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PHYSIKALISCHE BUATTER 16. JAHRGANG 1960/HEFT 7 Naturwissenschaft und Religion Von Albert Einstein*) I (1939) Im letzten Jahrhundert und teilweise auch schon im vorhergehenden war die Ansicht weit verbreitet, daR Wissen und Glaube in unversohnlichem Gegensatz zueinander standen. Unter den fortschrittlichen Geistern herrschte die Oberzeugung, es sei an der Zeit, den Glauben in steigendem MaDe durch Wissen zu ersetzen; ein Glaube, der nicht selbst auf Wissen beruhte, galt als Aberglaube und war als solcher zu bekampfen. Dementsprechend bestand die einzige Funktion der Erziehung darin, den Weg zum Denken und Wissen freizulegen, und die Schule, das fiihrende Organ des Staates zur Volkserzie- hung, hatte ausschliefilich diesem Zweck zu dienen. Wahrscheinlich wird man diese rationalistische Auffassung nur selten, wenn iiberhaupt, in so krasser Form ausdriicken; denn jeder verniinftige Mensch wird sofort das Einseitige einer solchen Formulierung erkennen. Aber es ist immer gut, eine These etwas zuzuspitzen; nur dann tritt ihre wahre Natur zutage. Uberzeugungen lassen sich natiirlich am besten auf Erfahrung und kla- res Denken stiitzen. In diesem Punkt wird man dem extremen Rationalisten unbedingt zustimmen. Der schwache Punkt seiner Auffassung liegt nur darin, da6 sich diejenigen Uberzeugungen, die fur unser Handeln und Wer- ten mangebend und notig sind, allein auf diesem soliden, wissenschaftlichen Weg iiberhaupt nicht gewinnen lassen. Denn die wissenschaftliche Methode kann uns nichts weiter lehren, als Tatsachen in ihrer gegenseitigen Bedingt- heit begrifflich zu erfassen. Das Streben nach solcher objektiven Erkenntnis gehort zu dem Hochsten, dessen der Mensch fahig ist, und ich werde bei Ihnen wohl kaum in den Verdacht geraten, die Errungenschaften und heroi- schen Bemiihungen des Menschengeistes auf diesem Gebiet verkleinern zu wollen. Aber ebenso klar ist es, daR von dem, was ist, kein Weg fuhrt zu dem, was sein soll. Aus der noch so klaren und vollkommenen Erkenntnis *) Mit freundlicher Erlaubnis der Dt. Verlags-Anstalt. Stuttgart, dem Buch von Ein- stein ,,Am meinen spaten Jahren" entnommen. 353

Naturwissenschaft und Religion

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PHYSIKALISCHE BUATTER 16. JAHRGANG 1960/HEFT 7

Naturwissenschaft und Religion Von Albert Einstein*)

I (1939)

Im letzten Jahrhundert und teilweise auch schon im vorhergehenden war die Ansicht weit verbreitet, daR Wissen und Glaube in unversohnlichem Gegensatz zueinander standen. Unter den fortschrittlichen Geistern herrschte die Oberzeugung, es sei an der Zeit, den Glauben in steigendem MaDe durch Wissen zu ersetzen; ein Glaube, der nicht selbst auf Wissen beruhte, galt als Aberglaube und war als solcher zu bekampfen. Dementsprechend bestand die einzige Funktion der Erziehung darin, den Weg zum Denken und Wissen freizulegen, und die Schule, das fiihrende Organ des Staates zur Volkserzie- hung, hatte ausschliefilich diesem Zweck zu dienen. Wahrscheinlich wird man diese rationalistische Auffassung nur selten, wenn iiberhaupt, in so krasser Form ausdriicken; denn jeder verniinftige Mensch wird sofort das Einseitige einer solchen Formulierung erkennen. Aber es ist immer gut, eine These etwas zuzuspitzen; nur dann tritt ihre wahre Natur zutage.

Uberzeugungen lassen sich natiirlich am besten auf Erfahrung und kla- res Denken stiitzen. In diesem Punkt wird man dem extremen Rationalisten unbedingt zustimmen. Der schwache Punkt seiner Auffassung liegt nur darin, da6 sich diejenigen Uberzeugungen, die fur unser Handeln und Wer- ten mangebend und notig sind, allein auf diesem soliden, wissenschaftlichen Weg iiberhaupt nicht gewinnen lassen. Denn die wissenschaftliche Methode kann uns nichts weiter lehren, als Tatsachen in ihrer gegenseitigen Bedingt- heit begrifflich zu erfassen. Das Streben nach solcher objektiven Erkenntnis gehort zu dem Hochsten, dessen der Mensch fahig ist, und ich werde bei Ihnen wohl kaum in den Verdacht geraten, die Errungenschaften und heroi- schen Bemiihungen des Menschengeistes auf diesem Gebiet verkleinern zu wollen. Aber ebenso klar ist es, daR von dem, was ist, kein Weg fuhrt zu dem, was sein soll. Aus der noch so klaren und vollkommenen Erkenntnis

*) Mit freundlicher Erlaubnis der Dt. Verlags-Anstalt. Stuttgart, dem Buch von Ein- stein ,,Am meinen spaten Jahren" entnommen.

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des Seienden kann kein Ziel unseres menschlichen Strebens abgeleitet wer- den. Die objektive Erkenntnis liefert uns machtige Werkzeuge zur Errei- chung bestimmter Ziele. Aber das allerletzte Ziel und das Verlangen nach seiner Verwirklichung mu6 aus anderen Regionen stammen. DaIj unser Da- sein und unser Tun nur durch die Aufstellung eines solchen Ziels und ent- sprechender Werte einen Sinn erhalt, braucht gewiR nicht weiter erortert zu werden. Die Erkenntnis der Wahrheit ist herrlich, aber als Fuhrerin ist sie so ohnmachtig, daB sie nicht einmal die Berechtigung und den Wert unseres Strebens nach Wahrheit zu begrunden vermag. Hier stehen wir einfach den Grenzen der rationalen Erfassung unseres Daseins gegenuber.

Freilich darf man nicht annehmen, die Vernunft spiele keine Rolle bei der Aufstellung des Zieles und der ethischen Urteile. Wenn jemand erkennt, daB zur Verwirklichung eines Zwecks gewisse Mittel notig sind, dann wer- den diese Mittel selbst zum Zweck. Der Verstand klart uns auf uber die Zusammenhange von Mittel und Zweck. Aber das bloBe Denken kann uns nichts mitteilen uber die letzten und fundamentalen Ziele. Uns diese funda- mentalen Ziele und Werte aufzustellen und sie im taglichen Leben des Ein- zelnen zu befestigen, scheint mir nun die wichtigste Funktion der Religion im sozialen Leben der Menschen zu sein. Fragt man aber, woher die Auto- ritat dieser fundamentalen Ziele stammt, wenn sie doch von der Vernunft nicht gesetzt und begrundet werden konnen, so kann man nur antworten: sie sind in einer gesunden Gemeinschaft als Traditionen lebendig und be- stimmen das Verhalten, das Streben und die Urteile des Einzelnen, das heifit also, sie sind als Krafte wirksam, deren Dasein keiner Begrundung bedarf. DaB sie vorhanden sind, wird nicht bewiesen, sondern durch Offenbarung, durch das Wirken starker Personlichkeiten kundgemacht: man sol1 nicht versuchen, sie zu begrunden, sondern sie ihrem Wesen nach klar und rein zu erkennen.

In der judisch-christlichen religiosen Tradition werden uns die obersten Grundsatze unseres Strebens und unserer Urteile uberliefert. Sie verkorpern ein hohes Ziel, das wir mit unseren schwachen Kraften zwar nur sehr un- vollkommen erreichen, das aber fur unsere WertmaDstabe und unser Stre- ben einen sicheren Ausgangspunkt darstellt. Wollten wir dieses Ziel aus seiner religiosen Form herauslosen und nur auf seine rein menschliche Seite achten, mag man sie folgendermanen formulieren: Die freie und selbstver- antwortliche Entfaltung des Individuums, auf daB es seine Krafte froh und freiwillig in den Dienst der Gemeinschaft aller Menschen stellt.

Diese Formulierung laBt keinen Platz fur die Vergottung einer Nation, ejner Klasse, geschweige denn eines Einzelnen. Sind wir nicht alle Kinder eines Vaters, wie es in der religiosen Sprache heifit? Tatsachlich wurde auch die Vergottung der Menschheit als einer abstrakten Gesamtheit nicht dem Geist dieses Ideals entsprechen. Nur dem Einzelnen wurde eine Seele ver- liehen. Und es ist die hohe Bestimmung des Menschen, mehr zu dienen als zu herrschen oder sich sonst in irgendeiner Form zu erheben.

Achtet man mehr auf den Inhalt als auf die Form, dann kann man diese Worte ebenso als Ausdruck der demokratischen Grundeinstellung auslegen. Der wahre Demokrat kann seine Nation ebensowenig vergotten wie es der religiose Mensch im Sinne unserer Terminologie tun kann.

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Worin besteht danach die Funktion von Erziehung und Schule? Beide sollen dem jungen Menschen helfen, in solchem Geiste aufzuwachsen, daR die fundamentalen Grundsatze fur ihn so selbstverstandlich sind wie die Luft, die er atmet. Das aber kann ihm nur durch Erziehung zuteil werden.

MiBt man nun an diesen hohen Idealen das Leben und den Geist unserer Zeit, dann wird erschreckend deutlich, daR sich die zivilisierte Welt heute in ernster Gefahr befindet. In den totalen Staaten versuchen die Fuhrer personlich, diesen humanen Geist zu zerstoren, wahrend in den weniger be- drohten Landern diese kostbarsten Uberlieferungen durch Nationalismus und Intoleranz wie durch wirtschaftliche MaBnahmen, die auf dem Einzelnen lasten, fast erstickt werden. Nachdenkliche Menschen begreifen allmahlich die wachsende Gefahr; man sucht bereits allenthalben nach geeigneten Mit- teln, urn dieser Gefahr zu begegnen - nach Mitteln auf dem Gebiet der nationalen und internationalen Politik, der Gesetzgebung und allgemeinen Organisation. Diese Bemuhungen sind zweifellos dringend notig. Aber die Alten haben etwas gewuBt, was wir anscheinend vergaI3en. Alle Mittel blei- ben nur stumpfe Instrumente, wenn nicht ein lebendiger Geist sie zu ge- brauchen versteht. Nur wenn das Verlangen nach der Erreichung unseres Ziels machtvoll in uns lebt, haben wir die Kraft, die rechten Mittel zu fin- den und das Ziel in die Tat umzusetzen.

I1 (1941)

Es durfte nicht schwer sein, sich daruber zu einigen, was wir unter Natur- wissenschaft verstehen. Sie ist das jahrhundertealte Bemuhen, durch syste- matisches Denken die wahrnehmbaren Erscheinungen dieser Welt durch- gangig miteinander in Verbindung zu setzen. Um es kiihn zu sagen, sie ist der Versuch einer nachtraglichen Rekonstruktion alles Seienden im ProzeR der begrifflichen Erfassung. Aber wenn ich mich nach dem Wesen der Re- ligion frage, dann ist die Antwort nicht so leicht zu finden. Und selbst wenn mich eine Antwort vorlaufig befriedigen sollte, so ware ich doch fest uber- zeugt, daR mir keineswegs alle einmutig zustimmen wurden, die sich ernst- haft rnit dieser Frage beschaftigen.

Ich mochte daher, anstatt nach der Bedeutung der Religion zu fragen, zunachst untersuchen, was das Streben eines Menschen kennzeichnet, der uns als religios erscheint: ein religios erleuchteter Mensch scheint mir der zu sein, der sich nach bestem Vermogen aus den Fesseln seiner Selbstsucht be- freit und sich vornehmlich an Gedanken, Empfindungen und Bestrebungen von uberpersonlichem Wert erbaut. Die Kraft dieses uberpersonlichen Inhalts und der feste Glaube an seine uberwaltigende Bedeutungsfiille scheint mir dabei das Entscheidende zu sein, ganz gleichgultig, ob man versucht, diesen Inhalt mit einem gottlichen Wesen in Verbindung zu setzen; denn sonst konnte man Buddha und Spinoza unmoglich unter die religiosen Personlich- keiten rechnen. Ein religioser Mensch ist also in dem Sinne fromm, daR er keinen Zweifel hegt an der Bedeutung und Erhabenheit jener uberpersonli- chen Gegenstande und Ziele, welche einer rationalen Begrundung weder fahig noch bedurftig sind. Sie existieren fur ihn mit derselben Notwen- digkeit und Selbstverstandlichkeit wie er selber. In diesem Sinn ist Religion das uralte Bemuhen der Menschheit, sich dieser Werte und Ziele klar und

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vollstandig bewufit zu werden und deren Wirkung bestandig zu vertiefen und zu erweitern. Begreift man Religion und Naturwissenschaft in diesem Sinn, so erscheint ein Gegensatz zwischen beiden ganz unmoglich. Denn Naturwissenschaft kann nur feststellen, was ist, aber nicht, was sein SOU, und aufierhalb ihres Gebietes bleiben Werturteile jeder Art unentbehrlich. Religion andererseits befafit sich nur rnit der Bewertung menschlichen Den- kens und Tuns: sie ist nicht berechtigt, von realen Tatsachen und Beziehun- gen zwischen ihnen zu sprechen. Nach dieser Auslegung sind alle die bekann- ten Konflikte zwischen Religion und Naturwissenschaft in der Vergangen- heit einer Verkennung der geschilderten Situation zuzuschreiben.

Zum Konflikt kommt es zum Beispiel, wenn eine religiose Gemeinschaft auf der absoluten Wahrheit aller Begebenheit beharrt, welche die Bibel be- richtet. Das bedeutet einen Einbruch der Religion in den Bereich der Wis- senschaft; hierher gehort der Kampf der Kirche gegen die Lehre Galileis und Darwins. Andererseits haben Vertreter der Natuwissenschaft oft ver- sucht, zu grundsatzlichen Urteilen uber Werte und Ziele zu gelangen und sich damit in Widerspruch zur Religion gesetzt. Jedesmal geht dieser Streit auf einen verhangnisvollen Irrtum zuruck.

Nun, selbst bei einer reinlichen Scheidung von Religion und Naturwissen- schaft bleiben starke wechselseitige Beziehungen und Abhangigkeiten beste- hen. Obwohl die Religion das Ziel bestimmt, hat sie doch weitgehend von der Wissenschaft gelernt, mit welchen Mitteln sich diese von ihr gesetzten Ziele erreichen lassen. Die Wissenschaft kann indessen nur von denen auf- gebaut werden, die durch und durch von dem Streben nach Wahrheit und Erkenntnis erfullt sind. Die Quelle dieser Gesinnung entspringt aber wie- derum auf religiosem Gebiet. Hierher gehort auch der Glaube an die M6g- Iichkeit, dafi die Welt der Erscheinungen nach Gesetzen der Vernunft ge- lenkt wird und dafi diese Welt mit dem Verstand zu erfassen ist. Ohne die- sen Glauben kann ich mir einen echten Wissenschaftler nicht vorstellen. Ein Bild mag dieses Verhaltnis veranschaulichen: Naturwissenschaft ohne Reli- gion ist lahm; Religion ohne Naturwissenschaft ist blind.

Obwohl ich bereits oben versicherte, dafi zwischen Religion und Natur- wissenschaft keine begrundete Feindschaft entstehen kann, muR ich diesen Satz noch einmal in einem wesentlichen Punkt erlautern, namlich in bezug auf den Inhalt der historischen Religionen. Meine Erlauterung bezieht sich auf den Gottesbegriff. In der jugendlichen Periode der geistigen Mensch- heitsentwicklung schuf sich die menschliche Phantasie Gotter nach des Men- schen eigenem Bilde, von denen man annahm, sie bestimmten oder beein- flufiten die Welt der Erscheinungen nach ihrem Willen. Mit Hilfe von Ma- gie und Gebeten suchte der Mensch den Willen dieser Gotter zu seinen Gun- sten umzustimmen. Die Gottesidee in den gegenwartig gelehrten Religionen 1st eine Sublimierung jener alten Gottesauffassung. Ihr anthropomorpher Charakter zeigt sich zum Beispiel in der Tatsache, dafi die Menschen das gottliche Wesen im Gebet angehen und von ihm die Erfullung ihrer Wun- sche erflehen.

GewiR leugnet niemand, dafi der Gedanke an die Existenz eines allmach- tigen, gerechten und allgutigen personlichen Gottes dem Menschen Trost und Fuhrung zu spenden vermag; aufierdem ist er in seiner Einfachheit auch

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dem einfachsten Gemut zugangig. Andererseits haften dieser Vorstellung aber entschiedene Schwachen an, die sich schon seit Urbeginn schmerzlich bemerkbar machten. Wenn dieses Wesen 2.B. allmachtig ist, dann ware jedes Geschehen, eingeschlossen jede menschliche Handlung, jeder mensch- liche Gedanke und jedes menschliche Fuhlen und Streben sein Werk; wie ist es denkbar, die Menschen dann vor einem so allmachtigen Wesen fur ihr Tun und Denken zur Rechenschaft zu ziehen? In der Austeilung von Stra- €en und Belohnungen wiirde Gott dann gewissermaBen uber sich selbst zu Gericht sitzen. Wie aber vereint sich das mit der Gute und Gerechtigkeit, die ihm gleichfalls zugeschrieben wird?

Die gegenwartige Spannung zwischen Religion und Naturwissenschaft riihrt hauptsachlich aus dieser Auffassung eines personlichen Gottes her. Die Naturwissenschaft strebt nach einer Aufstellung von allgemeinen Gesetzen, die den wechselseitigen Zusammenhang von Gegenstanden und Ereignissen ir: Zeit und Raum bestimmen. Diese Regeln oder Naturgesetze beanspruchen absolute Allgemeingultigkeit, ohne sie zu beweisen. Sie stellen ein Programm dar, und der Glaube an die Moglichkeit seiner grundsatzlichen Verwirkli- chung grundet sich zur Zeit nur auf Teilerfolge. Aber es wird sich kaum einer finden, der diese Teilerfolge leugnen und sie der menschlichen Selbst- tauschung zuschreiben wurde. Die Tatsache, daB wir auf Grund dieser Ge- setze imstande sind, das jeweilige Verhalten von Phanomenen auf bestimm- ten Gebieten mit grorjer Prazision und Bestimmtheit vorauszusagen, ist tief im BewuBtsein des modernen Menschen verwurzelt, selbst wenn er nur we- nig von dem Inhalt dieser Gesetze begriffen haben sollte. Er braucht nur daran zu denken, darj der Lauf der Planeten im Sonnensystem sich im vor- aus mit groRer Genauigkeit auf Grund einer beschrankten Zahl einfacher Gesetze berechnen IaBt. In gleicher Weise, wenn auch nicht mit gleicher Ge- nauigkeit kann man im voraus die Arbeitsweise eines elektrischen Motors, eines Transmissionssystems oder eines Radioapparats berechnen, selbst wenn es sich dabei um eine neuartige Entwicklung handelt.

GewiB, wenn die Zahl der mitwirkenden Faktoren bei einem Komplex von Naturerscheinungen zu groB ist, laBt uns die wissenschaftliche Methode meist im Stich. Man braucht nur an das Wetter zu denken, fur das eine Voraussage selbst auf wenige Tage schon unmoglich wird. Und dennoch be- steht kein Zweifel, darj wir dabei einem Kausalzusammenhang gegenuber- stehen, dassen einzelne Komponenten uns im wesentlichen bekannt sind. Ereignisse auf diesem Gebiet entziehen sich unserer exakten Vorhersage nur wegen der Mannigfaltigkeit der mitwirkenden Faktoren, nicht wegen einer mangelnden Ordnung in der Natur.

In die Gesetze der Biologie sind wir weniger tief eingedrungen. Immerhin tief genug, um auch da die Gesetze einer festen Notwendigkeit zu spuren. Man braucht nur an die systematische Ordnung in der Vererbung oder in der Wirkung der Gifte, z. B. des Alkohols, auf das Verhalten der Organis- men zu denken. Was hier noch fehlt, ist das Erfassen tiefgehender allge- meiner Zusammenhange, nicht aber die Kenntnis der Ordnung selbst.

Je mehr der Mensch von der gesetzmarjigen Ordnung der Ereignisse durch- drungen ist, um so fester wird seine Oberzeugung, darj neben dieser gesetz- marjigen Ordnung fur andersartige Ursachen kein Platz mehr ist. Er erkennt

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w-eder einen menschlichen noch einen gottlichen Willen als unabhangige Ur- sache von Naturereignissen an. Die Naturwissenschaft kann freilich niemals die Lehre von einem in Naturereignisse eingreifenden personlichen Gott widerlegen, denn diese Lehre kann stets in jenen Gebieten Zuflucht suchen, in denen wissenschaftliche Erkenntnis bis jetzt noch nicht FUR zu fassen vermochte.

Aber ich bin uberzeugt, daR ein solches Verhalten der Vertreter der Reli- gion nicht nur unwurdig,. sondern auch verhangnisvoll ware. Denn eine Lehre, die sich nicht im klaren Licht, sondern nur im Dunkel zu behaupten vermag, wird zwangslaufig jede Wirkung auf die Menschen verlieren, zum unermeRlichen Schaden fur den Fortschritt der Menschheit. In ihrem Kampf um das Gute mufiten die Lehrer der Religion die innere Grofie haben und die Lehre von einem personlichen Gott fahren lassen, das heiRt, auf jene Quelle von Furcht und Hoffnung verzichten, aus der die Priester in der Vergangenheit so riesige Macht geschopft haben. Statt dessen sollten sie ihre Bemuhungen lieber auf jene Krafte richten, die das Gute, Wahre ur?d Schone im Menschen selbst fordern. Das ist gewifi eine weit schwierigere, aber ungleich lohnendere Aufgabe. 1st den Lehrern der Religion dieser Lau- terungsprozeR erst einmal gelungen, dann werden sie sicher voll Freude erkennen, wie die wissenschaftliche Erkenntnis die wahre Religion adelt und vertieft.

Wenn die Befreiung des Menschen aus den Fesseln egozentrischer Wun- sche, Begierden und Angste zu den religiosen Zielen gehort, dann kann das wissenschaftliche Denken der Religion noch in anderer Beziehung zu Hilfe kommen. Zwar erstrebt die Naturwissenschaft die Aufdeckung von Geset- Zen, welche die Verknupfung und die Voraussage von Tatsachen gestatten, aber das ist nicht ihr einziges Anliegen. Sie bemuht sich auch, die entdeck- ten Zusammenhiinge auf die kleinstmogliche Zahl voneinander unabhangiger Begriffselemente zuruckzufuhren. In diesem Bemuhen um eine rationale Vereinheitlichung der Vielfalt bucht sie ihre groRten Erfolge, obwohl sie gerade dabei am meisten Gefahr lauft, Illusionen zum Opfer zu fallen. Aber wer je die erfolgreichen Fortschritte auf diesem Gebiet eindringlich erfah- ren hat, wird tiefe Ehrfurcht vor der Vernunft empfinden, die sich in der Wirklichkeit offenbart. Durch die Erkenntnis befreit sich der Mensch weit- gehend aus den Fesseln seiner Hoffnungen und Wiinsche und gewinnt dabei jene demiitige Geisteshaltung gegenuber der Erhabenheit der Vernunft, die sich in der Wirklichkeit verkorpert und ihm in ihren letzten Tiefen unzu- ganglich ist. Diese Einstellung scheint mir aber im hochsten Sinne des Wor- tes religios zu sein. Daher glaube ich, die Wissenschaft reinigt nicht nur die Religiositat von den Schlacken ihres Anthropomorphismus, sondern tragt auch zu einer Vergeistigung unserer Lebensanschauung bei.

J e weiter die geistige Entwicklung der Menschheit fortschreitet, desto mehr w-ird sich erweisen - davon bin ich uberzeugt -, daB wir die wahre From- migkeit nicht in Lebensangst, Todesfurcht und blindem Glauben, sondern nur durch das Streben nach rationaler Erkenntnis erreichen. In diesem Sinne glaube ich, mu6 der Priester zum Lehrer werden; nur so wird er seine hohe erzieherische Mission erfullen.

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