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1 II.11 Netzwerke von Dingen Der Begriff ‚Materielle Kultur‘ ist an sich etwas problematisch. Er suggeriert einerseits, dass es eine immaterielle Kultur im Sinne eines entkörperten Sinnträger gibt, und andererseits, dass eine nicht-kulturelle Materie, gleichsam Natur pur, die geduldig und den subjektiven Weltdeutungen des Menschen gegenüber indifferent auf die Entdeckung durch ein objektives, wertfreies Wissen wartet. Beide Sichtweisen sind das Erbe europäischer Moderne (Latour 2007). Mit der Infragestellung der Moderne aber lassen sich beide nicht mehr als selbstverständliche Voraussetzungen der Kulturwissenschaften unhinterfragt akzeptieren. Einige seit Jahrhunderten als selbstverständlich geltende Leitdifferenzen wie z.B. die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Zeichen und Dingen, Menschen und Maschinen werden heute zunehmend in Frage gestellt. Theoretische Neupositionierungen in der Philosophie, der Erkenntnistheorie, in den Sozial- wie auch den Naturwissenschaften zeigen, dass diese Leitdifferenzen ihre selbstverständliche Legitimation und ihre Erklärungskraft mehr und mehr verlieren. Dies macht es möglich, andere und möglicherweise innovativere Konzeptionalisierungsangebote wie jenes der Akteur-Netzwerk-Theorie mit unvoreingenommenem Blick zu betrachten und ernsthaft die Plausibilität einer Weltbeschreibung zu prüfen, bei der die Kultur und das Kulturelle nicht durch die Unterscheidung zur Natur und zum Materiellen definiert wird. Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wurde in den 1970er und 1980er Jahren vor allem von Bruno Latour, Michel Callon und John Law im Rahmen der soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung (s. Kap. V.13) entwickelt. Der Wissenssoziologie verwandt teilt die ANT deren ideologiekritische und konstruktivistische Haltung und vertritt eine Kritik der philosophischen und erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des modernen Verständnisses von Wissenschaft und Technik sowie des Selbstverständnisses der Sozialwissenschaften. Die typisch moderne Auffassung, dass die Wissenschaft objektives, wertneutrales Wissen liefert, ist aus Sicht der ANT grundsätzlich suspekt. Zudem sind die Voraussetzungen solchen Wissens, die Entmystifizierung der Natur und damit zusammenhängend die Verwandlung von Gesellschaft, Kultur und Erkennen in immaterielle und rein kognitive Tätigkeiten irreführend und als Ideologie bzw. als „Verfassung der Moderne“ (Latour 2008, 22ff.) zu entlarven.

Netzwerke Der Dinge

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II.11 Netzwerke von Dingen

Der Begriff ‚Materielle Kultur‘ ist an sich etwas problematisch. Er suggeriert

einerseits, dass es eine immaterielle Kultur im Sinne eines entkörperten Sinnträger

gibt, und andererseits, dass eine nicht-kulturelle Materie, gleichsam Natur pur, die

geduldig und den subjektiven Weltdeutungen des Menschen gegenüber indifferent

auf die Entdeckung durch ein objektives, wertfreies Wissen wartet. Beide

Sichtweisen sind das Erbe europäischer Moderne (Latour 2007). Mit der

Infragestellung der Moderne aber lassen sich beide nicht mehr als selbstverständliche

Voraussetzungen der Kulturwissenschaften unhinterfragt akzeptieren. Einige seit

Jahrhunderten als selbstverständlich geltende Leitdifferenzen wie z.B. die

Unterscheidung zwischen Natur und Kultur, Zeichen und Dingen, Menschen und

Maschinen werden heute zunehmend in Frage gestellt. Theoretische

Neupositionierungen in der Philosophie, der Erkenntnistheorie, in den Sozial- wie

auch den Naturwissenschaften zeigen, dass diese Leitdifferenzen ihre

selbstverständliche Legitimation und ihre Erklärungskraft mehr und mehr

verlieren. Dies macht es möglich, andere und möglicherweise innovativere

Konzeptionalisierungsangebote wie jenes der Akteur-Netzwerk-Theorie mit

unvoreingenommenem Blick zu betrachten und ernsthaft die Plausibilität einer

Weltbeschreibung zu prüfen, bei der die Kultur und das Kulturelle nicht durch die

Unterscheidung zur Natur und zum Materiellen definiert wird.

Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) wurde in den 1970er und 1980er Jahren vor

allem von Bruno Latour, Michel Callon und John Law im Rahmen der

soziologischen Wissenschafts- und Technikforschung (s. Kap. V.13) entwickelt. Der

Wissenssoziologie verwandt teilt die ANT deren ideologiekritische und

konstruktivistische Haltung und vertritt eine Kritik der philosophischen und

erkenntnistheoretischen Voraussetzungen des modernen Verständnisses von

Wissenschaft und Technik sowie des Selbstverständnisses der Sozialwissenschaften.

Die typisch moderne Auffassung, dass die Wissenschaft objektives, wertneutrales

Wissen liefert, ist aus Sicht der ANT grundsätzlich suspekt. Zudem sind die

Voraussetzungen solchen Wissens, die Entmystifizierung der Natur und damit

zusammenhängend die Verwandlung von Gesellschaft, Kultur und Erkennen in

immaterielle und rein kognitive Tätigkeiten irreführend und als Ideologie bzw. als

„Verfassung der Moderne“ (Latour 2008, 22ff.) zu entlarven.

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Die Ausdifferenzierung eines funktional spezialisierten Wissenschaftssystems in der

Moderne brachte eine Entsozialisierung des Subjekts wissenschaftlicher Erkenntnis

mit sich, das sich von allen nicht kognitiven Eigenschaften reinigen musste, um

wertfreies, objektives Wissen erlangen zu können. Sogenannte wissenschaftliche

Tatsachen sind wahr, weil sie die Natur quasi störungsfrei, ohne Beitrag des real

existierenden, verkörperten und sozialen Subjekts wiedergeben.

In dieser Trennung von Subjekt und Objekt liegen implizit auch die

Entmystifizierung der Natur und die Subjektivierung der Gesellschaft. Das

mechanistische Weltbild vertrieb die Geister, die Willkür und die Unberechenbarkeit

aus der Natur und verbannte sie in den Bereich der Kultur. Naturereignisse fanden

innerhalb eines Bereichs statt, der ausschließlich deterministischer Kausalität

untergeordnet war. Nicht-menschliche Wesen, Dinge zum Beispiel, verloren dadurch

jede Möglichkeit als Akteure und damit als sinnstiftend betrachtet zu werden. Die

Kultur und der Bereich des Sozialen erbten die Geister, die Illusionen, die

Willkürlichkeit und Unberechenbarkeit, aber auch die Sinnhaftigkeit des

intentionalen Handelns. Die Natur durfte nur noch als mathematisch formulierbare

und empirisch verifizierte ‚Tatsache‘ in Erscheinung treten. Als Gegenpart standen

Kultur und Gesellschaft als symbolische Ordnung und Ergebnis eines Sozialvertrags

unter freien Individuen. Diesen beiden getrennten Bereichen wurden eigene

Wissensformen zugeordnet, die Naturwissenschaften und die Technologie bzw. das

‚Erklären‘ auf der einen Seite und die ‚verstehenden‘ Sozial- und

Geisteswissenschaften auf der anderen Seite. Im Kontext dieser strengen

Unterscheidung, die konstitutiv ist für die Moderne, kann es keine „Quasi-Objekte“

(Latour 2008, 70ff.) oder „Hybride“ (ebd. 91–21), die zugleich Subjekt und Objekt,

Gesellschaft und Natur, Zeichen und Ding sind, geben. Ob aus der Natur alleine oder

als Artefakt durch Menschenhand entstanden, alles, was den strengen Gesetzen der

Naturwissenschaft und des Kausaldeterminismus des instrumentellen Handelns

unterworfen ist, wird ontologisch als ‚bloßes‘ Ding betrachtet.

Die Akteur-Netzwerk-Theorie versteht sich als Alternative und als Kritik an der

Moderne. An die Stelle von Erklärungen sozialer oder materiell-technischer

Bedingungen tritt die Beschreibung heterogener Netzwerke, bestehend aus

menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. Obwohl die ANT in der Tradition

des Poststrukturalismus steht (Høstaker 2005), besteht Latour (2000, 36ff.) darauf,

dass die Welt sich nicht auf Text und Zeichen reduzieren lässt. Zeichen, Menschen,

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Institutionen, Normen, Theorien, Dinge und technische Artefakte bilden eine

‚zirkulierende Referenz‘ von Mischwesen – techno-soziale-semiotische Hybride –,

die sich in dauernd sich verändernden Akteur-Netzwerken selbst organisieren. Die

Moderne hat aus diesem heterogenen Realitätsmix künstlich Konstrukte wie Natur

und Gesellschaft, Subjekt und Objekt, Zeichen und Ding heraus präpariert und zu

Erklärungsgründen erhoben. An Stelle der Verfassung der Moderne bietet die ANT

alternative Grundbegriffe und entwickelt eine besondere Methodologie, deren

Absicht es ist, Realität so zu beschreiben, dass sie nicht in den Kategorien und dem

Rahmen der Moderne erfasst wird. Es zeigt sich dabei die Integration von Menschen

und Nichtmenschen in das ‚Kollektiv‘ der Hybriden.

Wenn Akteure sich in Netzwerken ‚artikulieren‘ (Latour 2000, 161) ergeben sich

Relationen, Verbindungen und Beziehungen, die durch kommunikative Prozesse

eingegangen, fixiert, aufgelöst und transformiert werden. Ein Akteur-Netzwerk hat

demnach mindestens drei Dimensionen, die zwecks Analyse als Akteur-Ebene,

Netzwerk-Ebene und Prozess-Ebene bezeichnet werden können. Die Begriffe und

Methoden der ANT lassen sich einordnen, indem sie jeweils auf verschiedene

Dimensionen bezogen werden. Als Wissenschaft über die Wissenschaft darf dabei

nicht außer Acht gelassen werden, dass die ANT eine reflexive Position bezieht und

sich selbst zum Forschungsgegenstand macht. Zählt man diese Beobachtung

‚Zweiter Ordnung‘ hinzu, ergibt sich eine vierte Dimension, nämlich die Beobachter-

Ebene. Im Folgenden wird im Hinblick auf die Frage der Materialität von Kultur und

Gesellschaft eine systematische Rekonstruktion der oft verwirrenden und nicht

immer konsequent angewendeten Terminologie der ANT versucht.

Die Beobachter-Ebene

Auf der Beobachter-Ebene hat die ANT gewisse Ähnlichkeiten mit Niklas Luhmanns

Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1984). Luhmann (1927–1998) geht gleichzeitig

von der Annahme aus, dass es einerseits Systeme gibt, und andererseits, dass

Systeme nur für einen Beobachter in Erscheinung treten. In dieser Annahme sind

zugleich eine ontologische und eine erkenntnistheoretische Behauptung enthalten.

Auf der ontologischen Ebene besteht die Welt aus Systemen und sonst nichts. Auf

der erkenntnistheoretischen Ebene sind Systeme Konstrukte der Beobachtung.

Vergleichbar ist damit die Annahme der ANT, dass das Kollektive – Latour spricht

vom Kollektiven statt von Welt oder Gesellschaft –, einerseits aus Akteur-

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Netzwerken besteht, andererseits aber, dass diese Netzwerke nur dem Beobachter

zugänglich sind. Für die Systemtheorie wie auch für die ANT ist Sein zugleich Sinn,

Realität also semiotisch codiert. Es gibt keine Realität ausserhalb von Sinn. Die

Sinn-Grenzen bilden somit nicht etwa die reine Materie oder die pure Natur. Wären

die Natur und die Dinge nicht schon semiotisch codiert, könnten wir nicht darüber

reden, darauf verweisen, sie aus dem Dorf oder der Stadt verbannen oder

wissenschaftliche Experimente an ihnen durchführen. Wer ein System beobachtet,

bildet dadurch systemische Ordnung und wer ein Akteur-Netzwerk beschreibt,

beteiligt sich an der Konstruktion oder De-Konstruktion eines Netzwerks.

Symmetrie

Offensichtlich neu an der Akteur-Netzwerk-Theorie ist der Einbezug der bisher aus

der Gesellschaft ausgeschlossenen nicht-menschlichen Akteure. Die ANT postuliert

eine methodologische oder ‚allgemeine Symmetrie‘ menschlicher und nicht-

menschlicher Akteure (Callon 1986; Latour 1987). Weder Menschen noch Artefakte,

Dinge oder Maschinen sind als bloss passive Materie für die Instrumentalisierung,

Formung oder Beeinflussung durch das Andere zu verstehen. Damit wird sowohl ein

Sozial- wie auch ein Technikdeterminismus umgangen. Die ANT postuliert auf der

methodologischen Ebene eine universelle ‘symmetrische Anthropologie‚ (Latour

2008). Die Beschreibungssprache der Akteur-Netzwerk-Theorie verwendet ein

Vokabular, das unterschiedslos auf die technischen, sozialen und natürlichen

Aspekte des jeweiligen Untersuchungsfelds angewendet wird. Die Intention der

ANT, damit die ontologische Asymmetrie zwischen Natur und Kultur, Mensch und

Ding aufzuheben bzw. zu umgehen, ist offensichtlich.

Setting

Da alles miteinander verbunden ist, entsteht die Frage, wie etwas Bestimmtes

überhaupt noch als ‚Gegenstand‘ einer wissenschaftlichen Untersuchung erscheinen

kann. Was immer Gegenstand einer Untersuchung ist, besteht aus einer Sammlung

von menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren mit verteilten Kompetenzen und

‚Performances‘, d.h. Handlungen, Wirkungen und Einflüssen. Diese Sammlung wird

als ‚Setting‘ oder ‚Setup‘ (frz. dispositif) bezeichnet. Sie tritt erst dann in

Erscheinung, wenn eine ‚Krise‘ ein bis dahin als selbstverständlich funktionierendes

Netzwerk stört. Um die Störung zu beseitigen werden Akteure auf den Plan gerufen

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und netzwerkbildende Tätigkeiten in Gang gesetzt. Daraus entsteht ein

beobachtbares Netzwerk. Die ANT ‚untersucht’ ein Akteur-Netzwerk, indem sie den

im Netzwerkbau involvierten Akteuren ‚folgt‘ bzw. deren Tätigkeiten beschreibt.

Krise

Das Setting wird dadurch sichtbar, dass ein oder mehrere Akteure sich darum

bemühen, andere Akteure in das Netzwerk einzubinden. Diese offensichtlichen und

beobachtbaren Bemühungen sind darauf zurückzuführen, dass aus Sicht wenigstens

einiger Akteure das Netzwerk nicht funktioniert. Ohne ‚Krise‘ sind Akteur-

Netzwerke unsichtbar, wie z.B. Martin Heideggers ‚Zeug‘ (Heidegger 1977, §14–

24), das nur dann als Gebrauchsding auffällt und für sich wahrgenommen wird, wenn

es nicht mehr funktioniert, zerbrochen oder fehl am Platz ist.

Mikro-Makro

Eine Unterscheidung, die für die traditionelle Soziologie sehr wichtig ist, für die

ANT aber keine Rolle mehr spielt, ist jene zwischen mikrosoziologischen und

makrosoziologischen Bereichen (Callon/Latour 1981). In der Soziologie werden

unendlich lange Diskussionen über die Freiheit des Individuums gegenüber

gesellschaftlichen Strukturen und über den bestimmenden Einfluss der Gesellschaft

auf die Individuen geführt. Die qualitative, wenn nicht gar ontologische Kluft

zwischen Individuum und überindividuellen, kollektiven Strukturen scheint in der

modernen Soziologie ebenso unüberwindbar zu sein, wie die Kluft zwischen Natur

und Kultur und gehört natürlich auch zur Selbstlegitimation der

Sozialwissenschaften, die als Wissenschaften einen objektiv gegebenen

Gegenstandsbereich für sich beanspruchen müssen. Für die ANT, die sich von den

konstitutiven Leitdifferenzen der Moderne distanziert, gibt es hingegen keinen

qualitativen, sondern lediglich einen quantitativen Unterschied zwischen Mikro- und

Makroebenen. Es gibt kein Individuum und auch keine Gesellschaft, die als

prinzipiell anders geartete Kontrahenten in einem unauflösbaren Kampf zwischen

Freiheit und Ordnung einander gegenüber stehen, vielmehr gibt es skalierbare

Akteur-Netzwerke, die entweder groß oder klein sind. Individuen sind Akteur-

Netzwerke gleicher Art wie Organisationen, Institutionen, Nationen oder sogar die

„Weltgesellschaft“ (Luhmann, 1975), nur sind sie sehr viel kleiner. Im Allgemeinen

gilt: Je größer das Netzwerk, desto stabiler, dauerhafter, ‚realer‘ und ‚objektiver‘

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erscheint es. Denn je größer das Netzwerk, desto langsamer ändert es sich und desto

mehr Widerstand muss überwunden werden, um Änderungen zu bewirken.

Die Akteur-Ebene

Woraus bestehen Akteur-Netzwerke? Wiederum ist ein Vergleich mit der Theorie

sozialer Systeme hilfreich. Die Elemente des sozialen Systems in der Theorie

Luhmanns sind bekanntlich nicht Menschen, sondern Kommunikationen.

Kommunikationen schließen an andere Kommunikationen an und bilden ein

autopoietisches, selbst-referentielles, operativ geschlossenes soziales System. Da

Kommunikation als Mitteilungsselektion aufgefasst wird, impliziert dies die

Möglichkeit, wenn nicht gar Notwendigkeit einer Zuschreibung zu einem

Kommunikator. Jemand sagt jemandem etwas. Da psychische Individuen sich nur in

der Umwelt der Gesellschaft befinden, bleiben nur „Personen“ als soziale Akteure

übrig, die selber durch Kommunikation konstruiert werden. In der Theorie sozialer

Systeme sind es Personen, die kommunizieren. Personen werden aber selber in und

durch Kommunikation gleichsam als Artefakte kommunikativer Operationen

konstruiert. In einer ähnlichen Art und Weise sind Akteure aus der Sicht der ANT

zugleich jene, die Netzwerke durch ‚kommunikative‘ Handlungen bzw.

‚Perfomances‘ bauen und Produkte solcher Handlungen oder ‚Performances‘.

Akteure sind selber Netzwerke und zugleich das, woraus Netzwerke bestehen. Der

Kommunikationsbegriff ist bei der ANT viel breiter gefasst als bei Luhmann.

Kommunikation wird unter dem Begriff ‚Performance‘ subsumiert und bezeichnet

jede Art der Beeinflussung eines anderen Akteurs. Wenn ein Mikroorganismus in

einem Laborexperiment in einer bestimmten Art und Weise reagiert, dann kommt

diese Information nicht von den Instrumenten und auch nicht vom Forscher – dies

würde das Experiment ja verfälschen –, sondern vom Mikroorganismus selber. Wohl

sprechen die Instrumente, die Messungen, die Forscher usw. ‚für‘ den

Mikroorganismus, dies aber ändert nichts daran, dass der Mikroorganismus zum

Akteur in einem Netzwerk wird, in dem die anderen Akteure seinen Einfluss

ernstnehmen müssen. Die Akteur-Netzwerk-Theorie interessiert sich für die

heterogene Natur von Netzwerken. Latour definiert Akteure als „Entitäten, die Dinge

tun“ (Latour 1998, 247). Mit diesem sehr breit gefassten Handlungsbegriff ist die

Unterscheidung zwischen Mensch und Nicht-Mensch aufgehoben. Eine zentrale Idee

der Akteur-Netzwerk-Theorie besteht darin, den Begriff der Handlungsfähigkeit so

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weit zu fassen, dass alle Elemente, die dazu beitragen, dass ein relativ stabiles

Ordnungsmuster entsteht oder ins Wanken gerät, als Akteure betrachtet werden

können. Akteure werden damit nicht im herkömmlichen soziologischen Sinn als

individuelle, korporative oder kollektive soziale Einheiten, als Menschen oder

soziale Gruppen verstanden. Auch technische Artefakte, Maschinen, Texte, grafische

Repräsentationen und andere Entitäten beeinflussen das Kollektive und sind Akteure.

Akteur wird jedes Element genannt, das andere Elemente in seinen Bann zieht, diese

von sich abhängig macht und deren Willen dem eigenen anpasst (Callon/Latour

1981). Ein Akteur kann eine Mikrobe (Latour 1993), ein automatischer Türöffner

(Latour 1988) oder eine Kammmuschel sein (Callon 1986).

Dem methodologischen Prinzip der Symmetrie folgend kann die ANT behaupten,

dass alle Akteure ‚Interessen‘ vertreten und versuchen, andere Akteure von diesen

Interessen zu ‚überzeugen‘, um so zu einer Angleichung der Interessen der anderen

Akteure an die eigenen zu gelangen. Wenn diese Anstrengung, die als ‚Übersetzung‘

(translation) bezeichnet wird (s. unten), Erfolg zeigt, entsteht ein Akteur-Netzwerk.

In Netzwerken, die aus Menschen und Nicht-Menschen wie etwa Maschinen oder

Tieren bestehen, sind es deshalb nicht allein die Menschen, die mit

Handlungsfähigkeit (agency) und kommunikativer Kompetenz ausgestattet sind,

Menschen sind nicht die einzigen, die ‚agieren‘. Die Elemente eines Netzwerks sind

im Sinne einer relationalen Ontologie erst in und durch ihre Relationen im Netzwerk

– Latour spricht von Propositionen und Artikulationen (Latour 2000, 161ff.; 2001,

285, 297) – zu dem geworden, was sie sind. Akteure, seien es Mikroben, Computer

oder Menschen, existieren nicht in und aus sich selber, unabhängig von sozialen und

semiotischen Assoziationen. Akteure haben demnach eine von den Umgebungen, die

sie zu Akteuren mit bestimmten Handlungen und Kompetenzen machen, abhängige

Wirklichkeit. Die Eigenschaften eines Akteurs sind das Resultat der Einwirkungen

aller Beziehungen, die ein Akteur hat, also des Netzwerks, in dem der Akteur

eingebunden ist. Der Einfluss eines Akteurs wird durch seine Position innerhalb des

Netzwerks und durch die Größe und den Grad der Konvergenz des Netzwerks

bestimmt. Je höher die Konvergenz innerhalb eines Netzwerks, desto besser,

einfacher und zuverlässiger funktioniert der Übersetzungsprozess und umso ‚realer‘,

‚stabiler‘ und ‚mächtiger’ wird das Netzwerk.

Unter einer Vermittlungsinstanz (intermediary) wird alles verstanden, was zwischen

Akteuren ausgetauscht wird (z.B. Zeichen, Symbole, Artefakte, Geld, Leistungen).

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Als Vermittlungsinstanz kann alles betrachtet werden, das zwischen Akteuren

kursiert („passes between actors in the course of relatively stable transactions“,

Akrich/Latour 1992, 25). Vermittlungsinstanzen können als ‚Fürsprecher‘ für

Akteure betrachtet werden (Latour 2001, 298). Sie sind Vertreter, Vermittler,

Repräsentationen, wie etwa die sichtbar gemachten Spuren subatomarer Partikel im

Detektor eines Teilchenbeschleunigers. Akteure bilden Netzwerke, indem sie

Vermittlungsinstanzen untereinander zirkulieren lassen und so die Propositionen

(ebd. 297), d.h. Positionen, Rollen, Identitäten und Funktionen der Akteure im

Netzwerk definieren und fixieren. Die Vermittlungsinstanzen sind gleichermaßen die

‚Sprache‘ des Netzwerks. Durch Vermittlungsinstanzen kommunizieren Akteure

miteinander und auf diese Weise wird es möglich, dass Akteure ihre Intentionen in

andere Akteure ‚übersetzen‘.

Die Prozessebene

Ein Netzwerk entsteht aufgrund von Transaktionen, Aushandlungen und

Interaktionen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren im Laufe

derer die Akteure aufgrund sich durchsetzender Interaktionsstrategien bestimmte

Identitäten, Rollen und Funktionen im Netzwerk annehmen. Um diese Prozesse zu

bezeichnen verwendet die ANT den Begriff ‚Übersetzung‘ (translation). Michel

Callon (1980) hat den Begriff von Michel Serres (1974) übernommen und in die

ANT eingebracht. Hier wurde er zum Oberbegriff für diverse Tätigkeiten und

Eigenschaften (Problematisierung, Interessement, Enrolement, Mobilisierung), die

die Dynamik des Netzwerkbildens beschreiben.

Übersetzung (Translation)

Übersetzung ist der dauernde Versuch, Akteure ins Netzwerk einzubinden. Ein

Akteur wird von einem anderen Akteur ‚übersetzt‘ (Callon 1980; Latour 1987), d.h.

seine Interessen und sein Handlungsprogramm werden angeglichen und ausgerichtet

auf die Interessen und das Handlungsprogramm eines anderen Akteurs.

Übersetzungen umfassen Rollenzuweisung, Prägung, Verführung, Verhandlung,

Intrige, Überzeugung, Gewalt, Herausforderungen, Messungen, Experimente etc., die

von Akteuren eingesetzt werden, um andere Akteure zu beeinflussen und diesen die

eigenen Interessen aufzuprägen. Übersetzungen sind demnach auf einer sehr

allgemeinen Ebene alle (Um-)Definitionen der Identität, der Eigenschaften und der

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Verhaltensweisen von Entitäten, die darauf gerichtet sind, Verbindungen zwischen

Akteuren zu etablieren, also Netzwerke zu ‚artikulieren‘. Übersetzung ist immer

multilateral und reziprok zu verstehen: Interessen und Ziele werden formuliert und

verändert, Handlungsprogramme aufgestellt und modifiziert, konkurrierende

Handlungsprogramme einbezogen oder ausgeschaltet, Koalitionen gebildet oder

aufgelöst, Akteure neu eingeführt, umdefiniert oder entfernt. Übersetzung gelangt nie

an ein Ende, sondern ist prozesshaft. Übersetzung geht einerseits von Akteuren aus,

andererseits sind Akteure auch das Resultat von Übersetzungen (Latour 1988). Jede

Entität, die die Fähigkeit besitzt, solche Übersetzungen vorzunehmen, wird als

Akteur bezeichnet. Der komplexe Kommunikationsprozess der Übersetzung kennt

vier Momente oder Phasen, die interdependent und mehrstufig sind:

Problematisierung, Interessement, Enrolement und Mobilisierung.

Problematisierung

Als Problematisierung wird das erste Moment der Übersetzung bezeichnet, bei dem

es darum geht, Probleme im Netzwerk zu finden und gemeinsame Definitionen und

Bedeutungen zu konstruieren, indem der übersetzende Akteur ein Problem so

definiert, dass andere es als ihr Problem erkennen. Wenn z.B. das Verhalten eines

Mikroorganismus im Labor den Erwartungen der Forschenden nicht entspricht, kann

dieses Verhalten Perplexität hervorrufen und zu einem Problem gemacht werden, das

zu einem neuen Versuch mit neuer Anordnung und Parametern führen kann. Es wird

versucht, eine Relevanz für das Verhalten zu finden. Natürlich kann das Verhalten

ignoriert und übergangen werden, was oft der Fall ist, wobei aber die Chance, einen

Akteur in das Netzwerk zu integrieren, verpasst oder auf einen späteren Zeitpunkt

verschoben wird. Die Viabilität von Akteur-Netzwerken hängt wesentlich von einer

hohen Sensibilität für das Problematische ab und dem andauernden Versuch, neue

Akteure in das Netzwerk zu integrieren.

Interessement

Interessement bezeichnet den Prozess, bei dem die Identitäten und Rollen, die in der

Phase der Problematisierung definiert wurden, auf Akteure übertragen werden.

Interessement ist der Akt des Anziehens und Überzeugens der betroffenen Akteure,

eine bestimmte Auffassung der ‚Bedeutung‘ des entdeckten oder vermuteten Akteurs

zu akzeptieren (Callon 1986). Interessement bringt die allmähliche Auflösung

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existierender Netzwerke mit sich, indem Akteure aus anderen Netzwerken

herausgenommen und in ein neues, zunächst noch hypothetisches Netzwerk des

übersetzenden Akteurs eingebunden werden.

Enrolement – Akzeptieren einer Rolle

Die Realisierung dieses zunächst hypothetischen Netzwerks von Allianzen hängt

davon ab, ob die beteiligten Akteure die ihnen zugeschriebenen Rollen auch

tatsächlich übernehmen. Enrolement bezeichnet das Moment der Integration oder

„Institutionalisierung“ (Latour 2001, 190) in ein Netzwerk. Wenn dieses Moment der

Übersetzung erfolgreich verläuft, werden die andern Akteure von Opponenten zu

Verbündeten. Enrolement ist ein reziproker Prozess. Es schreiben somit nicht nur die

übersetzenden Akteure die andern ein, vielmehr muss – damit die Übersetzung

funktionieren kann – der übersetzende Akteur ebenfalls durch die anderen

eingeschrieben werden. Auch wenn manchmal die Terminologie der ANT eher an

Machtkampf und Manipulationen erinnert, muss betont werden, dass Akteur-

Netzwerke nicht vom Willen eines Einzelnen abhängen, sondern Ergebnisse eines

Prozesses der gegenseitigen Anpassung sind (Callon 1986).

Mobilisierung

Mobilisierung bezeichnet die Dynamik eines Akteur-Netzwerks. Sie geschieht dann,

wenn immer mehr Akteure in das Netzwerk eingebunden werden. ‚Abwesende‘

Akteure können durch andere, die als Delegierte an ihrer Stelle agieren, vertreten

werden. Ein Rotlicht bei der Strassenkreuzung vertritt zum Beispiel den Polizisten,

dieser das Verkehrsgesetz usw. Eine Verbindung ‚mobilisiert‘ also, um ein noch

größeres Netzwerk von Abwesenden zu repräsentieren. Ein Akteur-Netzwerk ist auf

Mobilisierung hin ausgerichtet, da einerseits die totale Schließung gegenüber allem,

was noch nicht im Netzwerk eingebunden ist, unmöglich ist, und da andererseits jede

Problematisierung nach einer Erweiterung des Netzwerks verlangt. Im Gegensatz zur

Systemtheorie, die den Ausschluss der Umwelt durch den Aufbau interner

Komplexität kompensiert, leben Netzwerke von Inklusion und Verbindungen, haben

unscharfe Grenzen und versuchen, sich immer weiter in die Umwelt auszudehnen.

Handlungsprogramm, Anti-Programm und Hybridisierung

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Die Gesamtheit der Übersetzungsbemühungen eines Akteurs macht sein

Handlungsprogramm aus (Akrich/Latour 1992). Da nicht alle Akteure immer die

gleichen Interessen haben, gibt es auch Anti-Programme. Die Akteur-Netzwerk-

Theorie geht nicht davon aus, dass einem Akteur oder einem Programm im Blick auf

das Wohl des Ganzen gefolgt wird und ein einzelnes Programm dauerhaft dominiert.

Wie bei der Evolution kann erst aus einer ex post Betrachtung heraus gesagt werden,

welches und wessen Programm sich durchgesetzt hat. Die durch Übersetzung

entstehende Überlappung der Handlungsprogramme erzeugt neue

Handlungsprogramme. Dieser Vorgang wird in der Akteur-Netzwerk-Theorie als

Hybridisierung der Handlungsprogramme bezeichnet. Das Eintreten von Akteuren in

ein Netzwerk durch die Kombination ihrer Handlungsprogramme bewirkt, dass ein

neues Ziel, ein hybrides Handlungsprogramm und Netzwerk entsteht. Die beteiligten

menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten haben sich dadurch ebenfalls

verändert: Sie sind aufgrund ihrer Einbindung in ein gemeinsames Netzwerk selbst

zu hybriden Akteuren geworden.

Blackbox

Den Vorgang der Netzwerkkonsolidierung hin zu Konvergenz und Irreversibilität

bezeichnet die Akteur-Netzwerk-Theorie als Prozess des ‚Blackboxing‘ bzw. der

‚Institutionalisierung‘. Ein stabiles Netzwerk wird zu einer Blackbox oder einem

‚Institution‘ (siehe z.B. Latour 1991, 123; 2001, 290). Als Blackbox bezeichnet man

eine Entität, deren Herkunft und innerer Aufbau unbekannt oder als nicht weiter von

Bedeutung erachtet wird. Von Interesse ist nur das Verhalten, bzw. die Funktion der

Blackbox, die ein stabiles, voraussehbares Input/Output-Verhalten aufweist

(Callon/Latour 1981, 285). Die stabilisierten Resultate der Übersetzungsprozesse

schütteln ihre Entstehungsgeschichte für gewöhnlich ab, sie gelten dann als

selbstevident (siehe Callon 1991, 145) und werden von den beteiligten Akteuren

selbstverständlich und fraglos vorausgesetzt. Eine Blackbox kann ganz

unterschiedliche Formen annehmen: Eine ‚wahre‘ Theorie, eine ‚funktionierende‘

Technik, ein ‚gesunder‘ Körper, ein ‚durchschnittlicher‘ User, ein Ritualgegenstand,

ein Kruzifix, ein Medikament etc. können sich in einem Akteur-Netzwerk als

Blackbox verhalten. Blackboxes sind zwar das Resultat eines Übersetzungsprozesses

innerhalb eines Netzwerks, aber man sieht ihnen ihre Geschichte nicht mehr an –

zumindest so lange, als das Netzwerk, aus dem sie tatsächlich bestehen, stabil

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aufrecht erhalten werden kann. Für die meisten von uns ist ein Computer etwa ein

einzelnes und kohärentes Objekt mit einem fixen, zuverlässigen und bekannten

Input-/Output-Verhalten. Wenn der Computer aber kaputt geht, wird er für denselben

User und noch mehr für die Person, die ihn flicken muss, sehr schnell zu einem

komplexen Netzwerk elektronischer Komponenten und menschlicher Interaktionen.

Wenn ein Netzwerk wie ein einzelner Akteur agiert, verschwindet es als Netzwerk

und wird zu einem einfachen Akteur. In der alltäglichen Praxis mühen wir uns nicht

mit unendlichen Netzwerkverzweigungen ab. Zumeist sind wir gar nicht in der Lage

die Komplexität von Netzwerken zu erkennen. Die Stabilität im Netzwerk kann sich

verringern, indem zum Beispiel Maschinen kaputt gehen, Menschen ihre Meinungen

oder ihr Handeln verändern. Die Zirkulation von Vermittlungsinstanzen wird in so

einem Fall immer schwieriger, die Übersetzung wird abgeschwächt, die vielen

Blackboxes öffnen sich und zeigen Divergenz und Heterogenität. Die

Beschreibungssprache des Akteur-Netzwerk-Ansatzes ist genau dazu gedacht,

Blackboxes zu öffnen. Und der in ihr Vokabular eingebaute Anfangsverdacht verhält

sich dahingehend, dass alle im Übersetzungsprozess involvierten Entitäten,

gleichgültig, ob sie als Blackboxes schließlich zu sozialen Akteuren, technischen

Geräten oder Gegebenheiten der natürlichen Umwelt werden, potentiell als Einheiten

betrachtet werden müssen, die nicht nur passiv, sondern auch aktiv an den

Übersetzungsprozessen beteiligt sind.

Die Netzwerk-Ebene

Neben dem Begriff ‚Akteur‘ ist der Begriff ‚Netzwerk‘ das zweite zentrale Konzept

in der Akteur-Netzwerk-Theorie. Ein Akteur-Netzwerk ist nicht auf soziale Akteure

reduziert. Es geht bei einem Netzwerk im Kontext der ANT nicht wie bei andern

sozialen Netzwerktheorien um soziale Gruppen und ihre Verbindungen, sondern um

heterogene, hybride Gebilde, die aus menschlichen, technischen und natürlichen

Akteuren bestehen, die sich gegenseitig beeinflussen. Die ANT schlägt vor, Akteure

als Ursachen und Effekte von Assoziationen menschlicher und nicht-menschlicher

Wesen zu betrachten. Jede noch so alltägliche Handlung ist durch verschiedene

miteinander verknüpfte menschliche und nicht-menschliche Wesen bestimmt. Die

Handlung und die verbundenen und bestimmenden Faktoren können nicht

voneinander getrennt betrachtet werden. John Law veranschaulicht diese Idee an

seiner eigenen Person als Wissenschaftler und Autor:

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„Personen sind die, die sie sind, weil sie aus einem strukturierten Netzwerk heterogener

Materialien bestehen. Wenn man mir meinen Computer, meine Kollegen, mein Büro, meine

Bücher, meinen Schreibtisch, mein Telefon nähme, wäre ich kein Artikel schreibender,

Vorlesungen haltender, "Wissen" produzierender Soziologe mehr, sondern eine andere

Person. Vergleichbares träfe sicher auf uns alle zu. Die analytische Frage muss also lauten:

Ist ein Akteur primär aus dem Grund ein Akteur, weil er oder sie einen Körper bewohnt, der

Wissen, Kompetenzen, Werte und vieles mehr beherbergt? Oder ist ein Akteur aus dem

Grund ein Akteur, weil er oder sie über einen Satz von Elementen (darunter natürlich auch

über einen Körper) verfügt, die sich über ein Netzwerk von somatischen und anderen –

Materialien erstrecken, die jeden Körper umgeben?“ (Law 1992).

Akteure und Netzwerke sind wechselseitig konstitutiv. Ein Akteur kann nicht ohne

ein Netzwerk agieren und ein Netzwerk besteht aus Akteuren. Akteure und

Netzwerke definieren sich gegenseitig ständig neu, hängen voneinander ab. Die

Größe oder Wichtigkeit eines Akteurs hängt von der Größe des Netzwerks ab, an

dem er teilhat, und die Größe des Netzwerks hängt von der Anzahl der Akteure ab,

die es übersetzen und mobilisieren kann. Es gibt keine strukturelle Differenz

zwischen großen und kleinen Akteuren, zwischen einer großen Institution und einem

einzelnen Individuum oder einem Ding wie z.B. einem Türöffner (Latour 1992).

Dies bedeutet aber nicht, dass alle gleich wichtig wären. Je heterogener die Elemente

sind, die ein Netzwerk implizit oder explizit verbinden kann, desto ‚stärker‘ wird es.

Nehmen wir das Beispiel der Münze: Eine Münze kann die Reputation einer ganzen

nationalen Ökonomie durch die Vereinfachung von Transaktionen mobilisieren.

Wenn eine Münze dies nicht kann, weil sie eingeschmolzen wird oder die

mobilisierten Elemente schwach sind, da die Regierung sich übermäßig verschuldet

hat, verliert die Münze ihre Macht, die in ihrem nicht angezweifelten Wert liegt. Eine

Münze ist ein Akteur, da sie ein Netzwerk heterogener Verbündeter motivieren kann,

Dinge zu tun, einen Wert zu behalten oder auszutauschen. In einer gültigen Münze

ist ein Netzwerk von Verbündeten eingeschweißt und es ist für einen einzelnen, der

eine Münze verwendet fast unmöglich, die Verbindungen solcher Netzwerke in

Frage zu stellen. Das gesamte soziale Leben – Familie, Organisationen,

Computersysteme, die Wirtschaft und Technologien – besteht aus Netzwerken

heterogener Elemente, deren Stabilität und Widerstand gegen Änderungen gleichsam

ihre ‚Realität‘ ausmachen. Akteur-Netzwerke sind zugleich Materialität und Kultur,

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sie sind die Art und Weise, wie beide zusammen die eine Welt, in der wir leben,

formen.

Kritik an der Akteur-Netzwerk-Theorie

Das selbstbewusste und provozierende Auftreten der Akteur-Netzwerk-Theorie

(ANT) und ihrer Vertreter ruft unter Kritikern Widerstand hervor. Fragen nach dem

Neuigkeitswert und dem Nutzen der ANT für die Sozialwissenschaften stellt etwa

Gesa Lindemann (2009). Zudem werden Fragen nach der Anschlussfähigkeit der

ANT an gegenwärtige Sozialtheorien und nach dem heuristischen Potential neuer

Methoden und Modelle aufgeworfen (Kneer 2008). Vor allem das Prinzip der

methodologischen Symmetrie scheint die Anschlussfähigkeit der ANT an die auf

Handlungstheorien begründete Soziologie zu beeinträchtigen. Als einer der

Hauptvorwürfe gegenüber der ANT wird der Verdacht auf Anthropomorphismus

geäussert. Der ANT wird eine Vermenschlichung des Nicht-Menschlichen

vorgeworfen und eine Verwischung der Grenzen zwischen Natur und Gesellschaft

(Rammert/Schulz-Schaeffer 2002; Collins/Yearley 1992; Gingras 1995). Des

Weiteren wird gefragt, ob die ANT überhaupt den Namen ‚Theorie‘ verdiene. Die

Betonung empirischer Forschungsmethoden und die Verwendung einer aus der

Empirie abgeleiteten Terminologie haben dazu geführt, dass die ANT hauptsächlich

als empirischer, mikro-soziologischer Forschungsansatz, der ausdrücklich Theorie

meidet, rezipiert wurde (Massen 1999). Auch was die Beschreibung der Gesellschaft

betrifft, bemängeln Kritiker die ANT als eine Soziologie, die Systemdifferenzen und

Ebenen von Sozialstrukturen übersieht und Unterschiede zwischen mikro- und

makrosozialen Strukturen absichtlich nivelliert (Kneer 2008). Schliesslich wird die

ANT oft als Form des Sozialkonstruktivismus verstanden und dementsprechend dem

Technikdeterminismus gegenübergestellt (Fuchs 2000). Die verschiedenen kritischen

Stimmen bezeugen aber nicht nur eine breite Rezeption von ANT, sondern ebenso

wie kontrovers und offen das Selbstverständnis der heutigen Gesellschaft ist.

.

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