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Panorama 31 Gebrannter, in der Natur vorkommender Ton gilt als das erste von Menschenhand her- gestellte Material. Ton war über Jahrtausende die Werkstoffbasis für viele zivilisatorische Errungenschaften der Menschheit und ist auch heute noch für viele Anwendungen, z. B. im Haushalt und in der Bautechnik, der Werkstoff der Wahl. Moderne keramische Materialien, das heißt Keramiken aus synthetisch hergestellten Ausgangsstoffen, sind werkstoffkundlich un- gleich besser definiert. Sie haben eine Vielzahl von Anwendungen in der Hochtechnologie erst möglich gemacht, und ihre Erforschung ist noch lange nicht abgeschlossen. Mit neuen Verfahren werden derzeit Hochleistungskeramiken ent- wickelt, die sich für den Einsatz unter Extrem- bedingungen eignen, zum Beispiel in Ver- brennungsmotoren und als Kugellager (Abb. 1). J ede Technologie setzt die Verfügbarkeit geeigneter Werkstoffe voraus. Das Interesse an neuen Werkstof- fen ist daher immer dann groß, wenn mit ihrer Hilfe neue technische Konzepte zum Durchbruch kommen oder bestimmte Anwendungen optimiert werden sollen. Auch wenn dies für alle Werkstoffe gleichermaßen gilt, so haben doch in neuerer Zeit das Umweltbewußtsein, der steigende Energiebedarf und die beschränkte Verfüg- barkeit vieler Rohstoffe einerseits sowie die zunehmen- de Komplexität der Technologiesysteme andererseits die Aufmerksamkeit auf eine vielversprechende Werkstoff- klasse gelenkt: die Keramiken [1 – 4]. Zu ihnen zählen diejenigen festen Materialien, die weder metallischer noch organischer Natur sind. Keramiken basieren prin- zipiell auf ionischen und kovalenten Verbindungen wie Oxiden, Nitriden, Karbiden und Boriden; diese sind seit langem bekannt und bestehen in der Regel aus Elemen- ten, die auf der Erde reichlich vorhanden und leicht ver- fügbar sind. Von besonderem Interesse ist eine Gruppe moderner Keramiken, deren spezielle Eigenschaften aus sorgfältig kontrollierten Herstellungsprozessen und ge- zielt eingestellten Materialzuständen resultieren. Diese Werkstoffgruppe ist so jung, daß über ihren Namen noch keine Einigkeit herrscht. Neben „Hochleistungske- ramiken“ sind Bezeichnungen wie „Sonderkeramiken“ und „High-Tech-Keramiken“ oder aus dem Englischen entlehnte Begriffe wie Advanced Ceramics und Fine Ceramics ebenfalls gebräuchlich. Maßgeschneiderte Herstellung aus Pulvern Hochleistungskeramiken werden, wie viele konven- tionelle Keramiken und eine Vielzahl von metallischen Werkstoffen, aus Pulvern hergestellt (Abb. 2). Dabei werden Pulver zu sogenannten Grünkörpern kompak- tiert und anschließend durch Sintern verdichtet [5] (siehe Kasten „Sintern“). Daneben verwendet man für spezielle Zwecke – z. B. zur Herstellung dünner und dicker Schichten, Fasern, aber auch besonders kom- pakter Materialien – eine ganze Reihe weiterer Metho- den. Zu diesen gehören insbesondere die physikalische und chemische Dampfphasenabscheidung – Physical Vapour Deposition (PVD) bzw. Chemical Vapour De- position (CVD) – sowie die Abscheidung aus wäßrigen Lösungen, Chemical Solution Deposition (CSD) [4, 6]. Erwähnenswert ist ferner, daß die Grundlagenfor- schung gegenwärtig an der Entwicklung von kerami- schen Schichten, Fasern und Massivmaterialien aus Polymeren arbeitet, ein hochinteressantes Forschungs- gebiet [7]. Bei dieser Methode werden die polymeren Vorstufen, die mit geläufigen Fertigungsprozessen der Kunststoffverfahrenstechnik verarbeitbar sind, durch eine spezielle Wärmebehandlung, die Pyrolyse oder Thermolyse genannt wird, direkt in rein anorganische Materialien überführt. Ferner sei erwähnt, daß die Herstellung von Einkri- stallen [4] und insbesondere von dotierten Varianten nicht nur für wissenschaftliche Zwecke wichtig ist, son- dern daß diese formal zu den Keramiken zu zählenden Materialien auch eine Vielzahl von technischen An- wendungen besitzen. Je nachdem, ob es sich um massi- Neue Materialien Werkstoffe, die die Welt verändern Hochleistungskeramiken machen den etablierten Materialien Konkurrenz Fritz Aldinger Prof. Dr. Fritz Aldin- ger, Max-Planck- Institut für Metall- forschung und Insti- tut für Nichtmetalli- sche Anorganische Materialien der Universität Stuttgart, Heisenbergstraße 5, D-70569 Stuttgart Physikalische Blätter 55 (1999) Nr. 11 0031-9279/99/1111-31 $17.50+50/0 © WILEY-VCH Verlag GmbH, D-69451 Weinheim, 1999 Abb. 1: Ob als Motorventile oder als Kugel- und Rollenlager – dank ihrer Vielseitigkeit lassen sich für die verschiedensten An- wendungen geeignete Keramiken herstel- len. In der Forschung versucht man, die Grenzen ihrer thermischen, mechani- schen und chemischen Belastbarkeit zu verstehen und die Hochleistungskerami- ken mit raffinierten Herstellungsverfah- ren weiter zu verbessern. [Quelle: Cero- bear GmbH, Herzogenrath (rechts)]

Neue Materialien: Werkstoffe, die die Welt verändern: Hochleistungskeramiken machen den etablierten Materialien Konkurrenz

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Gebrannter, in der Natur vorkommender Tongilt als das erste von Menschenhand her-gestellte Material. Ton war über Jahrtausendedie Werkstoffbasis für viele zivilisatorischeErrungenschaften der Menschheit und ist auchheute noch für viele Anwendungen, z. B. imHaushalt und in der Bautechnik, der Werkstoffder Wahl. Moderne keramische Materialien, dasheißt Keramiken aus synthetisch hergestelltenAusgangsstoffen, sind werkstoffkundlich un-gleich besser definiert. Sie haben eine Vielzahlvon Anwendungen in der Hochtechnologie erstmöglich gemacht, und ihre Erforschung ist nochlange nicht abgeschlossen. Mit neuen Verfahrenwerden derzeit Hochleistungskeramiken ent-wickelt, die sich für den Einsatz unter Extrem-bedingungen eignen, zum Beispiel in Ver-brennungsmotoren und als Kugellager (Abb. 1).

Jede Technologie setzt die Verfügbarkeit geeigneterWerkstoffe voraus. Das Interesse an neuen Werkstof-fen ist daher immer dann groß, wenn mit ihrer Hilfeneue technische Konzepte zum Durchbruch kommen

oder bestimmte Anwendungen optimiert werden sollen.Auch wenn dies für alle Werkstoffe gleichermaßen gilt,so haben doch in neuerer Zeit das Umweltbewußtsein,der steigende Energiebedarf und die beschränkte Verfüg-barkeit vieler Rohstoffe einerseits sowie die zunehmen-de Komplexität der Technologiesysteme andererseits dieAufmerksamkeit auf eine vielversprechende Werkstoff-klasse gelenkt: die Keramiken [1 – 4]. Zu ihnen zählendiejenigen festen Materialien, die weder metallischernoch organischer Natur sind. Keramiken basieren prin-zipiell auf ionischen und kovalenten Verbindungen wieOxiden, Nitriden, Karbiden und Boriden; diese sind seitlangem bekannt und bestehen in der Regel aus Elemen-ten, die auf der Erde reichlich vorhanden und leicht ver-fügbar sind. Von besonderem Interesse ist eine Gruppemoderner Keramiken, deren spezielle Eigenschaften aussorgfältig kontrollierten Herstellungsprozessen und ge-zielt eingestellten Materialzuständen resultieren. DieseWerkstoffgruppe ist so jung, daß über ihren Namennoch keine Einigkeit herrscht. Neben „Hochleistungske-ramiken“ sind Bezeichnungen wie „Sonderkeramiken“und „High-Tech-Keramiken“ oder aus dem Englischenentlehnte Begriffe wie Advanced Ceramics und FineCeramics ebenfalls gebräuchlich.

Maßgeschneiderte Herstellung aus PulvernHochleistungskeramiken werden, wie viele konven-

tionelle Keramiken und eine Vielzahl von metallischenWerkstoffen, aus Pulvern hergestellt (Abb. 2). Dabeiwerden Pulver zu sogenannten Grünkörpern kompak-tiert und anschließend durch Sintern verdichtet [5](siehe Kasten „Sintern“). Daneben verwendet man fürspezielle Zwecke – z. B. zur Herstellung dünner unddicker Schichten, Fasern, aber auch besonders kom-pakter Materialien – eine ganze Reihe weiterer Metho-den. Zu diesen gehören insbesondere die physikalischeund chemische Dampfphasenabscheidung – PhysicalVapour Deposition (PVD) bzw. Chemical Vapour De-position (CVD) – sowie die Abscheidung aus wäßrigenLösungen, Chemical Solution Deposition (CSD) [4, 6].Erwähnenswert ist ferner, daß die Grundlagenfor-schung gegenwärtig an der Entwicklung von kerami-schen Schichten, Fasern und Massivmaterialien ausPolymeren arbeitet, ein hochinteressantes Forschungs-gebiet [7]. Bei dieser Methode werden die polymerenVorstufen, die mit geläufigen Fertigungsprozessen derKunststoffverfahrenstechnik verarbeitbar sind, durcheine spezielle Wärmebehandlung, die Pyrolyse oderThermolyse genannt wird, direkt in rein anorganischeMaterialien überführt.

Ferner sei erwähnt, daß die Herstellung von Einkri-stallen [4] und insbesondere von dotierten Variantennicht nur für wissenschaftliche Zwecke wichtig ist, son-dern daß diese formal zu den Keramiken zu zählendenMaterialien auch eine Vielzahl von technischen An-wendungen besitzen. Je nachdem, ob es sich um massi-

Neue Materialien

Werkstoffe, die die Welt verändernHochleistungskeramiken machen den etablierten Materialien Konkurrenz

Fritz Aldinger

Prof. Dr. Fritz Aldin-ger, Max-Planck-Institut für Metall-forschung und Insti-tut für Nichtmetalli-sche AnorganischeMaterialien der Universität Stuttgart,Heisenbergstraße 5,D-70569 Stuttgart

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 110031-9279/99/1111-31$17.50+50/0© WILEY-VCH Verlag GmbH,D-69451 Weinheim, 1999

Abb. 1: Ob als Motorventile oder als Kugel- undRollenlager – dank ihrer Vielseitigkeitlassen sich für die verschiedensten An-wendungen geeignete Keramiken herstel-len. In der Forschung versucht man, dieGrenzen ihrer thermischen, mechani-

schen und chemischen Belastbarkeit zuverstehen und die Hochleistungskerami-ken mit raffinierten Herstellungsverfah-ren weiter zu verbessern. [Quelle: Cero-bear GmbH, Herzogenrath (rechts)]

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ve Kristalle oder um epitaktisch auf ein Substrat ähnli-cher Struktur abgeschiedene Schichten handelt, kom-men Einkristallziehverfahren (z. B. nach Bridgman,Czochralski und Verneuil) oder die bereits oben er-wähnten Dampfabscheidungsverfahren zum Einsatz.Diese Verfahren müssen jedoch aufgrund der besonde-ren Randbedingungen – hohe Schmelzpunkte und Nei-gung zu thermischer Zersetzung – im Einzelfall mehroder weniger stark modifiziert werden.

Feste Keramiken dank GefügekontrolleAbgesehen von den Gläsern sind die den kerami-

schen Materialien zugrunde liegenden Substanzen kri-stallin aufgebaut und bestehen idealerweise aus peri-odischen Anordnungen der Atome oder Ionen in drei-dimensionalen Gittern. Die Zusammensetzung dereinzelnen Verbindungen, d. h. deren exakte Stöchiome-trie, ergibt sich aus den Wertigkeiten der beteiligtenAtome. Aus thermodynamischen Gründen sowie auf-grund von Baufehlern bei der Kristallisation weisen dieRealkristalle mehr oder weniger viele Abweichungenvon der idealen Atomanordnung auf, die allgemein alsDefekte bezeichnet werden (siehe Kasten „Defekte“).

Die Summe aller systematischen und statistischen Ab-weichungen von der idealen Zusammensetzung undStruktur sowie die gezielte Einstellung einzelner De-fektarten machen eine chemische Substanz zum Werk-stoff: Durch die Defekte werden die Eigenschaftenentscheidend beeinflußt, so daß sich die Substanz fürspezielle Anforderungen maßschneidern läßt. Die De-fektkonzentrationen sind dabei im allgemeinen um ein Vielfaches höher, als es aus der Halbleitertechnikgeläufig ist. Insgesamt ergibt sich über das Gefüge oderdie Mikrostruktur, wie das Ensemble aller Defekte ineinem Werkstoff auch genannt wird, ein äußerst kom-plexes Spektrum von Einflüssen auf die Material-eigenschaften – aber eben auch die Möglichkeit, dasMaterial an den gewünschten Zweck anzupassen.

Aufgrund der inhärenten Sprödigkeit von Kerami-ken sind diejenigen Defekte von besonderer Bedeu-tung, welche die Bildung und Ausbreitung von Rissenin irgendeiner Weise bedingen bzw. beeinflussen. Dazugehören neben Einschlüssen, Poren und Mikrorissenalle Arten von Gefüge-Inhomogenitäten. Sie führen beider mechanischen Belastung einer Probe oder einesBauteils zu Spannungen im Material und beeinflussendie Bruchmechanik und die Festigkeit. Da solche Feh-ler bei den komplizierten Herstellungsprozessen leichtauftreten können, und weil nicht nur vorrangig mecha-nisch belastete Teile, sondern auch sogenannte Funkti-onsbauteile in der Technik mehr und mehr konstruktiv„ausgereizt“ werden, begrenzen die Gefügefehler im-mer häufiger die mechanische Stabilität der Bauteileund damit deren Zuverlässigkeit im Betrieb. Die Her-stellungsprozesse durch geeignete Verfahrenstechnik zukontrollieren und zu beherrschen ist daher eine konti-nuierliche Herausforderung.

Abbildung 3 zeigt am Beispiel eines Werkstoffes ausSiliciumnitrid (Si3N4), wie durch eine spezielle Gefüge-ausbildung eine Verbesserung der mechanischen Eigen-schaften erzielt werden kann, und zwar in diesem Falleeine Erhöhung der Bruchzähigkeit [8]. Durch whisker-artige (d. h. nadelförmige) Si3N4-Körner, die in eineMatrix aus oxinitridischer Glasphase eingebettet sind,werden Risse, die sich hier bevorzugt entlang derGrenze zwischen den Si3N4-Körnern und der Matrix-phase ausbreiten, dazu gezwungen, laufend ihreAusbreitungsrichtung zu ändern. Gegenüber einem ge-raden Rißverlauf muß dadurch wesentlich mehr Bruch-arbeit geleistet werden, was die relativ hohe Bruch-zähigkeit derartig verstärkter Materialien von typi-scherweise etwa 10 MPa m1/2 erklärt. Da die nadeligeMorphologie des Si3N4 durch besondere Maßnahmenbeim Sintern erzeugt wird und nicht durch eine Ver-wendung whiskerartiger Ausgangspulver, spricht manvon in-situ-whiskerverstärktem Siliciumnitrid. Wie dieweiter unten gezeigten Anwendungsbeispiele verdeutli-chen, hat sich gerade dieses Material für die Herstel-lung anspruchsvoller Strukturbauteile sehr bewährt.

Abbildung 4 zeigt anhand von BaTiO3-Dünnschich-ten den Einfluß der Mikrostruktur auf die dielektri-schen Eigenschaften von Keramiken [9]. Die unter-schiedlichen Mikrostrukturen der auf platinüberzoge-nen Siliziumwafern abgeschiedenen Titanat-Schichtenwurden durch Variation der Abscheideparameter desCSD-Prozesses erzielt. Beim CSD-Prozeß wird eineLösung, in welcher die gewünschten Elemente gelöstvorliegen, auf das Substrat aufgeschleudert und in ei-nem nachfolgenden Heizprozeß getrocknet, kalziniertund kristallisiert. Über die Variation der Lösungskon-

Abb. 2: Grobkörnige SiC-Kristalle dienenals Ausgangsmate-rial vieler Kerami-ken. Nach demMahlen und Kom-paktieren läßt sichdas Pulver durchWärme und Druckzu einem Festkör-per verdichten.Das Endproduktkann härter seinals Stahl.

Unter Sintern versteht man thermischaktivierte Materialumlagerungsvorgän-ge, deren Triebkraft vorrangig aus derVerringerung der freien Oberfläche derPulverteilchen resultiert. Der Material-fluß findet letztlich von konvexen zukonkaven Oberflächen statt, was anden Berührungs-punkten der Teil-chen, die der Ein-fachheit halberals Kugeln be-trachtet werdenkönnen, zur Aus-bildung von Sin-terhälsen führt. Inder Folge kommtes allmählich zueiner mehr oderweniger vollstän-digen Auffüllungdes Porenraumeszwischen den vor-verdichteten Pul-verteilchen eines Grünkörpers, wieFormkörper aus vorkompaktiertenPulvern genannt werden. Beim Fest-phasensintern wird, z. B. durch Ver-dampfen und Wiederkondensieren (1)oder Oberflächendiffusion (2), Materi-al von den Teilchenoberflächen zu denHälsen transportiert. Dies bewirktzwar eine Festigkeitserhöhung des vor-

kompaktierten Pulvers, aber keineAnnäherung der Teilchenzentren unddemzufolge auch keine Dichtezunahmedes Grünkörpers. Volumen- (3) undKorngrenzendiffusion (4), die beideMaterial aus den Korngrenzen heraus-transportieren können, ergeben hinge-

gen eine Annähe-rung der Teil-chenschwerpunk-te und damit einemakroskopischeSchwindung desGrünkörpers.Von der Grün-dichte ausgehendkann die Dichte,bei geeigneterTemperaturfüh-rung währendder Sinterzeit, imIdealfall bis auf100 % der theore-tischen Dichte

gesteigert werden. Schmilzt bei derSintertemperatur das Material teilweiseauf, dann spricht man von Flüssig-phasensintern. In diesem Fall nimmtdie Dichte vorrangig durch Teilchen-umlagerung und Lösung-Wiederaus-scheidung der festen in der flüssigenPhase zu.

Kasten 1 – Sintern

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zentration kann man die Kristallisation der BaTiO3-Schichten derart beeinflussen, daß bei Prozeßtempera-turen zwischen 700 und 800° C sowohl feinkörnigeSchichten mit beliebig orientierten Körnern als auchsäulenartige Schichten hergestellt werden können. Wiedie Abbildung verdeutlicht, hat die unterschiedlicheGefügeausbildung einen starken Einfluß auf die relati-ve Permittivität und damit auf die Speicherkapazitätder Schichten. Für die Anwendung in Dünnschichtkon-densatoren ist es daher von entscheidender Bedeutung,daß sich die Mikrostruktur der BaTiO3-Schichten überden Herstellungsprozeß gezielt kontrollieren läßt.

Mit der Möglichkeit, die Eigenschaften von Bautei-len mit Abmessungen im Zentimeter- und Meterbereich

aus Vorgängen heraus zu verstehen, die in atomarerGrößenordnung ablaufen, erstreckt sich das Betäti-gungsfeld der Materialwissenschaft über eine zehnGrößenordnungen umfassende Längenskala und stelltdamit ein wichtiges Bindeglied zwischen den Natur-und Ingenieurwissenschaften dar (Abb. 5).

Von Isolatoren zu HT-SupraleiternKeramiken bieten ein breites Spektrum interessanter

Anwendungen, die letztlich auf den Elementkombina-tionen und der sich daraus ergebenden atomarenStruktur beruhen. Die Tatsache, daß es sich dabei vorallem um Verbindungen der leichten Elemente Sauer-stoff, Stickstoff, Kohlenstoff und Bor handelt, führt im

Defekte in der Gitterstruktureines Materials können des-sen Eigenschaften entschei-dend beeinflussen. Die wich-tigste Defektart ist zweifellosdie Polykristallinität, die ke-ramische Materialien in derRegel auszeichnet. Kera-miken bestehen aus einerVielzahl kleiner, unterschied-lich orientierter Kristallite,sogenannter Körner, diedurch Korngrenzen getrenntsind. Daneben gehören che-misch induzierte Defekte,wie Abweichungen von derStöchiometrie, ungewollteVerunreinigungen und gezieltzugesetzte Additive zu denDefekten eines Werkstoffs.Diese Abweichungen können

im Einzelfall sehr klein seinund trotzdem zu entschei-denden Unterschieden in denchemischen, physikalischenund mechanischen Eigen-schaften eines Materials füh-ren. Das Gleiche gilt für dieVielzahl morphologischerFehlstellen wie Leerstellen,Versetzungen, Korngrenzenund Poren, um nur jeweilseinen wichtigen Vertreter dernull-, ein-, zwei- und dreidi-mensionalen Defektarten zunennen.

Die Gefüge keramischerMaterialien enthalten übli-cherweise an den Korngren-zen und im Korn Poren, dieauf eine unvollständige Ver-dichtung beim Sintern zu-

rückzuführen sind (schwarzeInseln im mittleren Bild).Außerdem bilden sich glas-förmige Korngrenzenphasen(hellgrau) oder andereFremdphasen (dunkelgrau),die entweder von Verunreini-gungen im Ausgangsmaterialherrühren können oder – wieim Beispiel der Glasphase inSiliciumnitrid – als Sinterhil-fe zugesetzt werden. SelbstKorngrenzen, die im Licht-mikroskop als glasphasenfreierscheinen, enthalten unterUmständen dünne amorpheFilme, die zwar nur mittelshochauflösender Durchstrah-lungselektronenmikroskopiesichtbar gemacht werdenkönnen (links), die aber z. B.

die Kriecheigenschaften desMaterials bei hohen Tempe-raturen empfindlich ver-schlechtern. Ebenfalls vongroßer Bedeutung sindnulldimensionale Defekte(rechts) wie Leerstellen (a),Zwischengitter- (e) und Sub-stitutionsatome (b) sowieKombinationen aus solchenFehlern, z. B. die sogenann-ten Schottky- (c) und Fren-kel-Defekte (d). Dazu zählenauch Wertigkeitsdefekte, wiesie beispielsweise in Fe1–xOvorkommen: der durch ein-zelne Fe3+-Ionen verursachteÜberschuß an positiven La-dungen wird durch Leerstel-len im Fe-Untergitter ausge-glichen (f).

Kasten 2 – Defekte

Abb. 4: Die dielektrischenEigenschaften ei-ner Keramik hän-gen stark von de-ren Mikrostrukturab. So haben säu-lenförmige Titanat-Dünnschichten aufplatinbeschichtetenSilizium-Wafern(oben links) einewesentlich höhererelative Permitti-vität als feinkörni-ge Schichten (obenrechts). Auf dieseWeise läßt sich dieKapazität vonDünnschichtkon-densatoren beein-flussen. (Quelle: R. Waser, RWTHAachen)

Abb. 3: Nadelförmige Körner zwingen einen Riß dazu, seine Ausbrei-tungsrichtung häufig zu ändern. Dadurch läßt sich die Bruch-zähigkeit der Siliciumnitrid-Keramik um ein Vielfaches steigern.

a b c

d e f

Korngrenzenfilm in Si3N4z.B. Fe2+

z.B. O2–

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Verein mit den vorrangig ionisch-kovalenten Bindun-gen und den demzufolge hohen Bindungskräften zueiner Vielzahl von herausragenden Eigenschaften, wel-che die Keramiken gegenüber anderen Werkstoffklas-sen generell auszeichnen. Dazu gehören in erster Liniehohe Schmelz- und Zersetzungstemperaturen, ein nied-riges spezifisches Gewicht, ein hoher Elastizitätsmodul,hohe Härte und Festigkeit sowie günstige thermischeEigenschaften wie beispielsweise ein niedriger thermi-

scher Ausdehnungskoeffizient und eine hohe thermi-sche Leitfähigkeit.

Darüber hinaus hat das Fehlen von freien Elektro-nen in den meisten keramischen Verbindungen höchsteelektrische Widerstände zur Folge. Aufgrund der mitder Temperatur zunehmenden Fehlordnung und derBeweglichkeit von Kationen und Anionen leiten aberviele Keramiken den elektrischen Strom trotzdem. Die-se auf der Ionenbeweglichkeit beruhende Leitfähigkeitführt im Einzelfall zu hochinteressanten Festelektrolyt-eigenschaften. Andere Keramiken, wie z. B. viele Kar-bide, haben sehr wohl auch metallische Bindungsan-teile und sind demzufolge elektronische Leiter oderHalbleiter. Bei speziellen Oxiden tritt sogar Supraleit-fähigkeit mit Sprungtemperaturen auf, die heute bis ca.150 K reichen – man spricht hier mit Recht von Hoch-temperatur-Supraleitern [4], die ein enormes anwen-dungstechnisches Potential erschließen.

Die elektrische Polarisierbarkeit einzelner Atomeführt in bestimmten Gittertypen niedriger Symmetriezu piezo- und pyroelektrischen oder spezieller zu ferro-elektrischen und antiferroelektrischen Eigenschaften.Sie sind in vielen Bauelementen von größter prakti-scher Bedeutung [10]. Ähnliches gilt für die durch ma-gnetische Ordnung hervorgerufenen, der Ferroelektri-zität analogen Phänomene des Ferro- und Antiferroma-gnetismus.

Das Fehlen freier Elektronen hat auch zur Folge,daß Keramiken – und zwar nicht nur im Glaszustand –prinzipiell durchsichtig sind. Liegen Defekte wie Porenoder Einschlüsse im Größenbereich der Lichtwellen-länge vor, dann sind keramische Körper zwar wenigerdurchsichtig, die einzelnen Körner sind aber nach wievor durchscheinend. Darüber hinaus ergeben sich be-sondere optische Eigenschaften aus der Polarisierbar-keit der Gitteratome und dem Auftreten von Farbzen-tren.

Auch für die Kerntechnik sind Keramiken interes-sant. Sie dienen zum Beispiel als Neutronenmoderato-ren und -absorber in Atomkraftwerken und werdensogar als Kernbrennstoff verwendet. Dazu erzeugt manin einem Sinterprozeß tablettenförmiges Uranoxid undschichtet diese Tabletten innerhalb der Brennstäbe auf-einander. Hier müssen sie unter extremen Bedingungenabsolut kontrollierte Eigenschaften beibehalten und100 % zuverlässig sein, so daß es sich auch im Falle derBrennstoffe um hochentwickelte Werkstoffe handelt.

Anwendungen in allen IndustriezweigenDie wichtigsten Anwendungen keramischer Materia-

lien sind in Abb. 6 zur besseren Übersicht in verschie-dene Funktionsbereiche unterteilt, je nachdem, obelektrisch-magnetische, optische, thermische, mechani-sche, chemische oder kerntechnische Aspekte im Vor-dergrund stehen. Die in der Abbildung aufgeführtenAnwendungsbeispiele verdeutlichen den breiten Ein-satzbereich, der so wichtige Industriezweige wie dieElektronik, die Elektro- und Hochspannungstechnik,den Fahrzeugbau, den Geräte- und Maschinenbau, dieChemie- und Umwelttechnik sowie die Medizintechnikumfaßt.

Hoher Widerstand und gute Wärmeleitung beiElektronikbauteilen aus KeramikAm weitesten verbreitet sind Keramiken in der Elek-

tronik und Elektrotechnik als Isolatoren und als Trägerfür integrierte Halbleiterschaltkreise, Hybridschaltun-gen und passive Bauelemente (Abb. 7). Besonders ge-eignet ist hierfür Aluminiumoxid (Al2O3), das einenhohen elektrischen Widerstand und eine relativ hoheWärmeleitfähigkeit aufweist, mechanisch sehr stabil istund vergleichsweise niedrige Werte im thermischenAusdehnungskoeffizient und der Dielektrizitätskon-stante besitzt. Wenn noch höhere Anforderungen be-stehen – z. B. die Anpassung des Ausdehnungskoeffizi-enten an den des Siliciums, um thermische Verspan-nungen zu minimieren, oder eine noch wirksamereAbleitung von Wärmeenergie – kommen alternativeKeramiken wie Aluminiumnitrid zur Anwendung. Sindschnelle Schaltungen gefragt, dann sind speziell ent-wickelte Substratkeramiken auf der Basis von Silicium-dioxid von Interesse, das die niedrigste Dielektrizitäts-konstante aller anorganischen Materialien aufweist.

Daneben sind für die Elektronik und Elektrotechnikdie ferroelektrischen Eigenschaften der Keramiken inForm von Kondensatoren und piezokeramischen Bau-elementen von größter Bedeutung. Bei den allgegen-wärtigen akustischen Signalgebern, Hör- und Sprech-muscheln und überall dort, wo kleinste Positionsände-rungen ertastet (Sensor) oder ausgeführt (Aktor)werden sollen, ist der Piezoeffekt nicht mehr wegzu-denken. Die Möglichkeit, Kristalle mit mehreren pola-ren Achsen durch Deformation zu polarisieren, d. h.mechanische Energie in elektrische umzusetzen und

Abb. 5: Die ungewöhnli-chen Eigenschaftenvon Keramikenlassen sich auf ver-schiedenen Ebenenund in verschiede-nen Disziplinenerschließen. DieMaterialwissen-schaft schlägt da-bei die Brücke vonder Mikro- zur Makrowelt.

Abb. 6: In praktisch allenIndustriezweigenfinden hochlei-stungskeramischeWerkstoffe Ver-wendung.

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umgekehrt, hat Werkstoffen wie PZT (Bleizirkoniumti-tanat) ein weites Anwendungsgebiet erschlossen. Ähn-liches gilt für Keramiken, bei denen die spontane Pola-risation durch ein elektrisches Feld umgekehrt werdenkann, wo mithin ein Zusammenhang zwischen Polari-sation und elektrischem Feld in Form einer Hysterese-Kurve besteht. Aus diesen Keramiken lassen sich Spei-

cherelemente bauen, sogenannte FeRAM-Elemente, diedie Vorteile der schnellen, aber flüchtigen Arbeitsspei-cher (DRAM) mit der Langzeitspeicherfähigkeit vonMassenspeichern wie Festplatten vereinen [11]. Fe-RAM-Elemente sind damit hervorragend geeignet, ei-nen universellen, schnellen und zugleich nicht-flüchti-gen Speicher in mobilen Systemen wie Palmtop-Com-putern und „intelligenten“ Kreditkarten zu realisieren.Zur Verwirklichung der ersten FeRAM-Elemente muß-ten zahlreiche Probleme gelöst werden, z. B. die Ermü-dung des Materials unter elektrischer Belastung, dieLangzeitstabilität und die Materialverträglichkeit zwi-schen der „Si-Welt“ und dem FE-Material. Die Heraus-forderung der Zukunft besteht nun darin, FeRAMs mitAbmessungen von einigen Nanometern zu bauen.

ll-Sonden aus Zirkoniumoxid steuern OttomotorenSensoren, Batterien und Brennstoffzellen nutzen die

Beweglichkeit von Ionen im Kristallgitter einiger Kera-miken, die als Festelektrolyten bezeichnet werden. Ambekanntesten sind sicher die sogenannten l-Sondenzur Steuerung von Ottomotoren (Abb. 8). Diese ähnelnäußerlich Zündkerzen, die in den Abgasstrang einesMotors eingebaut werden, um das Luft-Kohlenwasser-stoffverhältnis l im Abgas zu messen. l besitzt denWert 1, wenn genau soviel Sauerstoff angeboten wird,wie zur vollständigen Verbrennung der Kohlenwasser-stoffe benötigt wird. Bei Sauerstoffmangel (l < 1)spricht man vom fetten Bereich und bei Sauerstoffüber-schuß (l > 1) vom mageren Bereich. Als Festelektrolytdient in l-Sonden Zirkoniumoxid, das zur Erniedri-gung der Betriebstemperatur z.B. mit Yttrium dotiertist. Die eine Seite des mit Elektroden kontaktiertenElektrolyts ragt in das Abgas und die andere steht inKontakt mit einem Referenzgas (Luft). Die aus den un-

Abb. 9: Brennstoffzellen wandeln chemische Energie direkt in elektrische Energie um.Durch Luftzufuhr auf der einen undWasserstoffzufuhr auf der anderen Seitewird über die Keramikmembran hinwegein Gradient im Sauerstoffpotential auf-rechterhalten. Es kommt zu einer perma-nenten Diffusion von Sauerstoffionenüber Leerstellen im Sauerstoffionen-

Untergitter (grün) durch den Festkörperund infolgedessen zu einem elektrischenPotentialgefälle zwischen Anode und Kathode. Diese Spannungsquelle ist fürtechnische Zwecke nutzbar.

Abb. 8: Lambda-Sonden messen das Verhältnis von Luft und Kohlen-wasserstoffen im Abgas. Ihr Prinzip beruht darauf, daß der mo-lekulare Sauerstoff der Gasphase, die Sauerstoffionen im Fest-elektrolyten und die Elektronen in den Ableitelektroden einelektrochemisches Gleichgewicht anstreben. An den Phasen-grenzen Festkörper-Gas entstehen dadurch Galvani-Spannun-gen, die sich zur Potentialdifferenz U addieren. Diese elektri-sche Spannung ist proportional zum Unterschied des Sauer-stoffanteils in den beiden Elektrodenräumen. Sie ist eineFunktion des Massenverhältnisses von Luft zu Brennstoff.Durch einen Regelkreis wird die Brennstoff- und Luftzufuhr fürden Ottomotor optimiert.

Abb. 7:In der Elektronik sind spezielle Keramiken weit verbreitet, zumBeispiel als Träger für integrierte Schaltkreise und als Isolato-ren. Dabei nutzt man ihren hohen Widerstand und die guteWärmeleitfähigkeit. (Quelle: CeramTec AG, Plochingen)

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terschiedlichen Sauerstoffpartialdrücken in den beidenElektrodenräumen resultierende Spannung ist eineFunktion von l. Beim Wert 1 ändert sich die Spannungder Sonde um mehrere Größenordnungen, so daß einsehr empfindlicher Detektor zur Steuerung der Luft-und Brennstoffzufuhr zur Verfügung steht.

Kraftwerke aus Brennstoffzellen liegen im Wirkungsgrad weit vornEine weitere, möglicherweise in der Zukunft noch

bedeutsamere technische Anwendung von Zirkonium-oxid-Elektrolyten sind Brennstoffzellen (SOFC, SolidOxide Fuel Cell). Inzwischen bis zur Anwendungsreifeentwickelte Systeme bestehen aus Zirkoniumoxid-Membranen, die beidseitig mit speziellen Elektrodenversehen sind. Wie in Abb. 9 gezeigt, werden in kom-merziellen Hochtemperaturbrenn-stoffzellen mehrere solcher Kera-mikmembranen übereinandergesta-pelt und über sogenannte bipolarePlatten elektrisch in Serie geschal-tet. Die aus derartigen „Stacks“ be-stehenden Brennstoffzellenkraft-werke sind allen herkömmlichenKraftwerkstechnologien im Wir-kungsgrad deutlich überlegen. Siesind daher für eine dezentrale Ener-gieversorgung in der Zukunft vongroßem Interesse.

Große Erwartungen werden auchan die Nutzung der Supraleitung inKeramiken geknüpft. Mit der Ent-deckung der perowskitähnlichenSupraleiter durch Müller und Bed-norz begann eine rasante Steige-rung der Sprungtemperatur. Mittler-weile sind Materialien bekannt, de-ren Sprungtemperatur oberhalb derSiedetemperatur von Stickstoff(77K) liegt, so daß flüssiger Stick-stoff und damit eine vergleichsweisekostengünstige Tieftemperaturtech-nik zur Kühlung der Leitersystemenutzbar wird. Eine große Heraus-forderung für die Werkstofftechni-ker ist die Herstellung flexibler, lan-ger Kabel hoher Stromtragfähigkeitaus den (spröden) keramischen Su-

praleitermaterialien (Abb. 10). Dies gelingt inzwischenmit der sogenannten Pulver-im-Rohr-Technik, d.h. derthermomechanischen Umformung von Silber-Keramik-Verbundmaterialien, so daß gegenwärtig die erstengroßtechnischen Leitungen zwischen Transformatorenund Schaltanlagen verlegt werden.

Oxidkeramiken taugen auch als KüchenmesserIn der metallbearbeitenden Industrie konnte durch

die Einführung von hochharten Schneidwerkstoffen dieSchnittgeschwindigkeit um ein Vielfaches gesteigertund demzufolge die Bearbeitungszeit im gleichen Ver-hältnis gesenkt werden (Abb. 11). Abhängig von derBearbeitungsart werden unterschiedliche Schneidkera-miken eingesetzt. Neben Oxidkeramiken, bei denenman die Bruchzähigkeit des als Härteträger fungieren-den Aluminiumoxids durch eingelagerte Zirkonium-oxidteilchen oder Siliciumwhisker beträchtlich steigernkann, kommen vor allem die Siliciumnitrid-Keramikenzur Anwendung, deren nadeliges Gefüge zu einerhohen Bruchzähigkeit und Verschleißfestigkeit führt.Neben der Metallbearbeitung (z. B. von Gußeisen)profitieren mittlerweile auch andere Bereiche von dengünstigen Schneideigenschaften der Hochleistungske-ramiken. So bewährt sich insbesondere Zirkoniumoxidzum Schneiden von Papier und Kunststoffen und wirdin der Küche von Kennern als Messer zum Schneidenvon Fleisch, Gemüse und anderen empfindlichen Le-bensmitteln geschätzt.

Große Erwartungen werden nach wie vor in Kera-mikventile aus Siliciumnitrid für Verbrennungsmotorengesetzt (Abb. 1). Die niedrige Dichte, der hohe Elasti-zitätsmodul und die günstigen Gleiteigenschaften sinddabei wichtige Vorteile gegenüber metallischen Venti-len. Nachdem die Materialprobleme gelöst und die Zu-

Abb. 10: Wie baut man aus spröden Keramikenein flexibles, supraleitendes Kabel? AlsSubstanz eignet sich Bi2Sr2Ca2Cu3O11(Bi2223) mit einer Sprungtemperatur vonca. 110 K. Durch einen lamellenartigenAufbau mit 5 mmm dünnen Zwischenlagenaus Silber (links) entsteht ein flexibles

Material, das als Bandleiter (Mitte) oderHochstromkabel (rechts) Verwendungfindet (Quelle: Siemens AG, München,Nordic Superconductor Technologies,Brøndby (DK) und Pirelli Cables & Sy-stems SA, Mailand).

Abb. 11: Härter als Stahl: Wendeschneidplattenund Bohrer aus Keramik bieten aufgrundihrer hohen Härte und Hitzebeständig-keit in der Metallzerspanungstechnikgroße Vorteile. Drehen, Fräsen und Boh-

ren gelingt mit ihnen schneller als mitherkömmlichen Werkstoffen. Selbst fürKüchenmesser eignen sich Keramiken.(Quelle: CeramTec AG, Plochingen)

Page 7: Neue Materialien: Werkstoffe, die die Welt verändern: Hochleistungskeramiken machen den etablierten Materialien Konkurrenz

Physikalische Blätter55 (1999) Nr. 11

Panorama

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verlässigkeit der Ventile in einem Serientest bestätigtwurden, entscheiden jetzt Kosten-Nutzen-Rechnungendarüber, ob keramische Ventile in Großserien einge-setzt werden. Letzteres scheint bei Wälzlagern aus Ke-ramik schon entschieden zu sein, die ebenfalls wegendes niedrigen spezifischen Gewichts und der hervorra-genden Reibungseigenschaften der Keramiken anwen-dungstechnische Vorteile bieten (Abb. 1). Kugel- undRollenlager aus Siliciumnitrid sind konventionellenStahlwälzlagern hinsichtlich der Verschleißfestigkeit,Korrosions- und Temperaturbeständigkeit sowie insbe-sondere bei Trockenlauf deutlich überlegen.

Eine weitere interessante Verwendung sind Herd-platten aus Siliciumkeramik (s. Abb. im Inhaltsver-zeichnis). Schnelles Ankochen, temperaturgesteuertesKochen und verringerter Energieverbrauch sind die da-mit verbundenen Vorteile. Hier ist es inbesondere diehohe Wärmeleitfähigkeit, die in Verbindung mit derhohen thermischen und mechanischen Beständigkeitdes Siliciumnitrids diese Innovation in der Küche mög-lich macht.

Den neuesten Stand der Entwicklung bei Hüftge-lenk-Endoprothesen repräsentieren Kugelköpfe undPfannen aus Aluminiumoxidkeramik (siehe Titelbilddieses Heftes). Ungefähr zwei Millionen implantierteProthesen demonstrieren die Verträglichkeit und hohemechanische Zuverlässigkeit dieser Werkstofflösung.

Diese Beispiele zeigen, daß keramische Werkstoffeheute ähnlich universell eingesetzt werden, wie derTon in früheren Zivilisationen. Im Wechselspiel vonForschung und Anwendung gelang es dabei, immerspezielleren Anforderungen gerecht zu werden. DieHochleistungskeramiken sind aus der heutigen Weltnicht mehr wegzudenken.

DanksagungHerrn Dr. G. Rixecker möchte ich für die Hilfe beim

Redigieren des Manuskriptes und Herrn A. Förder-reuther für seine Hilfe bei der Erstellung der Bildvorla-gen vielmals danken.

Literatur[1] W. D. Kingery, H. K. Bowen, D. R. Uhlmann, Introduc-

tion to Ceramics, John Wiley & Sons, New York 1975.[2] H. Salmang, H. Scholze, Keramik, Springer-Verlag, Ber-

lin 1982.[3] R. W. Cahn, P. Haasen, E. J. Kramer (Hrsg.), Materials

Science and Technology, Volume 11 (M. Swain: Structureand Properties of Ceramics) und Volume 17 (R. J. Brook:Processing of Ceramics), Wiley-VCH, Weinheim 1994.

[4] W. Schilling, K. Urban, H. Wenzl, ElektrokeramischeMaterialien, 26. IFF-Ferienkurs, Forschungszentrum Jü-lich, 1995 (ISBN 3-89 336-146-4).

[5] F. Thümmler, R. Oberacker, An Introduction to PowderMetallurgy, The Institute of Materials, London 1993.

[6] D. A. Glocker, S. I. Shah, Handbook of Thin Film Pro-cess Technology, Institute of Physics Publishing, Bristol1995.

[7] F. Aldinger, A. Greiner, M. Weinmann, Vom Molekül zurKeramik, Praxis der Naturwissenschaften – Chemie 48,15 (1999).

[8] M. J. Hoffmann, P. F. Becher, G. Petzow, Silicon Nitride‘93, Trans Tech Publications, Aedermannsdorf, 1994.

[9] S. Hoffmann, R. Waser, J. Eur. Ceram. Soc. 19, 1339(1999).

[10] G. H. Haertling, J. Am. Ceram. Soc. 82, 797 (1999).[11] R. Waser, J. Eur. Ceram. Soc. 19, 655 (1999).