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Natur in Cassirers Kulturphilosophie: Mutmaßungen über eine begriffliche Abstinenz Vortrag in Turin, 10. Oktober 2013
von Birgit Recki, Hamburg
1.
Ich gehe von der Beobachtung aus, dass nicht nur die moderne Kulturphilosophie,
deren Anfänge man großzügig in Rousseaus Kritik der Kultur sehen kann, sondern auch
schon der Begriff der Kultur seit seinem ersten Auftreten mit dem topos der systematischen
Gegenüberstellung von Kultur und Natur operiert. Schon das vom lateinischen Verb „colere“
(drehen, wenden, bebauen, anbauen) abgeleitete Substantiv „cultura“ für Ackerbau, Anbau,
Pflege trägt die Spur eines agrarischen Ursprungs. Dem entsprechend verweist die Metapher,
als die wir den Begriff der Kultur zunächst sehen müssen, auf Natur als deren Gegenüber:
materiale Bedingung und Gegenhalt. Die wortgeschichtliche Ableitung bringt zum
Bewusstsein, dass das menschliche Herstellen und Handeln immer auf bereits Gegebenes, in
letzter Instanz Unverfügbares bezogen ist: Das Land muss da sein, damit ein Acker daraus
gemacht werden kann. Nach diesem Modell impliziert alle Kultur unabdingbar ein
Naturverhältnis, das zwar schlechthin vorausgesetzt ist, das aber (um ein naheliegendes
Missverständnis von vornherein zu vermeiden) durch diese Voraussetzung nicht als statisch
festgeschrieben sein muss, sondern mit fortschreitender theoretischer Differenzierung reflexiv
eingeholt werden kann. So wie in diesen elementaren Begriffen steht der Begriff der Kultur
auch in den elaborierten Theorien der philosophischen Anthropologie und der
Kulturphilosophie stets im begrifflichen Kontrast zur Natur.
In dieser Opposition konzipieren wir die Kultur grundlegend und universalisierend im
sogenannten Kollektivsingular: Wir verstehen darunter die produktive Lebensform, welche
dem Menschen als Gattungswesen zu eigen ist. Sie ist nach diesem Verständnis die in alle
menschliche Produktivität ausdifferenzierte Funktion der selbständigen Lebensgestaltung in
Gesellschaft und Geschichte. Mit dem Ansatz bei der Produktivität liegt der Akzent dabei
auch auf der Gestaltung: Die Kultur entspringt im poietischen Aspekt menschlicher Tätigkeit,
das Modell ihrer Leistungen ist das Werk. Der Mensch hat seine Wirklichkeit in der Kultur
als der Sphäre selbstgeschaffener Werke aller Art. Die Wirklichkeit des Menschen in der
Kultur besteht im Prozess werkhafter Objektivationen aller Art. Und dieses Verständnis hat
seinen Rückhalt weiterhin in der begriffsgeschichtlichen Ableitung des Kulturbegriffs von der
„cultura“. Der Bauer, der das vorgefundene Stück Land bearbeitet, um Früchte zu ernten,
also: um ein Produkt zu erzielen, wäre das Modell des kultivierten Menschen. Nach diesem
Modell impliziert der Begriff der Kultur die elementare Beziehung – der Angewiesenheit wie
der produktiven Entgegensetzung – zur Natur als dem Gegebenen, das in unseren
Handlungszusammenhängen zwar als notwendig vorausgesetzt, aber nur begrenzt disponibel
ist.
2.
Wir verdanken Ernst Cassirer einen der großen Systementwürfe des 20. Jahrhunderts.
In der Philosophie der symbolischen Formen entwickelt Cassirer seine symboltheoretisch
fundierte Kulturphilosophie. Gemeint ist damit die ausdrücklich als prima philosophia
begriffene Fundamentaldisziplin, die das Wesen des Menschen funktionsanalytisch in seinen
Leistungen aufsuchen will. Der Mensch hat seine Wirklichkeit in der Kultur als der Sphäre
selbstgeschaffener Werke aller Art. In ihnen tritt uns nichts anderes entgegen als unsere
eigene nach verschiedenen Gestaltungsmodi ausdifferenzierte geistige Selbsttätigkeit. In
diesem Verständnis ist der Kantische Gedanke der Kopernikanischen Wende ebenso
konsequent zur Geltung gebracht wie die – auf den Begriff des objektiven Geistes
konzentrierte – methodische Anweisung aus Hegels Phänomenologie des Geistes.
Symbolische Formen nennt Cassirer mit einer eigenen Begriffsprägung die großen je
durch ihr eigenes Gestaltungsmedium bestimmten Bereiche der Kultur: „Unter einer
`symbolischen Form´ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein
geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen
innerlich zugeeignet wird.”1
Symbolisierung ist damit generell begriffen als sinnliche Vermittlung von Bedeutung,
die in den unterschiedlichsten Materialien oder Medien geleistet wird: in artikuliertem Laut,
in Bildern, materiellen Dingen, Ritualen, Zeremonien und Techniken, überhaupt in
Handlungen aller Art, in Institutionen und in Formeln. Die drei Teile des großen Hauptwerkes
untersuchen unter dem Generalnenner der Symbolisierung drei symbolische Formen als
elementare Funktionen der Stiftung von Bedeutung: In Die Sprache (1923) begreift Cassirer
die sprachliche Artikulation als grundlegend und als exemplarisch für alle anderen Formen
der Kultur; in Das mythische Denken (1925) wird der Mythos als eine von der Dominanz der
Emotionalität und der Macht der Bilder charakterisierte Einstellung des Bewusstseins auf die
Wirklichkeit untersucht und von der Religion abgegrenzt; die Phänomenologie der Erkenntnis
(1929) widmet sich der Analyse des wissenschaftlichen Denkens als Unternehmen einer auf
fortschreitende Abstraktion und Verfügungsdistanz gerichteten reflektierten Objektivität.
1 Ernst Cassirer: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“(1923), 79.
Präzisiert findet sich die Arbeit der drei Monographien der Philosophie der symbolischen
Formen in einer Reihe von großen Abhandlungen, in denen Cassirer nicht nur die
Differenzierung seiner Theorie der Kultur in einzelnen Problembereichen, sondern
gleichermaßen deren Grundlegungsreflexion leistet: „Goethe und die mathematische Physik“
(1921); „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“ (1923);
„Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“ (1925); „Das
Symbolproblem und seine Stellung in der Philosophie (1927); „Technik und Form (1930);
„Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (1931); „Die Sprache und der Aufbau der
Gegenstandswelt“ (1932/33). In diesem Spektrum entfaltet Cassirer die vernetzte Vielfalt
symbolischer Formen als das System der Kultur.
Programmatisch genannt werden stets Mythos, Religion, Sprache, Kunst und
Wissenschaft; nach und nach wird deutlich, dass auch die Technik (in deren Würdigung sich
die Modernität der Theorie Cassirers exemplifiziert), das Recht, die Moral und die Geschichte
integral dazugehören. Die konzise Gesamtdarstellung dieses systematischen Gesamtwerkes
gibt Cassirer später im Essay on Man (1944). Den Leitgedanken seiner Kulturphilosophie
fasst er dort in der Bestimmung des Menschen als animal symbolicum. Diese ist bewusst in
der Schwebe gehalten zwischen hermeneutischem und pragmatischem Verständnis: Der
Mensch ist das symbolerzeugende und das symbolverstehende Wesen. Hier wird retrospektiv
auch (nicht allein dadurch, dass die Kapiteleinteilung im zweiten Teil des Buches entlang dem
Kanon der symbolischen Formen aufgebaut ist) explizit, was in der Anlage des Hauptwerkes
bereits deutlich werden kann: Die bedeutungstheoretisch fundierte Philosophie der Kultur
erfüllt von Anfang an das Format einer philosophischen Anthropologie.
Die spätere Reformulierung der Kulturphilosophie als philosophische Anthropologie
geht einher mit einer zuvor nicht geleisteten Reflexion auch auf die Stellung des Menschen in
der biologisch begriffenen Natur. Cassirer bezieht sich auf Johann jakob von Uexkülls
Theorie vom Funktionskreis des Lebewesens, der die Einpassung der tierischen Gattung in
ihre Umgebung im Schema von Merkwelt und Wirkwelt begreift (VM, 48f.). Mit Blick auf
den Menschen jedoch, so Cassirer, bedarf das Schema einer grundsätzlichen Erweiterung, die
einen qualitativen Sprung ausmacht: „Der Mensch hat gleichsam eine neue Methode entdeckt,
sich an seine Umgebung anzupassen. Zwischen dem Merknetz und dem Wirknetz, die uns bei
allen Tierarten begegnen, finden wir beim Menschen ein drittes Verbindungsglied, das wir als
‚Symbolnetz’ oder Symbolsystem bezeichnen können. Diese eigentümliche Leistung
verwandelt sein gesamtes Dasein“ (VM, 49). Der propädeutische Vergleich mit dem Tier
führt schnell auf die Pointe, deren systematischer Entfaltung Cassirers kulturphilosophisches
Programm insgesamt gewidmet ist: Der Mensch ist ein Wesen, das von vornherein über
natürliche Determinanten hinausgeht. Seine „eigentümliche Leistung“ ist nichts anderes als
die Fähigkeit zur Symbolisierung. Sie begründet „eine bestimmte Art von Beziehungsdenken,
für die es in der Tierwelt kein Äquivalent gibt“ (VM, 67). Der Mensch entwickelt derart eine
eigendynamische Sphäre des Sinnes. Wie gesagt: Er ist das „animal symbolicum“ (VM, 51).
Soweit Cassirers Tribut an die Reflexion auf die Natur des Menschen, die man von
jeder Anthropologie erwarten muss. Nach der `klassischen´ Entgegensetzung der Kultur mit
der Natur suchen wir in seiner Kulturphilosophie, in deren programmatischen
Absichtserklärungen wie in ihren systematischen Expositionen, vergebens. Cassirer exponiert
die Kultur als das System des von Menschen Gemachten nicht in Kontrast und Opposition zur
Natur als dem Gegebenen. Wenn uns somit in seiner Exposition der Kultur eine wesentliche
Einstiegsbestimmung zu fehlen scheint, so liegt zwar der Hinweis nahe, dass man hier nicht
am Wort kleben darf, sondern auf den Begriff achten muss, der sich womöglich als Implikat in
Bestimmungen `versteckt´, deren Terminologie nicht ausdrücklich die von Kultur und Natur
sein muss. Schon auf den ubiquitären Formbegriff – auch dort, wo in der Differenzierung von
forma formans und forma formata die Momente im dialektischen Prozess der Kultur als einer
Spirale des Formung und durch die Produkte der vorangegangenen Formung
Bestimmtwerdens gedacht werden sollen - trifft dies zu: Jede Form bezieht sich auf einen
Stoff, die Annahme einer formenden Energie des Geistes lebt also geradezu von der Annahme
eines Natursubstrates. Und so könnte Cassirer gegen den Vorwurf der `Naturvergessenheit´
ähnlich auftreten wie Kant mit seiner Widerlegung des Idealismus in der zweiten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft: Gegen den Einwand, den absoluten Idealismus einer sich nur
selbstgenügsam um die eigene Gestaltungsform drehenden Kultur könnte er mit Recht geltend
machen, dass die Untersuchung der symbolischen Formen per se als Funktionsanalyse der
Formung von Gegebenem angelegt ist. Und wie anders sollte dieses Gegebene pauschal
bestimmbar sein als im Inbegriff der Natur? Doch wenn er die Natur, wie man hier
argumentieren kann, in seinem Grundbegriff mitdenkt, wieso erwähnt er sie nicht explizit?
Ich möchte im folgenden eine exakte Mutmaßung darüber anstellen, aus welchem
Grund sich Cassirer so selten grundsätzlich und dabei niemals ausführlich zur Frage nach dem
Verhältnis von Kultur und Natur äußert,2 dessen Bestimmung wir am Fuße einer
Kulturphilosophie konventionell erwarten – und das soll heißen: eine Vermutung, mit der ich
möglichst nah an dem bleibe, was wir von Cassirers Ansatz und Absichten wissen können.
Die Quintessenz wird lauten, dass es sich bei dieser Auslassung, diesem Übergehen, das ich
2 Vgl. z.B. LKW, 376-381.
im Titel meines Beitrags als „begriffliche Abstinenz“ bezeichnet habe, nicht um einen blinden
Fleck handelt, sondern um einen toten Winkel. Und es ist nach meiner Einschätzung gerade
der methodische Kantianismus, der Cassirer in der Konsequenz zu der Zurückhaltung
gegenüber der Opposition von Kultur und Natur anhält.
Entscheidend ist hier die schon früh auf der methodischen Basis der Kantischen
Vernunftkritik ausgeprägte Einsicht, die wir uns im Begriff des transzendentalen Idealismus
vertraut ist: Dass wir die Dinge niemals so erkennen, wie sie an sich selbst betrachtet wären,
sondern immer nur so, wie sie uns gemäß den Bedingungen unserer Erkenntnisformen
erscheinen, lässt sich unschwer auch in der generalisierenden Konsequenz für die Natur
formulieren: dass wir Natur niemals unverstellt als solche, sondern nur vermittelt durch die
Vorgaben unserer Begriffsbildung haben. Ich bedaure es, dass ich diesem Gedanken nicht
durch die symbolischen Formen, in deren Untersuchung ihn Cassirer selbst verfolgt,
nachgehen kann. Soviel immerhin sei ganz kurz resümiert: dem mythischen Bewusstsein
erscheint die Natur als die gleichermaßen umgebende wie eindringende Sphäre überlegener
Mächte, in der Kunst bietet sie sich dar als ein als Vorbild fungierendes Reservoir schöner
Gestalten. Ich werde mich im Folgenden auf die Konstitution der (Gegenstände der) Natur
durch die Konzepte der naturwissenschaftlichen Forschung konzentrieren. Grundsätzlich gilt:
Die einfache, unvermittelte Gegenüberstellung nach dem Schema von thesis und physis: von
Kultur als dem `Menschenwerk´ und Natur als quasi Werkstoff drohte den für Cassirer
gültigen erkenntnistheoretischen Vorbehalt preiszugeben. Sie verbietet sich für den durch die
Kantische Vernunftkritik geschulten Kulturphilosophen, der sein Werk als eine
Transformation der Kritik der Vernunft in eine Kritik der Kultur unter Wahrung des
epistemologischen Methodenbewusstseins begreift.3 Allzu klar ist ihm, dass auch die Natur,
sofern wir nur anfangen, uns begrifflich auf sie zu beziehen, bereits `Menschenwerk´ ist.
3.
In eigener Absicht hat Cassirer diesen Gedanken zum erstenmal in seinem ersten
systematischen Werk, der Monographie Substanzbegriff und Funktionsbegriff 1910,
ausführlich und auf der Höhe der zeitgenössischen naturwissenschaftlichen und
wissenschaftstheoretischen Forschung zur Geltung gebracht. Er legt damit in der Sache
bereits die Bestimmung der Wissenschaft als symbolische Form vor. Die mathematische
Naturwissenschaft ist die erste symbolische Form, deren Begriff er entwickelt, bevor noch der
3 Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (1923). Einleitung, ECW 11, Hamburg 2001.
Terminus geprägt ist, indem er ihre Verfahren einer grundlegenden Analyse unterzieht. Das
mag insofern überraschen, als die programmatische Einleitung in die Philosophie der
symbolischen Formen 1923 außer als Rechenschaftsbericht über die systematischen Absichten
dieses philosophischen Systementwurfs auch als Manifest eines gänzlich neuen Anfangs
gelesen worden ist. Cassirer sagt zwar ausdrücklich, dass er mit dem hier begonnenen Werk
eine Phänomenologie des Geistes und eine Grundlegung der Geisteswissenschaften
intendiert. Daraus zu schließen, es wäre bei dem „Erkenntnis-Cassirer“, wie in Würdigung der
Leistungen in seinem ersten Forschungsgebiet der junge Privatdozent an der Berliner
Universität genannt wurde, ein geisteswissenschaftlicher und symboltheoretischer turn, ja
überhaupt so etwas wie eine Wende, geschweige denn ein Bruch, erforderlich gewesen, um
ihn zum Programm einer Philosophie der symbolischen Formen zu bringen, wäre irrig. Nicht
nach dem Modell der Wende oder Kehre, erst recht nicht als Bruch ist Cassirers Entwicklung
angemessen zu verstehen, sondern nach dem der Horizonterweiterung, verstanden als flexible
Extrapolation von Bewährtem. Der Geltungsanspruch seiner Absichtserklärungen in der
Einleitung zum ersten Band der Philosophie der symbolischen Formen wird um kein Jota
geschmälert durch die Feststellung, dass die Einsicht in den tragenden Status der Symbolizität
von Bedeutung genealogisch aus der Theorie des Begriffs stammt, die er in der
Wissenschaftstheorie der mathematischen Naturwissenschaften entwickelt hat – in
Substanzbegriff und Funktionsbegriff.
Die These des Buches lautet: Der Begriff – gemeint ist hier stets das wissenschaftliche
Konzept – ist nicht den Dingen abgezogen, er leistet nicht die Wiedergabe der Substanz der
Dinge; er ist vielmehr ein Konstrukt, eine Funktion des Verstandes zu deren Konstruktion.
Wissenschaft als das methodisch und systematisch betriebene Unternehmen der Erkenntnis
leistet eine Konstruktion von Wirklichkeit im Medium der Begriffe. Cassirer entwickelt seine
Theorie des wissenschaftlichen Begriffs gegen die Aristotelische Theorie des
Gattungsbegriffs, die in ihrem wesentlichen Zug mit der naiven Weltsicht kongruiert und sich
unbemerkt auch in elaborierten Theorien der Erkenntnis durchhält. An dieser vorherrschenden
Theorie des Begriffs macht Cassirer in kritischer Absicht sichtbar, dass sie einem
„Begriffsrealismus“ (SuF, 7) und einer abbildrealistischen Vorstellung – also einem
Widerspiegelungsmodell der Erkenntnis – verhaftet ist; so als wären die Einteilungen etwa in
`Ding und Eigenschaft´, in `Ganzes und Teil´ als Beschreibungen von objektiven,
beschreibungsinvarianten Verhältnissen an Dingen, als Eigenschaften der Dinge selber
anzusehen.
Selbst wenn man sich zunächst wohlwollend auf dieses Modell einlässt, lassen sich
seine Mängel schnell erkennen: Was auf diese Weise zumindest nicht erfasst wird, ist der Fall
der mathematischen Begriffsbildung, der in einem Akt nicht der Abstraktion von etwas als
gegeben Unterstelltem, sondern der ursprünglichen Bestimmung als Setzung besteht. Schon
Kant hatte in der Schrift Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und
Moral 1765 dieses Verfahren der Mathematik als synthetisch bezeichnet und davon das
analytische Verfahren der Philosophie unterschieden: Philosophisches Denken geht von
gegebenen Begriffen aus und kommt zu seinen Erkenntnissen durch deren fortschreitende
Analyse, während in der Mathematik im Sinne ursprünglicher Setzung durch Konstruktion,
im Ausgang also von der Definition, durchaus etwas gleichsam erfunden wird.4 „Genetische
Definition“ nennt Cassirer das konstruktive Verfahren des Gedankens in der Mathematik und
führt als Beispiel die Begriffe von Punkt, Linie, Fläche an. „Der Begriff des Punktes, der
Linie, der Fläche läßt sich nicht als unmittelbarer Teilbestand des physisch vorhandenen
Körpers aufweisen und sich somit nicht durch einfache Abstraktion aus ihm herauslösen.
Schon gegenüber diesen einfachen Beispielen, die die exakte Wissenschaft liefert, sieht sich
daher die logische Technik vor eine neue Aufgabe gestellt. Die mathematischen Begriffe, die
durch genetische Definition, durch die gedankliche Feststellung eines konstruktiven
Zusammenhangs entstehen, scheiden sich von den empirischen, die lediglich die Nachbildung
irgendwelcher tatsächlichen Züge in der gegebenen Wirklichkeit der Dinge sein wollen.“
(SuF, 11; H.v.m.) Was auf diese Weise belegt werden soll, ist dies: Es handelt sich bei solcher
Begriffsbildung um einen eigenen „Akt des Denkens, eine freie Produktion der
Relationszusammenhänge“ (SuF, 11).
Im weiteren Duktus von Cassirers Überlegung zeigt sich bald, dass das Beispiel nicht
den Bereich der Ausnahmen von der Nachbildungsfunktion der Begriffe markieren soll, es
soll vielmehr exemplarisch sein: Mit dem Ansatz beim begrifflichen Verfahren der
Mathematik ist nur der besonders prägnante, offen zutage tretende Fall der Abweichung von
der Vorgabe der Abstraktionstheorie des Begriffs und seiner substanzmetaphysischen
Voraussetzung bezeichnet. Schon vor der Hinwendung zum speziellen und wie sich dann
herausstellt, eben nicht speziellen, sondern exemplarischen Fall der geometrischen Begriffe
muss am kritisierten Modell auffallen, dass es hier offensichtlich eine „Lücke“ der Erklärung
gibt (SuF, 5): Wodurch soll eigentlich gewährleistet sein, dass die gemeinsamen Merkmale,
die der Begriff festhält, auch die „charakteristischen Züge“ der Dinge treffen? Für Aristoteles
4 Immanuel Kant: Über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral (1765), in: Akademie-Ausgabe Bd. II (Vorkritische Schriften II).
gilt, so Cassirer, der „logische Vorrang des Substanzbegriffs“ (SuF, 6), der den ontologischen
Vorrang der Substanz impliziert: Der Begriff vollziehe die Gliederung des Seienden nach; er
artikuliere die Eigenschaften von an sich seienden „Wirklichkeiten“ (SuF, 7). Nach der
Auseinandersetzung mit dem synthetischen Charakter der mathematischen Begriffe lässt sich
das Problem, das hierin besteht, besser artikulieren. Die von diesem Fall ausgehende am
historischen und zeitgenössischen Material wissenschaftlicher Theorien durchgeführte These,
dass alle Begriffsbildung an eine bestimmte Form der Konstruktion („Reihenbildung“)
gebunden ist, führt dann auf die grundlegende Einsicht in die konstruktive Leistung des
erkennenden Bewusstseins überhaupt, die Cassirer in der Theorie der identifizierenden
Synthese als der aller Begriffsbildung zugrunde liegenden gedanklichen Funktion realisiert.
(SuF, 13) Da wird erkennbar, was der Titel Substanzbegriff und Funktionsbegriff meint: Nicht
soll eine gleichwertige Nebenordnung zweier Typen der Begriffsbildung gegeben werden, es
soll vielmehr anhand einer systematischen Alternative etwas richtiggestellt werden.
„Funktionsbegriff statt Substanzbegriff“ würde der Titel lauten, wenn er die programmatische
Absicht des Gedankens wiedergeben sollte.
„Was der Theorie der Abstraktion [deren Ziel es ist, `Substanzbegriffe´ zu bilden, B.R.]
Halt verleiht, ist somit lediglich der Umstand, dass sie die Inhalte, aus welchen der Begriff
sich entwickeln soll, selbst nicht als unverbundene Besonderheiten voraussetzt, sondern sie
bereits stillschweigend in der Form einer geordneten Mannigfaltigkeit denkt. Der Begriff aber
ist damit nicht abgeleitet, sondern vorweggenommen. Denn indem wir einer Mannigfaltigkeit
eine Ordnung und einen Zusammenhang ihrer Elemente zusprechen, haben wir ihn, wenn
nicht in seiner fertigen Gestalt, so doch in seiner grundlegenden Funktion bereits
vorausgesetzt.“ (SuF, 16) Es ist mit anderen Worten ein Hysteron-Proteron-Fehler, den
Cassirer der Abstraktionstheorie des Begriffs vorwirft. Das naive, unreflektierte Bewusstsein
übersieht seine eigenen Voraussetzungen der Begriffsbildung. In den unterstellten
Eigenschaften der Dinge, die der Begriff vermeintlich bloß zusammenfasst, um auf diese
Weise den Gegenstand zu bestimmen, stecken vielmehr, so macht Cassirer geltend, immer
schon kategoriale Akte zu deren Formung und Beurteilung. Er spricht provisorisch von einem
„Prozeß der Umformung der konkret sinnlichen Wirklichkeit“ (SuF, 13). Provisorisch muss
man dies deshalb nennen, weil später im Kapitel „Der Begriff der Wirklichkeit“ ausgeführt
wird, dass es im erkenntnistheoretisch reflektierten Sinne vor dieser `Umformung´ durch den
Begriff noch gar keine „Wirklichkeit“ im Sinne artikulierter Gegenständlichkeit gibt, es sich
also nicht um eine Umformung, sondern um eine genuine Formung der Wirklichkeit handelt.
Wie die Feststellung der Eigenschaften (Merkmale) bereits eine konstruktive gedankliche
Funktion ist, so sind generell die Dinge keine absoluten Substanzen jenseits aller Erkenntnis;
sie sind vielmehr die Objekte, die sich „in der fortschreitenden Erfahrung selbst“, d.h. in den
ihr zugrunde liegenden kategorialen Akten erst gestalten.
Gegenständlichkeit ist demnach eine Funktion von regelmäßigen strukturell
konstanten Bewusstseinsakten. Cassirers These trägt gleichermaßen die Einsicht in die
Invariabilität der Voraussetzung von Leistungen des Bewusstseins wie in die Historizität aller
Begriffsbildung – und darf insofern als eine jener Varianten der Historisierung des Kantischen
Apriori angesprochen werden, wie sie im Neukantianismus verschiedentlich beansprucht
wurden. Cassirer exemplifiziert seine These in der Analyse der mathematischen und der
naturwissenschaftlichen Begriffsbildung und entwickelt auf dieser Grundlage in einer
allgemeinen erkenntnistheoretischen Reflexion auf das rein relationale Verhältnis von
`Denken und Sein´, von `Subjekt und Objekt´ seinen kritisch reflektierten Begriff von
Wirklichkeit im Sinne empirischer Gegenständlichkeit.
Es ist der Begriff der Objektivität, der diese in methodischen (logischen) „Haltpunkten“, in
einem fortschreitenden Prozess der Gewinnung von Konstanten der Erfahrung markiert. Der
Gegensatz von „objektiv“ und „subjektiv“ meint aber einen dynamischen Gegensatz, eine
methodische Korrelation – nicht „eine Veränderung, die die Substanz der Dinge, sondern
lediglich […] eine solche, die die kritische Bewertung von Erkenntnissen erfährt“; keine
„starre Scheidewand“, sondern „eine bewegliche Grenze, die sich im Fortgang der Erkenntnis
selbst beständig verschiebt“ (SuF, 295): So behauptet auf der einen Seite z.B. die sinnliche
Wahrnehmung gegenüber Halluzination und Traum einen Anspruch auf Objektivität, während
sie gegenüber dem Schema der exakten Physik das bloß Subjektive repräsentiert (SuF, 297);
Cassirer spricht daraufhin von der „Stufenfolge in den Graden der Objektivität“. Das
Subjektive ist – ebenso wie auf der anderen Seite das Objektive – kein ursprünglich und
selbstverständlich gegebener Ausgangspunkt, „sondern es ist erst das Ergebnis einer Analyse,
die den Bestand der Erfahrung selbst, die also die Geltung fester gesetzlicher Relationen
zwischen Inhalten überhaupt voraussetzt“ (SuF, 296).
Die Funktion des Begriffs ist es, durch das Festhalten identischer Beziehungen im
wechselnden Vorstellungsinhalt solche Relationen allererst zu stiften. Nicht in der Abbildung
eines vermeintlich gegebenen Mannigfaltigen, „sondern darin, daß er ein Gesetz der
Beziehung in sich schließt, durch welches ein neuer und einzigartiger Zusammenhang des
Mannigfaltigen erst geschaffen wird“, liegt für Cassirer die „eigentliche Leistung des
Begriffs“ (SuF, 308). Durch logische „Verknüpfung“, durch die damit gestiftete „Ordnung“
entsteht so empirische Gegenständlichkeit. Es ist somit die logische Differenzierung der
Erfahrungsinhalte und ihre Einordnung in ein gegliedertes System von Abhängigkeiten, was
den eigentlichen Kern des Wirklichkeitsbegriffs bildet. (SuF, 302)
Cassirer prägt für seinen methodischen Ansatz, der in einem ersten Zugriff als ein im
weitesten Sinne verstandener Konstruktivismus charakterisiert werden mag, mit Bedacht den
programmatischen Titel eines „kritischen Idealismus“ (SuF, 321) bzw. „logischen
Idealismus“ (SuF, 333). Kant hatte mit seinem „transzendentalen Idealismus“, der
Unterscheidung zwischen Noumenon (Ding an sich) und Phaenomenon (Erscheinung) den
Gedanken in die Welt gebracht, dass wir die Dinge nicht erkennen können, wie sie an sich
selbst betrachtet sind, sondern nur so, wie sie uns erscheinen. Die Gegenstände als
Erscheinungen wären das Produkt kategorialer Erzeugung, eines Schematismus, in welchem
regelmäßig die Kategorien des Verstandes auf die Formen unserer Sinnlichkeit bezogen
werden müssen, wenn aus gegebenen Sinnesdaten Gegenstände synthetisiert werden sollen.5
In genauem Nachvollzug von Theoriebildung in der modernen Naturwissenschaft und unter
Nutzung der seither gewonnenen begrifflichen und methodischen Differenzierung entfaltet
Cassirer diese kritische Einsicht. Die Ausdrücke kritischer Idealismus und logischer
Idealismus sollen dabei die These auf den Begriff bringen: Die Dinge haben als Gegenstände
der Erkenntnis ihren Bestand in begrifflichen Relationen, die als logische Funktionen
gedanklicher Synthese zu begreifen und von denen jene unablösbar sind. Der Gegenstand darf
„nicht als eine absolute Substanz jenseits aller Erkenntnis“ bestimmt werden, „sondern als das
Objekt, wie es sich in der fortschreitenden Erfahrung selbst gestaltet.“
„Es gibt somit freilich im strengen Sinne kein absolutes, sondern immer nur ein relatives Sein:
Aber diese Relativität bedeutet ersichtlich nicht die physische (und wie Cassirer zuvor geltend
gemacht hat: auch nicht die psychische, B.R.] Abhängigkeit von den einzelnen denkenden
Subjekten, sondern die logische Abhängigkeit vom Inhalt bestimmter allgemeingültiger
Obersätze aller Erkenntnis überhaupt. Der Satz, daß das Sein ein `Produkt´ des Denkens ist,
enthält somit hier keinerlei Hindeutung auf irgendein physisches oder metaphysisches
Kausalverhältnis, sondern er bezeichnet lediglich eine rein funktionale Beziehung, ein
Verhältnis der Über- und Unterordnung in der Gültigkeit bestimmter Urteile.“ (SuF, 321)
Was der konstruktive Begriff, was das Urteil derart leistet, fasst Cassirer im Begriff
der Repräsentation. Damit ist, in der Betonung von Bezeichnung und zeichenhaften
Relationen, der Ursprung der terminologischen und systematischen Entscheidung für eine
Theorie der symbolischen Formen bezeichnet. Die logischen Verknüpfungen der Begriffe
repräsentieren empirische Gegenständlichkeit, wirkliche Relationen. Eine konstitutive
5 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (Zweite Auflage 1787), in: Akademie-Ausgabe Bd. III.
Bedingung allen Erfahrungsinhalts im Sinne dieses Wirklichkeitsverständnisses bildet schon
in Substanzbegriff und Funktionsbegriff die Repräsentation in einem System von Relationen,
die nicht anders als in Symbolen geleistet wird.
4.
Zum erstenmal tritt der Symbolbegriff, noch völlig promiscue mit dem Begriff des
Zeichens verwendet, im Kapitel „Der Begriff der Wirklichkeit“ dort auf, wo Cassirer vom
Status des Experiments als eines Präparates von unter bestimmte kontrollierbare Bedingungen
gesetzten Wahrnehmungstatsachen handelt: Das Experiment erklärt – unter methodischen
Vorkehrungen – den tatsächlichen zum idealen Fall, den die Theorie voraussetzt. Unter
Experimentalbedingungen werden nicht Dinge betrachtet, sondern es wird über die Dinge in
Begriffen gesprochen, „die ihrerseits wiederum nur das Symbol und die Hülle für allgemeine
mathematisch-physikalische Beziehungen und Zusammenhänge sind.“ (SuF, 302; H.v.m.)
Aber nicht nur wie in dieser Formulierung die Begriffe als Symbol bezeichnet werden –
generell verlangt das methodisch reflektierte Bewusstsein von der Repräsentation als
Vorstellung von Gegenständen, wie es im wissenschaftlichen Forschungsprozess
exemplarisch ausgebildet wird, geradezu nach dem Ausdruck „Symbol“ – so etwa in der
Formulierung: „Der „einzelne gegebene Eindruck bleibt nicht schlechthin, was er ist, sondern
wird zum Symbol der durchgehenden systematischen Verfassung, innerhalb deren er steht und
an welchem er in bestimmtem Maße teilhat.“ (SuF, 303)
Cassirer spricht ausdrücklich von einer „Art `Transzendenz´“, einem Hinausweisen des
einzelnen Eindrucks über sich selbst hinaus auf den Zusammenhang, in dem er steht und den
er – als Symbol – bedeutet. Das heißt aber auch, dass er der Sache nach am Symbol die
Funktion eines pars pro toto betont: Ein Teil steht für das Ganze der als signifikant
behaupteten Bestimmungen, die er zusammenfasst und vorstellt. Darin kündigt sich bereits
ein Gedanke an, den Cassirer 15 Jahre später im Zenit seiner Philosophie der symbolischen
Formen entfalten wird: In seiner Theorie der radikalen Metapher wird er als die elementare,
aller Symbolisierung gemeinsame Funktion die der Übertragung eines Erfahrungsgehaltes in
ein fremdes, in ein anderes Medium herausarbeiten und als von Grund auf wirksames
Funktionsmerkmal dieser Übertragung das Eigenschaften bündelnde pars pro toto dieser
Ausdrucksfunktion bestimmen.6
6 Ernst Cassirer: „Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen“ (1925), ECW 16, Hamburg 2003, 227-311; hier: 298-310.
In Substanzbegriff und Funktionsbegriff lässt sich zunächst eine andere systematische
Konsequenz feststellen: Als eine „Art `Transzendenz´“ gefasst, trägt der Begriff des Symbols
ganz selbstverständlich eine weitere Option, die mit diesem Ansatz einhergeht: den
Kohärenzgedanken. Wir hatten gesehen: Wirklichkeit wird Cassirer zufolge in der logischen
Differenzierung der Erfahrungsinhalte und ihrer Einordnung in ein gegliedertes System der
Abhängigkeiten konstituiert. (SuF, 302) An einer späteren Stelle – im Kontext der
Überlegungen über Repräsentation – wird die wahrheitstheoretische Position deutlich, die mit
diesem logischen und ontologischen `Konstruktivismus´ avant la lettre bereits bezogen ist:
Die Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Schein sei nur im System der Erfahrung
möglich. ((SuF, 306f.) Es wird insgesamt deutlich, dass die begriffliche Konstitution von
Wirklichkeit das Herstellen eines systematischen Zusammenhanges ist. Unter anderem ist es
dies, was Cassirer im Begriff des Symbols ausdrückt, wenn er sagt: „Jedes Einzelglied der
Erfahrung besitzt insofern symbolischen Charakter, als in ihm das Gesamtgesetz, das die
Allheit der Glieder umschließt, mit gesetzt und mitgemeint ist.“ (SuF, 324)
Das so verstandene Symbol hat insofern eine doppelte Verweisungsfunktion: es
bedeutet nicht nur das Ding als Gegenstand bzw. dessen signifikante Merkmale, sondern
verweist zugleich auf den gesamten methodischen Zusammenhang der
Gegenstandsgewinnung. Damit ist aber auch schon der Gedanke artikuliert, auf den Cassirer
bei der Explikation seines theoretischen Programms bis zuletzt Wert legt: Die Funktion des
Symbols indiziert Systematizität; ein Symbol kommt niemals allein, es kann seine Funktion
vielmehr nur im System erfüllen. Dieses Merkmal des Symbolischen wird Cassirer später
dazu dienen, das Symbol vom bloßen Zeichen zu unterscheiden: „Symbol“ ist immer Element
eines Systems der Bedeutung, während „Zeichen“ bloß stationär und isoliert bleibt.7
Wird Cassirer zufolge Wirklichkeit in der logischen Differenzierung der
Erfahrungsinhalte und ihrer Einordnung in ein gegliedertes System der Abhängigkeiten
konstituiert (SuF, 322), so hat man sich den Prozess der Begriffsbildung, in dem diese
Differenzierung und Einordnung geleistet werden, als zeichenhaft bzw. symbolisch
vorzustellen. Festzuhalten gilt es: Begriffe sind Symbole. Die mathematischen und
naturwissenschaftlichen Begriffe, an deren Genese Cassirer seinen erkenntnistheoretischen
Gedanken exemplarisch macht, sind die ersten Symbole, die er explizit behandelt. Sie sollten
nicht die einzigen bleiben. Die Theorie der Begriffsbildung in Substanzbegriff und
Funktionsbegriff hat vielmehr als der Nukleus der Philosophie der symbolischen Formen zu
7 Ernst Cassirer: An Essay on Man (1944; deutsch: Versuch über den Menschen (1990), S. 13-100; hier: 57-69).
gelten. Die naheliegende und unauffällig, ohne jede terminologische Prägnanz und
theoretische Prätention sich einstellende Explikation, dass die wissenschaftlichen Begriffe
eine Art von Symbolen sind, muss nur selber in den Fokus der Reflexion treten, um zum
Ausgangspunkt einer umfänglichen Konstitutionstheorie der Wirklichkeit zu werden: Es gibt
noch andere Arten von Symbolen. Von hier aus entwickelt Cassirer den Leitgedanken der
ubiquitären Produktivität des menschlichen Geistes in jenen typischen Formen der Stiftung
von Bedeutung, in denen wir die Gestaltung der objektiven Welt menschlicher Kultur zu
sehen haben.
„Unter einer symbolischen Form verstehen wir jede Energie des Geistes, durch welche ein
geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen
innerlich zugeeignet wird.“ Dies ist der locus classicus zur Bestimmung des
symboltheoretischen Grundbegriffs, der Cassirers Projekt einer bedeutungstheoretisch
fundierten Philosophie der Kultur ihren Titel gegeben hat. Es geht hier um die Definition
dessen, was Cassirer seither als die elementaren Formen menschlicher Kultur begreift und als
die er Sprache, Mythos und Religion, Kunst, Geschichte, Technik und Wissenschaft aufführt.
Im informierten Rückblick wird prägnant, dass derart die Wissenschaft die erste symbolische
Form ist, die Cassirer analysiert und von deren generalisierbaren methodischen Befunden er
ausgeht, um eine Philosophie der symbolischen Formen zu entwickeln. Mit dem Übergang
von der Wissenschaftstheorie zur Theorie der Kultur, mit der Transformation der Kritik der
Vernunft in die Kritik der Kultur löst das „Symbol“ (der Begriff, in dem Cassirer die
konstruktiv-repräsentative Funktion auch des Begriffs explizieren wird) den „Begriff“ ab und
wird zum Element von Gegenständlichkeit in jedem nur denkbaren Sinne.
Die schon eingangs geäußerte Auffassung von der Horizonterweiterung, die sich für
das Problem der Bedeutung als der elementaren Relation, die die Wirklichkeit des Menschen
trägt, für sein Haben von Welt aufdrängt, kann sich auch darauf stützen, dass Cassirer im
Rückblick auf sein erstes selbständiges Werk 1928 denselben Zusammenhang zwischen
frühem und späterem Werk aus der Richtung einer Theorie des Begriffs eben so herstellt:
„Denn noch weit enger als es in der früheren Darstellung der Fall war, erscheint jetzt für mich
das logische Problem des Begriffs mit dem allgemeinen Bedeutungsproblem verknüpft. Nur
im Rahmen einer systematischen `Bedeutungslehre´ läßt sich, wie mir scheint, die Lehre vom
Begriff zureichend begründen und vollständig aufbauen. […] Die gesamte Sphäre der
`exakten´ Begriffe bildet […] nur eine besondere Provinz innerhalb der Region der
theoretischen Bedeutung – und auch diese letztere, auch das Gebiet des spezifisch
theoretischen `Sinnes´ macht nicht das Ganze des Sinns überhaupt aus.“8
In dem frühen Werk von 1910 ist zu beobachten, wie Cassirer den Symbolbegriff ganz
geläufig ohne jede terminologische und programmatische Intention verwendet. Die
methodische Reflexion erfolgt erst zu einer Zeit, da die Philosophie der symbolischen Formen
sich bereits ankündigt. In dem programmatischen Aufsatz zum neuen Systementwurf heißt es
1923: „Jede Einzelwissenschaft prägt in ihrem Fortgang immer feinere und eigentümlichere
Begriffsmittel aus, und sie lernt zugleich mehr und mehr, sie als das, was sie sind, als
intellektuelle Symbole, zu verstehen.“9
Das heißt freilich nicht nur: Die Grundlegung der Naturwissenschaften war bereits
geleistet, als Cassirer sich zu seiner Grundlegung der Geisteswissenschaften anschickte, und
bereits in der Grundlegung der Naturwissenschaften hatte Cassirer sich des Gedankens
versichert, der auch die Philosophie der symbolischen Formen als eine Grundlegung der
Geisteswissenschaften tragen sollte: Symbolisierung ist das Element der Hervorbringung und
des Verstehens von Bedeutung aller Art. Es heißt auch: Damit ist in der Auswertung und
Auseinandersetzung mit dem wissenschaftstheoretischen Forschungsstand in den
mathematischen Naturwissenschaften die grundsätzliche Einsicht konkretisiert, dass wir Natur
niemals als das bloß aus sich selbst gewachsene Andere unserer kulturellen Symbolisierung
haben. Der Begriff der Natur, hier in konkreter und elaborierterer Weise noch einmal wie bei
Kant als der Inbegriff der nach den Naturgesetzen (des Verstandes) verknüpften
Erscheinungen entwickelt, taugt nicht als Gegenbegriff zur Kultur.
8 Ernst Cassirer: „Zur Theorie des Begriffs. Bemerkungen zu dem Aufsatz von Georg Heymanns“ (1928), ECW 17, Hamburg 2004, 83-91; hier: 84. 9 Ernst Cassirer: „Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften“, ECW 16, 89.