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Abhandlung Dr. Lorenz Leitmeier »Nemo tenetur« ein nachteiliges Verfassungsrecht? DOI 10.1515/juru-2013-1117 Das BVerfG hat am 19.3.2013 in seinem lange erwarteten Urteil zu §257c StPO 1 die Verständigung (»Deal«) als ver- fassungskonform erachtet. In der teilweise heftig geführ- ten Kontroverse um die Verständigung ist ein Aspekt un- tergegangen: §257c StPO hat den Grundsatz des »nemo tenetur se ipsum accusare vel prodere« derart ausgehöhlt, dass er nicht mehr als Verfassungsprinzip interpretiert werden kann: I. »Nemo tenetur«: Verfassungsrang Das Prinzip, wonach niemand verpflichtet ist, aktiv zur Sachaufklärung beizutragen und »gegen sich selbst als Zeuge auszusagen«, findet sich ausdrücklich nur in §14 Abs.3 lit.g)des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) von 1966, der in Deutsch- land gem. Art.59 Abs.2 GG im Rang eines einfachen Bun- desgesetzes gilt 2 . Weit über einem einfachen Bundesgesetz stehend, hat die Selbstbelastungsfreiheit aber nach fast einhelliger Auf- fassung als übergeordneter Rechtsgrundsatz Verfassungs- rang 3 . Hierfür werden verschiedene Begründungen gegeben, die sich in einer Art »Überbietungswettbewerb« allenfalls darum streiten, welche zu den noch fundamentaleren Rechtsprinzipien führt: 1. Rechtsstaatsprinzip, Art.20 Abs.3 GG Das BVerfG verankert das nemo-tenetur-Prinzip ohne dog- matisch verästelte Begründung im Rechtsstaatsprinzip: »Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung () sind notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwür- de beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung (). Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaats- prinzip verankert und hat Verfassungsrang ().« 4 Aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip folge das Recht jedes Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren; insbesondere die freiheitssichernde Funktion des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art.2 Abs.2 S.2GG müsse im Verfahrensrecht Beachtung finden (»Grundrechtssicherung durch Verfahren«), erfordere die Freiheit von Aussagezwang 5 . Die überwiegende Meinung in der Literatur sieht die verfassungsrechtliche Grundlage der Aussagefreiheit ebenfalls im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Artt.2 Abs.1, 1 Abs.1 GG in Verbindung mit dem Rechts- staatsprinzip gemäß Art.20 Abs.3 GG 6 . Lorenz Leitmeier: Der Autor ist Richter am Amtsgericht, München. 1 BVerfG vom 19.3.2013 2 BvR 2628/10, abrufbar unter: www. bundesverfassungsgericht.de 2 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S.116ff. 3 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55.Aufl. (2012), Einleitung Rn.29a; zur historischen Entwicklung vgl. Böse, GA 2002, 98, 108ff.; zu Quellen des nemo-tenetur-Grundsatzes siehe Schlauri, Das Verbot des Selbst- belastungszwangs im Strafverfahren, 2003, S.76ff.; Kraft, Das nemo tenetur-Prinzip und die sich daraus ergebenden Rechte des Beschul- digten in der polizeilichen Vernehmung, 2002, S.142ff. 4 BVerfG vom 19.3.2013 2 BvR 2628/10 Rn.60m.w.N. 5 BVerfGE 57, 250,275; vgl.auch Dreier, GG, Bd.1, 2.Aufl.(2004), vor Art.1, Rn.105m.w.N.; Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzips aus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998, S.28,74ff.m.w.N. 6 Rogall (Fn.2), S.148, 169, 205; Salger, Das Schweigerecht des Be- schuldigten, 1998, S.15f.; Renzikowski, JZ1997, 710; Berthold, Der Zwang zur Selbstbezichtigung aus §370 Abs.1 AO und der Grundsatz des nemo tenetur, 1993, S.127; Ackemann, Rechtmäßigkeit und Ver- wertbarkeit heimlicher Stimmvergleiche im Strafverfahren, 1997, S.41; Roxin, JZ 1992, 923; Jahn, StV 1998, 653. Juristische Rundschau; 2014(9): 372377 Bereitgestellt von | Columbia University Angemeldet Heruntergeladen am | 10.10.14 00:41

»Nemo tenetur« – ein nachteiliges Verfassungsrecht?

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Abhandlung

Dr. Lorenz Leitmeier

»Nemo tenetur« – ein nachteiligesVerfassungsrecht?

DOI 10.1515/juru-2013-1117

Das BVerfG hat am 19. 3. 2013 in seinem lange erwartetenUrteil zu § 257 c StPO1 die Verständigung (»Deal«) als ver-fassungskonform erachtet. In der teilweise heftig geführ-ten Kontroverse um die Verständigung ist ein Aspekt un-tergegangen: § 257 c StPO hat den Grundsatz des »nemotenetur se ipsum accusare vel prodere« derart ausgehöhlt,dass er nicht mehr als Verfassungsprinzip interpretiertwerden kann:

I. »Nemo tenetur«:Verfassungsrang

Das Prinzip, wonach niemand verpflichtet ist, aktiv zurSachaufklärung beizutragen und »gegen sich selbst alsZeuge auszusagen«, findet sich ausdrücklich nur in § 14Abs. 3 lit. g) des Internationalen Pakts über bürgerlicheund politische Rechte (IPbpR) von 1966, der in Deutsch-land gem. Art. 59 Abs. 2 GG im Rang eines einfachen Bun-desgesetzes gilt2.

Weit über einem einfachen Bundesgesetz stehend, hatdie Selbstbelastungsfreiheit aber nach fast einhelliger Auf-fassung als übergeordneter Rechtsgrundsatz Verfassungs-rang3.

Hierfür werden verschiedene Begründungen gegeben,die sich in einer Art »Überbietungswettbewerb« allenfalls

darum streiten, welche zu den noch fundamentalerenRechtsprinzipien führt:

1. Rechtsstaatsprinzip, Art. 20 Abs. 3 GG

Das BVerfG verankert das nemo-tenetur-Prinzip ohne dog-matisch verästelte Begründung im Rechtsstaatsprinzip:»Die Aussagefreiheit des Beschuldigten und das Verbot desZwangs zur Selbstbelastung (…) sind notwendiger Ausdruckeiner auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwür-de beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung (…). DerGrundsatz der Selbstbelastungsfreiheit ist im Rechtsstaats-prinzip verankert und hat Verfassungsrang (…).«4

Aus dem allgemeinen Rechtsstaatsprinzip folge dasRecht jedes Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatlichesVerfahren; insbesondere die freiheitssichernde Funktiondes Allgemeinen Persönlichkeitsrechts gem. Art. 2 Abs. 2S. 2 GG müsse im Verfahrensrecht Beachtung finden(»Grundrechtssicherung durch Verfahren«), erfordere dieFreiheit vonAussagezwang5.

Die überwiegende Meinung in der Literatur siehtdie verfassungsrechtliche Grundlage der Aussagefreiheitebenfalls im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäßArtt. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts-staatsprinzip gemäß Art. 20 Abs. 3 GG6.

Lorenz Leitmeier: Der Autor ist Richter am Amtsgericht, München.

1 BVerfG vom 19. 3. 2013 – 2 BvR 2628/10, abrufbar unter: www.bundesverfassungsgericht.de2 Vgl. Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst,1977, S. 116 ff.3 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. (2012), Einleitung Rn. 29 a; zurhistorischen Entwicklung vgl. Böse, GA 2002, 98, 108 ff.; zu Quellendes nemo-tenetur-Grundsatzes siehe Schlauri, Das Verbot des Selbst-belastungszwangs im Strafverfahren, 2003, S. 76 ff.; Kraft, Das nemotenetur-Prinzip und die sich daraus ergebenden Rechte des Beschul-digten in der polizeilichen Vernehmung, 2002, S. 142 ff.

4 BVerfG vom 19. 3. 2013 – 2 BvR 2628/10 – Rn. 60 m. w. N.5 BVerfGE 57, 250, 275; vgl. auch Dreier, GG, Bd. 1, 2. Aufl. (2004),vor Art. 1, Rn. 105 m. w. N.; Bosch, Aspekte des nemo-tenetur-Prinzipsaus verfassungsrechtlicher und strafprozessualer Sicht, 1998,S. 28, 74 ff. m. w. N.6 Rogall (Fn. 2), S. 148, 169, 205; Salger, Das Schweigerecht des Be-schuldigten, 1998, S. 15 f.; Renzikowski, JZ 1997, 710; Berthold, DerZwang zur Selbstbezichtigung aus § 370 Abs. 1 AO und der Grundsatzdes nemo tenetur, 1993, S. 127; Ackemann, Rechtmäßigkeit und Ver-wertbarkeit heimlicher Stimmvergleiche im Strafverfahren, 1997,S. 41; Roxin, JZ 1992, 923; Jahn, StV 1998, 653.

Juristische Rundschau; 2014(9): 372–377

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2. Würde desMenschen, Art. 1 Abs. 1 GG

Einige Autoren rekurrieren unmittelbar und ausschließlichauf die Menschenwürde7. Unbestritten fordert Art. 1 GG,dass die menschliche Persönlichkeit undWürde als höchs-ter Rechtswert anzuerkennen ist; der Beschuldigte mussdeshalb zur Wahrnehmung seiner Rechte die Möglichkeithaben, auf Gang und Ergebnis des Strafverfahrens Einflusszu nehmen8.

Im Sinne der bekannten »Objektformel«, wonach keinBürger zum bloßen Objekt staatlichen Handelns herab-gewürdigt werden darf9, sei direkt zu folgern, dass keinBeschuldigter zum »Instrument gegen sich selbst« ge-macht werden dürfe. Ein Zwang zur wahrheitsgemäßenAussage würde den Beschuldigten rechtswidrig instru-mentalisieren, führe zu einem Konflikt mit dem natürli-chen Selbsterhaltungstrieb und damit zu schweren inne-ren Konflikten10.

3. Rechtliches Gehör, Art. 103 Abs. 1 GG

Als verfassungsrechtliche Grundlage des nemo-tenetur-Grundsatzes wird auch Art. 103 Abs. 1 GG herangezogen,das »prozessuale Urrecht des Menschen«11: Das rechtlicheGehör umfasse die Freiheit, sich so zu verteidigen, wieman es für richtig halte – durch eine entlastende Einlas-sung oder durch Schweigen. In beiden Fällen nehme derBeschuldigte seine kommunikative Autonomie im Straf-verfahren wahr, bestimme selbst und frei von staatlichemZwang über sein Aussageverhalten. Nur dadurch könne erwirklich als Prozesssubjekt agieren12.

Dieser Gedanke hat jedenfalls einen bestechen-den Kern: Wer sich zu einem bestimmten Sachverhaltäußern muss, kommt nicht umhin, diesen Sachverhalt alsKommunikationsgrundlage und – vorgabe zu akzeptieren.Auch wer einen Sachverhalt abstreitet, akzeptiert ihn(wenngleich negativ) als »Verhandlungsgrundlage«: Wersich rechtfertigt, klagt sich an. Dem kann sich nur entzie-hen, wer schweigen darf.

Zur Grundlage des nemo-tenetur-Prinzips kann fest-gehalten werden, dass nach der Rechtsprechung desBVerfG und des BGH13 sowie den meisten Stimmen in derLiteratur die Aussagefreiheit höchstes Verfassungsrechtdarstellt: Sie basiert auf dem Gebot der Achtung der Men-schenwürde gemäß Art. 1 I GG, dem Allgemeinen Frei-heitsrecht gemäß Art. 2 I GG und dem im Rechtsstaatsprin-zip wurzelnden Anspruch auf ein faires, rechtsstaatlichesVerfahren.

II. Negative Folgen derInanspruchnahme

Bei einer derartigen Fallhöhe ist umso gravierender, wel-che Konsequenzen es im Strafprozess hat, wenn ein Ange-klagter sein Verfassungsrecht wahrnimmt und sich für dasSchweigen entscheidet: Er wird härter bestraft als der An-geklagte, der gesteht; und von einer Verständigung ist ergemäß § 257 c Abs. 2 S. 2 StPO von vornherein ausge-schlossen.

1. § 46 Abs. 2 StGB: Höhere Strafe

Zu den bitteren Konsequenzen eines Verfassungsprinzipsgehört es, dass (im wahrsten Sinne) bestraft wird, wer es inAnspruch nimmt: Wem die Strafmilderung eines Geständ-nisses vorenthalten wird, der wird für sein Schweigen be-straft14.

Der Grundsatz, dass Schweigen oder Leugnen nichtstrafschärfend15, ein Geständnis allerdings (generell) straf-mildernd berücksichtigt werden dürfe16, trägt nicht: Eine»Normalstrafe« existiert nämlich nicht, es gibt allein eine»Strafe x« bei Schweigen beziehungsweise Leugnen odereine »Strafe xminus n« bei Geständnis17.

Für den Angeklagten gibt es im Strafprozess nur zweiOptionen: Gestehen und milder bestraft werden, oderschweigen und härter bestraft werden – tertium non datur,alle juristischen Kunstgriffe ändern daran nichts.

7 Salditt, GA 1992, 51, 66; Kunert, MDR 1967, 539; Nothhelfer, DieFreiheit vom Selbstbezichtigungszwang, 1989, S. 63 ff.8 BVerfGE 66, 313, 318.9 BVerfG NJW 1985, 1787; auch BVerfGE 109, 279, 312.10 Bosch (Fn. 5), S. 32. f. m. w. N.11 BVerfGE 55, 1, 6; auch Böse, GA 2002, 98, 118; Niese, ZStW 63(1951), 199, 219; Castringius, Schweigen und Leugnen des Beschuldig-ten im Strafprozeß, 1965, S. 21; Bauer, Die Aussage des über dasSchweigerecht nicht belehrten Beschuldigten, 1972, S. 51.12 Böse, GA 2002, 98, 119 ff. m. w. N.

13 BGHSt 38, 214, 218 f.; BGHSt 38, 263.14 Möller, JR 2005, 314, 319; Frister, GA 1999, 85, 88; Hsu, Die Be-wertung des Geständnisses in der Strafzumessung und in der Beweis-aufnahme als Sonderproblem der Urteilsabsprache, 2007, S. 106; Sta-linski, Aussagefreiheit und Geständnisbonus, 2000, S. 119 f.;Weigend,JZ 1990, 774, 778;Wimmer, ZStW 50 (1930), 538, 583.15 BVerfG NStZ 1995, 555.16 BGHSt 43, 195, 210.17 Schünemann, NJW 1989, 1895, 1902; auch Weigend, JZ 1990, 774,778.

Abhandlung – Lorenz Leitmeier, »Nemo tenetur« – ein nachteiliges Verfassungsrecht? 373

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Dies wird an einem modellhaften, idealtypischen Pro-zess deutlich: Unterstellt, zwei Zwillingsbrüder sind we-gen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung an-geklagt, wobei jeder von ihnen den gleichen Tatbeitraggeleistet hat, auch im übrigen identische persönliche Um-stände gegeben sind (keine Voreintragung, günstige Le-gal- und Sozialprognose). Weiter unterstellt, nach Akten-lage wäre die (abstrakt) »gerechte« Strafe für die Tatjeweils ein Jahr Freiheitsstrafe mit Bewährung. In derHauptverhandlung schweigt einer der Brüder, der anderegesteht glaubhaft (indem er etwa Täterwissen offenbart),entschuldigt sich daneben auch noch beim Geschädigten.

Für den Richter sind damit vor der Urteilsfindung alleParameter der beiden Brüder identisch, ein Kriterium des§ 46 StGB hingegen (»Verhalten nach der Tat«) unterschei-det sich (markant). Damit aber muss sich zwingend dieStrafe unterscheiden – andernfalls wäre § 46 StGB nichthinreichend beachtet; jedenfalls wäre nicht begründbar,weshalb ein Kriterium ohne Bedeutung ist, die anderenhingegen schon.

Es wäre damit möglicherweise gerecht, den geständi-gen Bruder zu 10 Monaten Freiheitsstrafe zu verurteilen,den schweigenden (weiterhin) zu einem Jahr. Wenn sichaber nun die Strafe der beiden allein wegen des Geständ-nisses unterscheidet, ist es ein Strafmilderungsgrund. Um-gekehrt ist für den Bruder, der zu einem Jahr verurteiltwird, das Schweigen der (einzige) Grund für die härtereStrafe; er wird für sein Schweigen also bestraft.

Zugespitzt wird der Modell-Prozess, wenn die Tat nurdeshalb nachweisbar ist, weil einer der beiden Brüdergesteht18.

Die Strafmaßdifferenz zwischen einem Geständnisund einem (verfassungsrechtlich geschützten) Schweigenist für sehr kritische Stimmen sogar ein Rückfall in denInquisitionsprozess19.

Unwiderlegbar jedenfalls steht die härtere Strafe, dieden schweigenden Angeklagten de facto und de iure ereilt,in eklatantem Widerspruch zur Bedeutung des Schweige-rechts: »Das aus der Menschenwürde des Beschuldigtenhergeleitete Schweigerecht wäre illusorisch, müsste er be-fürchten, dass sein Schweigen später bei der Beweiswürdi-gung zu seinemNachteil verwendet wird.«20

2. § 257 c Abs. 2 S. 2 StPO:Keine Verständigung

Kern und grundlegender Baustein jeder Verständigung istdas Geständnis des Angeklagten: § 257 c Abs. 2 S. 2 StPOlegt fest, dass Bestandteil jeder Verständigung ein Ge-ständnis sein soll. Allerdings fordert die Rechtslogik (um-gesetzt von der täglichen Rechtspraxis), das »soll« als»muss« zu lesen – wie anders als durch ein Geständnissollte der Angeklagte die für eine Verständigung erforder-liche Kooperation zeigen?21

Ohne Geständnis würde die Verständigung nicht funk-tionieren: Dies zeigt sich rechtstechnisch an §§ 257 c Abs. 2S. 2, 257 c Abs. 4 S. 3 StPO, die das Geständnis als Basiseiner Verständigung voraussetzen; deutlich wird das auchan den langen Ausführungen des BVerfG zum Verhält-nis von Verständigung und Amtsermittlungsgrundsatz(§§ 257 c Abs. 1 S. 2, 244 Abs. 2 StPO) sowie dazu, dassinhaltsleere, bloße Formalgeständnisse nicht hinnehmbarseien, das Geständnis nicht zur »Handelsware«22 verkom-men dürfe; schließlich zeigt sich die Bedeutung des Ge-ständnisses als »Dreh- und Angelpunkt« der Ver-ständigung auch daran, dass alle drei angegriffenen (undvom BVerfG aufgehobenen) Urteile auf einem Geständnisberuhten.

Letztlich ist die überragende Bedeutung des Geständ-nisses bei einer Verständigung zwingend: Seinen Teil zurKooperation kann der Angeklagte nur mit einem Geständ-nis beitragen; und für sein Geständnis soll er belohntwerden – in Form der verbindlichen Ankündigung einerStrafmilderung gegenüber dem Schweigen (oder Leug-nen). Das Inaussichtstellen eines günstigeren Verfahrens-ergebnisses ist damit notwendiges Merkmal eines jedenAbsprachesystems; und wer ein Geständnis belohnt, mussdie Strafmaßdifferenz als unverzichtbaren Bestandteil die-ses Systems voraussetzen23.

Umgekehrt gilt: Wer nicht gesteht, wer also sein Ver-fassungsrecht auf Schweigen wahrnimmt, ist umfassendausgeschlossen von der kooperativen Art des prozessualenHandelns und wird bestraft. § 257 c Abs. 2 S. 2 StPO ermun-tert den Angeklagten damit zur Selbstbelastung – anderskann er nicht an einer Verständigung teilnehmen, kann erStrafmilderung durch Kooperation nicht erreichen.

Rechtlich ist das nicht haltbar: Wer das Schweigerecht(auch) auf Art. 1 GG baut, darf den Verzicht darauf nicht

18 Diese Konstellation erinnert an das »Gefangenendilemma«.19 Schünemann NJW 1989, 1895, 1901; ebenso bereits Henschel, Ar-chiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik 56/57 (1914), 10, 13.20 BVerfG NStZ 1995, 555.

21 Meyer-Goßner, StPO, 55. Aufl. (2012), § 257 c Rn. 16; auch Alten-hain/Haimerl, JZ 2010, 327, 331.22 BVerfG vom 19. 3. 2013 – 2 BvR 2628/10 – Rn. 110.23 Weigend, JZ 1990, 774, 778; Altenhain/Haimerl, GA 2005, 281, 287.

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umfassend belohnen; der darf nicht das Festhalten andieser Positionmit gravierenden Nachteilen versehen.

III. Auflösung des Dilemmas

Der Wertungswiderspruch muss aufgelöst werden; mög-lich ist das auf zwei Arten: Entweder wird die überragendeBedeutung des Geständnisses eingeschränkt, oder aberSchweigen ist kein Verfassungsprinzip.

1. Keine Strafmilderung bei Geständnis?

Die Einwände gegen die Strafmilderung bei Geständnissen(»Geständnisbonus«) sind bekannt:

Das Versprechen einer Strafmilderung durch das Ge-richt müsse beim Beschuldigten den Eindruck erwecken,der Richter halte ihn schon für überführt; es vertrage sichaber nicht mit der Würde des Gerichts, ein Geständnis zuerschleichen24. Auch die Urteilspassagen, in denen sichdas BVerfG gegen inhaltsleere Formalgeständnisse wen-det25, zeigen die Gefahr der Abgabe von falschen Geständ-nissen aus Furcht vor (übermäßig) harter Strafe ohne Ge-ständnis (»Sanktionsschere«).

Indes: Allen Einwänden steht die Rechtslage ent-gegen, nämlich § 46 Abs. 1, Abs. 2 StGB.

Gemäß § 46 Abs. 1 StGB ist die Schuld des Täters dieGrundlage der zu verhängenden Strafe. Ein Geständnis alspositives »Nachtatverhalten« im Sinne des § 46 Abs. 2StGB kann diese Schuld reduzieren – seit dem ersten Ur-teilsband des BGH: »In dem Verhalten, das der Verbrecherwährend des Verfahrens, vor allem auch während derHauptverhandlung an den Tag legt, kann sich jedoch auchoffenbaren, wie er innerlich zu seiner Tat steht. Wenn auchdurch dieses nach der Tat liegende Verhalten der Unrechts-gehalt der Tat selbst nicht verändert wird, so können dochunter Umständen aus ihm Schlüsse auf das Maß seinerpersönlichen Schuld und auf seine Gefährlichkeit gezogenwerden, die (…) bei der Strafzumessung nicht nur Berück-sichtigung finden dürfen, sondern sogar müssen. Wenn undsoweit das Leugnen oder das Geständnis des Angeklagtensolche Schlüsse auf das Maß seiner persönlichen Schuld undden Grad seiner Gefährlichkeit zulässt, muss es deshalbgestattet sein, es auch bei der Strafzumessung zu berück-sichtigen.«26

Und tatsächlich gibt es für eine Strafmilderung wegeneines Geständnisses auch gute Gründe27: Ein Geständnisfördert das Prozessziel des Rechtsfriedens; der Angeklagteliefert einen Beitrag zur Sachverhaltsaufklärung; das Be-schleunigungsgebot, die Verfahrensökonomie und damitletztlich die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflegewerden unterstützt; der Verletzte erfährt (jedenfalls leich-ter) Genugtuung, wodurch die »Auswirkungen der Tat« imSinne des § 46 Abs. 2 StGB gemindert werden. Auch eineSchadenswiedergutmachung oder auch nur eine Entschul-digung des Angeklagten beim Geschädigten sind ohneGeständnis nicht denkbar, jedenfalls widersinnig.

Die Bedeutung des Geständnisses kann also de legelata nicht reduziert werden, und dies aus guten Gründen.Damit muss zwangsläufig der Status des »nemo-tenetur-Prinzips« reduziert werden, und auch dies aus guten Grün-den:

2. »Nemo tenetur« – kein Verfassungsrang!

Das Schweigerecht kann keinen Verfassungsrang be-anspruchen, ist es doch nur ein formales Recht, das mate-riell allzu oft bestraft wird. Es ist darum richtig, das nemo-tenetur-Prinzip auf der Ebene zu verorten, auf der es auchexplizit niedergelegt ist – der des einfachen Gesetzes:

a) Nur formale Freiheit

Die Aussagefreiheit ist de lege lata nur eine formale Frei-heit: Der Beschuldigte kann frei von rechtlichem und freivon körperlichem Zwang entscheiden, ob er aussagenmöchte. Das prozessuale Recht der Aussageverweigerungbedeutet nicht mehr als die Abwesenheit von Aussage-zwang; der Angeklagte hat die Möglichkeit, sich (formal)frei zu entscheiden, wie er sich verhalten will. Dass je nachAussageverhalten der Prozess anders ausgehen wird, hebtdie formaleWahlfreiheit nicht auf: ZwarmagderAngeklag-te einem Geständnisdruck ausgesetzt sein, weil das Straf-zumessungsrecht eine Strafmilderung bei Geständnis vor-sieht, an der formellen Aussagefreiheit ändert dies abernichts28.

Aus diesem Geständnisdruck folgt aber zwingend: Der»nemo-tenetur«-Satz bedeutet keine materielle Aussage-freiheit: »Von einer echten Entscheidungsfreiheit kann je-

24 Wimmer, ZStW 50 (1930), 538, 551.25 BVerfG vom 19. 3. 2013 – 2 BvR 2628/10 – Rn. 110.26 BGHSt 1, 105, 106.

27 BGHSt 43, 195, 209; vgl. Moldenhauer, Eine Verfahrensordnungfür Absprachen im Strafverfahren durch den Bundesgerichtshof?,2004, S. 180;Hsu (Fn. 14), S. 81 ff.28 Stalinski, (Fn. 14), S. 121 m. w. N.

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denfalls dann keine Rede mehr sein, wenn das drohendeÜbel von derart existentieller Bedeutung wie eine Freiheits-strafe ist. (…) Eine Differenz in der Strafzumessung würdejedoch bedeuten, dass er [der Angeklagte] sein Recht unterUmständen mit Jahren seines Lebens erkaufen muss. Hierkann von Freiheit nicht mehr gesprochen werden.«29

Die Aussagefreiheit wird durch den (teils immensen)Strafnachlass bei einem Geständnis letztlich zur »forma-len, leeren Hülle«30. Der Angeklagte hat nur die (Schein-)Wahl, seine strafprozessualen Rechte wahrzunehmen oderdas Risiko einer härteren Strafe in Kauf zu nehmen31 –jedenfalls in der überwiegenden Anzahl der Fälle, in de-nen ein Tatnachweis auch ohne Einlassung des Beschul-digtenmöglich ist.

Als Verfassungsprinzip ist das Schweigerecht damitaber nicht mehr haltbar: Eine bloß formale Freiheit reichthierfür nicht aus, das Schweigerecht müsste materiell wir-ken. Ein Vergleich mit der durch Art. 5 GG geschütztenMeinungs- und Pressefreiheit macht dies deutlich: AlsGrundrecht ist auch die negative Freiheit geschützt, eineMeinung nicht zu äußern oder einen Bericht nicht zu ver-breiten. Würde aber nunmehr diese negative Freiheit nurformal geschützt, die Äußerung einer bestimmten (»staats-tragenden«) Meinung jedoch von Staats wegen belohnt,dann wäre dies ein Verstoß gegen Art. 5 GG, das negativeRecht würde letztlich ausgehöhlt.

b) Einfaches Gesetz: §§ 136 Abs. 1 S. 2, 136 a StPO

Gemäß § 136 Abs. 1 S. 2 StPO (in der Verhandlung gemäߧ 243 Abs. 5 StPO) ist der Beschuldigte vor der Verneh-mung über sein Schweigerecht zu belehren, gem. § 136 aStPO darf der Wille des Beschuldigten nicht manipuliertwerden.

Da an das formale Schweigerecht des Beschuldigtenmaterielle Nachteile geknüpft sind, kann diese einfachge-setzliche Regelung der §§ 136 Abs. 1 S. 2, 136 a StPO keinenVerfassungsrang beanspruchen – sie bedarf es aber auchnicht, da das »nemo-tenetur-Prinzip« auch ohne verfas-sungsrechtliche Begründung trägt:

Art. 1 GG erfordert das Schweigerecht nicht, weil derBeschuldigte auch bei einer Aussagepflicht nicht zum rei-nen Objekt gemacht würde: Er steht im Mittelpunkt des

Strafverfahrens, es geht um seine individuelle Schuld.Wenn der Angeklagte auch als Mittel (»Instrument gegensich selbst«) eingesetzt würde, wäre er weiterhin haupt-sächlich Zweck des Verfahrens, damit nicht zum Objektherabgewürdigt32. Wenn eine Pflicht zur Aussage stets ge-gen Art. 1 Abs. 1 GG verstieße, müsste das imÜbrigen auchfür den Zeugen gelten33.

Art. 103 Abs. 1 GG normiert einen Anspruch auf recht-liches Gehör, verbietet aber nicht, dass der Gesetzgebereine Aussagepflicht anordnet34.

Das Rechtsstaatsprinzip und die Grundrechte (in ihrerGesamtheit) schließlich erfordern, dass der Staat Aussagennicht mit unverhältnismäßigen Mitteln erzwingt, dass Un-schuldige vor Selbstbelastung geschützt, Schuldige mit ih-rem Eigenwert respektiert werden35. Ein Schweigerecht desBeschuldigten verwirklicht diese Ziele, unerlässlich ist esjedoch nicht: Der Rechtsstatus des Beschuldigten ist nor-mativ zu bestimmen; der Anerkennung als Rechtspersonkorrespondieren auch Rechtspflichten, rechtlich möglichwäreaucheineAussagepflicht desBeschuldigten36. Immer-hin kann er in den allermeisten Fällen am besten zur Sach-verhaltsaufklärung beitragen, und auch im materiellenRecht wird ein Staatsbürger nicht entwürdigt, weil dieRechtsordnung von ihm verlangt, für die Folgen seinesmenschlichen Versagens einzustehen37.

IV. Fazit

Der »nemo-tenetur-Grundsatz« wird mantraartig vonRechtsprechung und Lehre als Verfassungsprinzip gese-hen. Tatsächlich normiert das Schweigerecht lediglich ei-ne formale Freiheit, die der Beschuldigte in aller Regel nurmit massiven materiellen Nachteilen einlösen kann: Ererhält ohne Geständnis keine Strafmilderung, und von derVerständigung als zentralem Verfahrensprinzip (»Koope-ration« bzw. »konsensuales Verhandeln«) ist er ganz aus-geschlossen.

Zwar kann jedes Grundrecht (wenn es nicht aus-schließlich Art. 1 GG ist) in seinem Schutzbereich einge-schränkt werden – bei der Aussagefreiheit wird aber das(vermeintlich) grundrechtlich geschützte Schweigen nichtbloß eingeschränkt, vielmehr ist seine Inanspruchnahme

29 Stalinski (Fn. 14), S. 122, 123, unter Verweis auf Kohler, GA 54(1907), 16, 18, wonach das Inaussichtstellen einer geringeren Strafefür den Fall des Geständnisses als Erpressung zu bewerten sei.30 Stalinski (Fn. 14), S. 127. Er bezeichnet das als »beinahe zynisch«,S. 122.31 Siolek, DRiZ 1989, 321, 327; Tzschach, DAR 1973, 286, 288.

32 Möller, JR 2005, 314, 317 m. w. N.33 Bosch (Fn. 5), S. 42.34 Rogall (Fn. 2), S. 124 f.;Nothhelfer (Fn. 7), S. 53 f.35 Möller, JR 2005, 314, 318.36 Pawlik, GA 1998, 378 ff.; auchMöller, JR 2005, 314, 318, 320.37 Möller, JR 2005, 314, 316 unter Verweis auf BVerfGE 16, 191,194,wonach die Strafbarkeit der Unfallflucht verfassungsgemäß sei.

376 Abhandlung – Lorenz Leitmeier, »Nemo tenetur« – ein nachteiliges Verfassungsrecht?

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eo ipso nachteilig. Wer Grundrechte in Anspruch nimmt,muss aber geschützt werden: Im Arbeitsrecht gibt es des-halb das »Recht auf Lüge«, ohne das die entsprechendeGrundrechtspositionwertlos wäre;mit dembloßen (forma-len) Recht, unzulässige Fragen nach Familienplanung(Art. 6 GG), Religion (Art. 4 GG), Vorstrafen (Art. 2 GG) etc.nicht zu beantworten, wäre keinem Grundrechtsinhabergeholfen.

Dieser Vergleich zeigt, dass das Schweigerecht desBeschuldigten keinen Verfassungsrang haben kann:Wennin der überwiegenden Zahl der Fälle ein Verhalten, das

von der Verfassung geschützt und aus deren höchstemWert abgeleitet wird, zu einem rein formalen Recht ver-kommt, dessen Gebrauch systematisch zu gesetzlich ge-wollten massiven Nachteilen führt, ist dieser Wertungs-widerspruch nicht mehr erträglich38.

38 Vgl. Alexy, Juristische Begründung, System und Kohärenz, in:Rechtsdogmatik und praktische Vernunft, (Hrsg.: O.Behrends u. a.),1990, S. 96 ff.; Bracker, Kohärenz und juristische Interpretation, 2000,S. 77 ff.

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