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Norbert Ricken Die Ordnung der Bildung

Norbert Ricken Die Ordnung der Bildung · Für Hans Bokelmann, dem ich mehr verdanke, als er hören mag

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Norbert Ricken

Die Ordnung der Bildung

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Für Hans Bokelmann,dem ich mehr verdanke, als er hören mag.

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Norbert Ricken

Die Ordnungder BildungBeiträge zu einer Genealogie der Bildung

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1. Auflage Dezember 2006

Alle Rechte vorbehalten© VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006

Lektorat: Stefanie Laux

Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media.www.vs-verlag.de

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Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, HeidelbergDruck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., MeppelGedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem PapierPrinted in the Netherlands

ISBN 978-3-531-15235-6

Bibliografische Information Der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über<http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Der vorliegende Text ist eine überarbeitete Fassung der vom Fachbereich Erziehungs- und Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster in 2003 angenommenenHabilitationsschrift Die Ordnung der Bildung. Beiträge zu einer Genealogie der Bildung.

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Inhalt

Einleitung: 9

Vom Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Diskurs der Bildung

Studie I: 31

Die Macht der Macht – Stationen zu einer Anthropologie der Macht

I ‘Macht hat, wer macht’ – Bedeutungsmuster und Begriffsgeschichte der Macht: Befun-de und Weichenstellungen

37

II Das ‘andere Gesicht der Macht’ – Zum Verhältnis von Macht und Freiheit bei Georg Simmelund Hannah Arendt. Zum Verhältnis von Handlung undStruktur bei Peter Bachrach & Morton Baratz und NiklasLuhmann

49

III Die ‘Führung der Führungen’ –Theorie der Macht bei Michel Foucault: Systematische Linienund historische Formen

67

IV Das ‘Zwischen der Macht’ – Habitus und Distinktion: Pierre Bourdieu. Subjektivation undAnerkennung: Judith Butler

102

V Skizzen zu einer Anthropologie der Macht – Problem und Ansatz einer Anthropologie. AnthropologischeDifferenz und Anthropolitik: Helmuth Plessner

125

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Inhalt6

Studie II: 151

Bildung und Macht – Beiträge zu einer Genealogie der Bildung

[A] Bildung als Dispositiv –Eine methodologische Annäherung

163

I Ein alltagsweltlicher Zugang 164

II Ein ideengeschichtlicher Zugang 168

III Ein sozialgeschichtlicher Zugang 172

IV Ein begriffsgeschichtlicher Zugang 179

V Ein diskursgeschichtlicher Zugang 186

VI Ein genealogischer Zugang 199

[B] Die Macht der Bildung – Eine ‘anthropolitische’ Interpretation

211

[1] Von der ‘Genesis’ zur ‘Epigenesis’ – Bildung als Formation des Selbst

214

I Zur Anthropologie der Genesis:Gottebenbildlichkeit und Sündenfall. Erbsünde und die Erfin-dung der Pastoralmacht. Die Technologie der Beichte

215

II Zur Anthropologie der Aufklärung:Eine epigenetische Umschrift: Mangel aus Natur und dieBegründung der Pädagogik

234

III Zur Anthropologie der Bildung:Eine Zuspitzung: Entfaltung und Gestaltung als Selbst beiJohann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt

247

IV Die Macht der Bildung:Indizien ihrer Wirksamkeit

273

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Inhalt 7

[2] Vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’ – Bildung als Formation des Sozialen

283

I Bildung und Brauchbarkeit:Strategien der diskursiven Etablierung der Bildung

284

II Vom ‘Gemeinsamen’ zum ‘Allgemeinen’:Naturrecht und Gesellschaftsvertrag

294

III Sicherheit und Wohlfahrt:Die Welt der Policey

304

IV Die Ordnung des Allgemeinen:Bildung als Individualisierung und Totalisierung: Wilhelmvon Humboldt und Johann Gottlieb Fichte

313

V Die Technologie der Prüfung 326

[C] Bildung und Subjektivierung –Eine machttheoretische Bilanz in kritischer Absicht

337

I Die Ordnung der Bildung – ein Blick zurück 339

II Kritik der Bildung – ein Blick nach vorn 343

Literatur 349

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Einleitung:

Vom Ende der Bildung als Anfang – Anmerkungen zum Diskurs der Bildung

“Maybe the most certain of all philosophical problems isthe problem of the present time, and of what we are, inthis very moment. Maybe the target nowadays is not todiscover what we are, but to refuse what we are. [...] Wehave to promote new forms of subjectivity through therefusal of this kind of individuality which has been impo-sed on us for several centuries.”(Michel Foucault)

“Bildungsfragen sind Machtfragen.”(Heinz-Joachim Heydorn)

Bildung ist in aller Munde – wieder einmal. Wo auch immer man hinhört, vonBildung, ihrer gegenwärtigen Misere und dringlich erforderlichen Zukunft ist un-ablässig die Rede: kaum ein anderes gesellschaftliches Thema kann sich derzeit einersolch verdichteten, breit gestreuten und inzwischen auch durchaus anhaltendenAufmerksamkeit erfreuen; und kaum ein anderes Thema provoziert soviel Streit undErmüdung zugleich.

Die vom damaligen deutschen Bundespräsidenten Herzog in seiner ersten ‘BerlinerRede’ im April 1997 medienwirksam formulierte Mahnung, “Bildung muß das Mega-thema unserer Gesellschaft werden” (Herzog 1997a, 9), hat sich publizistisch jedenfallslängst bewahrheitet: nicht vorrangig, weil die damalig von Herzog ausschließlichprogrammatisch vorgetragenen Überlegungen zur Bedeutung der Bildung für das 21.Jahrhundert zu neuen Einsichten und gesellschaftlicher Besinnung geführt hätten (vgl.Rutz 1997); schon gar nicht, weil Pädagogik – und mit ihr die Zunft derselben – sichplötzlich neuer Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfreuen könnte; sondern vorallem, weil die von PISA für Deutschland ermittelten Befunde zu Basiskompetenzenvon Schülerinnen und Schülern im internationalen wie nationalen Vergleich (vgl.Baumert u.a. 2001 wie 2002 und Prenzel u.a. 2004 wie 2005) als ebenso desaströs wieskandalös wahrgenommen wurden, so dass der von Herzog damalig beschworene‘Ruck durch Deutschland’ eher einem nationalen ‘Erschrecken’ gleichkam. KeinZweifel – “nach Pisa” (Terhart 2002) wird anders über Lernen und Bildung diskutiertund diskutiert werden müssen, als es vorher in der bundesdeutschen Öffentlichkeitje getan worden ist; kein Zweifel auch, dass “das Interesse und das Wissen über dieDefizite im Bildungssystem [...] groß [sind], und die Unzufriedenheit mit der angebo-tenen Bildungspolitik [...] [mit PISA] einen Namen erhalten” hat (Reisch 2002, 7). Unddoch ist PISA öffentlich vor allem aufgrund eines geradezu ‘sportlich’ interpretierteninternationalen Vergleichs als ‘nationale Niederlage’ und ‘Deklassierung’ aufgenom-men worden: es waren nicht so sehr die jeweiligen Einzelbefunde – seien es nun dieDaten zur ‘Leselust’ deutscher Jugendlicher oder zur signifikanten sozialen Selektivi-tät des deutschen Bildungssystems –, sondern vorrangig die durchgängig überausschlechten Platzierungen im ‘unteren Tabellenmittelfeld’, die zunächst – europaweit

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weitgehend unvergleichlich – eine tiefe nationale Beunruhigung und inzwischenvielfache Kompensations- und Reformbetriebsamkeit ausgelöst haben.

Auch wenn inzwischen wohl kaum noch jemand PISA mit rein ‘architektonischenSchieflagen’ verbindet, so hat auch PISA – symptomatisch genug – nur selten zu einerebenso differenzierten wie grundsätzlichen Auseinandersetzung mit gesellschaftlichenBildungsfragen geführt, in der nicht nur die Frage nach der Steigerung der Effizienzdes Bildungssystems im Vordergrund steht, sondern auch die nach der allgemeinenOrientierung und Strukturierung gemeinsame Nachdenklichkeit auf sich zu ziehenvermag. So überrascht es nicht, dass PISA überwiegend nur als Diagnose schulisch –allerdings dann schlecht – vermittelter (und zu vermittelnder) Basiskompetenzen ge-lesen wird; bereits die in PISA mitformulierten Befunde, dass die enormen Leistungs-unterschiede und -defizite auch Ausdruck einer kaum zu übersehenden Lern- wieSozialkrise sind, werden nur nach Bedarf und zumeist recht folgenlos thematisiert.Schließlich die aus PISA auch resultierende Einsicht, dass eine hochentwickelte undin sich durchaus stabile Gesellschaft sich nicht quasi-automatisch qua Sozialisationreproduziert, sondern der ausdrücklichen und permanenten Bearbeitung des ‘Pro-blems der Generation’ (Mannheim) bedarf, hätte Anlass genug sein können, überzentrale bildungs- und sozialpolitische Weichenstellungen wie auch ökonomisch-kulturelle Kontextbedingungen in einen ebenso offenen wie kritischen Diskurseinzutreten. Dabei hätte die – bereits früh von Schleiermacher formulierte – Frage,“was [...] denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren” will (Schleiermacher2000c, 9), auch gerade nach PISA die Aufmerksamkeit dafür schärfen können, dass esim Generationenverhältnis bei aller sozialen Kontinuitätssicherung nie bloß umFragen der erfolgreichen Reproduktion gehen kann, sondern immer auch um Fragender Partizipation der Jüngeren und derer Eigen- und Zukunftsperspektiven gehenmuss. Es ist vielleicht gerade dieser Problemkreis, der die Dramatik von PISA aus-macht: nicht nur, weil deutlich wird, wieviel Kraft zur Verbesserung des Bildungs-systems mobilisiert wird, ohne dass die Beteiligten selbst – insbesondere LehrerInnenwie aber auch v.a. SchülerInnen – nach (Hinter)Gründen und Selbsteinschätzungenbefragt würden; sondern vor allem, weil in den unterschiedlichen technokratisch-administrativen Bewältigungsversuchen die bohrende Frage nach den Möglichkeitensozialer Reproduktion in reflexiv-modernisierten Verhältnissen (vgl. Beck u.a. 1996)nicht radikal genug gestellt wird. Die sozialwissenschaftlich längst geteilte Einsichtjedenfalls, dass moderne Gesellschaften ihre eigenen Funktionsbedingungen nur sehrbedingt zu reproduzieren vermögen und insofern immer von etwas zehren, was sienicht selbst herzustellen in der Lage sind (vgl. bereits Dubiel 1986), ist wohl nur seltenMaßstab bildungspolitischer Steuerungsvorgaben.

Dass aber PISA überwiegend nur als Ausdruck einer – allerdings auf beiden Seitendiagnostizierten – Kompetenzkrise gelesen wird, der mit der Einführung unterschied-lichster Bildungsstandards und flächendeckender Leistungserhebungen beizukommensei, resultiert aus einem sich verschärfenden Umbau der Gesellschaft; die öffentlichüberwiegend in unterschiedlichen ‘Rankings’ präsentierten und oft nur darauf re-duzierten Vergleichsdaten erlangen ihre Brisanz erst vor dem Hintergrund einer auchpublizistisch bereits weit länger auf- und vorbereiteten Debatte zum ‘Wandel der

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Anmerkungen zum Diskurs der Bildung 11

Arbeitsgesellschaft’ von der Industrie- zur Wissensgesellschaft. Stichworte wie‘Globalisierung’, ‘Rohstoffarmut’, ‘Humankapital’ und ‘Bildungsstandort Deutsch-land’ umreißen ein inzwischen vielfach von sozialer Abstiegsangst und Exklusions-drohung geprägtes Zukunftsszenario und sensibilisieren für eine überwiegendökonomische Lesart der weithin geteilten Diagnose: “Deutschland ist kein Bildungs-land mehr” (Reisch 2002, 7). In dieser Justierung aber gilt zumeist – auch durchausgegen die aufklärerischen Intentionen von PISA selbst: “PISA bestätigt eine Stim-mung” (Reisch 2002, 7); eine Stimmung allerdings, die weniger darauf zielt, “daßunser System nicht stimmt” (ebd.), sondern weit mehr eine zunehmend verbreiteteBefürchtung zum Ausdruck bringt, sowohl im nationalen Kampf um globalen Reich-tum als auch im ‘schulischen Vorbereitungskampf’ für den ‘nachschulischen Arbeits-kampf’ bereits allzu früh benachteiligt werden zu können und schon jetzt von sozialerAusgrenzung und Misserfolg bedroht zu sein. Fast zwangsläufig richtet sich daherdiese Angst gegen das Bildungssystem selbst, das – als ‘Heilmittel’ versprochen –zugleich auch als ‘Sündenbock’ ausgemacht wird, und artikuliert sich als dessenweithin geteilte Abwertung, die die ständige Beschwörungsformel, dass “Bildung diezentrale Aufgabe unserer Gesellschaft werden” muss (Baumert u.a. 2002a, 171), rechtleicht konterkariert und irgendwie der Lächerlichkeit bloß ohnmächtigen Wünschensaussetzt.

In diesen Spannungen und Widersprüchen bewegt und verhakt sich der seitgeraumer Zeit öffentlich vehement geführte Diskurs zur ‘Zukunft der Bildung’ inDeutschland (vgl. exemplarisch die Programmschriften der BildungskommissionNRW 1995 wie auch von Killius u.a. 2002 und Lenzen 2003), so dass den immerwieder lauthals geforderten ‘Bildungsrevolutionen’ daher von Anfang an etwasZweideutiges und Widersprüchliches anhaftet: nicht nur, weil dessen rhetorischeGrundfigur – ‘laute Klage’ (Tenorth) einerseits, ‘Versprechungsrhetorik’ und emphati-sche Programmatik andererseits – ‘Bildung’ selbst permanent widersprüchlich the-matisiert und sowohl als – bisweilen geradezu ursächlich verstandenes – ‘Übel’ alsauch als verheißungsvolles ‘Heilmittel’ auslegt; auch nicht nur, weil wieder einmal alsumfassend und überaus bedeutsam eingeschätzte gesellschaftliche Aufgaben einempädagogischen System zugewiesen werden, dessen öffentliche Wertschätzung imgleichen Atemzug erheblich beschädigt wird, so dass dessen (auch wissenschaftlicher)Eigenstimme – wenn denn überhaupt formuliert – nur wenig Gewicht beigemessenwird; sondern vor allem, weil zwar vieles anders und besser werden muss, nichts aber– überpointiert formuliert – sich wirklich ändern darf. Nur exemplarisch: aus derEinsicht in die Zentralität der Bildung folgt noch lange nicht deren deutlich ver-besserte Finanzierung; oder: trotz der durch PISA nachgewiesenen und sich päd-agogisch insgesamt dysfunktional auswirkenden frühen Schultypendifferenzierungund Selektion der Schüler gilt eine kritische Befragung des dreigliedrigen Schul-systems in Deutschland in weiten Teilen immer noch als unangemessen oder gar alsdiskursiv überholt und erledigt.

Auch wenn also die Diskussionen zur ‘Zukunft der Bildung’ längst die vermeint-lich engen Zirkel der Experten überschritten und “die Titelseiten unserer Zeitungenund Zeitschriften” (Herzog 1997b, 13) erreicht haben, so überrascht doch nicht, dass

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der von Herzog damalig intendierte “Aufbruch in die Bildungspolitik” (ebd.) zwaradministrativ zur ‘Chefsache’ mit oberster Priorität gemacht wurde, aber noch immernicht zu wirklichen Durchbrüchen geführt hat. “Nach PISA” (Terhart 2002) – so ließesich pointieren – markiert insofern nicht nur eine unleugbare bedeutsame “bildungs-historische Zäsur” (Terhart 2002, 17), sondern kann auch als Kennzeichnung einerErnüchterung gelesen werden, deren daraus resultierende Ratlosigkeit bis heute an-hält. Kaum ernsthaft von der Hand zu weisen ist daher, dass mit PISA eine ‘Bildungs-krise’ deutlich wird, die aber – weil es nicht leistet, was es zu leisten beauftragt ist –nur als Krise des bestehenden Bildungssystems selbst auszulegen ebenso unange-messen wie irreführend wäre.

Dabei fehlt es (fast) nirgends an der Einsicht in die Unverzichtbarkeit und Dring-lichkeit der Reform des deutschen Bildungssystems; etliche Mängeldiagnosen wieunzählige Reformvorschläge liegen auf dem Tisch. Sie belegen zwar unübersehbar,wie umstritten und heterogen die jeweilig vorgetragenen und diskutierten Vorstel-lungen und Ideen sind, können aber – bei allem inhaltlichen Streit – nicht hinreichenddie immer wieder erfahrbare Lähmung und Blockierung der dringend anzustoßendenTransformationsprozesse verständlich machen. Auch Verweise auf die Zögerlichkeitpolitischer Gremien und die Schwerfälligkeit staatlich-bürokratischer Schulver-waltungsstrukturen mögen manches erhellen, erklären aber doch nicht alles; schonerheblich bedeutsamer sind finanzielle Erwägungen: angesichts zunehmend knapperöffentlicher Kassen und überaus ungünstiger Wirtschaftsprognosen sind angedachtenReformprojekten bereits strukturell enge Grenzen gesetzt, so dass auch hier – wennauch noch verhalten – Liberalisierungserwägungen zunehmend Platz greifen undverunsichern (vgl. Lohmann / Rilling 2002). Lähmend aber wirkt vor allem zweierlei:erstens sind strukturell gravierende Eingriffe in die jeweiligen Bildungssysteme inihren sozialen Folgen weitgehend unabsehbar, so dass angesichts der Zentralität desBildungssystems für die gesellschaftliche Ordnung und soziale Hierarchie – pointier-ter: weil Bildungsfragen immer Machtfragen sind (Heydorn) – auch hier gilt, liebervieles kleinschrittig zu verbessern als auch nur manches wirklich strukturell zuverändern; zweitens fehlt es an Gesamtvorstellungen, die gerade nicht bloß auf dieFortschreibung der derzeitigen Modernisierungsmechanismen hinauslaufen, sondernmit ermöglichen helfen, angesichts eines weitverbreiteten Wissens um die Nichtverall-gemeinerbarkeit des nordwestlichen Lebensentwurfs überhaupt nach Alternativen zusuchen (vgl. Žižek 2001). Beides aber kollidiert nicht nur unweigerlich, sondernbefestigt und befördert auch einen weithin resignativ-zynischen Fatalismus, dassohnehin nur das geschieht, was geschieht; nichts aber ist schädlicher für ein Bildungs-system als dies.

All das aber, so könnte man schließlich einwenden, ist nicht neu und kehrt gerade-zu zyklisch wieder: nicht nur, weil gesellschaftliche Modernisierungsprozesse immerwieder von ‘pädagogischen Alarmismen’ begleitet werden, in denen dramatisch vordrohenden ‘Bildungskatastrophen’ (exemplarisch Picht 1964) gewarnt wird, so dassschließlich nur noch von einer ‘Permanenz der Krisenrhetorik’ gesprochen werdenkann (vgl. Oelkers 2001); auch nicht nur, weil neuzeitlich sich immer wieder radikalepädagogische Reform- mit eher bewahrenden Normal- oder Modernisierungsphasen

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Anmerkungen zum Diskurs der Bildung 13

abwechseln (vgl. Benner / Kemper 2001 wie 2003); sondern vor allem auch, weilErziehung und – insbesondere – Bildung seit dem 18. Jahrhundert zunehmend mitAufgaben einer kommunikativen Rekonstruktion des Sozialen betraut sind und daherals gesellschaftliches Funktionssystem strukturell vor solch komplexen und wider-sprüchlichen Problemstellungen stehen, in Unkenntnis der Zukunft der jeweiligenGesellschaft die nächste (und übernächste) Generation zur Gestaltung derselben zubefähigen (vgl. Peukert 2000). Wenn auch diese bisweilen ‘abklärerisch’ formuliertenVerweise nicht der angedeuteten gegenwärtigen Offenheit und damit verbundenenUnsicherheit entheben, so suggerieren sie doch nur allzu leicht, dass die bisherigenMittel und Orientierungen zur Lösung der jeweiligen Probleme – seien es Institutio-nen, Praktiken, Vorstellungen oder auch kategoriale Bearbeitungsmuster selbst –insgesamt im Kern genügten und daher nur noch ‘richtig angepackt’ und ‘umgesetzt’werden müssten.

Überaus erstaunlich ist daher, dass – obwohl über (fast) nichts soviel gesprochenund gestritten wird wie über die ‘Zukunft unserer Gesellschaft’ – ein offener undproduktiv angeregter Diskurs darüber, wie wir denn leben wollen, nicht nur faktischnicht stattfindet, sondern weithin überhaupt als überflüssige, weil nutz- wie sinnlose‘Dauerreflexivität’ (Schelsky) diskreditiert wird und – spätestens mit dem Zusammen-bruch des ‘Ostblocks’ – als erledigt gilt. Erst wenn aber davon ausgegangen wird, dassProblemlösungen sich weder auf Zielbestimmungen oder funktionale Steuerungs-mechanismen beschränken lassen noch bereits fertig vorliegen und auch mehr oderweniger ‘einsam’ ‘für alle’ gar nicht vorgelegt werden können, sondern allererstgemeinsam – und das heißt immer: diskursiv – erarbeitet werden müssen, habenReformanstrengungen überhaupt eine Chance; Bedingung ihrer Möglichkeit jedochist, dass der Zusammenhang von Praxis und Selbstreflexion berücksichtigt wird undZustimmungsfähigkeit zu gesellschaftlichen Entwicklungen und Ordnungen als nichtbloß sekundäres, geradezu nebensächliches Problem eingesehen wird. ‘Bildung’ – someine Vermutung – aber taugt kaum noch dazu, einen solchen Diskurs zu initiierenoder gar produktiv zu orientieren.

I.Dem publizistisch wirksam inszenierten und sich bereits seit geraumer Zeit in einerVielzahl programmatischer Denkschriften und Manifeste niederschlagenden gesell-schaftlichen Diskurs zur ‘Zukunft der Bildung’ (vgl. exemplarisch Bildungskommissi-on NRW 1995, Killius u.a. 2002 wie 2004 und Lenzen 2003) haftet etwas zutiefst Zwie-spältiges an: nicht nur, weil er längst auch zum Tummelplatz politischer Rhetorikgeworden ist, die auch oft genug ohne Expertisen auskommt; auch nicht nur, weil er– bei aller begrüßenswerten Aufmerksamkeit für Fragen der Bildung – eigentümlichhalbiert erscheint; schon gar nicht, weil vieles umstritten ist und die vertretenenPerspektiven verständlicherweise höchst unterschiedlich ausfallen; sondern vor allem,weil trotz aller inhaltlichen Differenzen zentrale Einschätzungen geradezu unisonovertreten werden. Es ist erstaunlich und überaus irritierend, dass sowohl die Diagnoseunserer Gesellschaft als ‘Wissensgesellschaft’ als auch die Etikettierung der unter-

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1 Dass daher bereits auch die Etikettierung dieser Transformationsprozesse umstritten ist, lässt sich an denverschiedenen ‘label’ der sozialwissenschaftlichen Diagnosen illustrieren, die von den erstaunlich frühenKennzeichnungen einer ‘learning society’ (vgl. Hutchins 1968 und Husén 1974) über Daniel Bells Konzeptionder ‘postindustrial society’ (vgl. Bell 1973) bis schließlich hin zu Konzepten der ‘Informationsgesellschaft’ und– seit dem Ende des 20. Jahrhunderts – ‘Wissensgesellschaft’ (vgl. Stehr 1994) reichen.

schiedlichen Empfehlungen mit ‘Bildung’ weitgehend unbestritten von fast allengeteilt werden. So ist man sich – bei aller Differenz in Lösungskonzepten und Zu-kunftsvorstellungen – in zweierlei doch eigentümlich einig: erstens, dass der Be-arbeitung und Lösung der (ja seit längerer Zeit nicht unbekannten) Probleme imBildungssystem gerade angesichts des sich längst umfassend vollziehenden gesell-schaftlichen Transformationsprozesses zu einer spätmodernen ‘Wissensgesellschaft’höchste Bedeutung zukommt (a); und zweitens, dass ausgerechnet Bildung, wennauch nicht schon Lösung selbst, so doch der zentrale Schlüssel zur Lösung dieservielfältigen gesellschaftlichen Probleme ist (b). Dabei ist es gerade nicht der bloßeBegriff, sondern dessen semantische Aufladung, die als – vermeintlich bis heuteunabgegoltene – Vergangenheit des Konzepts der ‘Bildung’ nun als Zukunft be-schworen wird: “Wilhelm von Humboldt hat noch immer Recht”, so oder ähnlichwird immer wieder durchgängig formuliert (vgl. Bildungskommission NRW 1995, 30wie auch Killius u.a. 2002, 155f.).

(a) Der Rekurs auf die ‘Wissensgesellschaft’ als dem heraufziehenden Zukunfts-szenario unserer spätmodernen Gesellschaft ist in Bildungsfragen längst eine unerläss-liche Pflichtübung. Kaum eine der bildungspolitischen Analysen und programmati-schen Erklärungen kommt ohne den Verweis auf sie aus und legitimiert so die eigenePerspektive: ‘Rohstoffarmut’ und ‘Humankapital’, ‘Wissenstechnologien’ und ‘Kreati-vität der Köpfe’, ‘Globalisierung’ und ‘Konkurrenzfähigkeit’ – so oder ähnlich lautendie Schlagworte, mit denen allzu oft die Diagnose gegenwärtiger Gesellschaftenbestritten wird. Zudem kommt dem Begriff ‘Wissensgesellschaft’ eine nicht zuunterschätzende Aura zu, die oft genug in zahllosen Szenarien medial kommunizie-render und lernender Menschen in gläsernen Bauten vor blauem Himmel konkretausgemalt und bebildert wird.

Doch ist eben diese Diagnose einer Wissensgesellschaft so einhellig nicht: zumeinen, weil die vermeintliche Bedeutungszunahme von Wissen so neu nicht ist undstreng genommen wohl erheblich mehr Gesellschaftsformationen zugesprochenwerden muss (vgl. exemplarisch Burke 2001 und Kintzinger 2003); zum anderen, weildie erkennbare Zunahme wissensbasierter Berufe (im Dienstleistungsbereich) geradenicht automatisch die Abnahme industriegesellschaftlicher Arbeit nach sich zieht,sondern allenfalls deren Verlagerung in sogenannte ‘Niedriglohnländer’ kaschiert.Fragt man also genauer nach dem Bedeutungsgehalt von ‘Wissensgesellschaft’, dannzeigt sich durchgängig, dass allzu oft nur ein ‘Mythos Wissensgesellschaft’ (Kübler2005) propagiert wird, während ernsthafte Analysen erheblich komplizierter undwidersprüchlicher ausfallen – auch und gerade, weil das, was als vermeintliche Basiseben dieser Wissensgesellschaften gilt – das Wissen –, so einfach und verlässlich nichtzu fassen ist (vgl. Nowotny 1999 und 2006 wie auch Nowotny u.a. 2004)1. Kaum ver-wunderlich ist daher, dass auch der Diskurs der Wissensgesellschaft längst selbst

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2 Exemplarisch ließen sich hier drei unterschiedliche Gattungen solcher Denkschriften anführen: zum eineneher schul- und bildungspolitisch motivierte Schriften wie der Nordrhein-westfälische Kommissionsberichtzur ‘Schule der Zukunft’ (Bildungskommission NRW 1995; vgl. zur erziehungswissenschaftlichen RezeptionKnoll 1996a, Ruhloff 1997 und Giesecke 1998), zum anderen eher gesellschaftspolitische Initiativen wie dieder Unternehmensberatung McKinsey & Company ‘McKinsey bildet!’ (vgl. Killius u.a. 2002 wie 2004); undschließlich weltgesellschaftlich argumentierende Berichte zur Lage der Welt, wie sie sowohl vom ‘Club ofRome’ (vgl. Meadows u.a. 1972 wie Botkin u.a. 1979) als auch von der UNESCO initiiert und herausgegebenwerden (vgl. Faure u.a. 1973, Delors u.a. 1996, UNESCO 1997 wie jüngst UNESCO 2005; vgl. zur erziehungs-wissenschaftlichen Rezeption Knoll 1996b, Merkel 1998 und Schöthaler 2000). Trotz aller inhaltlichenDifferenzen, der in den verschiedenen Denkschriften skizzierte Problemkontext ist ähnlich umfassend undbeschränkt sich nirgends bloß auf Fragen der schulischen Vorbereitung für zukünftige Arbeitskämpfe.

Gegenstand (ideologie-)kritischer Befragungen geworden ist – mit dem deutlichenBefund, dass nicht nur mehr ‘Schein als Sein’ zu diagnostizieren ist (vgl. Bittlingmayer2005 wie auch Bittlingmayer / Bauer 2006), sondern dass diesem ‘schönen Schein’ einenicht zu unterschätzende machtpolitische Funktion im Rahmen der Transformationendes westlichen Kapitalismus in globalisierten Verhältnissen zukommt (vgl. Boltanski/ Chiapello 2003).

Erhebt man nun die in den unterschiedlichen Denkschriften wie Lern- undBildungsberichten zur ‘Zukunft der Bildung’2 implizierten Problemhorizonte in ihrerjeweilig perspektivisch vorgenommenen Problemkonstruktion, auf die zu antwortenLernen und Bildung dann justiert werden, so zeigt sich eine auffällige Gemeinsamkeit:immer geht es zunächst und vorrangig um Fragen der Bildung als einem gesellschaftli-chen und wirtschaftlichen Standortfaktor und um die damit verbundene Problematikumfassender gesellschaftlicher Transformationsprozesse von der Arbeits- und Indus-triegesellschaft zur Wissensgesellschaft, die die Forderungen einer Modernisierungdes Erziehungs- und Bildungssystems provozieren und als erforderliche Anpassungbegründen; eng damit verbunden sind fast immer dann weitreichendere zivilgesell-schaftliche Fragen der individuellen Lebensführung und der sozialen Integration, diezu einer Stärkung von Bildung als einem ‘vernünftigen Umgang mit der Welt’(Mittelstraß) führen und in Überlegungen zu einer strukturellen Neuorientierung desBildungssystems münden; daran werden schließlich strukturell argumentierende Über-legungen zum Zusammenhang von Lernen, Bildung und Zukunft in globaler Per-spektive angeschlossen, die angesichts vielfältig ungelöster – ökologischer, ökono-mischer, sozialer und politischer - ‘Weltprobleme’ zur Überprüfung der jeweiligenLebensweisen zwingen und insgesamt ‘substantielle Lern- und Transformations-prozesse’ (vgl. Peukert) einfordern. Trotz unterschiedlicher Gewichtung und Per-spektivierung dieser verschiedenen Problemlagen besteht durchaus Einigkeit darin,dass die jeweilig benannten Krisen gerade nicht bloß als konjunkturelle, sondern alsstrukturelle Krisen eingeschätzt werden müssen, so dass es nicht nur darum gehenkann, bisherige Bearbeitungsmuster zu verbessern, sondern zugleich immer auchdarauf ankommt, veränderte Weisen der Wahrnehmung von Wirklichkeit und desUmgangs mit ihr zu entwickeln. Nur exemplarisch: es ist durchaus kein Einzelfallfestzustellen, dass es in den anstehenden Bildungsveränderungen gerade “nicht umdie übliche Anpassung des Bildungssystems an eine sich kontinuierlich weiter-entwickelnde Gesellschaft” (Bildungskommission NRW 1995, XII) geht, sondernvielmehr “Veränderungen zu erwarten [sind], die grundlegende Neuorientierungen

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3 Wie sehr dieses bereits verschwunden ist, lässt sich – exemplarisch – an einer Formulierung erahnen, die vorwenigen Jahren noch weithin Geltung beanspruchen konnte (und heute doch mehr denn je sachlichzutreffend ist): “Die Menschheit steht in den kommenden zwei bis drei Generationen, kaum hundert Jahren[...] vor einer niemals zuvor erfahrenen und deshalb auch niemals zuvor bewältigten Herausforderung. Siemuß in kurzer Zeit ihre Lebensgewohnheiten [...] so grundlegend umgestalten, dass aus der bis heuteanhaltenden, schädliche Nah- und Fernfolgen akkumulierenden Wirtschafts- und Lebensweise der Men-schenvergangenheit eine intensive und auf Dauer erhaltungsfähige Bewirtschaftung der Biosphäre her-vorgeht” (Markl 1998, 191). Auf diesen grundsätzlichen Problemhorizont hat immer wieder insbes. HelmutPeukert aufmerksam gemacht und eindringlich argumentiert, dass die Pädagogik – ob sie will oder nicht –vor der paradoxen Aufgabe steht, die nachwachsende Generation in etwas einführen zu müssen, in das sichentweder nur widersprüchlich oder kritisch einführen lässt, geht es doch immer auch darum, im Erlernen desjeweilig erforderlichen Wissens auch die Fähigkeit zur Transformation der eigenen Lebensweise mit zuerlernen. Vgl. dazu die Überlegungen Peukerts zum Begriff der ‘Bildung’ als eines ‘transformatorischenLernens’ (Peukert 1984, 1998 wie 2000).

erfordern” (ebd. XII), so dass “Reparaturmaßnahmen auf der Grundlage traditionellerGestaltungsmuster und Verantwortungsstrukturen” (ebd. XI) kaum noch ausreichen,“die globalen Entwicklungsprobleme” (ebd.) in den unterschiedlichen gesellschaftli-chen Gestaltungsbereichen zu lösen.

Und doch kann der Eindruck, dass die jeweilig programmatisch formuliertenAufgabenzuweisungen überwiegend dann doch auf ein überaus bekanntes, mit derKrise strukturell verbundenes Muster zurückgreifen und insofern auf eine lineareModernisierung im Sinne von Bestandssicherung und -steigerung abzielen, nichternsthaft ausgeräumt werden: nicht nur, weil am Ende doch vieles mehr oder wenigerunverblümt auf Konkurrenzfähigkeit und Reichtumssicherung hinausläuft (vgl.exemplarisch Kommission für Zukunftsfragen 1997); auch nicht nur, weil die ins-besondere in den verschiedenen internationalen Lern- und Bildungsberichten derUNESCO scharf konturierte menschheitliche Problemlage im Konzept der Wissens-gesellschaft so gut wie nicht mehr mitgehört wird, so dass die Dringlichkeit trans-formatorischer Lernprozesse mehr und mehr aus dem Blick rückt (vgl. exemplarischvon Faure u.a. 1973 über Delors u.a. 1996 bis hin zu UNESCO 1997 und zuletzt 2005)3;sondern auch, weil die Antwort – ungeachtet der enormen Unterschiedlichkeit dergenannten Problemherausforderungen – immer gleich ausfällt: ‘Bildung’.

(b) Der überaus erstaunliche Befund, dass ‘Bildung’ als Generallösung für zunehmendmehr Probleme – von konkreten Arbeitsmarktschwierigkeiten über zivilgesellschaftli-che Integrationsfragen bis schließlich hin zu Moral- und Gerechtigkeitsfragen –beschworen wird, ließe sich zunächst ihrem trivialisierten Gebrauch zuschreiben, sodass nicht nur in politischen Reden umstandslos aneinander gereiht wird, was kaumkonfliktfrei nebeneinander bestehen kann: Bildung heißt dann nicht nur Wissen,Reflexion, Orientierung und Urteilskraft oder allgemein ‘Kompetenz’, sondern auch“Anerkennung”, “Empathie” und “Herzensbildung” (Köhler 2006, 3) wie auch“Selbständigkeit”, “Bindungsfähigkeit”, “Unternehmensgeist” und “Verantwortungs-bereitschaft” (Herzog 1997a, 10). Dass dies so einfach möglich ist und nicht bloß alsschlichter Unsinn oder unerträglicher Kitsch zurückgewiesen werden kann, musszugleich – in einer zweiten Lesart – auch der ‘Bildung’ selbst angelastet werden, istdoch das, was mit ‘Bildung’ bezeichnet werden kann, seinerseits ‘bestimmt unbe-stimmt’ (Ehrenspeck / Rustemeyer 1996), so dass diese selbst dazu taugt und neigt,

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sowohl als Mittel zu anderen – meist ökonomischen – Zwecken als auch als ‘Zweckan sich selbst’ beansprucht und kommuniziert zu werden. Aufgrund dieses ‘double-bind’ gilt ‘Bildung’ selbst als zweideutig und insgesamt harmonisierend, indem siesowohl als Kennzeichnung zukünftig dringlicher ‘transformatorischer Lernprozesse’(Peukert 1999) als auch als zentrales Moment der Konstitution eben jener zu trans-formierenden Gesellschaft selbst fungiert – mit dem fatalen Effekt, dass in dieserDoppelstellung Erhaltungs- und lineare Verbesserungsstrategien unter den Vorzei-chen struktureller Veränderungen semantisch erschlichen werden können. Dass abermit ‘Bildung’ auf etwas zurückgegriffen wird, das in das Kritisierte selbst konstitutiveinverflochten ist, belegt nicht nur die enorme Elastizität des Konzepts, sondern lässtsich – vielleicht bestenfalls – auch als Indikator gegenwärtiger Ratlosigkeit lesen, prin-zipielle Alternativen entweder gar nicht (mehr) denken zu können oder – schlimms-tenfalls – resigniert oder gar zynisch für aussichtslos und bloß utopisch zu halten. Soaber kann sich der gegenwärtig inflationär praktizierte Rückgriff auf Bildung als Ein-lösung alter, bislang vermeintlich nur partiell eingelöster Konzepte und Interpreta-tionsmuster ausgeben, indem er verdeckt, dass auf etwas zurückgegriffen wird, wasals uneinlösbar, überholt oder gar selbst problemverstrickt gilt. Mit diesem Mecha-nismus aber schleicht sich in die verbreitete Bildungsrhetorik nicht nur ein eigentüm-lich, bisweilen illusorisch anmutendes Vertrauen auf die ‘innere Gutheit’ von Bildungüberhaupt ein; vielmehr erwecken die öffentlich angestellten Überlegungen – geradedadurch (!) – den Eindruck bloßer Rhetorik und befördern trotz aller gegenteiligenBeteuerungen, dass die menschliche Zukunft offen, gestaltbar und insofern auchveränderbar sei, einen gesellschaftlich zunehmend verbreiteten Fatalismus, dass ohne-hin nur geschieht, was geschieht.

Es ist vielleicht gerade diese Ambivalenz und Widersprüchlichkeit, die den Rekursauf ‘Bildung’ ebenso problematisch und unglaubwürdig wie unglaublich ermüdendmacht und dazu führt, den Gebrauch von ‘Bildung’ immer wieder neu als ideologischentlarven zu wollen: sei es als bloße (und weitgehend entleerte) Semantik, die diereale soziale Funktion der ‘Bildung’ in der Reproduktion sozialer Ungleichheit hinterhehren Zielen zu kaschieren verhilft; oder sei es als Verrat und Missbrauch eineshistorisch formulierten ‘Humanisierungsversprechens’ zu bloß bürgerlichen Selbst-behauptungs- und Distinktionszwecken, in denen ‘Bildung’ schließlich als bloßes“Mittel der Wahrnehmung von Vorteilen inmitten des ungeschlichteten bellumomnium contra omnes” (Adorno 1972, 97) dient. Beide Perspektiven aber unter-schätzen ‘Bildung’, indem sie den für Bildung bedeutsamen Zusammenhang vonQualifikation und Subjektivierung, Wissen und (Selbst)Reflexivität letztlich dochauflösen und gegeneinander wenden, so dass es immer wieder überzeugend scheint,vermeintlich bloße Konzentration auf Wissen, Qualifikation und Kompetenz alsfunktionalistisch zu diskreditieren oder umgekehrt Insistenz auf selbstbezügliche‘Menschenbestimmung’ als bloß humanistisch abzutun. Wie zahnlos beide Kritikenaber längst geworden sind, zeigt sich auch daran, dass sie immer wieder auf bloßpositionale Überzeugungen – insbesondere zwischen Bildungsempirie und Bildungs-philosophie – zurückgerechnet und als jeweilige Voreingenommenheit attackiert oderbelächelt werden.

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Das aber legt nahe, in einer anderen – dritten – Lesart diese doppelte Justierungvon ‘Bildung’ produktiv aufzunehmen und als Ausdruck einer auf das Individuumund seine Lebensführung zielenden, die unterschiedlichen Problemhorizonte verbin-denden ‘anthropolitischen Technologie’ zu lesen. Bildung – so der Verdacht – taugtauch deshalb zu einer Zukunftsrhetorik, weil sich in ihr sich wandelnde Qualifika-tionserfordernisse und tieferliegende Subjektivierungsstrategien verknüpfen, so dasseine entweder bloß empirisch oder philosophisch justierte Perspektivierung von‘Bildung’ sich (über sich selbst) täuschen muss, wenn sie glaubt, sich entweder bloßauf Qualifikations- und Kompetenzprobleme begrenzen oder ein ‘eigentlich Huma-nes’ gegen vermeintlich ökonomisch-politisch bedingte Funktionalisierung zurGeltung bringen zu können. Vielmehr verhilft ‘Bildung’ – und dies macht der Diskursüber die ‘Zukunft der Bildung’ bei aller Vorsicht gegenüber zu direkten Wirkungs-annahmen deutlich – dazu, einen veränderten diskursiven Horizont zu etablieren, indem nicht nur politische Strategien und Weichenstellungen leichter vorbereitet undvollzogen werden können (vgl. Zymek 1998), sondern auch bestimmte Thema-tisierungs- und Frageweisen figuriert werden. So mag man die verschiedenen undkaum bloß auf eine Seite der Beteiligten reduzierbaren Öffentlichkeitsstrategien,gesellschaftliche Situationsbeschreibungen mit schockierenden Defizitdiagnosen,umfassenden Herausforderungskatalogen und überlebensnotwendigen Lösungsper-spektiven zu verknüpfen und mehr oder weniger medienwirksam zu präsentieren,bisweilen begründet zurückweisen können; weit schwerer aber ist es, sich dendiskursiven Vorbahnungen und Zuschnitten – und dann noch allgemein verständlich– zu entziehen.

Erziehungswissenschaftlich zwar verführerisch, aber überaus fatal wäre es daher,die neue und zugleich alt sich gebende ‘Konjunktur des Bildungsbegriffs’ als wachsen-de pädagogisch interessierte Aufmerksamkeit und öffentliche Wertschätzung auf-zunehmen oder gar “als Einlösung alter pädagogischer Reformforderungen” (Zymek1998, 802) misszuverstehen. Dass dem nicht so ist, ist offensichtlich: nicht nur, weilinsgesamt nur selten Erziehungswissenschaftler zu Beratungen und Expertisengeladen werden und – wenn doch – deren argumentative Logik für nur begrenzttauglich, angemessen und bedeutsam gehalten wird, so dass diese die zumeist poli-tisch-sozial motivierte Missachtung oftmals selbst nur in Selbst- und kollegialerAnderenabwertung verarbeiten können; auch nicht nur, weil die eklatante Diskrepanzvon hochtönender Rhetorik, überaus zäher politischer Praxis und mangelnderöffentlicher Wertschätzung und Anerkennung nicht nur angesichts der zunehmendprekären Finanzlage und Überlastung des pädagogischen Systems kaum zu ver-leugnen ist; sondern vor allem, weil sich das neue Interesse an Bildung zwar aus ganzanderen als pädagogischen Quellen speist, sich aber – erziehungswissenschaftlich fatal– durchaus nicht zu unrecht auf die pädagogische Semantik der Bildung berufen kannund sich ihrer gerade nicht bloß ideologisch bedient. Die Möglichkeiten aber, erzie-hungswissenschaftliche Vorbehalte und Kritik zu formulieren, stehen damit vorenormen begrifflichen und logischen Schwierigkeiten und belegen auch die Kritikun-tauglichkeit der ‘Bildung’ selbst, der nicht zu entkommen ist durch ständig wiederhol-te Rekonstruktion ihres vermeintlich vormaligen kritischen Gehalts.

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4 Nur folgerichtig hat sich gegenwärtig auch insbesondere in der Allgemeinen Erziehungswissenschaft eineForschungsperspektive etabliert, in der – neben anderen Konzepten – auch ‘Bildung’ als gouvernementalePraktik der Macht und Subjektivierungsstrategie analysiert wird; vgl. dazu exemplarisch die Arbeiten vonAndrea Liesner (2004 wie 2006) sowie die Dokumentation einer Arbeitsgruppe zu ‘Gouvernementalitäts-theoretischen Perspektiven in der Erziehungswissenschaft’ anlässlich des Jahreskongresses 2006 der Deut-schen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Frankfurt/M. (vgl. Ricken / Liesner 2007).

5 Eine – auch nur kleine – Geschichte der Bildung als eines erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffs kannhier nicht geleistet werden; vgl. dazu stellvertretend zunächst Tenorth 1998 und 1999 wie die Sammelbändevon Dietrich / Müller 1999 und Hoffmann 1999. Für die Reetablierung der Bildung lassen sich exemplarischinsbesondere die Arbeiten von Nipkow 1977, Kade 1983, Mollenhauer 1987 und Schweitzer 1988 nennen;bereits Spiegel und Folge dieser Reetablierung sind Hansmann / Marotzki 1988 und 1989.

Lässt sich aber den beobachteten Zweideutigkeiten der Denkschriften zur ‘Zukunftder Bildung’ nicht dadurch entkommen, dass man sie als bloß ideologische Funk-tionalisierung oder ohnmächtige Programmatik auslegt, so gilt es, die in den ver-schiedenen Denkschriften zur ‘Zukunft der Bildung’ mit ‘Selbsttätigkeit’ und ‘Selbst-bestimmung’ markierte und nahezu durchgängig beobachtbare Focussierung des‘inneren Menschen’ als ebenso zentrales wie umstrittenes Thema gesellschaftlicherReproduktion ernst- wie aufzunehmen und nicht als leere Rhetorik bloß abzutun. Ihraber lässt sich nicht beikommen, solange ‘Bildung’ als ‘Entdeckung’ und ‘Freilegung’individueller Selbstbezüglichkeit und Subjektivität verstanden und nicht als derenspezifische Formation begriffen wird. Es ist gerade dieses prekäre Feld der ‘Führun-gen der Führungen’ (Foucault), das mit Bildung intoniert und als Aufgabenzuweisungan das pädagogische System delegiert wird, so dass es darum geht, Bildung selbst alsspezifische Form und Strategie der Subjektivierung zu rekonstruieren und macht-theoretisch zu problematisieren. Dazu aber taugt der grundbegriffliche Zuschnitt derErziehungswissenschaft nur bedingt, markieren doch nicht Deformation oder garVerhinderung von Subjektivität, sondern spezifische Figuration und Steigerungderselben – auch und gerade durch pädagogisches Handeln selbst – den gegenwärti-gen Problemhorizont4.

II.Dabei ist die gegenwärtige Konjunktur der ‘Bildung’ im gesellschaftlichen Diskurs vordem Hintergrund des erziehungswissenschaftlichen Diskurses durchaus auch ver-blüffend: zunächst, weil ‘Bildung’ trotz aller öffentlicher Dauerinanspruchnahme alswissenschaftlicher Begriff spätestens seit Ende der 60er Jahre nicht nur als antiquiert,sondern auch als wissenschaftlich unproduktiv galt und rasch durch andere Sprach-spiele wie ‘Qualifikation’ und ‘Sozialisation’, ‘Kompetenz’, ‘Identität’ und ‘Emanzipati-on’ ersetzt wurde. Schlimmer noch: ihm hing – so schien weithin ausgemacht – alsideologieverdächtiger Begriff “ein Schicksal [an], an das man lieber nicht rührt.Klarheit wird einem von da nicht zuteil” (Hentig 1969, 146). Umso überraschender istaber dann, dass die in den 80er Jahren sukzessive vollzogene Reetablierung desBildungsbegriffs als eines erziehungswissenschaftlichen Grundbegriffs5 gerade nichtals Rehabilitierung des Begriffs gelesen werden kann, die sich nun auf eine inhaltlichePräzisierung oder gar empirische Fundierung hätte stützen können; eher im Gegen-

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teil: auch wenn sich der Gebrauch von ‘Bildung’ durchaus versachlicht und erheblichverselbstverständlicht hat, so wird ‘Bildung’ doch im pädagogischen Diskurs überausambivalent und widersprüchlich kommuniziert (vgl. Tenorth 1997). Vielmehr um-stritten bis heute taugt und zwingt ‘Bildung’ dazu, das jeweilig Gemeinte durch Nega-tion und Position genauer zu bestimmen – so dass, wer auf ‘Bildung’ sich beruft, auchimmer noch nicht um deren Präzisierung und Konkretion herum kommt und geradedafür nicht nur mit jeweiligem Widerspruch, sondern auch mit dem nachsichtigenLächeln der Zunft rechnen muss – wie man an der Rezeption der verschiedenenBegriffsneuauflagen durchaus nachvollziehen kann (vgl. exemplarisch Hentig 1996).

So ist dieser erneute Rückgriff auf vermeintlich pädagogisch ‘einheimische Begrif-fe’ (Herbart) weder Folge einer endlich eingesehenen Begriffsüberlegenheit noch Aus-druck eines gestärkten disziplinären Selbstbewusstseins, sondern vielmehr auch derVersuch, im enormen Paradigmenwechsel pädagogisch-theoretischer Moden nichtunterzugehen und auch pädagogisch-erziehungswissenschaftlich ein ‘Eigenes’ für zusich reklamieren. ‘Korrekturen am Bildungsbegriff’ (Mollenhauer 1987) gehören daher– neben inhaltlicher Bestimmung und Präzisierung überhaupt – zur ständig neuenPflicht erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung und belegen insgeheim auch, mitder Wahl der Grundbegriffe (noch immer) nicht ganz einverstanden sein zu können.Bei aller neuen Selbstverständlichkeit, das begleitende Unbehagen am Begriff derBildung lässt sich nicht übersehen und klingt auch noch in Tenorths salopper Kom-mentierung – “Bildung – was denn sonst?” (Tenorth 1999) – durch.

Die gegenwärtig auch pädagogisch anhaltende und nach PISA rasant zunehmendeKonjunktur der ‘Bildung’ bestärkt so die Schwierigkeit, sich jenseits oder diesseitsderselben kaum bewegen zu können, ohne nicht doch dauernd mit ‘Bildung’ kon-frontiert zu werden – mit der Folge, dass ‘Bildung’ zwar immer wieder als ebenso“überholt” wie “ohnmächtig”, aber eben auch als “unvermeidbar” (Gruschka 2001)apostrophiert wird. Gerade weil aber ihr längst inflationärer Gebrauch sich wenigereiner inhaltlichen Begriffsfüllung und eigenen Überzeugung verdankt, muss sie auch– wenn auch sicherlich nicht ausschließlich – als wissenschaftspolitischer Versuchgelesen werden, am – allerdings überwiegend anders justierten – öffentlich-politischenDiskurs teilzuhaben und mindestens potentiell als deren Experte gelten zu können.Nichts aber belegt wohl mehr die “zu Ende gehende [...] Epoche des Begriffs” (Nip-kow 1977, 205) als diese gleichzeitige Besetzung und Entleerung des Bildungsbegriffs:man zehrt irgendwie noch vom guten Klang der ‘Bildung’, ohne doch dessen semanti-scher Aufladung (und Überladung) noch anhängen zu müssen. Schärfer noch: ihrelängst sichtbar gewordene Untauglichkeit als inhaltlich präzise gefasstes, kategorialangemessen ausgearbeitetes und disziplinär weithin geteiltes Konzept ist Bedingungder Möglichkeit ihres öffentlich-diffusen Gebrauchs. Nicht anders ist jedenfallserklärbar, dass den immer wieder vorgetragenen, historisch oder systematischorientierten Begriffsklärungen und Erinnerungen, was denn einst mit ‘Bildung’ – garwirklich – gemeint war, nicht nur etwas Rechthaberisches und Besserwisserisches,sondern auch etwas ebenso Vergebliches wie Lächerliches anhaftet; so genau, so dieoft gegebene Antwort, wollte man es denn auch nicht wissen. Und wenn dies auchnoch von Vertretern der Disziplin selbst praktiziert wird, dann ist das ‘Ende der

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6 Die Debatte zur ‘Kompetenzentwicklung’ legt davon beredt Zeugnis ab: nicht nur, weil der (immer nurinhaltlich denkbare) Qualifikationsbegriff als eines zu engen ‘Positionsbegriffs’ zugunsten des (erheblichformaleren) Kompetenzbegriffs als eines ‘Dispositionsbegriffs’ verabschiedet worden ist; sondern auch, weilneben und in weltbezogenen und sozialen Kompetenzen immer auch selbstbezogene Kompetenzen – vonder ‘Selbstorganisationsfähigkeit’ über das ‘Selbstwirksamkeitsvertrauen’ bis hin zu allgemeinen ‘Identitäts-‘und ‘Selbstkompetenzen’ – mitgedacht werden müssen, so dass auch die bewusst kompetenztheoretischeAbkehr von einer bildungstheoretischen Semantik – ob gewollt oder nicht – sich letztlich der ‘Bildung’irgendwie wieder annähert; vgl. nur exemplarisch Nuissl u.a. (2002).

Bildung’ so gut wie sicher erreicht – und ein Anfang gemacht: der Anfang einesunverhohlen machtpolitischen Ausbaus der Bildung und deren Einbaus in die ‘Ord-nung der Gesellschaft’. ‘Bildung ist auch eine Eintrittskarte’, so lautet die Botschaft,die längst bei vielen angekommen ist und erklärbar macht, warum trotz aller gutmei-nenden Ornamentik inzwischen auch Schlachtenlärm zu hören ist, wenn von Bildungdie Rede ist.

Es ist diese Widersprüchlichkeit, diese Gleichzeitigkeit von Dominanz und Unbe-hagen, die die Ambivalenz der ‘Bildung’ kennzeichnet: einerseits als erziehungs-wissenschaftlicher Grundbegriff bereits historisch mit dem pädagogischen Geschäftso elementar identifiziert zu sein, dass jeder Versuch, sie preiszugeben, immer auchin Gefahr steht, das pädagogische System selbst zu gefährden und damit zugleich dendisziplinären Anspruch auf ‘relative Autonomie’ der Erziehungswissenschaft aufsSpiel zu setzen; andererseits aber als nicht bloß pädagogischer Zentralbegriff dereigenen theoretischen Justierung und Bearbeitung insofern auch entzogen zu sein, alsPräzisierungen und Korrekturen im verbreiteten Begriffsgebrauch sich kaum nachhal-tig niederschlagen. Anders formuliert: man kann sich nicht nicht zu ‘Bildung’ verhal-ten; und doch führt eine Problematisierung der Bedeutung oft genug zu nichts.

Folgt man nun den unterschiedlichen Verwendungsweisen des Bildungsbegriffs(vgl. Tenorth 1997), so zeigt sich darin überwiegend dreierlei: erstens wird – bei allerUmstrittenheit und jeweilig inhaltlicher Auslegung des ‘Was’ – ‘Bildung’ immer alsetwas thematisiert, das auf Wissen bezogen und mit Entwicklung verbunden ist – mitdem nicht ganz unwichtigen Nebeneffekt, dass auch ‘Ungenügen’ und ‘Mangel’ inden Blick kommen, wenn von ‘Bildung’ die Rede ist. Neben aller sowohl zeitlich alsauch thematisch gedachten Unabgeschlossenheit und Offenheit, die ‘Bildung’ aus-macht wie als Fortschrittsbegriff attraktiv macht, ist mit ‘Bildung’ daher nicht nurimmer auch ein Defizit, sondern auch ein Besserwissen, Besserkönnen und möglichesBessersein markiert. Damit ist zweitens verbunden, dass ‘Bildung’ durchgängig immerauch als Selbstreferentialität entfaltet und erläutert wird, so dass im Lernen von etwasman immer auch sich selbst mit erlernt: “‘Bildung’ steht im pädagogischen Gebrauchnicht für ein natürliches Werden, das von sich her unter wechselnden Bedingungenmal so und mal anders geschieht, sondern für ein Werden nach gedanklichen Maßga-ben” (Ruhloff 1999, 119). Gerade diese selbstreferentielle wie vor allem selbstreflexiveKomponente gilt weitgehend einstimmig als Eigenheit und Stärke des Bildungs-begriffs und begründet dessen anhaltenden Vorzug gegenüber andersbegrifflichenErsetzungen wie Qualifikation, Kompetenz und Identität6 oder auch schlicht Er-ziehung (vgl. Tenorth 1999, 94ff. wie 99) und – komplizierter – Autopoiesis (vgl.Lenzen 1997). Schließlich – drittens – ist ‘Bildung’ zumeist irgendwie doch ein mora-

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lisch-normatives Moment eingebaut, das auch noch im Affekt gegen sie, nichtsanderes als eine bloß leere “Wärmemetapher” (Weinberg 1999, 138) zu sein, spürbarwird und – wenn auch oft genug nur zwischen ‘allgemeiner Gutheit’ und ‘huma-nistischer Moralität’ bloß changierend – es nicht erlaubt, jedweden Transformations-prozess des Selbst als Bildungsprozess zu verstehen.

Die Ambivalenz der ‘Bildung’ im pädagogisch-erziehungswissenschaftlichenDiskurs aber hängt genau an dieser Verknüpfung der Bedeutungsebenen: als ‘un-abschließbarer Begriff’ zehrt er zum einen – fast unweigerlich – von normativenÜberschüssen, die immer wieder dazu verführen, ‘Bildung’ entweder als überholt-antiquierte ‘humanistische Phrase’ oder als ein historisch verratenes, zu vielfältiganderen als humanistischen Zwecken missbrauchtes und daher insgesamt ‘uneingelös-tes Versprechen’ (Peukert 1988) auszulegen und als Kritik zur Geltung bringen zuwollen; kaum möglich scheint daher, einen ‘nicht-normativen Bildungsbegriff’(Ruhloff 1999) zu denken, der der enormen Bedeutungsweite und anthropologischenBedeutungstiefe – dass im Streit um Erziehung immer auch der Mensch selbst in Fragesteht (vgl. Bokelmann 1989) – gerecht würde. Damit hängt – zum anderen – zusammen,dass alle Versuche, die problematische Normativität der Bildung in eine analytisch-deskriptive Begrifflichkeit zu überführen und ‘Bildung’ als bloße Formwerdung desIndividuums zu fassen, der ‘Macht der Bildung’ insofern nicht zu entkommenvermögen, als sie dem mit ‘Bildung’ immer implizierten kategorialen Zuschnitt,seinem explizit individualtheoretischen Aufriss auch noch in dieser konzeptionellenAbwendung folgen. Es ist so nicht nur die aus Theorie-Praxis-Zusammenhängenresultierende normative Problematik möglicher (und immer andersmöglicher) ‘Bil-dungsideale’, die die ‘Bildung’ belastet (vgl. Benner u.a. 1998), sondern vor allemderen individualtheoretischer Zuschnitt, der – weil oft unerkannt – den kategorialenZugriff weitgehend auch dann noch bestimmt, wenn vermeintlich bloß deskriptivoder gar gegenständlich von Bildung die Rede ist. So ist mit ‘Bildung’ gerade in ihrerspezifischen Akzentuierung eines wie auch immer jeweilig entfalteten und geforder-ten ‘Weltwissens’ (Elschenbroich) untrennbar die Konzentration auf selbstbezüglicheIndividualität verbunden, der es – in aller Relationalität mit ‘Welt’ – vorrangig um sichselbst und ihre als Entfaltung oder Gestaltung gedachte Entwicklung geht, so dass daseinzelne Individuum als Letztbezug im Horizont eines damit verknüpften Allgemei-nen fungiert. Nicht, dass Bildung inhaltlich plural und weitgehend heterogen entfaltetwird; auch nicht, dass Qualifikations- und Kompetenzentwicklungsfragen sich vonSelbstfragen und damit immer auch verknüpften menschlichen Selbstdeutungen nichttrennen lassen, lässt sich also als Einwand überhaupt gegen ‘Bildung’ formulieren;darauf hingewiesen zu haben ist ja gerade der reflexive Gewinn bildungstheoretischenNachdenkens. Vielmehr deren spezifisch individualtheoretische Focussierung istproblematisch, weil und indem sie sich gerade kategorial – und nicht bloß ausdrück-lich normativ – durchsetzt. In dieser Perspektive aber rückt die Frage nach dem ‘Wie’der Bildung in den Vordergrund, die in den anhaltend dominanten Auslegungen des‘Was’ und ‘Wer’ der Bildung weit weniger Aufmerksamkeit hat auf sich ziehen

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7 So hat Tenorth auf die auch bildungstheoretisch zentrale wie fruchtbare Bedeutung des ‘Wie-Fragens’hingewiesen (vgl. Tenorth 2003) und damit einen – zwar nicht neuen (vgl. ebd. 424ff.), aber - durchausvernachlässigten und überaus anregenden Fragehorizont markiert; seine spezifische Fassung der ‘Wie-Frage’als “Wie ist Bildung möglich?” (ebd. 422) zielt jedoch in andere Richtung und beabsichtigt, die Frage nacheiner “paradoxen Technologie” (ebd. 429) der Pädagogik auch und gerade bildungstheoretisch wiederdiskutabel zu machen.

8 So ist durchaus erstaunlich, dass die gegenwärtig zunehmenden Versuche der Rekonstitution einer ‘Kriti-schen Erziehungswissenschaft’ (vgl. Sünker / Krüger 1999) sich weitgehend gerade nicht mit der Rekon-struktion der ‘Idee der Bildung’ beschäftigen, sondern nach gänzlich anderen – und mit Bildung nicht immerleicht zu vereinbarenden – Maßgaben der Kritik suchen; vgl. dazu auch den von Benner u.a. jüngst herausge-gebenen Sammelband zu ‘Kritik in der Pädagogik’ (Benner u.a. 2003).

können; mit ihr ist – weniger in pädagogisch praktischer Absicht7 – nun ausdrücklichihr spezifisch kategorialer Zugriff anvisiert, der sich nur allzu oft im ‘Was’ der Bildungverbirgt oder gar als ‘quasi-natürlicher’ Befund ausgibt, ist doch die spezifischbildungstheoretische Einsicht, dass Menschen sich gegeben wie aufgegeben sind, sodass sie sich allererst in Auseinandersetzung mit Welt als sie selbst hervorbringenkönnen und müssen, gerade nicht die Entdeckung und Freilegung der existentiellenStruktur menschlicher Subjektivität überhaupt, sondern vielmehr deren spezifischeAuslegung und praktische Formation und Zurichtung. Gerade indem ‘Bildung’ alsFrage nach der “Ausstattung zum Verhalten in der Welt” in “subjektiver Bedeutung”(Robinsohn 1971, 13) überwiegend das ‘Was’ derselben thematisiert und kontroversdiskutiert, verbirgt sie, dass es sich dabei um ein ganz spezifisches Welt-Selbst-Verhältnis handelt, das sich – schon in der Frage und nicht allein in ihrer vielfältigenBeantwortung – kategorial durchsetzt. Nach dem ‘Wie’ der Bildung zu fragen heißtdaher, nach der Form der Bildung zu fragen und deren Subjektivierungseffekte zuerheben – und damit auch der Frage Raum zu geben, was es heißt, unter dem An-spruch von ‘Bildung’ das eigene und gemeinsame Leben leben zu müssen.

Schließlich: die angedeutete Ambivalenz und spezifische Justierung der ‘Bildung’schlägt sich in einer gewissen Rat- und Hilflosigkeit gegenüber den gegenwärtigenöffentlichen Inanspruchnahmen der Bildung nieder, denn steht doch der, wer sichdiesen nicht bloß affirmativ anzuschließen vermag, vor der argumentativen Schwie-rigkeit, ständig neu einen Selbstanspruch verteidigen zu müssen, der nicht nurseinerseits als partikular sich erweist, sondern von den Inanspruchnahmen selbstsemantisch kaum unterschieden werden kann. Auch noch im analytischen Nachzeich-nen des ‘Strukturwandels der Bildung’ (Lohmann 1999a) schleicht sich so die Klageüber ‘Bildungsruinen’ (Wimmer 2002) ein, kann doch – zurecht – die gegenwärtigeBildungspraxis kaum als Einlösung alter Bildungshoffnungen gelten. Auch wenn gilt,dass “Bildung [...] einst ein kritischer Begriff gewesen [ist]” (Nipkow 1977, 205), undauch wenn immer wieder neu versucht wird, dessen kritisches Potential zu rekon-struieren, indem – dem historischen Etablierungsmuster der ‘Bildung’ selbst folgend– gerade dessen angedeutete normativ-anthropologische Struktur gegenüber überwie-gend ökonomisch und nationalpolitisch motivierten gesellschaftlichen Funktionalisie-rungstendenzen zur Geltung gebracht wird (vgl. Bernhard 1997), so ist doch überausfraglich, ob ‘Bildung’ auch heute noch taugt, angesichts vielfacher gesellschaftlicherTransformationsprozesse eine kritische Perspektive zu eröffnen8: nicht nur, weil die

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Semantik der ‘Bildung’ selbst Moment der gegenwärtigen politisch-ökonomischenRhetorik geworden ist, so dass Kritik qua Bildung hieße, einen ‘eigentlichen’ Bildungs-begriff für sich zu rekonstruieren und in einer ‘Hermeneutik des Verdachts’ denanderen als ideologischen Missbrauch anzulasten – immer mit der Gefahr, in derRekonstruktion sich selbst der umgekehrten ‘Ideologisierung’ schuldig zu machen;auch nicht nur, weil ‘Bildung’ als historisches Projekt selbst konstitutiver Bestandteilder gesellschaftlichen Ordnung und derer sozialen Reproduktion ist und insofernseinerseits in das Kritisierte einverwickelt ist, indem es die Verfügungsmacht überWelt und Andere entscheidend gestärkt und ausgeweitet hat (vgl. Meyer-Drawe 1999cwie Peukert 2000); sondern vor allem, weil im dauernden Einklagen von ‘Bildung’ alseinem “unabgeschlossenen Projekt emanzipativer Selbstfindung” (Bernhard 1997, 68)deren längst beobachtbarer Erfolg gänzlich übersehen und verdeckt wird, der in derDurchsetzung einer spezifischen Form der Subjektivierung gesehen werden kann, diemit ‘paradoxem Selbstverhältnis’ und ‘Trennung von anderen’ qua Individualisierungund Totalisierung vorab hier angedeutet sei. Es ist die ‘Macht der Bildung’ (Groppe),die nicht nur immer wieder übersehen, sondern auch verstärkt wird, wenn Bildungimmer nur als ‘Widerspruch zu Herrschaft’ (Heydorn) ausgegeben und kommuniziertwird. Wenn aber stimmt, dass “Bildungsfragen [...] Machtfragen” (Heydorn 1979, 337)sind, dann ist es weder sinnvoll noch überzeugend, Bildung in ihrem Kern von Machtauszunehmen und als Inbegriff des ‘Menschlichen’ auszugeben.

Angesichts der erstaunlich wenigen erziehungswissenschaftlichen Versuche, sichim Begriffsgebrauch des in ‘Bildung’ tradierten kategorialen Zugriffs zu entziehen undeinen explizit nicht individualtheoretischen Bezugsrahmen zu entwerfen (vgl. exem-plarisch Wimmer 1996), ist durchaus Skepsis hinsichtlich des Erfolgs solcher Proble-matisierungen geboten: weniger, weil sie weitgehend unbemerkt vor sich gehen oderbisweilen auf harsche Kritik stoßen, weil doch ‘Bildung’ klassisch wirklich anderesmarkierte; sondern vor allem, weil sie – insbesondere der von Wimmer vorgelegteVersuch einer alteritätstheoretischen Erläuterung der ‘Gabe der Bildung’ (Wimmer1996) – die kategorial-konzeptionelle ‘Macht der Bildung’ unterschätzen und imVersuch einer ‘Dekonstruktion der Bildung’ ungewollt noch deren hermeneutischeRekonstruktion betreiben – und sei es bloß auf Seiten derer, die solchen Versuchen zufolgen versuchen. Nur exemplarisch: unstrittig ist mit ‘Andersheit’ ein offenes ‘Bildungs-problem’ (vgl. Benner 1999a wie 1999b) markiert, das den traditionell selbstreferentiel-len Grundzug der ‘Bildung’ bereits kategorial verstört und vielleicht auch zerbrechenkann (vgl. Meyer-Drawe 1999d), und doch belegt der Streit darum ein überwiegenddefensiv-fatales Muster des Umgangs mit ‘Bildung’; entweder ist – so die etwasüberpointierte Bündelung der Argumente – das Kritisierte immer schon in ‘Bildung’enthalten und nur bislang zu wenig zur Sprache gekommen oder mit ‘Bildung’ nichtvereinbar und insofern als nicht zu ihr gehörig nicht (weiter) relevant. Wimmers“Spurensuche” danach, “inwiefern der Bildungsbegriff seine kritische Absicht” nichtbloß “von außen”, sondern “selbst ruiniert hat” (Wimmer 1996, 130), führt dahergerade nicht zu einer “Revision des Bildungsbegriffs” (Wimmer 1996, 127), sondern– gerade in der Ergänzung desselben um die Problematik von ‘Singularität’, ‘Alterität’und ‘Gerechtigkeit’ (vgl. ebd. 158-162) – zu dessen subtiler Rekonstruktion, indem in

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‘Bildung’ eingetragen wird, was traditionell nicht enthalten scheint, so dass ‘Bildung’aktualisiert, nicht aber revidiert wird.

Allein: Grundbegriffe – auch erziehungswissenschaftliche – wählt man nicht,indem man sich für sie oder gegen sie entscheidet; ihren überpositionalen Statusverdanken diese nicht der Macht einzelner, sondern einer weiterreichenden Ver-wendung und Zustimmung, die sich durch individuelle Gebrauchsanweisungen –seien es nun Bedeutungsfixierungen oder Verzichts- und Verbotsvorschreibungen –gerade nicht regulieren lassen, sondern diese als (dann auch überhebliche)‘diskurspolizeiliche’ Überanstrengungen ausweisen. Lässt sich aber ‘Bildung’ wederbloß affirmativ noch rein negativ – nämlich gar nicht – verwenden, so bleibt allein,sich kritisch ihr zu nähern und sowohl Semantik als auch Performanz des Begriffs mitBlick auf die Form der Bildung zu problematisieren – auch und gerade, weil wissen-schaftliche Grundbegriffe nicht bloß von theoretischem Interesse sind, sondern alsThematisierungsformen und kategoriale Weichenstellungen die alltäglichen Lebens-führungen und Selbstinterpretationen entscheidend vorbahnen wie elementar mit-bestimmen. Dies gilt in besonderem Maße für ‘Bildung’, insofern mit ihr ein überauszentraler ‘anthropolitischer’ Grundbegriff ausgemacht werden kann, dessen Gewicht(aber auch Schwäche) vielleicht weniger in seiner – oft beklagten – weitläufigenSemantik liegt, sondern in der in ‘Bildung’ wirksamen Performanz, nicht nur Reflexio-nen und Perspektiven kategorial zu bestimmen, sondern darin die Handlungs-,Erfahrungs- und Wahrnehmungsweisen der Menschen selbst zu figurieren.

III.Vor diesem – sicherlich grob skizzierten – Hintergrund ist es plausibel, den Zusam-menhang von ‘Bildung’ und ‘Macht’ zu problematisieren und auch nach der Macht-verwicklung der ‘Idee der Bildung’ selbst zu fragen, so dass weder deren materialisti-sche Unerheblichkeit und bloß ideologische Funktion noch deren vermeintlicher Miss-brauch im Bildungsbürgertum und Einbau in staatliche Machtprozeduren verfalls-theoretisch in den Blick kommen kann, sondern ‘Bildung’ selbst als eine gesellschaftli-che Transformation durch individuelle Formation und so als spezifische Form der‘Führung der Führungen’ (Foucault) gelesen werden kann. So ist die hier erarbeitetemachttheoretische ‘Dekonstruktion der Bildung’ gerade keine – auch nicht verborgene– ‘Rekonstruktion’ derselben, zielt sie doch nicht darauf, eigentliche und uneigentlicheBedeutungen der Bildung zu unterscheiden und sich dann auf Funktionalisierungoder Missbrauch derselben zu konzentrieren; vielmehr wird versucht, im ausdrück-lichen Selbstverständnis der Bildung selbst den Kern ihrer Machtförmigkeit undKritikuntauglichkeit auszumachen, um nicht den vielfachen Entschuldigungsstrate-gien der Bildung nur eine weitere Unbedenklichkeitserklärung qua bester Absichtenanzufügen. Im Gegenteil: es ist der kategoriale Erfolg der ‘Bildung’, der der Konzen-tration und Reflexion bedarf, nicht deren dauernd bekräftigter (historischer) Miss-erfolg; nicht die immer wieder beklagte ‘Ohnmacht der Bildung’, die auch vor Selbst-kritik schützt und immer wieder neu zu einer verbesserten Rekonstruktion derselbenanspornt, sondern die subtile ‘Macht der Bildung’ steht daher im Vordergrund.

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9 Dass es inzwischen seit wenigen Jahren zu einer verstärkten Problematisierung des Zusammenhangs vonBildung und Macht gekommen ist, sei angemerkt; vor allem zwei Perspektiven bestimmen dabei gegenwärtigdie Auseinandersetzung: zum einen wird Bildung – bereits seit längerem, aber verstärkt nach PISA – alsMoment der Reproduktion sozialer Ungleichheit analysiert, so dass zunehmend auch Fragen der Bildungs-gerechtigkeit in den Blick gelangen (vgl. exemplarisch Below 2002, Berger / Kahlert 2005, Ecarius / Wigger2006 wie Georg 2006); und zum anderen wird der Zusammenhang von Bildung und Ökonomie – sowohl indie eine als auch in die andere Richtung – kontrovers diskutiert (vgl. Bellmann 2001 wie Lohmann / Rilling2002). Schließlich: auch die vielen anregenden Einwürfe und Diskussionen im Zusammenhang mit dem imMärz 2006 in Frankfurt/M. unter dem Titel ‘bildung – macht – gesellschaft’ veranstalteten Jahreskongressder Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft belegen die Wiederkehr dieser gesellschafts-politischen Fragen eindrücklich; vgl. dazu sowohl den von Brumlik und Tenorth besorgten Themenschwer-punkt ‘Bildung -- Macht -- Gesellschaft’ im ersten Heft der Zeitschrift für Pädagogik 2006 als auch dieleidenschaftliche Diskussion der sog. ‘Frankfurter Thesen’ zur Ökonomisierung der Bildung (vgl. Frost 2006).

Mit der Überschreibung der hier vorgelegten Studien mit ‘Die Ordnung derBildung’ sollen Thematisierungs- und Problematisierungsgrenzen gezogen werden:angesichts des schier unendlich möglichen Fraghorizonts von ‘Bildung und Macht’9

geht es mir darum, ‘Bildung’ als eine ‘anthropolitische Matrix’ zu lesen, die – auchund gerade in ihrer theoretischen Ausfaltung – als eine modern bedeutsame Figurmenschlicher Selbstauslegungen insofern praktisch ist, als sie die Lebensführungender Menschen entlang spezifischer Weichenstellungen vorbahnt und figuriert. Wenndenn stimmt, dass Selbstdeutungen nie bloß nachträgliche Konstatierungen dessensind, wofür Menschen sich selbst – vielleicht sogar fatalerweise – halten, sondernimmer auch konstitutive Bedingung der eigenen Lebenspraxis und -entwicklung sind,die niemand für sich allein und aus sich selbst heraus entwickelt, sondern wesentlichvon anderen erlernt, dann ist es nicht nur nicht unerheblich, als was, wer und wie ichmich verstehe, sondern auch höchst bedeutsam, in welchen kulturellen Mustern undsozialen Figurationen dies geschieht, ohne dass aber diese ‘Führungsführungen’(Foucault) deswegen gar ‘Vormalungen’ wären, die das eigenen Leben determinierten.

Mit ‘Bildung’, so der hier praktizierte Zugriff, ist eine ebensolche Matrix der Sub-jektivierung markiert – ein kulturelles ‘Deutungsmuster’ (Bollenbeck), das eine über-aus spezifische und nicht universelle Weise impliziert, sein ‘eigenes Leben’ (Beck) zuleben, und zwar unter interpretativen Vorgaben, die gerade dem eigenen Zugriff dochweitgehend entzogen sind. ‘Bildung’ ist insofern ein – spezifisch modernes – ‘Disposi-tiv’ (Foucault), das die Weise, sich zu sich selbst, anderen und der Welt in ein Verhält-nis zu setzen, in eine besondere Form bringt und so als ‘Formation von Subjektivität’(Meyer-Drawe) fungiert. Die ‘Ordnung der Bildung’ zu rekonstruieren, heißt daherfür mich, gerade ihre Form in machttheoretischer Hinsicht zu rekonstruieren und als‘Anthropologik’ – d.h. als Formation der Art und Weise, wie Menschen sich selbst zuverstehen suchen und auslegen – zu skizzieren. Diese aber ist weitgehend losgelöstvom Bedeutungsgehalt des Begriffs der Bildung, so dass auch ihr nicht entkommt, werdem – wie auch immer genau gefassten – Gehalt nicht (mehr) folgen will.

Der Versuch, Bildung als ‘Machtschema des Menschlichen’ (Butler) zu verdeutli-chen, setzt allerdings so manchen längeren Argumentationsweg und auch Umwegvoraus: einerseits, weil die eigene ‘Brille’ justiert werden muss und dieses nur in derDurcharbeitung anderer wirkmächtiger Perspektiven gelingt; andererseits aber, weildie Schwerkraft der ‘Bildung’ die unternommenen Überlegungen immer wieder in

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alte Bahnen zurückdrängt. Ob es gelungen ist, ihr wenigstens ein kleines Stückentkommen zu sein und ein anderes Deutungsangebot formuliert zu haben, mögenandere beurteilen. Mir schienen zweierlei argumentative Weichenstellungen un-vermeidbar:

(1) Eine Problematisierung von ‘Macht’: nicht nur, weil ein machttheoretischer Zugriffsich seiner eigenen Perspektive vergewissern muss, sondern vor allem, weil diegegenwärtigen Konzepte der Macht für eine anthropologisch justierte Analyse kaumhinreichen, ist es unverzichtbar, ‘Macht’ als Kennzeichnung eines oft nur oberflächlichdurchsichtigen Phänomens allererst zu problematisieren und nicht subtil davonauszugehen, das bereits verständlich ist, wer von ‘Macht’ nur schon spricht. Wie sooft:die Klärung vermeintlich einfacher, weil elementarer Begriffe führt zunehmend inSchwierigkeiten und Abgründe, so dass das, was anfänglich als bloß methodologischeJustierung begonnen wurde (und erheblich kürzer geplant war), zunehmend kom-plizierter wurde – auch, weil sich Macht selbst als ein mit menschlichen Selbst-beschreibungen verknüpfter Komplex erweist, den in lineare Gedankenketten zuzerlegen erhebliche Mühe bereitet hat. So hat die Frage danach, was unter ‘Macht’begründet verstanden werden kann, schließlich auf einen – zunächst sicher auchbefremdlich erscheinenden – Weg zu einer ‘Anthropologie der Macht’ geführt, der inder Rekonstruktion seiner Stationen nun in Studie I erläutert und nachvollziehbargemacht werden soll.

(2) Eine Problematisierung der ‘Bildung’: dass Bildung eine überaus zentrale Figurvielfältiger gesellschaftlicher Diskurse ist, ist weithin bekannt und erhöht nur den Reizihrer Auseinandersetzung; dass Bildung auch ‘bestimmt unbestimmt’ (Ehrenspeck /Rustemeyer) ist und daher einer einfachen Handhabung sich widersetzt, ist un-mittelbar einsichtig für den, der sich im Diskurs der Bildung auch nur sporadischbereits bewegt; dass aber Bildung in der Tat ein ‘historisches Bleigewicht’ (Jeismann)ist, das zu heben bereits beschwerlich und gegen seine eigene Bedeutungsfassungschließlich zu wenden überaus mühevoll ist, das ist der – auch leidige – Unterfadender hier unternommenen Problematisierungen der ‘Bildung’ geworden. Gerade weilebenso unbestimmt wie zentral und aus überaus ‘gutem Hause’ ist ‘Bildung’ als‘Figuration der Macht’ nur gegen deren eigenes Selbstverständnis zu erläutern; einsolcher Zugriff sieht sich daher – auch in der dauernden Selbstbezweifelung spürbar– nicht nur vor einen ‘Wust’ an Bedeutungen und Aufrissen gestellt, sondern auchimmer wieder dem Verdacht völliger Unangemessenheit ausgesetzt, weil doch mit‘Bildung’ ‘eigentlich’ ganz anderes gemeint sei. So ist der in Studie II unternommeneVersuch, ‘Bildung’ als ein anthropologisch justiertes ‘Deutungsmuster’ aufzunehmenund gerade nicht bloß äußerlich machttheoretisch auszulegen, ein überaus langer Wegmit vier großen Stationen geworden: eine methodologische Erkundung dessen, wieman sich nähern kann, wenn man sich ‘Bildung’ als einer praktischen anthropologi-schen Matrix nähern will [A]; eine explizit inhaltliche Rekonstruktion der ‘Macht derBildung’ als einer spezifischen ‘Formation des Selbst’ [B.1] wie einer ‘Formation desSozialen’ [B.2]; und schließlich eine Bilanzierung von ‘Bildung’ als einem Mecha-nismus der Subjektivierung – in kritischer Absicht [C].

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Die hier nur angedeuteten Argumentations- und Rekonstruktionsschritte stellen nichtselbst bereits eine ‘Genealogie der Bildung’ dar, deren komplexe Erarbeitung vermut-lich nur in Teilschritten einlösbar ist; sie erkunden aber als systematisch-explorativeBeiträge zu einer solchen Genealogie die Möglichkeit, mit der ‘Ordnung der Bildung’einen – bis heute – wichtigen Baustein moderner Subjektivierungspraktiken zukennzeichnen und so der ‘Genealogie des modernen Selbst’ (Foucault) zuzuarbeiten.Wenn es denn – im Kontext der anfänglich skizzierten Herausforderungen – auchplausibel ist, dass “das zentrale philosophische Problem [...] der Gegenwart” das ist,“was wir in eben diesem Moment sind”, “wobei das Ziel heute weniger darin besteht,zu entdecken, als vielmehr abzuweisen, was wir sind”, um “neue Formen der Subjek-tivität zustandebringen” (Foucault 1994, 250) zu können, dann ist gerade nicht diealternative ‘idealische Vormalung’ eines anderen und vermeintlich besseren Mensch-seins mit unweigerlich moralischem Anstrich, sondern die Dekonstruktion gegenwär-tiger Selbstbeschreibungen ein “möglicher Weg, die Philosophie des Subjekts loszu-werden” (Foucault, zit. Butler 2003, 119). ‘Bildung’ als ‘Macht’ auszulegen und diesin ihrem eigenen Selbstverständnis zu plausibilisieren, widerspricht nicht nur ihrerständig wiederholten Selbstauslegung, sondern macht auch deren bloß ‘humanisti-schen Anstrich’ deutlicher; Ziel ist daher nicht, ‘Bildung’ erneut zu verabschieden (umdamit nur einer neuerlichen Renaissance bloß wieder zuzuarbeiten), sondern sie alseine überaus spezifische Matrix der Subjektivierung erkennbar zu machen, um sienicht doch immer wieder als allgemein gültiges ‘Schema des Menschlichen’ schlecht-hin misszuverstehen und zu praktizieren.

So ist das, was hier vorgelegt wird, allemal vorläufig und nicht fertig: nicht nur,weil – immer anfechtbar – manches anders, vieles besser und alles kürzer hättegeschrieben werden können (und müssen); auch nicht nur, weil dem vorliegendenText die Spuren seiner Herkunft als Qualifikationsarbeit unübersehbar anhaften, diezu tilgen weder die Kraft noch die Zeit erlaubte; sondern auch, weil manches, wasgedacht, nicht hat geschrieben werden können, und vieles, was nach Fertigstellungdes Manuskripts inzwischen auch erschienen ist, nicht einfach noch hat aufgenommenwerden können. In der Tat: wünschenswert wäre gewesen, die in Studie II erarbeite-ten zwei machttheoretischen Konkretionen der ‘Macht der Bildung’ als einer ‘Formati-on des Selbst’ [B.1] und einer ‘Formation des Sozialen’ [B.2] um eine dritte zu ergän-zen, die ausdrücklich das Bildungswissen selbst rekonstruiert und in seinem jeweili-gen Inhalt und seiner wissenschaftlich-disziplinären Form hinsichtlich der Subjekti-vierungseffekte des Wissens befragt. Ebenso ausgeblieben ist auch eine ausführlichereEntfaltung der im machttheoretischen Zugriff implizierten Kritikperspektive; dies istumso misslicher, als es sich dabei gerade nicht um ein weiteres Thema neben denbisherigen gehandelt hätte, sondern um einen systematisch relevanten ‘Unterfaden’der hier entsponnenen Argumentation.

Der vorliegende Text lässt sich unterschiedlich lesen: zunächst in großen Schritten,bei denen sich die Lektüre an die groß gesetzten Argumentationspassagen hält; dannaber auch in kleineren und bisweilen mühevolleren Schritten, in denen den kleinergesetzten Rekonstruktionspassagen gefolgt wird; und schließlich auch in andererReihung: es ist weder erforderlich, sich an die Reihenfolge der beiden Studien ins-

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gesamt zu halten, noch gänzlich abwegig, auch innerhalb der Studien einen eigenenLektüreweg einzuschlagen.

Dass das, was hier nun vorgelegt wird, überhaupt hat entstehen und so hat vorgelegtwerden können, verdankt sich auch vieler Unterstützung; ausdrücklich genannt seienvor allem Käte Meyer-Drawe und Jan Masschelein wie Roland Reichenbach, BerndZymek, Friedhelm Brüggen und Markus Rieger-Ladich, Henning Röhr, MaartenSimons, Nicole Balzer, Tobias Künkler wie nicht zuletzt Stefanie Laux vom VS Verlag.Ihnen gilt mein ganzer Dank.

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1 “Daß es aber eine entsprechende theoretische Thematisierung nicht gegeben hat, wenn man nicht schlichtMacht mit Herrschaft verwechselt, ist eine in der Forschung weithin anerkannte Tatsache” (Röttgers 1990,47) – so eine ausdrückliche Einschätzung; dass aber “Machtbegriff und Machttheorie [...] daher jüngerenDatums” sind, findet seinen Grund darin, dass sie “Spätprodukte eines Denkens [sind], das zur Staatlichkeitkein natürliches Verhältnis mehr besitzt” (Plessner 1981, V, 264). Inzwischen scheint sich dies zu ändern:‘Macht’ wird zunehmend Thema theoretischer Auseinandersetzungen, weil deren klassische Begriffsfassungschlicht bislang unbefriedigend geblieben ist. Als ein erster machttheoretischer Überblick seien die Aus-einandersetzungen von Luhmann (1969 wie 1975) und Arendt (1970) und die umfassenden Arbeiten vonGalbraith (1987), Röttgers (1990), Popitz (1992) und Imbusch (1998) genannt wie die ebenso reichhaltigen wieergiebigen lexikalischen Aufarbeitungen von Kobusch / Oeing-Hanhoff / Röttgers / Lichtblau 1982 wie Fa-ber / Meier / Ilting 1982.

Studie I:

Die Macht der Macht – Stationen zu einer Anthropologie der Macht

“Nothing appears more surprising to those who considerhuman affairs with a philosophical eye than the easinesswith which the many are governed by the few.”(David Hume)

Macht fasziniert – immer wieder neu. Nicht nur lebenspraktisch, auch theoretischzieht ‘Macht’ zunehmend Aufmerksamkeit auf sich und markiert darin eine Ver-schiebung der alt eingewöhnten Einschätzung, “daß die Macht an sich böse ist”(Burckhardt 1949, 61). Doch wie sooft: auch hier bedingen sich Popularität undDiffusität eines Begriffs und erschweren Begriffsdurchsicht wie Problemdurchstieg,scheint doch nur allzu selbstverständlich, was mit Macht jeweils gemeint ist. Wievielen alltagsweltlich fest verankerten Begriffen entkommt daher auch der Begriff derMacht nicht der Dominanz lebensweltlicher Bedeutungszuschreibungen: auch wennsich angesichts vielfältiger Bedeutungen und konträrer Einschätzungen die Nötigungeiner begrifflichen Präzision oder gar Korrektur zwingend aufzudrängen scheint undimmer wieder auch theoretisch eindringlich angemahnt wird, so sind doch solcheBemühungen zumeist recht fruchtlos und ohnmächtig angesichts der Beharrungskraftihrer alltäglich eingewöhnten Bedeutungen. Es verwundert daher kaum, dass ‘Macht’trotz wachsender diskursiver Attraktivität, zugeschriebener Zentralität und längstattestierter Grundbegrifflichkeit nur selten ausdrücklicher Gegenstand theoretischeroder gar phänomenaler Reflexionen geworden ist1; Luhmanns gewohnt spitze wietreffsichere Einschätzung – “Die Macht der Macht scheint im wesentlichen auf demUmstand zu beruhen, daß man nicht genau weiß, um was es sich eigentlich handele”(Luhmann 1969, 149) – kann wohl auch heute noch uneingeschränkt Geltungbeanspruchen. Gerade die vermeintliche “Evidenz des Phänomens” verstärkt diegrassierende “Unklarheit des Begriffs” (ebd.) und befestigt dessen Dauerpräsenz inaußerwissenschaftlichen wie wissenschaftlichen Diskursen. Eine Klärung der Begriff-lichkeit der Macht steht daher vor nicht geringen Schwierigkeiten, die sich – aus-nahmslos – in allen Versuchen einer exakten Definition zeigt.

Was daher im folgenden unter Macht verstanden werden kann, muss als bekanntvorausgesetzt werden – so oder ähnlich ließe sich im Rückgriff auf eine hermeneutisch

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Studie I: Die Macht der Macht32

2 Röttgers Modell der “Spur” (vgl. Röttgers 1990, 32ff.) nimmt auch methodologisch auf, was für Machtgrundsätzlich bereits angedeutet ist: zwar gegenständlich nicht sichtbar, nicht jedoch spurenlos zu sein.Theorie der Macht wird so zu einer “Spurenkunde”, zu einem “Kunstwissen der Macht” (ebd.), “aus dem

begründete Formulierung Schleiermachers das gegenwärtige Dilemma bestimmen:nicht nur, dass immense Bedeutungsweite und Bedeutungsvielfalt Problemorien-tierung und Begriffsverständigung erheblich erschweren; auch nicht nur, dass Bedeu-tungsbestimmungen alltagsweltlich verankerter und überaus fest codierter Begriffeoft unvermeidlich tautologisch angelegt sind, indem sie stillschweigend voraussetzen,was zu bestimmen sie begrifflich sich vornehmen und zirkulär auf synonyme Begriffe– wie insbesondere Herrschaft, Gewalt und Zwang – verweisen; schließlich nicht nur,dass überhaupt jedes Verständnis von etwas auf kaum übersehbare Vorverständnisseverweist, so dass weder erste Anfänge noch definitorische Setzungen und Schluss-punkte einen Ausstieg aus hermeneutischer Zirkularität eröffnen, sondern nurjeweilige (und insofern dauernd erklärungsnötige) Einsätze markiert werden können.Vielmehr: Macht entzieht sich einer einfachen begrifflichen Fassung und Festlegungauch, weil das, was mit ihr bezeichnet werden soll, gerade – trotz verbreiteter gegen-teiliger Praxis – nicht gegenständlich thematisierbar, sondern jeweilig nur inter-pretativ bestimmbar ist. Hängt aber das, was phänomenal in den analytischen Blickgelangt, ab von dem, was konzeptionell unter ‘Macht’ jeweils verstanden wird, sospielen gerade begrifflich-systematische Zugänge zur Macht ebenso eine bedeutsameRolle wie umgekehrt begriffliche Unklarheit und Diffusion schwerwiegende Folgennach sich ziehen.

Es sind jedoch nicht nur semantische Schwierigkeiten, die den Begriff der Machtvermeintlich unnötig – weil als klärbar unterstellt – belasten; auch sein Gebrauchselbst erzeugt Turbulenzen, indem praktiziert (und beansprucht) wird, was scheinbarbloß gegenständlich thematisiert und gar neutral abgebildet werden soll (vgl. dazuRöttgers 1990, 27-32). Anders formuliert: wer analytisch von Macht spricht und mitihr etwas zu bezeichnen versucht, tut dies mit dem Anspruch, etwas gerade nichtOffenkundiges, sondern bisher Unerkanntes aufzuzeigen oder aufzudecken undVerborgenes so zu entlarven. Damit aber macht – im Vollzug des Redens – Gebrauchvon ihr, wer von Macht redet, so dass Macht sich nie gänzlich vergegenständlichenlässt, sondern immer auch ein ‘unsichtbares’ Moment “eben an dem Akt selbst blie-be”, “der sich auf sie als Gegenstand bezieht” (Röttgers 1990, 28). Lässt sich aber diese‘symbolische Macht’ gerade nicht trennscharf von der anvisierten ‘Realität der Macht’destillieren, so gehört zur Machtfrage auch immer die Frage nach den Bedingungendes Fragens nach Macht, so dass Macht immer “zugleich ein (Quasi-)Transzendenta-les” (Röttgers 1990, 28) wäre, dessen theoretische Veranschlagung vor erheblichephilosophische Schwierigkeiten stellt. Jeder Versuch aber, hinter diese hier nurangedeuteten Schwierigkeiten zurückzukehren und Macht als entweder für Einsichtundurchdringlich oder durch Definitionen und Axiome operational festlegbar zubehaupten, droht zu “einem derart simplizistischen Macht-Konzept [zu] führen [...],daß Machtanalysen dann kaum mehr der investierten Mühe wert wären” (Röttgers1990, 29)2. Vielmehr geht es darum, diesseits definitorischer Engführungen, die ins-