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II.11 Netzwerke von Dingen
Der Begriff ‚Materielle Kultur‘ ist an sich etwas problematisch. Er suggeriert
einerseits, dass es eine immaterielle Kultur im Sinne eines entkörperten Sinnträger
gibt, und andererseits, dass eine nicht-kulturelle Materie, gleichsam Natur pur, die
geduldig und den subjektiven Weltdeutungen des Menschen gegenüber indifferent
auf die Entdeckung durch ein objektives, wertfreies Wissen wartet. Beide
Sichtweisen sind das Erbe europäischer Moderne (Latour 2007). Mit der
Infragestellung der Moderne aber lassen sich beide nicht mehr als selbstverständliche
Voraussetzungen der Kulturwissenschaften unhinterfragt akzeptieren. Einige seit
Jahrhunderten als selbstverständlich geltende Leitdifferenzen wie z.B. die
Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Zeichen und Dingen, Menschen und
Maschinen werden heute zunehmend in Frage gestellt. Theoretische
Neupositionierungen in der Philosophie, der Erkenntnistheorie, in den Sozial- wie
auch den Naturwissenschaften zeigen, dass diese Leitdifferenzen ihre
selbstverständliche Legitimation und ihre Erklärungskraft mehr und mehr
verlieren. Dies macht es möglich, andere und möglicherweise innovativere
Konzeptionalisierungsangebote wie jenes der Akteur-Netzwerk-Theorie mit
unvoreingenommenem Blick zu betrachten und ernsthaft die Plausibilität einer
Weltbeschreibung zu prüfen, bei der die Kultur und das Kulturelle nicht durch die
Unterscheidung zur Natur und zum Materiellen definiert wird.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wurde in den 1970er und 1980er Jahren vor
allem von Bruno Latour, Michel Callon und John Law im Rahmen der
soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung (s. Kap. V.13) entwickelt. Der
Wissenssoziologie verwandt teilt die ANT deren ideologiekritische und
konstruktivistische Haltung und vertritt eine Kritik der philosophischen und
erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des modernen Verständnisses von
Wissenschaft und Technik sowie des Selbstverständnisses der Sozialwissenschaften.
Die typisch moderne Auffassung, dass die Wissenschaft objektives, wertneutrales
Wissen liefert, ist aus Sicht der ANT grundsätzlich suspekt. Zudem sind die
Voraussetzungen solchen Wissens, die Entmystifizierung der Natur und damit
zusammenhängend die Verwandlung von Gesellschaft, Kultur und Erkennen in
immaterielle und rein kognitive Tätigkeiten irreführend und als Ideologie bzw. als
„Verfassung der Moderne“ (Latour 2008, 22ff.) zu entlarven.
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Die Ausdifferenzierung eines funktional spezialisierten Wissenschaftssystems in der
Moderne brachte eine Entsozialisierung des Subjekts wissenschaftlicher Erkenntnis
mit sich, das sich von allen nicht kognitiven Eigenschaften reinigen musste, um
wertfreies, objektives Wissen erlangen zu können. Sogenannte wissenschaftliche
Tatsachen sind wahr, weil sie die Natur quasi störungsfrei, ohne Beitrag des real
existierenden, verkörperten und sozialen Subjekts wiedergeben.
In dieser Trennung von Subjekt und Objekt liegen implizit auch die
Entmystifizierung der Natur und die Subjektivierung der Gesellschaft. Das
mechanistische Weltbild vertrieb die Geister, die Willkür und die Unberechenbarkeit
aus der Natur und verbannte sie in den Bereich der Kultur. Naturereignisse fanden
innerhalb eines Bereichs statt, der ausschließlich deterministischer Kausalität
untergeordnet war. Nicht-menschliche Wesen, Dinge zum Beispiel, verloren dadurch
jede Möglichkeit als Akteure und damit als sinnstiftend betrachtet zu werden. Die
Kultur und der Bereich des Sozialen erbten die Geister, die Illusionen, die
Willkürlichkeit und Unberechenbarkeit, aber auch die Sinnhaftigkeit des
intentionalen Handelns. Die Natur durfte nur noch als mathematisch formulierbare
und empirisch verifizierte ‚Tatsache‘ in Erscheinung treten. Als Gegenpart standen
Kultur und Gesellschaft als symbolische Ordnung und Ergebnis eines Sozialvertrags
unter freien Individuen. Diesen beiden getrennten Bereichen wurden eigene
Wissensformen zugeordnet, die Naturwissenschaften und die Technologie bzw. das
‚Erklären‘ auf der einen Seite und die ‚verstehenden‘ Sozial- und
Geisteswissenschaften auf der anderen Seite. Im Kontext dieser strengen
Unterscheidung, die konstitutiv ist für die Moderne, kann es keine „Quasi-Objekte“
(Latour 2008, 70ff.) oder „Hybride“ (ebd. 91–21), die zugleich Subjekt und Objekt,
Gesellschaft und Natur, Zeichen und Ding sind, geben. Ob aus der Natur alleine oder
als Artefakt durch Menschenhand entstanden, alles, was den strengen Gesetzen der
Naturwissenschaft und des Kausaldeterminismus des instrumentellen Handelns
unterworfen ist, wird ontologisch als ‚bloßes‘ Ding betrachtet.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie versteht sich als Alternative und als Kritik an der
Moderne. An die Stelle von Erklärungen sozialer oder materiell-technischer
Bedingungen tritt die Beschreibung heterogener Netzwerke, bestehend aus
menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Obwohl die ANT in der Tradition
des Poststrukturalismus steht (Høstaker 2005), besteht Latour (2000, 36ff.) darauf,
dass die Welt sich nicht auf Text und Zeichen reduzieren lässt. Zeichen, Menschen,
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Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und technische Artefakte bilden eine
‚zirkulierende Referenz‘ von Mischwesen – techno-soziale-semiotische Hybride –,
die sich in dauernd sich verändernden Akteur-Netzwerken selbst organisieren. Die
Moderne hat aus diesem heterogenen Realitätsmix künstlich Konstrukte wie Natur
und Gesellschaft, Subjekt und Objekt, Zeichen und Ding heraus präpariert und zu
Erklärungsgründen erhoben. An Stelle der Verfassung der Moderne bietet die ANT
alternative Grundbegriffe und entwickelt eine besondere Methodologie, deren
Absicht es ist, Realität so zu beschreiben, dass sie nicht in den Kategorien und dem
Rahmen der Moderne erfasst wird. Es zeigt sich dabei die Integration von Menschen
und Nichtmenschen in das ‚Kollektiv‘ der Hybriden.
Wenn Akteure sich in Netzwerken ‚artikulieren‘ (Latour 2000, 161) ergeben sich
Relationen, Verbindungen und Beziehungen, die durch kommunikative Prozesse
eingegangen, fixiert, aufgelöst und transformiert werden. Ein Akteur-Netzwerk hat
demnach mindestens drei Dimensionen, die zwecks Analyse als Akteur-Ebene,
Netzwerk-Ebene und Prozess-Ebene bezeichnet werden können. Die Begriffe und
Methoden der ANT lassen sich einordnen, indem sie jeweils auf verschiedene
Dimensionen bezogen werden. Als Wissenschaft über die Wissenschaft darf dabei
nicht außer Acht gelassen werden, dass die ANT eine reflexive Position bezieht und
sich selbst zum Forschungsgegenstand macht. Zählt man diese Beobachtung
‚Zweiter Ordnung‘ hinzu, ergibt sich eine vierte Dimension, nämlich die Beobachter-
Ebene. Im Folgenden wird im Hinblick auf die Frage der Materialität von Kultur und
Gesellschaft eine systematische Rekonstruktion der oft verwirrenden und nicht
immer konsequent angewendeten Terminologie der ANT versucht.
Die Beobachter-Ebene
Auf der Beobachter-Ebene hat die ANT gewisse Ähnlichkeiten mit Niklas Luhmanns
Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1984). Luhmann (1927–1998) geht gleichzeitig
von der Annahme aus, dass es einerseits Systeme gibt, und andererseits, dass
Systeme nur für einen Beobachter in Erscheinung treten. In dieser Annahme sind
zugleich eine ontologische und eine erkenntnistheoretische Behauptung enthalten.
Auf der ontologischen Ebene besteht die Welt aus Systemen und sonst nichts. Auf
der erkenntnistheoretischen Ebene sind Systeme Konstrukte der Beobachtung.
Vergleichbar ist damit die Annahme der ANT, dass das Kollektive – Latour spricht
vom Kollektiven statt von Welt oder Gesellschaft –, einerseits aus Akteur-
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Netzwerken besteht, andererseits aber, dass diese Netzwerke nur dem Beobachter
zugänglich sind. Für die Systemtheorie wie auch für die ANT ist Sein zugleich Sinn,
Realität also semiotisch codiert. Es gibt keine Realität ausserhalb von Sinn. Die
Sinn-Grenzen bilden somit nicht etwa die reine Materie oder die pure Natur. Wären
die Natur und die Dinge nicht schon semiotisch codiert, könnten wir nicht darüber
reden, darauf verweisen, sie aus dem Dorf oder der Stadt verbannen oder
wissenschaftliche Experimente an ihnen durchführen. Wer ein System beobachtet,
bildet dadurch systemische Ordnung und wer ein Akteur-Netzwerk beschreibt,
beteiligt sich an der Konstruktion oder De-Konstruktion eines Netzwerks.
Symmetrie
Offensichtlich neu an der Akteur-Netzwerk-Theorie ist der Einbezug der bisher aus
der Gesellschaft ausgeschlossenen nicht-menschlichen Akteure. Die ANT postuliert
eine methodologische oder ‚allgemeine Symmetrie‘ menschlicher und nicht-
menschlicher Akteure (Callon 1986; Latour 1987). Weder Menschen noch Artefakte,
Dinge oder Maschinen sind als bloss passive Materie für die Instrumentalisierung,
Formung oder Beeinflussung durch das Andere zu verstehen. Damit wird sowohl ein
Sozial- wie auch ein Technikdeterminismus umgangen. Die ANT postuliert auf der
methodologischen Ebene eine universelle ‘symmetrische Anthropologie‚ (Latour
2008). Die Beschreibungssprache der Akteur-Netzwerk-Theorie verwendet ein
Vokabular, das unterschiedslos auf die technischen, sozialen und natürlichen
Aspekte des jeweiligen Untersuchungsfelds angewendet wird. Die Intention der
ANT, damit die ontologische Asymmetrie zwischen Natur und Kultur, Mensch und
Ding aufzuheben bzw. zu umgehen, ist offensichtlich.
Setting
Da alles miteinander verbunden ist, entsteht die Frage, wie etwas Bestimmtes
überhaupt noch als ‚Gegenstand‘ einer wissenschaftlichen Untersuchung erscheinen
kann. Was immer Gegenstand einer Untersuchung ist, besteht aus einer Sammlung
von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren mit verteilten Kompetenzen und
‚Performances‘, d.h. Handlungen, Wirkungen und Einflüssen. Diese Sammlung wird
als ‚Setting‘ oder ‚Setup‘ (frz. dispositif) bezeichnet. Sie tritt erst dann in
Erscheinung, wenn eine ‚Krise‘ ein bis dahin als selbstverständlich funktionierendes
Netzwerk stört. Um die Störung zu beseitigen werden Akteure auf den Plan gerufen
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und netzwerkbildende Tätigkeiten in Gang gesetzt. Daraus entsteht ein
beobachtbares Netzwerk. Die ANT ‚untersucht’ ein Akteur-Netzwerk, indem sie den
im Netzwerkbau involvierten Akteuren ‚folgt‘ bzw. deren Tätigkeiten beschreibt.
Krise
Das Setting wird dadurch sichtbar, dass ein oder mehrere Akteure sich darum
bemühen, andere Akteure in das Netzwerk einzubinden. Diese offensichtlichen und
beobachtbaren Bemühungen sind darauf zurückzuführen, dass aus Sicht wenigstens
einiger Akteure das Netzwerk nicht funktioniert. Ohne ‚Krise‘ sind Akteur-
Netzwerke unsichtbar, wie z.B. Martin Heideggers ‚Zeug‘ (Heidegger 1977, §14–
24), das nur dann als Gebrauchsding auffällt und für sich wahrgenommen wird, wenn
es nicht mehr funktioniert, zerbrochen oder fehl am Platz ist.
Mikro-Makro
Eine Unterscheidung, die für die traditionelle Soziologie sehr wichtig ist, für die
ANT aber keine Rolle mehr spielt, ist jene zwischen mikrosoziologischen und
makrosoziologischen Bereichen (Callon/Latour 1981). In der Soziologie werden
unendlich lange Diskussionen über die Freiheit des Individuums gegenüber
gesellschaftlichen Strukturen und über den bestimmenden Einfluss der Gesellschaft
auf die Individuen geführt. Die qualitative, wenn nicht gar ontologische Kluft
zwischen Individuum und überindividuellen, kollektiven Strukturen scheint in der
modernen Soziologie ebenso unüberwindbar zu sein, wie die Kluft zwischen Natur
und Kultur und gehört natürlich auch zur Selbstlegitimation der
Sozialwissenschaften, die als Wissenschaften einen objektiv gegebenen
Gegenstandsbereich für sich beanspruchen müssen. Für die ANT, die sich von den
konstitutiven Leitdifferenzen der Moderne distanziert, gibt es hingegen keinen
qualitativen, sondern lediglich einen quantitativen Unterschied zwischen Mikro- und
Makroebenen. Es gibt kein Individuum und auch keine Gesellschaft, die als
prinzipiell anders geartete Kontrahenten in einem unauflösbaren Kampf zwischen
Freiheit und Ordnung einander gegenüber stehen, vielmehr gibt es skalierbare
Akteur-Netzwerke, die entweder groß oder klein sind. Individuen sind Akteur-
Netzwerke gleicher Art wie Organisationen, Institutionen, Nationen oder sogar die
„Weltgesellschaft“ (Luhmann, 1975), nur sind sie sehr viel kleiner. Im Allgemeinen
gilt: Je größer das Netzwerk, desto stabiler, dauerhafter, ‚realer‘ und ‚objektiver‘
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erscheint es. Denn je größer das Netzwerk, desto langsamer ändert es sich und desto
mehr Widerstand muss überwunden werden, um Änderungen zu bewirken.
Die Akteur-Ebene
Woraus bestehen Akteur-Netzwerke? Wiederum ist ein Vergleich mit der Theorie
sozialer Systeme hilfreich. Die Elemente des sozialen Systems in der Theorie
Luhmanns sind bekanntlich nicht Menschen, sondern Kommunikationen.
Kommunikationen schließen an andere Kommunikationen an und bilden ein
autopoietisches, selbst-referentielles, operativ geschlossenes soziales System. Da
Kommunikation als Mitteilungsselektion aufgefasst wird, impliziert dies die
Möglichkeit, wenn nicht gar Notwendigkeit einer Zuschreibung zu einem
Kommunikator. Jemand sagt jemandem etwas. Da psychische Individuen sich nur in
der Umwelt der Gesellschaft befinden, bleiben nur „Personen“ als soziale Akteure
übrig, die selber durch Kommunikation konstruiert werden. In der Theorie sozialer
Systeme sind es Personen, die kommunizieren. Personen werden aber selber in und
durch Kommunikation gleichsam als Artefakte kommunikativer Operationen
konstruiert. In einer ähnlichen Art und Weise sind Akteure aus der Sicht der ANT
zugleich jene, die Netzwerke durch ‚kommunikative‘ Handlungen bzw.
‚Perfomances‘ bauen und Produkte solcher Handlungen oder ‚Performances‘.
Akteure sind selber Netzwerke und zugleich das, woraus Netzwerke bestehen. Der
Kommunikationsbegriff ist bei der ANT viel breiter gefasst als bei Luhmann.
Kommunikation wird unter dem Begriff ‚Performance‘ subsumiert und bezeichnet
jede Art der Beeinflussung eines anderen Akteurs. Wenn ein Mikroorganismus in
einem Laborexperiment in einer bestimmten Art und Weise reagiert, dann kommt
diese Information nicht von den Instrumenten und auch nicht vom Forscher – dies
würde das Experiment ja verfälschen –, sondern vom Mikroorganismus selber. Wohl
sprechen die Instrumente, die Messungen, die Forscher usw. ‚für‘ den
Mikroorganismus, dies aber ändert nichts daran, dass der Mikroorganismus zum
Akteur in einem Netzwerk wird, in dem die anderen Akteure seinen Einfluss
ernstnehmen müssen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie interessiert sich für die
heterogene Natur von Netzwerken. Latour definiert Akteure als „Entitäten, die Dinge
tun“ (Latour 1998, 247). Mit diesem sehr breit gefassten Handlungsbegriff ist die
Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch aufgehoben. Eine zentrale Idee
der Akteur-Netzwerk-Theorie besteht darin, den Begriff der Handlungsfähigkeit so
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weit zu fassen, dass alle Elemente, die dazu beitragen, dass ein relativ stabiles
Ordnungsmuster entsteht oder ins Wanken gerät, als Akteure betrachtet werden
können. Akteure werden damit nicht im herkömmlichen soziologischen Sinn als
individuelle, korporative oder kollektive soziale Einheiten, als Menschen oder
soziale Gruppen verstanden. Auch technische Artefakte, Maschinen, Texte, grafische
Repräsentationen und andere Entitäten beeinflussen das Kollektive und sind Akteure.
Akteur wird jedes Element genannt, das andere Elemente in seinen Bann zieht, diese
von sich abhängig macht und deren Willen dem eigenen anpasst (Callon/Latour
1981). Ein Akteur kann eine Mikrobe (Latour 1993), ein automatischer Türöffner
(Latour 1988) oder eine Kammmuschel sein (Callon 1986).
Dem methodologischen Prinzip der Symmetrie folgend kann die ANT behaupten,
dass alle Akteure ‚Interessen‘ vertreten und versuchen, andere Akteure von diesen
Interessen zu ‚überzeugen‘, um so zu einer Angleichung der Interessen der anderen
Akteure an die eigenen zu gelangen. Wenn diese Anstrengung, die als ‚Übersetzung‘
(translation) bezeichnet wird (s. unten), Erfolg zeigt, entsteht ein Akteur-Netzwerk.
In Netzwerken, die aus Menschen und Nicht-Menschen wie etwa Maschinen oder
Tieren bestehen, sind es deshalb nicht allein die Menschen, die mit
Handlungsfähigkeit (agency) und kommunikativer Kompetenz ausgestattet sind,
Menschen sind nicht die einzigen, die ‚agieren‘. Die Elemente eines Netzwerks sind
im Sinne einer relationalen Ontologie erst in und durch ihre Relationen im Netzwerk
– Latour spricht von Propositionen und Artikulationen (Latour 2000, 161ff.; 2001,
285, 297) – zu dem geworden, was sie sind. Akteure, seien es Mikroben, Computer
oder Menschen, existieren nicht in und aus sich selber, unabhängig von sozialen und
semiotischen Assoziationen. Akteure haben demnach eine von den Umgebungen, die
sie zu Akteuren mit bestimmten Handlungen und Kompetenzen machen, abhängige
Wirklichkeit. Die Eigenschaften eines Akteurs sind das Resultat der Einwirkungen
aller Beziehungen, die ein Akteur hat, also des Netzwerks, in dem der Akteur
eingebunden ist. Der Einfluss eines Akteurs wird durch seine Position innerhalb des
Netzwerks und durch die Größe und den Grad der Konvergenz des Netzwerks
bestimmt. Je höher die Konvergenz innerhalb eines Netzwerks, desto besser,
einfacher und zuverlässiger funktioniert der Übersetzungsprozess und umso ‚realer‘,
‚stabiler‘ und ‚mächtiger’ wird das Netzwerk.
Unter einer Vermittlungsinstanz (intermediary) wird alles verstanden, was zwischen
Akteuren ausgetauscht wird (z.B. Zeichen, Symbole, Artefakte, Geld, Leistungen).
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Als Vermittlungsinstanz kann alles betrachtet werden, das zwischen Akteuren
kursiert („passes between actors in the course of relatively stable transactions“,
Akrich/Latour 1992, 25). Vermittlungsinstanzen können als ‚Fürsprecher‘ für
Akteure betrachtet werden (Latour 2001, 298). Sie sind Vertreter, Vermittler,
Repräsentationen, wie etwa die sichtbar gemachten Spuren subatomarer Partikel im
Detektor eines Teilchenbeschleunigers. Akteure bilden Netzwerke, indem sie
Vermittlungsinstanzen untereinander zirkulieren lassen und so die Propositionen
(ebd. 297), d.h. Positionen, Rollen, Identitäten und Funktionen der Akteure im
Netzwerk definieren und fixieren. Die Vermittlungsinstanzen sind gleichermaßen die
‚Sprache‘ des Netzwerks. Durch Vermittlungsinstanzen kommunizieren Akteure
miteinander und auf diese Weise wird es möglich, dass Akteure ihre Intentionen in
andere Akteure ‚übersetzen‘.
Die Prozessebene
Ein Netzwerk entsteht aufgrund von Transaktionen, Aushandlungen und
Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Laufe
derer die Akteure aufgrund sich durchsetzender Interaktionsstrategien bestimmte
Identitäten, Rollen und Funktionen im Netzwerk annehmen. Um diese Prozesse zu
bezeichnen verwendet die ANT den Begriff ‚Übersetzung‘ (translation). Michel
Callon (1980) hat den Begriff von Michel Serres (1974) übernommen und in die
ANT eingebracht. Hier wurde er zum Oberbegriff für diverse Tätigkeiten und
Eigenschaften (Problematisierung, Interessement, Enrolement, Mobilisierung), die
die Dynamik des Netzwerkbildens beschreiben.
Übersetzung (Translation)
Übersetzung ist der dauernde Versuch, Akteure ins Netzwerk einzubinden. Ein
Akteur wird von einem anderen Akteur ‚übersetzt‘ (Callon 1980; Latour 1987), d.h.
seine Interessen und sein Handlungsprogramm werden angeglichen und ausgerichtet
auf die Interessen und das Handlungsprogramm eines anderen Akteurs.
Übersetzungen umfassen Rollenzuweisung, Prägung, Verführung, Verhandlung,
Intrige, Überzeugung, Gewalt, Herausforderungen, Messungen, Experimente etc., die
von Akteuren eingesetzt werden, um andere Akteure zu beeinflussen und diesen die
eigenen Interessen aufzuprägen. Übersetzungen sind demnach auf einer sehr
allgemeinen Ebene alle (Um-)Definitionen der Identität, der Eigenschaften und der
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Verhaltensweisen von Entitäten, die darauf gerichtet sind, Verbindungen zwischen
Akteuren zu etablieren, also Netzwerke zu ‚artikulieren‘. Übersetzung ist immer
multilateral und reziprok zu verstehen: Interessen und Ziele werden formuliert und
verändert, Handlungsprogramme aufgestellt und modifiziert, konkurrierende
Handlungsprogramme einbezogen oder ausgeschaltet, Koalitionen gebildet oder
aufgelöst, Akteure neu eingeführt, umdefiniert oder entfernt. Übersetzung gelangt nie
an ein Ende, sondern ist prozesshaft. Übersetzung geht einerseits von Akteuren aus,
andererseits sind Akteure auch das Resultat von Übersetzungen (Latour 1988). Jede
Entität, die die Fähigkeit besitzt, solche Übersetzungen vorzunehmen, wird als
Akteur bezeichnet. Der komplexe Kommunikationsprozess der Übersetzung kennt
vier Momente oder Phasen, die interdependent und mehrstufig sind:
Problematisierung, Interessement, Enrolement und Mobilisierung.
Problematisierung
Als Problematisierung wird das erste Moment der Übersetzung bezeichnet, bei dem
es darum geht, Probleme im Netzwerk zu finden und gemeinsame Definitionen und
Bedeutungen zu konstruieren, indem der übersetzende Akteur ein Problem so
definiert, dass andere es als ihr Problem erkennen. Wenn z.B. das Verhalten eines
Mikroorganismus im Labor den Erwartungen der Forschenden nicht entspricht, kann
dieses Verhalten Perplexität hervorrufen und zu einem Problem gemacht werden, das
zu einem neuen Versuch mit neuer Anordnung und Parametern führen kann. Es wird
versucht, eine Relevanz für das Verhalten zu finden. Natürlich kann das Verhalten
ignoriert und übergangen werden, was oft der Fall ist, wobei aber die Chance, einen
Akteur in das Netzwerk zu integrieren, verpasst oder auf einen späteren Zeitpunkt
verschoben wird. Die Viabilität von Akteur-Netzwerken hängt wesentlich von einer
hohen Sensibilität für das Problematische ab und dem andauernden Versuch, neue
Akteure in das Netzwerk zu integrieren.
Interessement
Interessement bezeichnet den Prozess, bei dem die Identitäten und Rollen, die in der
Phase der Problematisierung definiert wurden, auf Akteure übertragen werden.
Interessement ist der Akt des Anziehens und Überzeugens der betroffenen Akteure,
eine bestimmte Auffassung der ‚Bedeutung‘ des entdeckten oder vermuteten Akteurs
zu akzeptieren (Callon 1986). Interessement bringt die allmähliche Auflösung
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existierender Netzwerke mit sich, indem Akteure aus anderen Netzwerken
herausgenommen und in ein neues, zunächst noch hypothetisches Netzwerk des
übersetzenden Akteurs eingebunden werden.
Enrolement – Akzeptieren einer Rolle
Die Realisierung dieses zunächst hypothetischen Netzwerks von Allianzen hängt
davon ab, ob die beteiligten Akteure die ihnen zugeschriebenen Rollen auch
tatsächlich übernehmen. Enrolement bezeichnet das Moment der Integration oder
„Institutionalisierung“ (Latour 2001, 190) in ein Netzwerk. Wenn dieses Moment der
Übersetzung erfolgreich verläuft, werden die andern Akteure von Opponenten zu
Verbündeten. Enrolement ist ein reziproker Prozess. Es schreiben somit nicht nur die
übersetzenden Akteure die andern ein, vielmehr muss – damit die Übersetzung
funktionieren kann – der übersetzende Akteur ebenfalls durch die anderen
eingeschrieben werden. Auch wenn manchmal die Terminologie der ANT eher an
Machtkampf und Manipulationen erinnert, muss betont werden, dass Akteur-
Netzwerke nicht vom Willen eines Einzelnen abhängen, sondern Ergebnisse eines
Prozesses der gegenseitigen Anpassung sind (Callon 1986).
Mobilisierung
Mobilisierung bezeichnet die Dynamik eines Akteur-Netzwerks. Sie geschieht dann,
wenn immer mehr Akteure in das Netzwerk eingebunden werden. ‚Abwesende‘
Akteure können durch andere, die als Delegierte an ihrer Stelle agieren, vertreten
werden. Ein Rotlicht bei der Strassenkreuzung vertritt zum Beispiel den Polizisten,
dieser das Verkehrsgesetz usw. Eine Verbindung ‚mobilisiert‘ also, um ein noch
größeres Netzwerk von Abwesenden zu repräsentieren. Ein Akteur-Netzwerk ist auf
Mobilisierung hin ausgerichtet, da einerseits die totale Schließung gegenüber allem,
was noch nicht im Netzwerk eingebunden ist, unmöglich ist, und da andererseits jede
Problematisierung nach einer Erweiterung des Netzwerks verlangt. Im Gegensatz zur
Systemtheorie, die den Ausschluss der Umwelt durch den Aufbau interner
Komplexität kompensiert, leben Netzwerke von Inklusion und Verbindungen, haben
unscharfe Grenzen und versuchen, sich immer weiter in die Umwelt auszudehnen.
Handlungsprogramm, Anti-Programm und Hybridisierung
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Die Gesamtheit der Übersetzungsbemühungen eines Akteurs macht sein
Handlungsprogramm aus (Akrich/Latour 1992). Da nicht alle Akteure immer die
gleichen Interessen haben, gibt es auch Anti-Programme. Die Akteur-Netzwerk-
Theorie geht nicht davon aus, dass einem Akteur oder einem Programm im Blick auf
das Wohl des Ganzen gefolgt wird und ein einzelnes Programm dauerhaft dominiert.
Wie bei der Evolution kann erst aus einer ex post Betrachtung heraus gesagt werden,
welches und wessen Programm sich durchgesetzt hat. Die durch Übersetzung
entstehende Überlappung der Handlungsprogramme erzeugt neue
Handlungsprogramme. Dieser Vorgang wird in der Akteur-Netzwerk-Theorie als
Hybridisierung der Handlungsprogramme bezeichnet. Das Eintreten von Akteuren in
ein Netzwerk durch die Kombination ihrer Handlungsprogramme bewirkt, dass ein
neues Ziel, ein hybrides Handlungsprogramm und Netzwerk entsteht. Die beteiligten
menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten haben sich dadurch ebenfalls
verändert: Sie sind aufgrund ihrer Einbindung in ein gemeinsames Netzwerk selbst
zu hybriden Akteuren geworden.
Blackbox
Den Vorgang der Netzwerkkonsolidierung hin zu Konvergenz und Irreversibilität
bezeichnet die Akteur-Netzwerk-Theorie als Prozess des ‚Blackboxing‘ bzw. der
‚Institutionalisierung‘. Ein stabiles Netzwerk wird zu einer Blackbox oder einem
‚Institution‘ (siehe z.B. Latour 1991, 123; 2001, 290). Als Blackbox bezeichnet man
eine Entität, deren Herkunft und innerer Aufbau unbekannt oder als nicht weiter von
Bedeutung erachtet wird. Von Interesse ist nur das Verhalten, bzw. die Funktion der
Blackbox, die ein stabiles, voraussehbares Input/Output-Verhalten aufweist
(Callon/Latour 1981, 285). Die stabilisierten Resultate der Übersetzungsprozesse
schütteln ihre Entstehungsgeschichte für gewöhnlich ab, sie gelten dann als
selbstevident (siehe Callon 1991, 145) und werden von den beteiligten Akteuren
selbstverständlich und fraglos vorausgesetzt. Eine Blackbox kann ganz
unterschiedliche Formen annehmen: Eine ‚wahre‘ Theorie, eine ‚funktionierende‘
Technik, ein ‚gesunder‘ Körper, ein ‚durchschnittlicher‘ User, ein Ritualgegenstand,
ein Kruzifix, ein Medikament etc. können sich in einem Akteur-Netzwerk als
Blackbox verhalten. Blackboxes sind zwar das Resultat eines Übersetzungsprozesses
innerhalb eines Netzwerks, aber man sieht ihnen ihre Geschichte nicht mehr an –
zumindest so lange, als das Netzwerk, aus dem sie tatsächlich bestehen, stabil
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aufrecht erhalten werden kann. Für die meisten von uns ist ein Computer etwa ein
einzelnes und kohärentes Objekt mit einem fixen, zuverlässigen und bekannten
Input-/Output-Verhalten. Wenn der Computer aber kaputt geht, wird er für denselben
User und noch mehr für die Person, die ihn flicken muss, sehr schnell zu einem
komplexen Netzwerk elektronischer Komponenten und menschlicher Interaktionen.
Wenn ein Netzwerk wie ein einzelner Akteur agiert, verschwindet es als Netzwerk
und wird zu einem einfachen Akteur. In der alltäglichen Praxis mühen wir uns nicht
mit unendlichen Netzwerkverzweigungen ab. Zumeist sind wir gar nicht in der Lage
die Komplexität von Netzwerken zu erkennen. Die Stabilität im Netzwerk kann sich
verringern, indem zum Beispiel Maschinen kaputt gehen, Menschen ihre Meinungen
oder ihr Handeln verändern. Die Zirkulation von Vermittlungsinstanzen wird in so
einem Fall immer schwieriger, die Übersetzung wird abgeschwächt, die vielen
Blackboxes öffnen sich und zeigen Divergenz und Heterogenität. Die
Beschreibungssprache des Akteur-Netzwerk-Ansatzes ist genau dazu gedacht,
Blackboxes zu öffnen. Und der in ihr Vokabular eingebaute Anfangsverdacht verhält
sich dahingehend, dass alle im Übersetzungsprozess involvierten Entitäten,
gleichgültig, ob sie als Blackboxes schließlich zu sozialen Akteuren, technischen
Geräten oder Gegebenheiten der natürlichen Umwelt werden, potentiell als Einheiten
betrachtet werden müssen, die nicht nur passiv, sondern auch aktiv an den
Übersetzungsprozessen beteiligt sind.
Die Netzwerk-Ebene
Neben dem Begriff ‚Akteur‘ ist der Begriff ‚Netzwerk‘ das zweite zentrale Konzept
in der Akteur-Netzwerk-Theorie. Ein Akteur-Netzwerk ist nicht auf soziale Akteure
reduziert. Es geht bei einem Netzwerk im Kontext der ANT nicht wie bei andern
sozialen Netzwerktheorien um soziale Gruppen und ihre Verbindungen, sondern um
heterogene, hybride Gebilde, die aus menschlichen, technischen und natürlichen
Akteuren bestehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Die ANT schlägt vor, Akteure
als Ursachen und Effekte von Assoziationen menschlicher und nicht-menschlicher
Wesen zu betrachten. Jede noch so alltägliche Handlung ist durch verschiedene
miteinander verknüpfte menschliche und nicht-menschliche Wesen bestimmt. Die
Handlung und die verbundenen und bestimmenden Faktoren können nicht
voneinander getrennt betrachtet werden. John Law veranschaulicht diese Idee an
seiner eigenen Person als Wissenschaftler und Autor:
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„Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem strukturierten Netzwerk heterogener
Materialien bestehen. Wenn man mir meinen Computer, meine Kollegen, mein Büro, meine
Bücher, meinen Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich kein Artikel schreibender,
Vorlesungen haltender, "Wissen" produzierender Soziologe mehr, sondern eine andere
Person. Vergleichbares träfe sicher auf uns alle zu. Die analytische Frage muss also lauten:
Ist ein Akteur primär aus dem Grund ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der
Wissen, Kompetenzen, Werte und vieles mehr beherbergt? Oder ist ein Akteur aus dem
Grund ein Akteur, weil er oder sie über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch
über einen Körper) verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen und anderen –
Materialien erstrecken, die jeden Körper umgeben?“ (Law 1992).
Akteure und Netzwerke sind wechselseitig konstitutiv. Ein Akteur kann nicht ohne
ein Netzwerk agieren und ein Netzwerk besteht aus Akteuren. Akteure und
Netzwerke definieren sich gegenseitig ständig neu, hängen voneinander ab. Die
Größe oder Wichtigkeit eines Akteurs hängt von der Größe des Netzwerks ab, an
dem er teilhat, und die Größe des Netzwerks hängt von der Anzahl der Akteure ab,
die es übersetzen und mobilisieren kann. Es gibt keine strukturelle Differenz
zwischen großen und kleinen Akteuren, zwischen einer großen Institution und einem
einzelnen Individuum oder einem Ding wie z.B. einem Türöffner (Latour 1992).
Dies bedeutet aber nicht, dass alle gleich wichtig wären. Je heterogener die Elemente
sind, die ein Netzwerk implizit oder explizit verbinden kann, desto ‚stärker‘ wird es.
Nehmen wir das Beispiel der Münze: Eine Münze kann die Reputation einer ganzen
nationalen Ökonomie durch die Vereinfachung von Transaktionen mobilisieren.
Wenn eine Münze dies nicht kann, weil sie eingeschmolzen wird oder die
mobilisierten Elemente schwach sind, da die Regierung sich übermäßig verschuldet
hat, verliert die Münze ihre Macht, die in ihrem nicht angezweifelten Wert liegt. Eine
Münze ist ein Akteur, da sie ein Netzwerk heterogener Verbündeter motivieren kann,
Dinge zu tun, einen Wert zu behalten oder auszutauschen. In einer gültigen Münze
ist ein Netzwerk von Verbündeten eingeschweißt und es ist für einen einzelnen, der
eine Münze verwendet fast unmöglich, die Verbindungen solcher Netzwerke in
Frage zu stellen. Das gesamte soziale Leben – Familie, Organisationen,
Computersysteme, die Wirtschaft und Technologien – besteht aus Netzwerken
heterogener Elemente, deren Stabilität und Widerstand gegen Änderungen gleichsam
ihre ‚Realität‘ ausmachen. Akteur-Netzwerke sind zugleich Materialität und Kultur,
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sie sind die Art und Weise, wie beide zusammen die eine Welt, in der wir leben,
formen.
Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie
Das selbstbewusste und provozierende Auftreten der Akteur-Netzwerk-Theorie
(ANT) und ihrer Vertreter ruft unter Kritikern Widerstand hervor. Fragen nach dem
Neuigkeitswert und dem Nutzen der ANT für die Sozialwissenschaften stellt etwa
Gesa Lindemann (2009). Zudem werden Fragen nach der Anschlussfähigkeit der
ANT an gegenwärtige Sozialtheorien und nach dem heuristischen Potential neuer
Methoden und Modelle aufgeworfen (Kneer 2008). Vor allem das Prinzip der
methodologischen Symmetrie scheint die Anschlussfähigkeit der ANT an die auf
Handlungstheorien begründete Soziologie zu beeinträchtigen. Als einer der
Hauptvorwürfe gegenüber der ANT wird der Verdacht auf Anthropomorphismus
geäussert. Der ANT wird eine Vermenschlichung des Nicht-Menschlichen
vorgeworfen und eine Verwischung der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft
(Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Collins/Yearley 1992; Gingras 1995). Des
Weiteren wird gefragt, ob die ANT überhaupt den Namen ‚Theorie‘ verdiene. Die
Betonung empirischer Forschungsmethoden und die Verwendung einer aus der
Empirie abgeleiteten Terminologie haben dazu geführt, dass die ANT hauptsächlich
als empirischer, mikro-soziologischer Forschungsansatz, der ausdrücklich Theorie
meidet, rezipiert wurde (Massen 1999). Auch was die Beschreibung der Gesellschaft
betrifft, bemängeln Kritiker die ANT als eine Soziologie, die Systemdifferenzen und
Ebenen von Sozialstrukturen übersieht und Unterschiede zwischen mikro- und
makrosozialen Strukturen absichtlich nivelliert (Kneer 2008). Schliesslich wird die
ANT oft als Form des Sozialkonstruktivismus verstanden und dementsprechend dem
Technikdeterminismus gegenübergestellt (Fuchs 2000). Die verschiedenen kritischen
Stimmen bezeugen aber nicht nur eine breite Rezeption von ANT, sondern ebenso
wie kontrovers und offen das Selbstverständnis der heutigen Gesellschaft ist.
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