Univer-sity of Glasgow, im WS 2006/07 an der UniversitätKarlsruhe. Seine Forschungen befassen sich vor allemmit dem Zeitalter des Hochimperialismus und denbeiden Weltkriegen. Seit Oktober 2007 leitet er zu-sammen mit dem Essener Sozialpsychologen HaraldWelzer und in Kooperation mit dem DHI Rom dasDrittmittelprojekt „Referenzrahmen des Krieges“.

investigation of a person`s attitude. Our knowledgeabout the contemporary perception of totalitarianpolitical systems in Germany and Italy, war crimes,the internal structures of armies, of the enemy and ofthe expected conduct of war could be widened to aconsiderable extent. Scholars will gain deeperinsights into the subjective perception of historicalevents from an international perspective. Theresearch project will deliver a major contribution tothe History of the Mentality of the Axis Armed Forces.

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PHYSIK

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Von Stefan Tapprogge

Auf der Suche nach den fundamentalen Gesetzen der Natur

„Daß ich erkenne, was die Welt im Innersten zu-sammenhält.“ Auch Goethe formulierte in seinem„Faust“, was immer noch viele Naturwissen-schaftler umtreibt. Das ATLAS-Experiment – einGroßforschungsprojekt der Teilchenphysik –versucht Antworten zu finden.

Die Frage nach dem Aufbau der Materie ist eineFrage, die schon die griechischen Naturphilosophenwie etwa Demokrit beschäftigte. Die Vorstellung,dass es kleinste, unteilbare Bausteine gibt, wurde zudieser Zeit entwickelt und auch der Begriff „Atom“(griechisch für unteilbar) geht darauf zurück. DerReduktionismus, also das Zurückführen von Phä-nomenen auf wenige fundamentale Prinzipien, stellteinen wesentlichen Ansatz der heutigen Naturwis-senschaften dar, insbesondere in der Physik. Seit dem19. Jahrhundert ist bekannt, dass Atome eine Struk-tur besitzen und somit nicht unteilbar sind. In derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewannen Teil-chenphysiker daraufhin einen deutlich tieferen Ein-blick in die Struktur der Materie. Diese Erkenntnissebilden den Inhalt des so genannten Standard-Modells der Teilchenphysik: Neben einer Anzahl vonfundamentalen Bausteinen (Fermionen: Quarks undLeptonen) erklärt das Modell die zwischen diesenBausteinen wirkenden Kräfte durch den Austauschvon Kraftteilchen (Bosonen). Das Standard-Modell er-laubt eine erfolgreiche Beschreibung vieler bekann-ter Phänomene im Mikrokosmos und ist mit hoherPräzision getestet worden. Es stellt allerdings keinevollständige Theorie dar und beinhaltet mehrere offe-ne Fragen, die Gegenstand der aktuellen Forschungder Teilchenphysik sind. Insbesondere ergibt sich dieMöglichkeit, durch weitere neue Erkenntnisse zumAufbau des Mikrokosmos, mehr über den Aufbau unddie Entwicklung unseres Universums (Makrokosmos)zu lernen. Eine der aktuellen Fragestellungen betrifftden Ursprung der Masse der fundamentalen Bau-steine (im Standard-Modell wird hierfür der so ge-nannte Higgs-Mechanismus angenommen). Ebensowird die Frage nach dem Vorhandensein einer Univer-salkraft (als gemeinsamer Ursprung der vier bekann-ten Kräfte: Gravitation, elektromagnetische, schwa-che und starke Kraft) gestellt und auch die Möglich-keit, dass es neue, bisher nicht entdeckte Teilchengibt, wird genauestens überprüft.

Ein wesentliches Werkzeug der Teilchenphysikstellen Beschleuniger dar, die neben der reinenGrundlagenforschung mittlerweile auch vielfältigepraktische Anwendungen finden, zum Beispiel in der

medizinischen Therapie und in der Materialüberprü-fung. Durch das Beschleunigen von Teilchen auf hohe(kinetische) Energien wird es möglich, neue, schwereTeilchen oder Bindungszustände zu erzeugen undStrukturen bei kleinsten Abständen (< 10-18 m) zuuntersuchen. Eines der weltweit Aufsehen erregends-ten Projekte in diesem Zusammenhang ist der LargeHadron Collider (LHC) am europäischen Zentrum fürTeilchenphysik (CERN) nahe dem schweizerischenGenf. Nach einer Planungs-, Entwicklungs- und Auf-bauphase von über zehn Jahren wird dieser Be-schleuniger im Sommer 2008 in Betrieb gehen. Erwird dann der größte, komplexeste und höchstener-getische Beschleuniger sein, in dem Protonen (Was-serstoffkerne) miteinander zur Kollision gebrachtwerden. Die Energien der Protonenstrahlen betragenjeweils 7 Tera-Elektronenvolt (TeV). Ein TeV entspricht1012 eV bzw. der kinetischen Energie einer Fliege, diesich mit einer Geschwindigkeit von 10 cm pro Sekun-de bewegt. Die hierbei erzeugten Bedingungen ent-sprechen denjenigen, die etwa 10-14 bis 10-13 Sekun-den nach dem Urknall im Universum geherrschthaben. Insgesamt beinhaltet der Beschleuniger rund300 Billionen Protonen, die auf zweimal rund 2.800Pakete aufgeteilt sind und fast Lichtgeschwindigkeiterreichen. Der LHC-Speicherring hat einen Umfangvon fast 27 Kilometern und befindet sich 50 bis 100Meter tief unter der Erde (Abb. 1). Um die Protonenbei diesen Energien auf einer Kreisbahn zu halten,sind über 1.200, je 14 Meter lange, supraleitendeMagnete notwendig, deren Magnetfeld mit 8,3 Teslarund 100.000 Mal stärker ist als das Erdmagnetfeld.

Abb. 1: Luftaufnahme der GenferRegion mit dem Verlauf des unter-irdischen Beschleunigertunnels fürden Large Hadron Collider (LHC).

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Die Magnete werden bei einer Temperatur von 1,9Kelvin betrieben; dies ist geringer als die mittlereTemperatur im Universum, die bei 2,7 Kelvin (rund-270 Grad Celsius) liegt. In den Magneten wird wäh-rend des Betriebs eine Energie gespeichert sein, dieder Bewegungsenergie eines Airbus A380 im Reise-flug entspricht und ausreichen würde, zwölf TonnenKupfer zum Schmelzen zu bringen. Im LHC werdenalle 25 Nanosekunden Proton-Proton Kollisionenstattfinden, also 40 Millionen Mal pro Sekunde. Beijeder dieser Kollisionen zweier entgegengesetzt aufder Kreisbahn laufender Pakete werden bis zu einigehundert Teilchen erzeugt werden (Abb. 2).

Der möglichst vollständige und präzise Nach-weis sowie die Vermessung der in den Proton-Proton-Kollisionen entstehenden Teilchen erfordertein äußerst komplexes Detektorsystem, das ATLAS-Experiment (ATLAS steht für „A Toroidal LHCApparatus“). An diesem Experiment sind Physikerdes Instituts für Physik seit über zehn Jahren aktivbeteiligt. Das ATLAS-Experiment (Abb. 3 und 4) ist einNachweisgerät zur genauen Vermessung insbeson-dere von hochenergetischen Teilchen (wie zum Bei-spiel Elektronen, Myonen und Photonen) und kanndiese über fast den gesamten Raumwinkelbereichnachweisen. Das Experiment hat eine Länge von 46Metern, eine Höhe von 25 Metern (entspricht fünfStockwerken) und ein Gewicht von 7.000 Tonnen

(rund 70 % dessen, was der Pariser Eiffelturm auf dieWaage bringt). Verschiedene, ineinander geschach-telte Detektoren weisen zuerst geladene Teilchennach. Durch die Vermessung der Bahn in den Spur-detektoren – diese befinden sich in einem Magnet-feld – kann anhand der Krümmung der Impuls be-stimmt werden. Um die Spurdetektoren herum sindhermetisch mehrere so genannte Kalorimetersystemeangeordnet. Diese bestimmen die Energien von gela-denen wie neutralen Teilchen durch Totalabsorption.Einzig Myonen sowie Neutrinos werden hierbei nichtabsorbiert. Zur Vermessung der Myonen befindet sichaußerhalb der Kalorimeter ein weiteres System anSpurkammern und Magneten. Der gesamte Detektorumfasst etwa 100 Millionen elektronischer Kanäleund stellt somit eine äußerst große Art von Digital-kamera dar, mit der Besonderheit, dass hierbei 40Millionen Aufnahmen pro Sekunde (40 Megahertz)gemacht werden. Die dabei entstehende Daten-menge von etwa 1 PetaByte pro Sekunde (dies ent-spricht 1015 Byte bzw. der Datenmenge von etwa200.000 DVD’s) ist so enorm, dass sie durch ein kom-plexes elektronisches System in quasi Echtzeit starkreduziert werden muss. Dieser so genannte Triggerentscheidet in sehr kurzer Zeit (siehe unten), ob eineKollision ein interessantes Ereignis erzeugt hat undreduziert die Rate von 40 Megahertz auf wenigeHundert Hertz. Pro Jahr wird so immer noch eine Da-tenmenge von zirka 3 PetaByte auf Massenspeicher-

Abb. 3: Aufbau des ATLAS-Experi-ments in der 100 Meter unter derErde befindlichen Experimentier-kaverne (Stand Oktober 2005).Sichtbar ist das zentrale Magnet-system für Myonen mit acht supra-leitenden Spulen sowie eines derdrei Kalorimetersysteme. Der Auf-bau des Experiments ist mittlerweileabgeschlossen und fast der gesamteRaum der Kaverne ist mit Detektor-komponenten gefüllt.

Abb. 2: Simulation einer Proton-Proton-Kollision im ATLAS-Experi-ment mit den Bahnen der erzeug-ten geladenen Teilchen im Spur-detektor (innerer Kreis) und denSignalen von geladenen und neu-tralen Teilchen in den Kalorimetern(äußerer Bereich).

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medien aufgezeichnet. Die Auswertung dieser Daten,deren Menge in etwa der verfügbaren Datenmengeim Internet entspricht, erfolgt durch das weltweiteVerteilen dieser enormen Datenmenge auf viele leis-tungsfähige Rechenzentren, die untereinander ent-sprechend vernetzt sind, so dass die sehr rechenin-tensive Datenanalyse ermöglicht wird.

Die Mainzer Gruppe hat bei der Entwicklung,dem Bau und der Inbetriebnahme des ATLAS-Experi-ments entscheidend mitgewirkt. So beteiligten sichdie Mainzer beim Bau der Spulen des Magnetsys-tems für den Myonnachweis und lieferten wichtigeBeiträge zu Entwicklung, Bau und Betrieb des größ-ten der Kalorimetersysteme. Studien zum Physik-potential des Experiments beinhalteten darüberhinaus auch die Entwicklung und Optimierung vonAlgorithmen zur Selektion interessanter Physikpro-zesse, sowie die Konzeption von effizienten Stra-tegien zur Selektion von interessanten Ereignissenmit dem Triggersystem. Einen Schwerpunkt der Ak-tivitäten in den letzten drei Jahren bildete außerdemdie Konzeption einer der wesentlichen Elektronik-komponenten der ersten Stufe des Triggersystems.Die Aufgabe war hierbei, innerhalb kürzester Zeit(maximal 2 Millionstel Sekunden) eine schnelle Mus-tererkennung durchzuführen und zu entscheiden, obdas Ereignis von Interesse sein könnte und es in die-sem Fall für die genauere Betrachtung durch dienachfolgenden Stufen des Triggersystems erst einmalzu speichern. Hierzu wurde in Mainz ein auf digitalerElektronik basierendes System entwickelt und produ-ziert, das für die hohen Eingangsraten von 40 MHz

innerhalb weniger Hundert Nanosekunden (1 Nano-sekunde entspricht 10-9 Sekunden) eine parallele Ver-arbeitung von digitalisierten Signalen der Kalori-metersysteme durchführt; dadurch kann die möglicheProduktion von hochenergetischen Teilchen erkanntwerden. Das System wurde in der ersten Hälfte desJahres 2007 erfolgreich beim ATLAS-Experiment ein-gebaut (Abb. 5) und wird derzeit noch weiteren aus-führlichen Tests unterzogen. Hierzu nutzt manMyonen aus der kosmischen Höhenstrahlung, vondenen viele das ATLAS-Experiment passieren undderen Signale denen von Teilchen aus den erwartetenProton-Proton-Kollisionen sehr ähnlich sind. GegenEnde des Jahres 2007 wurde zudem begonnen, eineleistungsfähige Rechnerinfrastruktur in Mainz aufzu-bauen, um für die besonderen Herausforderungender bevorstehenden Datenanalyse bestens gerüstetzu sein.

Moderne Experimente der Teilchenphysik, wiedas ATLAS-Experiment, stellen das Resultat erfolgrei-cher weltweiter Kollaboration zwischen vielen ver-schiedenen Arbeitsgruppen und Instituten dar.Derzeit arbeiten rund 2.000 Physiker an ATLAS, aus165 Instituten in 35 Ländern. Der enorme personelleund apparative Aufwand ist notwendig, um die fun-damentalen Fragestellungen nach Aufbau und Struk-tur der Materie erfolgreich angehen zu können. Hier-bei werden oftmals vorhandene Technologien bis andie äußerste Grenze ausgereizt oder es sind ganzneue Entwicklungen erforderlich, die später dann zupraktischen Anwendungen führen. Die am ATLAS-Experiment beteiligten Studenten, Diplomanden und

Abb. 4: Fast vollständig aufgebautesATLAS-Experiment (August 2007). Zusehen ist eine Seite des Experimentsmit den Magneten und Detektorenzum Nachweis von Myonen.

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Univ.-Prof. Dr.Stefan Tapprogge

Stefan Tapprogge, geboren1967, studierte Physik ander Universität Heidelberg,wo er dann auch promovier-te. Anschließend (1998) trat

er ein Research-Fellowship am europäischen Zen-trum für Teilchenphysik (CERN) an. Im Jahre 2000wechselte er als Senior Scientist an das HelsinkiInstitute of Physics. Zu Beginn des Jahres 2004folgte er dem Ruf auf eine Professur an die JohannesGutenberg-Universität Mainz, wo er sich mit zweiArbeitsgruppen sowohl am D0-Experiment (Teva-tron-Beschleuniger des Fermilab bei Chicago/USA)als auch am ATLAS-Experiment (LHC-Beschleunigerdes CERN bei Genf/Schweiz) beteiligt.

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Stefan TapproggeInstitut für PhysikJohannes Gutenberg-Universität MainzD-55099 MainzTel. +49(0)6131-39 25 610Fax +49(0)6131-39 25 169Email: [email protected]

� Summary The Institute of Physics of Mainz University is partici-pating in the ATLAS experiment. As part of the LargeHadron Collider (LHC) at the European Organisationfor Nuclear Research (CERN) near Geneva ATLASaims at the investigation of fundamental physicalquestions on the structure of matter, which alsoallows deepening our understanding of the universe.In order to successfully conduct such an extremelydemanding experiment, the most modern develop-ments of precise detectors, fast and complex electro-nics as well as newest methods of data processingand analysis are required.

Abb. 5: Die von der MainzerGruppe entwickelten Elektronik-

module für die erste Stufedes ATLAS-Triggersystems nachderen Einbau am Experiment.

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Doktoranden haben somit die Gelegenheit, bei derphysikalischen Grundlagenforschung an vordersterFront mitzuwirken. Sie kommen dabei nicht nur mitden neuesten Technologien in Kontakt, zum Beispielin der Elektronik, sondern müssen sich auch mit an-spruchsvollen Methoden der Datenauswertung aus-einandersetzen. Darüber hinaus lernen die angehen-den Physiker die Zusammenarbeit in internationalenTeams sowie die wissenschaftliche Präsentation dergewonnen Erkenntnisse in internationalem Rahmen.Wie alle Physiker des ATLAS-Experiments sieht auchdie Mainzer Arbeitsgruppe der bald beginnendenDatennahme mit großer Spannung entgegen. Ins-besondere hofft man auf unerwartete Erkenntnisseüber den Aufbau des Mikrokosmos, die – wie bereitserwähnt – auch zu einem besseren Verständnis derEntwicklung des Universums führen könnten. �

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Aus welchen Elementen besteht das Universum?Kann man die Materie – Antimaterie-Asymmetrieim Universum erklären? Unter anderem solch fun-damentale Fragen an der Schnittstelle zwischenKern- und Astrophysik versuchen die Wissen-schaftler am Mainzer Forschungsreaktor zu klären.

Unsere materielle Welt und der Mensch selbst beste-hen zu mehr als 50 Prozent aus Neutronen. Gebun-den im Atomkern wirken sie über die starke Kern-wechselwirkung, die die Kernbausteine – Protonenund Neutronen – zusammenhält. Das freie Neutronist instabil und zerfällt mit einer Halbwertszeit vonetwa 900 Sekunden in ein Proton, ein Elektron undein Antineutrino. Infolge ihrer elektrischen Neutrali-tät ionisieren Neutronen nicht und können auch daselektrostatische Abstoßungspotential der Kern-ladungen überwinden. Damit können freie Neutro-nen mühelos starke Materialschichten durchdringenund als Sonden verwendet werden, wenn beispiels-weise die Struktur und Anregungszustände von kon-densierter Materie untersucht werden sollen. DurchNeutronenbestrahlung kann Materie aber auch ver-ändert werden, indem die Neutronen im Kern absor-biert werden und verschiedene Kernreaktionen aus-lösen. Von Natur aus sind freie Neutronen selten. Siekönnen jedoch in kommerziellen Kernreaktoren undauch in Forschungsreaktoren hergestellt werden. Vonletzteren gibt es genau zwei an deutschen Universi-täten: Die Forschungsneutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz (FRM II) an der Technischen UniversitätMünchen und den TRIGA (Training, Research, Iso-topes, General Atomic) an der Universität Mainz.Beide dienen in erster Linie zur Erzeugung von hohenNeutronendichten für Forschungszwecke, für Mate-rialprüfungen und -analysen sowie zur Herstellungvon Radionukliden.

Forschungsreaktor TRIGA Mainz

Der TRIGA Mainz (Abb. 1) wurde auf Initiative vonFritz Straßmann, dem damaligen Direktor des Ins-tituts für Anorganische Chemie und Kernchemie derUniversität Mainz, ab 1960 gebaut. Am 3. August1965 konnte mit dem Einsetzen des 57. Brennele-mentes in den Kern erstmals eine sich selbst auf-rechterhaltende Kettenreaktion initiiert werden. ImApril 1967 erfolgte die offizielle Inbetriebnahme desReaktors, wobei Otto Hahn den ersten Reaktorpulsauslöste. Seitdem sind mehr als 16.000 Pulse durch-geführt worden. Der TRIGA Mainz kann im Dauerbe-trieb mit einer maximalen Leistung von 100 Kilowatt

gefahren werden. Darüber hinaus erlaubt eine Puls-einrichtung das Einbringen einer Überschussreak-tivität in einem kurzen Zeitintervall, wodurch für0,03 Sekunden eine Spitzenleistung von bis zu250 Megawatt und eine Energiefreisetzung von12 Megajoule erreicht werden kann.

Am TRIGA-Reaktor werdenNeutronen aus der Kernspaltung desIsotops Uran-235 freigesetzt. Diesesist in den TRIGA-Brennelementen inForm einer Uran-Zirkonium-Hydrid-Legierung mit einer Anreicherung vonmaximal 20 Prozent enthalten. ProSpaltung eines Uran-235-Kerns ent-stehen 2 bis 3 schnelle Neutronen miteiner mittleren Energie von etwa1 Megaelektronenvolt (MeV). DurchWechselwirkung mit den Wasserstoff-kernen der Zirkonium-Hydrid-Brenn-stoffmatrix wird diese Energie auf einthermisches Maß von etwa 0,025 eVabgesenkt bzw. moderiert. Erst dannkann wieder eine Kernspaltung desUrans-235 erfolgen. Eine Erhöhungder Brennelementtemperatur bewirkteine schlechtere Moderation derNeutronen und damit eine Abnahmeder Spaltprozesse. Beim Pulsbetrieb,bei dem die Brennelementtemperaturauf bis zu 300 °C ansteigen kann, ver-ringert sich deshalb die Zahl der ther-mischen Neutronen sehr stark und der Reaktor schal-tet sich selbständig ab. Auf Grund dieses promptennegativen Temperaturkoeffizienten sind TRIGA-Reaktoren inhärent sicherere Forschungsreaktoren,das heißt eine nicht kontrollierbare Kettenreaktionkann unter keinen Umständen auftreten.

Der Forschungsreaktor TRIGA Mainz wird alsstarke Neutronenquelle für chemische und physikali-sche Grundlagenexperimente, für angewandte For-schungen auf den verschiedensten Gebieten sowiefür Ausbildungszwecke und zum Kompetenzerhaltgenutzt. Der Reaktor besitzt vier Strahlrohre (A bisD), eine thermische Säule für spezielle Experimente,sowie drei Rohrpostanlagen, ein Bestrahlungs-karussell für die gleichzeitige Bestrahlung von maxi-mal 80 Proben und ein zentrales Bestrahlungsrohr, indem der höchste Neutronenfluss auftritt (4x1012 Neu-tronen pro Quadratzentimeter und Sekunde bei einerLeistung von 100 Kilowatt). Das Strahlrohr A wird für

KERNCHEMIE

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Von Klaus Blaum, Klaus Eberhardt, Gabriele Hampel, Werner Heil,Jens Volker Kratz und Wilfried Nörtershäuser

Forschung mit Neutronen in Chemie und Physik am TRIGA Mainz

Abb. 1: Der ForschungsreaktorTRIGA Mainz mit verschiedenenExperimenten.

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Chemie und Physik der superschweren Elemente

Bei den durch Kern-Kern-Fusion herstellbarenschwersten Elementen werden die radialsymmetri-schen Elektronenorbitale durch relativistische Effektekontrahiert und energetisch stabilisiert, wodurch dieKernladung stärker abgeschirmt wird. Dadurch kön-nen die chemischen Eigenschaften der schwerstenElemente von denen ihrer leichteren Homologen er-heblich abweichen, und es ist eines der spannends-ten Kapitel der modernen Kernchemie, diese Abwei-chungen zu bestimmen und mit den Vorhersagenrelativistischer quantenchemischer Rechnungen zuvergleichen.

Die superschweren Elemente sind auch auskernphysikalischer Sicht interessante Studienobjekte:Nach dem Flüssigkeitstropfen-Modell sollte dasPeriodensystem der Elemente etwa bei Element 104enden. Die gegenüber dem Flüssigkeitstropfen-Mo-dell um 15 Größenordnungen längere Lebensdauerdieser Elemente und die Existenz zahlreicher nochschwererer Elemente ist auf abgeschlossene Nuk-leonenschalen zurückzuführen, deren Lokalisierungund Stärke durch das Studium der nuklearen Eigen-schaften der superschweren Elemente aufgeklärtwerden können. Um die chemischen Eigenschaftendieser schwersten Elemente zu untersuchen, werdenam TRIGA Mainz rechnergesteuerte, schnelle chemi-sche Trennverfahren entwickelt und automatisiert.Essentiell ist hier die Erzeugung kurzlebiger Spalt-produkte, die den schwersten Elementen chemischhomolog sind. Mit diesen Homologen können chemi-sche Trennapparaturen (Abb. 2) getestet und opti-miert werden, die dann zum Beispiel am Schwer-ionenbeschleuniger der Gesellschaft für Schwer-ionenforschung (GSI) in Darmstadt zum Studium derchemischen Eigenschaften der superschweren Ele-mente eingesetzt werden. So sind hochempfindliche,schnelle chemische Verfahren für die Elemente derGruppen 4, 5, 6, 8 und 11 bis 16 ausgearbeitet wor-den. Die Arbeiten über die Chemie der schwerstenElemente werden mit zahlreichen internationalenKooperationspartnern durchgeführt. Eine gemeinsa-me Berufung der Universität Mainz und der GSIDarmstadt auf dem Gebiet der schwersten Elementeverstärkt diese Forschungsrichtung.

Hochpräzisionsmessungen an neutronenreichenRadionukliden

Zurzeit wird am Strahlrohr B des TRIGA Mainz eineweltweit einzigartige Anlage aufgebaut, bei der mit-tels Massenspektrometrie und Laserspektroskopiedie Eigenschaften (zum Beispiel Masse und Kern-ladungsradius) von neutronenreichen Radionuklidenmit höchster Präzision ermittelt werden sollen. DieseEigenschaften von Atomkernen spielen eine wichtigeRolle bei der Suche nach Antworten auf die noch

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die Entwicklung schneller chemischer Trennverfahrenzur Untersuchung der chemischen Eigenschaften derschwersten Elemente eingesetzt. Am Strahlrohr Bwird derzeit ein Experiment für Hochpräzisionsmes-sungen an Spaltprodukten aufgebaut und amStrahlrohr C ist eine Quelle für ultrakalte Neutronen(ultra cold neutrons = UCN) installiert. Eine weitereApparatur zur Erzeugung noch höherer UCN-Dichtenbefindet sich zurzeit am Strahlrohr D im Aufbau.

Im Folgenden wird die Nutzung des TRIGAMainz für die Grundlagenforschung beschrieben. Da-rüber hinaus wird der Reaktor in der angewandtenForschung für die Neutronenaktivierungsanalyse(NAA) zur Bestimmung von Spurenelementen, zumBeispiel in Umweltproben, Gläsern und archäologi-schen Proben, sowie für die Produktion einer Vielzahlvon radioaktiven Isotopen genutzt. Eine weiterewichtige Aufgabe des TRIGA Mainz ist der Kom-petenzerhalt und die Förderung des wissenschaftli-chen Nachwuchses in den Bereichen Kern- undRadiochemie, Reaktorphysik und Strahlenschutz. DerReaktor ist im Rahmen der Lehrveranstaltungen amInstitut für Kernchemie in die Ausbildung von Stu-denten und Wissenschaftlern intensiv eingebunden.

KERNCHEMIE

Abb. 2: Chemische Trennapparatur(ARCA = Automated Rapid Che-mistry Apparatus), mit der dieEigenschaften der Elemente 104,105 und 106 in wässriger Lösungerforscht wurden.

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raturen nahe dem absoluten Nullpunkt nachweisenkann, weil er sonst vom thermischen Rauschen derElektronen überdeckt wird. Der Nachweis mit dieserMethode erlaubt es, das gespeicherte Ion nachzuwei-sen, ohne es aus der Falle zu entfernen (nichtdestruktiv) und viele Messpunkte mit einem einzel-nen gespeicherten Ion aufzunehmen, bis es radioak-tiv zerfällt.

Die Laserspektroskopie nutzt die extremeEmpfindlichkeit, die man mit dem Nachweis des aneinzelnen Atomen gestreuten Lichtes erreichen kann.In besonders günstigen Fällen kann man an gespei-cherten Ionen soviel Licht streuen, dass ein einzelnesAtom für das menschliche Auge sichtbar wird. Mitder Laserspektroskopie ist auch die effiziente und

selektive Ionisation einzelner Atome möglich: Durcheine mehrstufige Anregung eines oder mehrererElektronen wird schließlich so viel Energie in demAtom akkumuliert, dass ein Elektron das Atom ver-lassen kann. Diese Methode der laserresonantenIonisations-Massenspektrometrie wird im Institut fürKernchemie seit vielen Jahren zum empfindlichenNachweis beispielsweise von Plutonium eingesetzt,wobei hier noch eine Million Atome Plutonium nach-weisbar sind; diese Menge entspricht einem Gewichtvon 0,4 Femtogramm bzw. 0,0000000004 Mikro-gramm. Am TRIGA Mainz sollen diese laserspektros-kopischen Methoden zur Untersuchung neutronen-reicher Spaltprodukte eingesetzt werden. Mit Hilfeder hochauflösenden Laserspektroskopie erhält manAufschluss über die geometrische Form dieser Kerne,ihre Radien sowie über eventuell vorhandene Defor-mationen. Viele Atomkerne besitzen nämlich keinekugelförmige Gestalt, sie können vielmehr auch„platt gedrückt“ sein wie eine Linse oder mehr aneinen Rugby-Ball erinnern. Diese Formen werdendurch kollektive Effekte der Nukleonen hervorgeru-fen und sind von großem wissenschaftlichemInteresse.

KERNCHEMIE

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ungeklärten fundamentalen Fragen an der Schnitt-stelle zwischen Kern- und Astrophysik: Wie entstehenbeispielsweise chemische Elemente im Inneren derSterne? Aus welchen Elementen ist das Universumzusammengesetzt? Dazu werden über die Spaltungvon Uran-235, Plutonium-239 oder Californium-249am Reaktor sehr kurzlebige, neutronenreiche Nuklideerzeugt, wie sie auch in Sternexplosionen entstehen.Anschließend werden an diesen Nukliden Massen-bzw. Laserspektroskopiemessungen durchgeführt.Zur Produktion der Spaltprodukte wird ein Präparataus dem zu spaltenden Material in einer speziellenKammer in der Nähe des Reaktorkerns platziert undmit Neutronen bestrahlt. Die dabei entstehendenSpaltprodukte werden mit einem Gasjet kontinuier-lich zu einer Ionenquelle transportiert und dann alsgeladene Teilchen in die entsprechende Messappa-ratur eingebracht. Je neutronenreicher und damitinteressanter für die Astrophysik das zu untersuchen-de Nuklid ist, desto geringer ist in der Regel dieProduktionsrate bei der Kernspaltung.

In den beiden Helmholtz-Nachwuchsgruppenvon K. Blaum (Institut für Physik) und W. Nörters-häuser (Institut für Kernchemie) wurden in letzterZeit spezielle Nachweismethoden entwickelt und amTRIGA Mainz erprobt. Damit ist es möglich, dieExperimente sogar an einzelnen Ionen durchzufüh-ren. Im Falle der Massenspektrometrie wird dazueine so genannte Penning-Falle eingesetzt (Abb.3a,c). Bei diesem Versuchsaufbau können geladeneTeilchen in einer Überlagerung eines elektrischen undeines magnetischen Feldes über einen Zeitraum vonmehreren Sekunden hinweg gespeichert werden. Ausder dabei ausgeführten charakteristischen Bewe-gung (Abb. 3b) kann dann bei bekannter Ladung desIons seine Masse bestimmt werden, auch wenn dieexotischen Teilchen nur wenige Millisekunden leben.Bei den bisherigen Penningfallenexperimenten blei-ben die Ionen, deren Masse bestimmt werden soll,nur für Bruchteile einer Sekunde in der Falle gespei-chert. Danach müssen sie für den Nachweis aus derFalle ausgeschossen werden und stehen nicht mehrfür weitere Messungen zur Verfügung. Für den nächs-ten Messpunkt muss wieder ein neues Ion in die Fallegeladen werden. Deshalb nennt man diese Methodedestruktiv und sie ist für die Messung von Teilchen,die nur geringste Produktionsraten besitzen, nichtoptimal. Die Penningfalle am TRIGA Mainz ist miteiner weitaus leistungsfähigeren, aber auch kompli-zierteren Nachweistechnik ausgestattet. Das in derFalle oszillierende Teilchen induziert einen so ge-nannten Spiegelstrom in den Elektroden der Falle,das heißt die Elektronen im Elektrodenmaterial wer-den bei Annäherung des positiven Ions an die Elek-trode angezogen und kehren wieder an ihren Aus-gangsort zurück, wenn sich das Ion wieder entfernt.Dadurch entsteht in der Elektrode ein extrem gerin-ger Wechselstrom in der Größenordnung von weni-gen Femtoampere (10-15 A), den man nur bei Tempe-

Abb. 3: (a) Schnitt durcheine Penning-Falle mit (b) resultierender Ionen-bewegung. (c) Photo dereingesetzten Penning-Falle.

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Ultrakalte Neutronen am TRIGA Mainz

Starke Neutronenquellen, wie zum Beispiel For-schungsreaktoren, liefern überwiegend thermischeNeutronen, die eine Geschwindigkeit von 2.200Metern pro Sekunde besitzen. Diese Neutronen las-sen sich als freie Neutronen in Strahlexperimentenbeobachten. Aus der hohen Geschwindigkeit resul-tiert eine kurze Verweilzeit in der Messapparatur unddamit eine geringe Empfindlichkeit. Ende der vierzi-ger Jahre des letzten Jahrhunderts postulierte EnricoFermi, dass sehr langsame Neutronen mit Geschwin-digkeiten von nur wenigen Metern pro Sekunde vonFestkörperoberflächen vollständig reflektiert werden.Diese Eigenschaft erlaubt es, extrem niederenergeti-sche Neutronen in geeigneten Behältern für einigeMinuten zu speichern und damit die Empfindlichkeitvon Messungen fundamentaler neutronenphysikali-scher Eigenschaften des Neutrons um viele Größen-ordnungen zu erhöhen. Besonders gut geeignete Ma-terialien zur Reflektion von Neutronen sind Nickel,Beryllium oder Berylliumoxid. Neutronen mit Ge-schwindigkeiten von etwa fünf Metern pro Sekundewerden von diesen Materialien total reflektiert. DieseGeschwindigkeit entspricht der thermischen Bewe-gung im Bereich wenigen Milli-Kelvin, also fast am

absoluten Temperatur-Null-punkt von -273 °C. Deshalbbezeichnet man diese Neu-tronen als ultrakalt (ultracold neutrons = UCN).

Die Messgenauigkeitder Experimente mit ultra-kalten Neutronen ist bisheute allerdings durch dierelativ niedrigen Neutronen-dichten der vorhandenenQuellen limitiert. Die bisherweltweit intensivste UCN-Quelle befindet sich amInstitut Laue-Langevin (ILL)in Grenoble, Frankreich.

Am TRIGA Mainz wurde in Kooperation mit demInstitut für Physik der Universität Mainz (W. Heil)und der TU München (S. Paul) ein neues Konzeptzur Produktion von UCN entwickelt. Die im gepulstenBetrieb des TRIGA Mainz entstehenden thermischenNeutronen (~1014 Neutronen pro cm2 und Puls)wechselwirken nahe am Reaktorkern mit gefrorenemDeuterium, welches auf einer Temperatur von-265 °C bis -268 °C gehalten wird, und erreichendabei eine Geschwindigkeit von fünf Metern proSekunde. Am Strahlrohr C lassen sich derzeit etwa200.000 UCN pro Puls erzeugen, die über einenNeutronenleiter aus poliertem Edelstahl zumExperiment bzw. direkt zum Neutronendetektorgeführt werden (Abb. 4). Damit steht am TRIGAMainz schon jetzt eine einzigartige Quelle fürExperimente mit ultrakalten Neutronen zur

Verfügung. Technische Verbesserungen der UCN-Quelle und der gerade durchgeführte Wechsel vomtangentialen Strahlrohr C zum zentralen Strahlrohr Dwerden die UCN-Ausbeute um mindestens eineGrößenordnung erhöhen. Die präzise Bestimmungfundamentaler Eigenschaften des Neutrons, wie bei-spielsweise seiner Lebensdauer, ist von großerBedeutung in der Physik. In Kooperation mit demPaul-Scherrer-Institut (PSI) in Villigen (Schweiz) wer-den zurzeit Experimente zur Bestimmung des elektri-schen Dipolmoments des Neutrons vorbereitet. Solltedas Neutron ein elektrisches Dipolmoment besitzen,so hätte dies kosmologische Bedeutung. SeineEntdeckung würde helfen, das Phänomen derMaterie – Antimaterie-Asymmetrie in unserem Uni-versum zu erklären. Solche Experimente verlangeneine so hohe Präzision und Empfindlichkeit, dass sienur mit ultrakalten Neutronen durchgeführt werdenkönnen. �

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Dr. habil. Klaus Blaum

Klaus Blaum promovierte2000 in Physik an der Uni-versität Mainz, ehe er fürvier Jahre als PostDoc zurGSI nach Darmstadt und alsCERN-Fellow zu ISOLTRAPnach Genf ging. Seit 2004leitet er die Helmholtz-

Nachwuchsgruppe „Experimente mit gespeichertenund gekühlten Ionen“ am Institut für Physik inMainz. Für seine Arbeiten hat er eine Reihe von Aus-zeichnungen erhalten, so zum Beispiel den Gustav-Hertz-Preis der Deutschen Physikalischen Gesell-schaft 2004, den Mattauch-Herzog-Preis 2005 derDeutschen Gesellschaft für Massenspektrometrieund den Lehrpreis 2006 des Landes Rheinland-Pfalz.

� Summary The reactor TRIGA Mainz at the Institut fürKernchemie is one of two research reactors operatedby a university in Germany and the only one that canbe operated in the steady-state mode with up to 100kilowatts power as well as in a pulsed mode with amaximum peak power up to 250 megawatts. Here,we present a survey of the main scientific investi-gations currently performed at the TRIGA Mainz,ranging from basic research in nuclear chemistry,fundamental atomic and nuclear physics to appliedscience for research and industry. This includes –among others – chemical and physical studies ofthe heaviest elements in the periodic table, highprecision mass and laserspectroscopic measurementson neutron-rich radioisotopes and the productionand investigation of ultra cold neutrons. The reactoris also intensively used for education and training.

Abb. 4: Schematischer Aufbau derUCN-Quelle am TRIGA Mainz.

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KERNCHEMIE

69FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Dr. Klaus Eberhardt

Klaus Eberhardt promovier-te 1992 in Kernchemie ander Universität Mainz. Seit1993 ist er StellvertretenderBetriebsleiter des TRIGAMainz und für die Koordi-nierung des experimentellenProgramms am Reaktor ver-

antwortlich. Seine Forschungsgebiete betreffen dieEntwicklung von schnellen chemischen Trennverfah-ren, die Chemie der schwersten Elemente, Hochprä-zisionsmessungen an Radionukliden, die Entwick-lung exotischer Targets für Schwerionenreaktionenund Neutronenaktivierungsanalyse. Seit 2004 ist erim Rahmen des neuen TASCA-Projekts (Trans-Actinide-Separator and Chemistry Apparatus) bei derGesellschaft für Schwerionenforschung (GSI) Teilpro-jektleiter für den Bereich Targetentwicklung.

Dr. Gabriele Hampel

Gabriele Hampel promovier-te 1993 in Physik an derTechnischen UniversitätBraunschweig. Von dortwechselte sie zur Medizini-schen Hochschule Hannoverin die Klinik für Nuklearme-

dizin, wo sie für die Inkorporationsmessstelle, denStrahlenschutz der Hochschule und als Betriebsleite-rin für den dortigen Forschungsreaktor verantwort-lich war. Seit 2004 ist sie im Institut für Kernchemieund seit 2006 als Betriebsleiterin für Betrieb undNutzung des Forschungsreaktors TRIGA Mainz ver-antwortlich. Ihre Forschungsbereiche betreffen dieEtablierung der Bor-Neutronen-Einfangtherapie amTRIGA Mainz, die Entwicklung einer intensivenQuelle für ultrakalten Neutronen sowie derenAnwendung und die Neutronenaktivierungsanalyse.

Prof. Dr. Werner Heil

Werner Heil promovierte1986 in Physik an der Uni-versität Mainz. Nach mehr-jährigen Forschungsaufent-halten im europäischen Aus-land (ENS-Paris, ILL-Gre-noble) führte der Weg zu-rück an das Institut für

Physik in Mainz, wo er seit 1994 eine C3-Professurinne hat. Seine Forschungsgebiete sind die Anwen-

Prof. Dr.Jens Volker Kratz

Jens Volker Kratz promovier-te 1971 in Kernchemie ander Universität Mainz. Nacheinem PostDoc-Aufenthaltam Lawrence BerkeleyLaboratory der University of

California in Berkeley 1972 – 1974 wechselte er alsGruppenleiter der Kernchemie-Gruppe zur GSI nachDarmstadt. Seit 1982 ist er C4-Professor für Kern-chemie an der Universität Mainz. Seine Forschungs-gebiete betreffen die Mechanismen von Schwerio-nenreaktionen, die Synthese, die nuklearen und che-mischen Eigenschaften der Transaktiniden, das Stu-dium exotischer Kerne in Aufbruchreaktionen,Migration und Speziation von Aktiniden in der Um-welt, die Laser-Resonanzionisations-Massenspektro-metrie und die ultrakalten Neutronen am TRIGAMainz. Für seine Untersuchung der chemischen Ei-genschaften der schwersten Elemente erhielt er 1998den Otto-Hahn-Preis.

Dr. WilfriedNörtershäuser

Wilfried Nörtershäuser pro-movierte 1999 in Physik ander Universität Mainz. Nacheinem einjährigen PostDoc-Aufenthalt am PacificNorthwest National Labo-ratory in Richland (USA)

wechselte er als PostDoc an die Universität Tübingen.Der Schwerpunkt seiner dortigen Arbeiten lag beiExperimenten mit exotischen Atomen an der Gesell-schaft für Schwerionenforschung (GSI) in Darmstadtund am TRIUMF Institut in Vancouver (Kanada). Seit2005 leitet er eine Helmholtz-Nachwuchsgruppe zur„Laserspektroskopie hochgeladener Ionen und kurz-lebiger exotischer Nuklide“ am Institut für Kernche-mie der Universität Mainz.

� Kontakt

Dr. Gabriele HampelJohannes Gutenberg-Universität MainzInstitut für KernchemieFritz-Straßmann-Weg 2D-55128 MainzTel. +49(0)6131-39 25 324Fax +49(0)6131-39 26 047Email: [email protected]

dung und Nutzung hyperpolarisierter Edelgase(Helium-3) in der Grundlagenforschung (Formfaktordes Neutrons) und in der angewandten Forschung(Kernspintomographie der Lunge). Die Bereitstellungund Nutzung ultrakalter Neutronen in Präzisions-experimenten bei niedrigsten Energien ist ein weite-res Standbein seiner Forschungsaktivitäten. Für seineArbeiten hat er eine Reihe von Auszeichungen erhal-ten, so zum Beispiel den Röntgenpreis (1991), denKörberpreis (1998) und den IBA-Europhysics Preis(2005).

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Der letzte Hochland-Regenwald in Kenia bietetideale Voraussetzungen, ökologische Zusammen-hänge zu erforschen und Handlungsempfehlungenfür eine nachhaltige Nutzung zu erarbeiten. Dennder Schutz tropischer Regenwälder funktioniertnur unter Beteiligung der einheimischen Bevöl-kerung.

Die weltweit wachsende menschliche Bevölkerungnutzt natürliche Flächen und Ressourcen immer in-tensiver, beispielsweise durch Land- und Forstwirt-schaft, Fischerei oder die Ausdehnung von Siedlungs-flächen. Dieser wachsende Druck führt zu erhebli-chen Verlusten der biologischen Vielfalt. Allein dietropischen Wälder, wo 50 Prozent aller Arten leben,schrumpfen jährlich um etwa 1 Prozent. Damit gehendort jedes Jahr geschätzte 27.000 Arten verloren.Bisher ist wenig darüber bekannt, in welcher Art undWeise die biologische Vielfalt zur Stabilität von Öko-systemen beiträgt. Von zentraler Bedeutung ist esdaher, zu verstehen, wie Ökosysteme reagieren,wenn diese Vielfalt abnimmt. Gibt es eine untereGrenze, d.h. ein Minimum an Arten, das notwenig ist,damit die Funktionen von Ökosystemen und ihreLeistungen für den Menschen aufrecht erhalten wer-den können? Die Leistungen eines Ökosystems fürden Menschen bestehen dabei z.B. in der Lieferungvon Nahrung, Bauholz oder Medizinalpflanzen, inDienstleistungen wie der Bestäubung von Kultur-pflanzen, aber auch in der spirituellen Bedeutung vonPflanzen, Tieren und Landschaften.

Neben der Landnutzung wird in Zukunft derKlimawandel zu massiven Veränderungen in der bio-logischen Vielfalt führen. Die Prognosen des kürzlichveröffentlichten Klimaberichts der Vereinten Natio-nen sagen einen höheren Artenverlust voraus, als bis-her befürchtet. Bei einer globalen Erwärmung von2 bis 3 °C werden möglicherweise 20 bis 30 Prozentder Arten weltweit vom Aussterben bedroht sein.Einige Regionen der Erde werden von den Auswir-kungen des Klimawandels überdurchschnittlichbetroffen sein. Neben der Arktis sind die Prognosenfür Afrika besonders gravierend. Die Veränderungendes Klimas werden sich voraussichtlich auch inVeränderungen der Artenzusammensetzung vonÖkosystemen widerspiegeln. Gerade in ländlichenRegionen tropischer Länder ist wenig über die kom-plexen Zusammenhänge zwischen menschlicherLandnutzung, Klimaveränderungen, biologischerVielfalt und der Stabilität von Ökosystemen bekannt.Allerdings haben die mancherorts dramatischen

Verluste an tropischen Wäldern und ihren Pflanzen-und Tierarten direkte Auswirkungen auf die Lebens-qualität der Menschen: sie verlieren eine wichtigeErnährungsgrundlage und Krankheiten gefährden dieGesundheit.

In einem interdisziplinären Forschungsprojektuntersuchen afrikanische und deutsche Wissen-schaftlerinnen und Wissenschaftler gemeinsam dieFolgen von Landnutzung und Klimawandel für diebiologische Vielfalt und die Funktionen von Öko-systemen. Bereits seit 2001 wird im Rahmen desvom Bundesministerium für Bildung und For-schung (BMBF) geförderten Langzeitprojektes BIOTAAfrika (Biodiversity Transect Analysis in Africa;www.biota-africa.org) Forschung in mehrerenLändern Afrikas betrieben. BIOTA Afrika ist in dreiRegionalbereiche gegliedert: BIOTA Süd (Namibia,Südafrika), BIOTA West (Benin, Burkina Faso,Elfenbeinküste) und BIOTA Ost (Kenia, Uganda). Inder Pilotphase bestand die Aufgabe darin, For-schungsstationen aufzubauen, Mitarbeiter auszubil-den und die biologische Vielfalt zu inventarisieren.Anschließend wurde damit begonnen, die biologi-sche Vielfalt und Ökosystemfunktionen in unter-schiedlich stark genutzten Gebieten zu vergleichensowie sozioökonomische Aspekte zu untersuchen. Inder gerade gestarteten dritten Projektphase sollennun Handlungs- und Managementempfehlungen fürden Schutz und die nachhaltige Nutzung der biologi-schen Vielfalt erarbeitet werden.

Mainzer Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler sind u.a. im Projekt BIOTA Ost beteiligt. ImFokus der Forschungen stehen dabei tropische Re-genwälder in Ostafrika. Das Hauptuntersuchungs-gebiet ist der Kakamega Forest nördlich des Viktoria-Sees in Kenia. Er liegt inmitten einer der am dichtes-ten vom Menschen besiedelten ländlichen RegionenAfrikas und gilt als der letzte Hochland-Regenwald inKenia. Die unmittelbare Peripherie des Waldes wirdintensiv agrarwirtschaftlich genutzt. Die häufigstenAnbaupflanzen sind Zuckerrohr, Mais und Tee; aberauch der Wald wird z.B. zur Gewinnung von Bau- undBrennholz, als Weidefläche oder zur Holzkohleher-stellung genutzt. Große Teile des Waldes stehen unterNaturschutz. Allerdings gelingt es der kenianischenNaturschutzbehörde nur lückenhaft, die Gebiete zukontrollieren und somit vor illegalem Holzeinschlagzu schützen. Als Folge liegen im Kakamega Forestsehr gut erhaltene Waldflächen direkt neben starkgestörten Bereichen. Dadurch wiederum eignet sich

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Von Nina Farwig und Katrin Böhning-Gaese

Biologische Vielfalt in Ostafrika:Folgen von Landnutzung und Klimawandel

Fruchtender Feigenbaum im Kakamega Forest.

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das Waldgebiet hervorragend dazu, die Auswirkun-gen der Fragmentierung und Nutzung des Waldes aufdie Artenvielfalt und auf wichtige Ökosystemfunktio-nen, wie Bestäubung, Samenausbreitung und Rege-neration, zu untersuchen. Ziel von BIOTA Ost ist es,Managementempfehlungen für den Schutz und dienachhaltige Nutzung von ostafrikanischen Regen-wäldern zu entwickeln. Innerhalb von elf Teilprojek-ten werden Untersuchungen zu verschiedenenArtengruppen und Ökosystemfunktionen sowie zusozioökonomischen Aspekten durchgeführt.

Mainzer Wissenschaftlerinnen und Wissen-schaftler des Fachbereichs Biologie (Institut fürZoologie, Abteilung Ökologie) leiten das TeilprojektE11, das sich mit dem Einfluss von Klimawandel undmenschlichen Störungen auf die Vogeldiversität,Samenausbreitung und Regeneration des KakamegaForest beschäftigt. Die bisherigen Ergebnisse zeigen,dass das Management des Waldes das Maß des ille-galen Holzeinschlags bestimmt. Der KakamegaForest wird durch zwei verschiedene Organisationenverwaltet, das Kenya Forest Service und den KenyaWildlife Service. Die Zahl der illegal gefällten Bäumeist auf Flächen, die durch den Kenya Wildlife Serviceverwaltet werden, signifikant niedriger. Das Maß desillegalen Holzeinschlags ist ein guter Indikator fürdas Maß der menschlichen Störung des Waldes unddamit ein wertvoller, schnell zu erfassender Indikatorfür den Naturschutz. Weiterhin zeigen die Ergebnisse,dass die Fragmentierung von Waldgebieten zu einemRückgang von früchtefressenden Tierarten wie Affenund Vögeln führt. Dabei stellte sich heraus, dassFeigen-Bäume mit ihren tausenden von Früchten eineüberproportional große Rolle für die „Ernährung“der früchtefressenden Tiere spielen und damit eine

Schlüssel-Ressource darstellen. Wir erwarten, dassein Management für hohe Feigenvielfalt (es gibt ca.10 verschiedene Arten in Kakamega Forest) sowohlim Wald als auch in der Agrarlandschaft die Vielfaltder früchtefressenden Tiere erhöht. Die Fragmentie-rung und der illegale Holzeinschlag im KakamegaForest führen nicht nur zu einem Rückgang der Arten-

Waldfragment in landwirtschaftlich genutzter Umgebung.

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Diadem-Meerkatze beimVerzehr von Früchten.

Interesse der lokalen Bevölkerung an der Feldarbeit in Kenia.

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und Individuenzahl von früchtefressenden Tiere, son-dern auch zu einer Verschlechterung wichtiger Öko-systemfunktionen, wie geringerer Ausbreitung vonBaumsamen, reduzierter Etablierung von Baumkeim-lingen und damit schlechterer Waldregeneration.Schließlich zeigte sich, dass auch die genetische Viel-falt einer vom Aussterben bedrohten, kommerziellwichtigen Baumart, der afrikanischen Kirsche, in denletzten 80 bis 100 Jahren abgenommen hat. Die afri-kanische Kirsche ist in Kenia, dem weltweit drittgröß-ten Lieferanten für pharmazeutische Produkte, vonhoher ökonomischer Bedeutung, da aus dieser Bau-mart wichtige Arzneistoffe (z.B. gegen Prostatalei-

den) gewonnen werden. Derzeit wird untersucht, wiedie genetische Vielfalt, und damit die Anpassungs-fähigkeit der afrikanischen Kirsche, aufrecht erhaltenwerden kann. Die Ergebnisse über Früchtefresser,Samenausbreitung, Regeneration und genetischeVielfalt zeigen, wie wichtig es ist, sich mit ökologi-schen Funktionen zu beschäftigen, um langfristigeFolgen der Waldnutzung abschätzen zu können undum geeignete Instrumente für den Schutz vonWäldern zu entwickeln. Die Ergebnisse haben großeBedeutung für das Management von tropischenWaldökosystemen und insbesondere für das Mana-gement des Kakamega Forest.

Weiterhin wird gerade der Einfluss der Klima-veränderungen auf kenianische Baum- und Vogel-gemeinschaften untersucht. Damit können die Er-gebnisse auch als Werkzeug benutzt werden, um dieFolgen von Änderungen in Temperatur und Nieder-schlag für Baum- und Vogelgemeinschaften in Kenia

vorherzusagen. Kenia ist derzeit das einzige tropischeLand mit landesweiten Verbreitungsdaten allerBaum- und Vogelarten. Dies eröffnet die einzigartigeMöglichkeit, die Beziehung zwischen Klimafaktorenund biologischer Vielfalt zu untersuchen, Prognosenfür die regionalen Folgen des Klimawandels zu ent-wickeln und Strategien zu erarbeiten, mit denen esmöglich ist, Landnutzungspraktiken an die zu erwar-tenden Veränderungen anzupassen. Weiterhin leistendie Untersuchungen des Projektes einen wichtigenBeitrag zum Klimaschutz. Die Zerstörung tropischerWälder war zwischen 1980 und 2000 für mindestensein Viertel aller anthropogenen CO2-Emissionen ver-antwortlich. Damit sind alle Maßnahmen, welche dieZerstörung tropischer Wälder reduzieren und dieWaldregeneration fördern, gleichzeitig auch Maß-nahmen, die CO2-Emissionen zu reduzieren und dieKohlenstoffspeicherung zu erhöhen. Im KakamegaForest sind die höchsten Werte für Kohlenstoffdichtenin denjenigen Bereichen des Waldes zu finden, dieam wenigsten vom Menschen gestört werden. Damitgewährleisten Handlungsempfehlungen für denErhalt eines naturnahen Waldes nicht nur den Erhaltder biologischen Vielfalt sondern erhöhen auch dieKohlenstoffspeicherung.

Ein zentrales Ziel des ganzen BIOTA Pro-jektes ist die Ausbildung afrikanischer Bürger undStudierender auf allen Ebenen. So fördert dasMainzer BIOTA Ost Projekt in Zusammenarbeit mitkenianischen Wissenschaftlern des Nationalmuse-ums und einer kenianischen Naturschutzorganisation(www.naturekenya.org) ein kontinuierliches Vogel-Monitoring-Programm in den unterschiedlichen Be-reichen des Kakamega Forest. Das besondere an die-sem Programm ist, dass die Arbeit vor Ort von An-wohnern des Waldes in eigener Regie durchgeführtwird. BIOTA Ost und die afrikanischen Wissenschaft-ler leisten finanzielle Unterstützung und Beratung fürdie Startphase. Das Ziel ist, ein langfristiges Pro-gramm zu installieren, das weit über die Projekt-phase hinaus von der lokalen Bevölkerung selbst-ständig weitergeführt wird. Daneben werden afrika-nische Feldassistenten und afrikanische Studierendebei ihren Bachelor-, Master- und Doktorarbeitenbetreut.

Die verschiedenen Projekte des BIOTA Ost-Verbundes bilden eine hervorragende Datengrund-lage, um gezielte Maßnahmen und Strategien zumSchutz von tropischen Regenwäldern zu erarbeiten.Ziel der dritten Förderungsphase ist es, gemeinsamKonzepte zu erarbeiten, die neben dem Schutz desWaldes auch eine nachhaltige Nutzung des Regen-waldes sowie eine nachhaltige Landwirtschaft imUmfeld beinhalten. Darüber hinaus entsteht durchdie Ausbildung von lokalen Mitarbeitern, Studieren-den und Wissenschaftlern ein Expertenwissen imLand, das dazu beiträgt, diese Strategien umzusetzenund langfristig aufrecht zu erhalten. �

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Studentin und Feld-assistent beim Vermessen

von Kleinsäugern.

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73FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Katrin Böhning-GaeseFachbereich BiologieInstitut für Zoologie, Abt. ÖkologieJohannes Gutenberg-Universität MainzBecherweg 13D-55128 MainzTel. +49(0)6131-39-23 949Fax +49(0)6131-39-23 731Email: [email protected]

Univ.-Prof. Dr. rer. nat.Katrin Böhning-Gaese

Katrin Böhning-Gaese, Jahr-gang 1964, studierte inTübingen und Albuquerque(USA) Biologie. Nach einerPostdoktorandenzeit amMax Planck-Institut für Ver-

haltensphysiologie, Vogelwarte Radolfzell und an derRWTH Aachen habilitierte sich Katrin Böhning-Gaesean der Universität Tübingen. Danach war sie Heisen-berg-Stipendiatin der DFG und ist seit 2001 Univer-sitäts-Professorin für Ökologie an der Johannes Gu-tenberg-Universität Mainz. Ihre Forschungsinteres-sen sind die Evolution, die Ökologie und der Schutzder biologischen Vielfalt. Der Schwerpunkt sind Un-tersuchungen zum Einfluss von Landnutzung undKlimawandel auf Tiergemeinschaften und die Folgenfür Ökosystemfunktionen.

Dr. rer. nat. Nina Farwig

Nina Farwig, geboren 1977,studierte in Marburg Bio-logie. Bereits während desStudiums nutzte sie imRahmen eines Praktikumsdie Möglichkeit, tropischeÖkosysteme kennenzuler-

nen. Die dort gefundene Faszination mündete in eineDiplomarbeit über die Bestäubungsökologie einerBaumart auf Madagaskar. Auch im Rahmen ihrerPromotion in Mainz stand eine afrikanische Baumartim Fokus ökologischer Fragestellungen. Diese Arbeitwar bereits eingebettet in das BIOTA Forschungspro-jekt in Ostafrika, welches sie seit 2005 koordiniert.Ihr Forschungsinteresse liegt in der Biodiversitäts-forschung mit besonderem Fokus auf die Beziehungzwischen biologischer Vielfalt und Ökosystempro-zessen.

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� Summary Human impact leads to considerable loss of globalbiodiversity. Within the framework of the interdisci-plinary research project BIOTA (Biodiversity TransectAnalysis in Africa; www.biota-africa.org) African andGerman scientists study the consequences of humanimpact and climate change on biodiversity and eco-system functioning in East-African rainforests. Theproject aims at warranting a maximum maintenanceof biodiversity and its functioning as well as promo-ting the sustainable use of biological diversity withprofit for the local population. In-country scientificcapacity building and awareness creation will contri-bute to implement tools and management strategiesin the long-term.

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Abb. 1: Aus der Serie ZOLLHAFEN.

Tiere verwesen, Pflanzen verrotten, Metall korro-diert und Gestein verwittert. Um die „Naturbasis“jenes außerordentlich vielschichtigen Prozessesvon physikalisch, chemisch und biologisch beding-ter Verwitterung besser zu verstehen, bietet sicheine interdisziplinäre Zusammenarbeit mit denNaturwissenschaften an.

Verwitterung ist ein Begriff, der sich ebenso auf Ge-genstände der Natur wie der Kultur bezieht. StarkeGefühle schwingen mit: Verwitterung ist auch eineSignatur unseres „Seins zum Tode“. Die seit bibli-schen Zeiten überlieferten Klagen über die Vergäng-lichkeit alles Irdischen und das damit verbundeneMemento mori werden als Gegenstand ästhetischerErfahrung in eine vertrackte Dialektik von subjekti-vem Erleben und objektiver Wahrnehmung hineinge-zogen. Dadurch wird eine aktuelle Ästhetik der Ver-witterung zu einem vielschichtigen Projekt, dessenMethodik von der Aufarbeitung empirischer Befundebis zu existenzphilosophischen und metaphysischenÜberlegungen reicht.

Denis Diderot, der als Initiator der großen fran-zösischen Enzyklopädie das bis heute gültige Kon-zept einer Gemeinschaft der Forschenden (scientificcommunity) entwickelt und damit – im Kampf gegenalte „Mächte der Finsternis“ – Wissenschaft und

Technik zum Motor des zivilisatorischen Fortschrittserklärt hatte, war zugleich Anhänger einer eher me-lancholischen Ästhetik der Verwitterung. Dies wirdvor allem durch seinen umfangreichen Beitrag zumPariser Kunstsalon des Jahres 1767 dokumentiert, indem etliche Ruinenbilder zu sehen waren: „Ruinenerwecken in mir erhabene Ideen. Alles wird zunichte,alles verfällt, alles vergeht. Nur die Welt bleibt be-stehen. Nur die Zeit dauert fort.Wie alt ist doch unse-re Welt! Ich wandle zwischen zwei Ewigkeiten. Wo-hin ich auch blicke, überall weisen mich die Gegen-stände, die mich umgeben, auf das Ende aller Dingehin, und so finde ich mich mit dem Ende ab, das micherwartet.“

Die ursprünglich religiös oder metaphysischbegründete Spannung in der Erfahrung des Verwit-terns zwischen Leben und Tod, zwischen Verzweif-lung und Hoffnung, wird nun im Zeichen der Erfah-rung des Erhabenen neu akzentuiert und durchauslustvoll besetzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sicheher sensualistisch um einen angenehmen Schrecken(delightful horror) im Sinne von Edmund Burke odereher idealistisch im Sinne von Immanuel Kant umeine gemischte Empfindung handelt, die den Gegen-satz von physischer Ohnmacht und mentaler Überle-genheit widerklingen lässt, in dem sich der Menschals „Bürger zweier Welten“ bewegt.

Verwitterung setzt stets an Substanzen, Din-gen und Körpern in Zeit und Raum an; sie werdendurch diesen Prozess in ihrem Zustand verändert undumgewandelt. Ihr Zerfall ist also eigentlich nur derÜbergang in einen anders benannten Zustand, zumBeispiel in Humus als organisches Verwitterungspro-dukt, in das Pflanzen dank der unermüdlichenAktivität zahlreicher Bodenorganismen transformiertwerden. Die Sprache kennt für derartige Prozesseverschiedene Benennungen. So heißt es, dass Gesteinverwittert, Eisen rostet, Metall insgesamt korrodiert;dass Pflanzen welken, verwelken, verrotten; dassTiere verenden, eingehen und dann verwesen; dassMenschen altern und sterben, wobei in diesem Falleder endgültige Übergang oft euphemistisch um-schrieben wird: Jemand entschläft, geht von uns oderer geht gar „in die Ewigkeit ein“.

Die Zeitlichkeit aller Verwitterung war immerwieder Gegenstand künstlerischer Anverwandlung inLiteratur, Musik und Bildender Kunst, wobei aller-dings nur die Unikate bildnerischer DarstellungenVerwitterung in buchstäblicher Weise „an sich

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Von Jörg Zimmermann

Ästhetik der Verwitterung

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Page 74: NATUR & GEIST - Willkommen an der JGU! · dass bei der Arbeit an den Grenzen des Wissens auch ethische Fragen bedacht werden. Dass die Mediatisierung vor der Wissenschaft nicht halt

selbst“ ästhetisch fühlbar werden lassen. Dies kannunbeabsichtigt geschehen durch ihre Abnutzung inder Zeit, wobei ihnen wie bei antiken Statuen oderalten Gemälden Patina als „ästhetischer Mehrwert“zuwächst. In der Kunst der Moderne kann dieserProzess demgegenüber durchaus beabsichtigt sein,wie es jüngst in besonders monumentaler WeiseRichard Serra vor Augen geführt hat: „Die Materieder Zeit“ heißt seine vor gut einem Jahr vor demGuggenheim-Museum in Bilbao aufgestellte riesen-hafte Skulptur aus vielen Tonnen rostenden Stahls,die in einigen Jahren in reinstem Oxyd-Orange er-strahlen wird. Das Beispiel des rostenden Stahlszeigt, dass Verwitterung getreu den Erhaltungssätzender Physik nur in sehr kurzsichtiger Betrachtung Zer-störung, Schwund und Tod bedeutet. Eigentlich gehtes um eine Interaktion von Stoffen, um Metamor-phose, wie sich dies außerhalb der Kunst in einemzeitlich wie räumlich überaus erhabenen Format ander Verwitterung ganzer Gebirge studieren lässt.

Verwitterung als Thema moderner Kunst und Ästhetik

In der Geschichte der Bildenden Kunst ist die Ruinebis zur Epoche der Romantik ein wichtiges Thema.Mit der Wende zur Moderne kommt es zu neuenästhetischen Konstellationen. Während der italieni-sche Futurismus die Ruinensentimentalität insge-samt attackiert, um andererseits die Erhabenheit desmodernen Kriegs mit seiner ungeheuren ruinösenHinterlassenschaft als „einzige Hygiene der Welt“ zupreisen, widmen sich Künstler wie Marcel Duchampoder Kurt Schwitters der „Feinstruktur“ von Phäno-menen der Verwitterung und lassen sie in die Kunstselbst einwandern. Solche Tendenzen finden sich ver-stärkt in der Neoavantgarde der sechziger Jahre,

soweit sie sich – wie vor allem die Fluxus-Bewegung– dem heraklitischen Prinzip des „Alles fließt“ ver-schrieb.

Fotografie als „eigensinniges“ Instrumentästhetischer Forschung

Die unter dem Titel Ästhetik der Verwitterung zusam-mengefasste und als work in progress zu verstehen-de Projektreihe wurde im Mai 2006 begonnen. DieAnsiedlung im Arbeitsbereich Kunsttheorie der Aka-demie für Bildende Künste legt dabei ein Forschungs-szenario nahe, das Bilder nicht nur zur Illustrierungvon Texten verwendet, sondern zu einem innovativenund ästhetisch „eigensinnigen“ Bestandteil derForschung erhebt. Ein solcher Einsatz verweist wie-derum auf einige bemerkenswerte Veränderungen imGebrauch der Fotografie im Spannungsfeld von do-kumentarischer Aufzeichnung, künstlerischer Dar-stellung und wissenschaftlicher Forschung. Paradig-matisch für diese Wendung ist die außerordentlicheWertschätzung, die seit den sechziger Jahren des 20.Jahrhunderts die fotografischen Serien von Berndund Hilla Becher genießen. Ihr Augenmerk gilt vor-zugsweise technischen Anlagen im Zustand begin-nender Verwitterung bis zum Abriss, also Ruinen derIndustriegesellschaft, die in Form von streng sachli-chen Aufnahmen präsentiert und archiviert werden.Nähert sich das Kameraauge demgegenüber demNahbereich der Verwitterung von Gestein, Metall,Holz usw., geht die Wahrnehmung technischer Rui-nen als „anonyme Skulpturen“ über in eine Erfor-schung der verwitternden Oberflächen bis an dieGrenze des Sichtbaren. Dadurch tritt die Verbindungmit bestimmten zeitlich und räumlich fixierten Ge-genständen in den Hintergrund.

BILDENDE KUNST

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Abb. 2: Aus der Serie METALLOMORPHIE.

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Die Möglichkeiten einer fotografischen Proto-kollierung, Akzentuierung und „Umcodierung“ vonBildern der Verwitterung sind in den letzten Jahrendurch die Fortschritte in der digitalen Aufnahme- undBildbearbeitungstechnik immens gesteigert worden.Fragt man nach dem leitenden Prinzip einer solchenMetamorphose des Sehens, so gerät man in denBannkreis surrealistischer Ästhetik und ihrer Vorläu-fer. Der bedeutendste Anreger war hier Leonardo daVinci, der in einer seiner später unter dem TitelTrattato della pittura firmierenden Notizen darlegt,wie man durch unvoreingenommene Betrachtungbunt gefleckter Mauern oder wechselnder Wolken-formen „wunderbare Erfindungen“ machen kann,die auf der Bildfläche Landschaften, Wälder oder Fi-gurationen aller Art entstehen lassen. Diese Methodeder Phantasiereizung und Bildfindung kann denStatus eines regelrechten ästhetischen Forschungs-prinzips beanspruchen. Im Bereich der BildendenKunst war es vor allem Max Ernst, der Verwit-terungsstrukturen von Holz, Stein, Metall, Pflanzenusw. zum Thema einer neuartigen Naturgeschichte(histoire naturelle) machte, wobei er vorgegebeneStrukturen durch eigene Erfindungen ergänzte. Esgeht dabei um assoziativ weitreichende Metamor-phosen des Sehens mit allen Spielarten des Grotes-ken, Phantastischen und Traumartigen. Vorbildlichbleibt der surrealistische Ansatz schließlich auch imHinblick auf das Ideal einer möglichst engen Ver-schränkung von Bildern, Texten und Diskursen, wiesie damals in Paris in einem eigens dafür eingerichte-ten „Büro für surrealistische Forschung“ mit interdis-ziplinären Verbindungen zu verschiedenen Wissen-schaften betrieben wurde.

ZOLLHAFEN / Fotografie und Ästhetik

Die vom 6. Mai bis zum 28. Juni 2006 im Weinlager-gebäude des Mainzer Zoll- und Binnenhafens gezeig-te Ausstellung, die zweiundsiebzig Exponate umfass-te, wurde von einem Katalogtext begleitet, in dessenMittelpunkt das Verhältnis von Logistik und Ästhetikim Zeichen des Containers als „Doppelwesen“ stand.Einerseits verkörpert der Container eine in ihrenMaßen exakt festgelegte und nur in einer eng be-grenzten Zahl von Typen zugelassene Transportein-heit des globalisierten Welthandels; andererseits„existieren“ Container in ihrer konkreten Erschei-nungsform ästhetisch individualisiert. Dank der jespezifischen Geschichte ihrer Ramponierung undVerwitterung können sie zu Trägern singulärer Bilderavancieren, deren Ausdruckscharakter in eine Rich-tung weist, die sich von rationaler Formgebung denk-bar weit entfernt. (Abb. 1).

Ernst Fischer verweist in einem Essay zu der inder Ausstellung dokumentierten fotografisch-ästhe-tischen „Spurensuche“ auf ebenso melancholischewie utopische Implikationen eines solchen Versuchs,Orte wie den inzwischen weitgehend aufgelassenenalten Mainzer Hafen zeichenhaft zu lesen und inKontexte einzubetten, die weit über eine dokumenta-rische Protokollierung hinausgehen. VermeintlicheZerstörung mutiert im günstigen Fall zu einem„Triumph des Schönen, der entsteht, wenn Zeit undNatur gewissermaßen als Künstler von den Dingendes Menschen Besitz ergreifen. Die Spuren desGebrauchs, die Kratzer, Risse, Absplitterungen ver-wandeln sich unter dieser Perspektive in Resultate

vertrauter graphischer Techniken, desMetallstichs, der Kaltnadelradierung,des Steindrucks, überhaupt verschiede-ner Ritz-, Schab- und Ätztechniken, ausdenen Farb-Palimpseste, Collagen undDecollagen entstanden sind.“ SolchenBildern sei überdies häufig im Sinneder Philosophie Ernst Blochs der„Vorschein eines ästhetischen Zeit-alters“ einbeschrieben. „Das So-Seinder Dinge ist viel weniger ein Nicht-Mehr-Sein als ein utopisches Noch-Nicht-Sein.“

BILDENDE KUNST

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Abb. 3: Aus der Serie CARRARA.

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METALLOMORPHIE

Diese dreiundzwanzig Exponate umfassende Ausstel-lung war vom 8. Juli bis zum 30. September 2007 ineinem Gewächshaus des Botanischen Gartens derJohannes Gutenberg-Universität zu sehen. Themawaren Zufallskonfigurationen zerstückelter und mehroder weniger stark korrodierter Metallteile auf einemFrankfurter Schrottplatz (Abb. 2). Der begleitendeText forderte dazu auf, diese Bilder durchaus auch inRichtung eines Übergangs vom Metallischen zum Ve-getabilischen zu betrachten, als Ansichten eines„Metallgartens“, wie ihn Ernst Theodor AmadeusHoffmann 1816 in seiner Erzählung „Die Bergwerkevon Falun“ als Folge von Traumbildern vor Augenführt.

CARRARA / paesaggi di marmo

In der Zeit vom 15. Mai bis zum 1. Juli 2008 wird inden Räumen des Frankfurter Istituto Italiano diCultura und später im Herbst im Gebäude derAccademia di Belle Arti in Carrara eine Ausstellungmit Ansichten von stark verwitterten Marmorblöckengezeigt, die am Strand der Versilia ihre „letzte Ruhe-stätte“ gefunden haben, weil sie sich als „Fehl-stücke“ nicht profitabel genug verkaufen ließen.Nun aber verkörpern sie gerade wegen ihrer durchVerwitterung hervorgetretenen individuellen Form,Struktur und Textur einen „ästhetischen Mehrwert“(Abb. 3). Diese ebenfalls mit einem Katalogtext ver-bundene Folge von Fotografien spielt nicht zuletztauf die Ästhetik jener alten Kunst- und Wunderkam-mern an, in denen unter anderem merkwürdigeSteine als „Spiele der Natur“ gezeigt wurden, wiezum Beispiel eine nicht von Menschenhand geschaf-fene marmorne „Kreuzigung Christi“, die im 17.Jahrhundert aufgefunden worden war und heute ineinem Kopenhagener Museum aufbewahrt wird.

WINTERREISE / Mittelrheintal

Dieses im November 2007 begonnene Teilprojektmacht die wenig beachtete „andere Seite“ desRheintals zum Thema einer durch Fotografien ergänz-ten ästhetischen Reflexion. Es geht vor allem um diePhysiognomik absterbender Vegetation und diedamit verbundene „Skelettierung“ der Landschaft,die wiederum deren geomorphologisch zu beschrei-bende bzw. zu rekonstruierende Gestalt deutlicherhervortreten lässt. Zur empirischen Anreicherung desProjekts ist eine interdisziplinäre Kooperation mitdem Fachbereich Biologie und dem Fachbereich Geo-wissenschaften avisiert. Ein wichtiger Forschungs-aspekt ist die Auswertung historischer Dokumenteund literarischer Zeugnisse zur Winterseite desRheintals.

BILDENDE KUNST

77FORSCHUNGSMAGAZIN 1 /2008

Abb. 4: Aus der SerieNACHTSTÜCKE UND TRAUMWERK.

Abb. 5: Aus der SerieNACHTSTÜCKE UND TRAUMWERK.

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Nachtstücke und Traumwerk

Die konsequente Erschließung von Phänomenen derMetallkorrosion eröffnet vor allem an den Grenzenzur Sichtbarkeit ein tendenziell unerschöpfliches Feldvon „Visionen“ landschaftlicher, figurativer und abs-trakter Art, deren Gewinnung sich als geradezuschulmäßige Anwendung surrealistischer Bild(er)fin-dung mit Mitteln digitaler Fotografie verstehen lässt.Die ästhetische „Maßarbeit“ besteht hier in der Be-harrlichkeit des Suchens, der Strenge der qualitativenAuswahl der Bilder und in der Plausibilität ihrerOrdnung nach Kriterien möglicher Verwandtschaft,Entgegensetzung, Variation, Überlagerung usw.(Abb. 4 und 5). Dazu gehören insbesondere auchquasi-musikalische Nachbarschaften von Farben,Formen und Strukturen. Um die „Naturbasis“ jenesaußerordentlich vielschichtigen Prozesses physika-lisch, chemisch und biologisch bedingter Verwitte-rung besser verstehen zu können, legt sich eineZusammenarbeit mit verschiedenen Disziplinen derNatur- und Technikwissenschaften nahe.

Nicht selten spiegeln die aufgefundenen Zu-fallskonfigurationen auf verblüffende Art und Weiseden Gestus prominenter künstlerischer Positionender Moderne wider. Es entsteht der Anschein, als obdie Natur in Verbindung mit handwerklich-industriel-len Arbeitsprozessen nunmehr der Kunst zurücker-statte, was diese in Abkehr von aller direkten Nach-ahmung im Zeichen der ästhetischen Moderne fürlange Zeit aus der Realität in den vermeintlich auto-nomen Kunstraum verbannt hatte. Zu den nicht zuunterschätzenden Konsequenzen einer solchenBetrachtungsweise gehört die Aufforderung, im In-teresse einer umfassenden ästhetischen Welt- undSelbsterfahrung den Kunstraum zumindest temporärzu verlassen, um sich der Tatsache zu vergewissern,daß die jenseits aller gewohnten Schematisierungerfahrene Wirklichkeit nach wie vor eine „Bildgebe-rin“ höchsten Ranges ist und bleiben wird. �

BILDENDE KUNST

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� Kontakt

Univ.-Prof. Dr. Jörg ZimmermannKunsttheorieJohannes Gutenberg-Universität MainzFB 11 Hochschule für Musik und Akademie für bildende Künste Am Taubertsberg 6D-55099 MainzEmail: [email protected]

Univ.-Prof. Dr. JörgZimmermann

Jörg Zimmermann, Jg. 1946,promovierte 1974 an derUniversität Tübingen überWittgensteins Sprachphilo-sophie. Ein langjähriges For-

schungsprojekt schloss er als Ko-Autor der 1988 beiCambridge University Press erschienenen Theory ofEarth Science ab. Nach seiner Habilitation an der Uni-versität Hamburg war er von 1987 bis 1995 Professorfür Kunstgeschichte und Kulturwissenschaft an derFH Hannover. Nach einer Gastprofessur an der Hum-boldt-Universität zu Berlin erhielt er 1995 den Rufauf eine Professur für Kunstgeschichte an der Uni-versität Frankfurt, folgte jedoch im Herbst desselbenJahres einem Ruf auf den Lehrstuhl für Kunsttheoriean der Universität Mainz. Im Mittelpunkt seiner For-schung stehen interdisziplinäre Fragestellungen derÄsthetik. Seine internationalen Verbindungen sindauf Italien konzentriert. Jörg Zimmermann ist Mit-glied der Gutenberg-Akademie und des Gutenberg-Forschungskollegs.

� Summary In 2006 we started a project called „Aesthetics ofWeathering“, which combines text and pictures. Indoing so photography serves as a special researchtool. First of all textures of weathered stone, metal,organic matters etc. are photographed using surrea-listic aesthetic effects. Texts are generated by meansof historical research as well as in collaboration withdifferent departments of natural and technicalscience. The next upcoming sub-project „Carrara“addresses the weathering of marble. It will bepresented in a temporary layoff between May 15th.and June 30th. 2008 in Frankfurt/Main.

Literatur

1) Zimmermann, Jörg: ZOLLHAFEN. Fotografie und Ästhetik.

Mit einem einführenden Essay von Ernst Fischer.

Ausstellungskatalog. Mainz 2006.

2) Zimmermann, Jörg: METALLOMORPHIE.

Ausstellungskatalog. Mainz 2007.

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