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Norman ÄchtlerGeneration in Kesseln

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Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 1945 – 1960

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Inhalt

Einleitung 7

Erster Teil: Das Soldatische Opfernarrativ

der Nachkriegszeit

1 Poetologie der Narrative 231 1 Narrative Identität: Erfahrung und Erzählung 261 2 Totale Erfahrung: Soldat und Kriegserlebnis 451 3 Narrative Legitimation: Gesellschaft und Geschichte 57

2 Das Soldatische Opfernarrativ der Nachkriegszeit 802 1 Soldatisches Opfernarrativ und literarische

Gruppenbildung 1945-1949 802 2 »Wir aus dem Kriege « Nachkriegspublizistik

und Opfernarrativ 892 3 »Entscheidungen « Lösungsvarianten

des Opfernarrativs 1102 4 »Die Überwindung des Tragischen «

Existenzphilosophische Hintergrundskizze 135

3 Literarisierung von Narrativen: Parameter eines erzähltheoretischen Konfigurationsmodells 1503 1 Der literarische Zirkel narrativer Erfahrungsbildung 1513 2 »Sandkastenspiele « Literarische Handlungsalternativen 1543 3 Narrativ und Konfigurationsmodell 160

Zweiter Teil: Der Kessel als literarischer Chronotopos

und existenzphilosophische Metapher

1 »Von der Front zum Kessel « Kriegsroman und Zweiter Weltkrieg 169

2 Der Kessel als literarischer Chronotopos 1792 1 Stalingrad und die chronotopische Konfiguration des Kessels:

Theodor Plievier 1812 2 Geschichtszeichen und Kollektivsymbol:

Refigurationen der Kesselschlacht 204

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inhalt

3 Der Kessel als existenzphilosophische Metapher 2293 1 Das Prinzip des Eingekesseltseins als Paradigma

der Moderne: Ernst Jünger 2323 2 Kesselschlacht und parabolischer Kriegsroman 2603 3 »Jeder ist sein eigener Kessel und seine eigene Kesselschlacht «

Herbert Zands Roman der Eingekesselten 285

4 Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegsroman 3074 1 Kampf und Dialog: Die Verhandlung des Opfernarrativs 3094 2 »Harte Räume « Ästhetik der Gewalt und des Hermetischen 376

Verratene Söhne? Schlussbetrachtung 411

Bibliografie 4251 Primärliteratur 4252 Sekundärliteratur 433

Register 453

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Einleitung

Die vorliegende Studie ist ein Rekonstruktionsversuch Ihr zentrales Anliegen besteht darin, den Entstehungs- und Etablierungsprozess sowie die narrative Beschaffenheit einer jener mentalitätsprägenden Grün dungserzählungen der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf-zudecken, die über Jahrzehnte hinweg die kollektive Erinnerung an den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg entscheidend mit-bestimmte, mithin zu einer tragenden Säule des Selbstbilds ganzer Jahr-gänge von ehemaligen Wehrmachtsangehörigen wurde: dem Opfer-narrativ der Frontgeneration Die untersuchungsleitende These ist die, dass dieses Soldatische Opfernarrativ in seiner spezifischen Argumen-tationsweise und Erzählstruktur im literarischen Feld gestiftet wurde Herausgebildet hat es sich im Wesentlichen bereits während der Be-satzungszeit 1945-1949, und zwar im publizistischen Diskurs kultur-politisch ambitionierter Kriegsheimkehrer Mit dem Aufkommen der ersten Kriegsromane verlagerte sich dieser Diskurs in Westdeutschland zu Beginn der 1950er-Jahre weitgehend von der Publizistik in den Be-reich der populären Belletristik und der Literaturkritik Die zentralen Denkfiguren gingen in einer spezifischen Metaphorologie und Poetik des Kriegsromans auf und wurden im Verlauf des Jahrzehnts in Rezen-sionen und literarischer Essayistik weiterverhandelt

So paradox es zunächst klingen mag: Die in Heimkehrerpublizistik und Kriegsroman dominierende Perspektive auf den Zweiten Welt-krieg sieht in den deutschen Landsern die erste Gruppe von Leid-tragenden des deutschen Vernichtungskriegs Somit ist hier nicht nur die strikte Separierung von nationalsozialistischen Verbrechen und vermeintlich ›sauberer‹ Wehrmacht angelegt; darüber hinaus rückt das Narrativ Frontoffiziere und Frontsoldaten von vornherein in die Nähe der eigentlichen Opfergruppen deutscher Aggression Wie einflussreich diese Version der Geschichte noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein wirkte, belegen die Reaktionen von Kriegsteilnehmern auf die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung Ende der 1990er-Jahre Die empirischen Studien des Instituts zur öffentlichen Resonanz seiner Fotodokumentation in Deutschland und Österreich zeigen auf, dass sich die Selbststilisierung zum Opfer von Zwangsherrschaft und Krieg als die tragfähig ste Rechtfertigungsstrate-gie der Veteranen gegenüber den gezeigten Verbrechen erhalten hat 1

1 Vgl Naumann, Klaus Der Krieg als Text: Das Jahr 1945 im kulturellen

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einleitung

Mehr noch, Klaus Naumanns Untersuchung zur Pressebericht-erstattung im Gedenkjahr 1995 weist darauf hin, dass sich die Kom-mentatoren in ihrer Argumentationsführung auch analoger narrativer Strukturelemente bedienten 2 Einer der vehementesten Kritiker der Wehrmachtsausstellung, der renommierte Fernsehjournalist Rüdiger Proske, selbst Kriegs teilneh mer und Publizist der ersten Stunde, auf den noch zurückzukommen sein wird, gab dem Opfernarrativ in der letzten seiner drei Streitschriften gegen die Ausstellungsmacher eine Gestalt, die auf pointierte Weise die Antworten der überwiegenden Mehrheit der Zeitzeugen auf die Wehrmachtsausstellung widerspiegelt:

[I]m Osten sah sich die Wehrmacht nun endgültig, an ihrer Spitze von Feldmarschällen und Generalen geführt, die zum SS-Staat über-gelaufen waren, im Hinterland von der Sipo und de[m] SD umstellt und an der Front zur gleichen Zeit einem Gegner gegenüber, mit dem sie um ihr Leben kämpfen mußte […] Den Millionen von Sol-daten, die da kämpften und zu überleben versuchten, war[en] der SS-Staat, seine Sipo und [sein] SD eher verhaßt […] Aber was blieb den Soldaten, mitten in Rußland, von ihrer obersten Führung verlas-sen, von Hitlerbefehlen direkt in den Tod getrieben und im Hinter-land vom SS-Staat bedroht, anderes übrig, als Hand in Hand mit einem Feind in den eigenen Reihen gegen einen Feind nach außen zu kämpfen? Es ist die Tragik der Wehrmacht, daß im Zweiten Welt-krieg zwei Kriege geführt wurden und daß sie, ob sie es wollte oder nicht, in den zweiten schuldhaft verstrickt wurde Eine Mörder-bande ist sie deshalb nicht 3

Mit den hervorgehobenen Schlagwörtern dieser Passage bemüht Proske am Ende des 20 Jahrhunderts noch einmal sämtliche Eckpunkte jener

Gedächtnis der Presse Hamburg 1998 142-167; Hamburger Institut für Sozial forschung (Hg ) Eine Ausstellung und ihre Folgen: Zur Rezeption der Ausstellung »Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« Hamburg 1999 123-162; vgl auch Seidenschnur, Tim Streit um die Wehr-macht: Die Debatten um die Wehrmachtsausstellungen im Wandel der Ge-nerationen Marburg 2010 49/50 Mit Schwerpunkt auf die Rezeption in Österreich vgl Heer, Hannes u a (Hg ) Wie Geschichte gemacht wird: Zur Konstruktion von Erinnerungen an Wehrmacht und Zweiten Weltkrieg Wien 2003

2 Vgl Naumann (1998) 149-151, 164-167 3 Proske, Rüdiger Wider den liederlichen Umgang mit der Wahrheit: Anmer-

kungen zu einer umstrittenen Ausstellung. Dritte Streitschrift wider den Miß-brauch der Geschichte deutscher Soldaten zu politischen Zwecken Mainz 1999 22 [Hervorhebungen: N Ä ]

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einleitung

Entlastungsstrategie, die die jungen, aus Krieg und Gefangenschaft heimkehrenden Autoren nach 1945 in ihrer Publizistik und in ihren literarischen Werken zu einer suggestiven »kollektiven Kriegserzäh-lung«4 verdichteten Es wird im Zuge der Studie zu zeigen sein, dass der narrative Kern dieser Erzählung in der Behauptung bestand, der deut-sche Soldat sei ausweglos zwischen zwei tödlichen Fronten ›eingekes-selt‹ gewesen: zwischen dem militärischen Gegner auf der einen und der eigenen militärischen Obrigkeit auf der anderen Seite Wie das Zitat ver deutlicht, konstruiert diese apologetische Volte einen entscheiden-den »Feind in den eigenen Reihen« als übermächtige Bedrohung Von dieser Behauptung ausgehend, wird der persönliche Kampfeinsatz zur bloßen reaktiven Überlebensstrategie reduziert und bekommt, wo er sichtlich für eine falsche Sache geleistet wurde, »tragische« Qualität verliehen

Ihr Material findet diese Untersuchung zunächst in Beiträgen und Zeitschriften aus der Besatzungszeit, die von ihrem inhaltlichen und rhetorischen Zuschnitt auf die Kriegsheimkehrer abzielten Periodika wie Ende und Anfang, Der Ruf oder Horizont bildeten die öffentliche Plattform, auf der diese ihre Anliegen diskutierten Die Publizistik der sogenannten ›Jungen Generation‹ aus den Jahren 1945-1949 wurde un-ter (kultur-)politischen und poetologischen, unter sprach- und ideolo-giekritischen Gesichtspunkten bereits hinreichend diskutiert 5 Dem-gegenüber sei im vorliegenden Zusammenhang ein narrativistischer Zugang beschritten, d h , diese Aspekte spielen nur eine Rolle, sofern

4 Briegleb, Klaus »Neuanfang« in der westdeutschen Nachkriegsliteratur – Die Gruppe 47 in den Jahren 1947-1951 In: Braese, Stephan (Hg ) Bestandsauf-nahme – Studien zur Gruppe 47. Berlin 1999 35-63 43

5 Vgl Braese (1999); Widmer, Urs 1945 oder die »Neue Sprache« – Studien zur Prosa der »Jungen Generation«. Düsseldorf 1966; Wehdeking, Volker Der Nullpunkt: Über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern Stuttgart 1971; Vaillant, Jérôme Der Ruf – Unabhängige Blätter der jungen Generation (1945-1949): Eine Zeit-schrift zwischen Illusion und Anpassung München 1978; Briegleb, Klaus Mißachtung und Tabu – Eine Streitschrift zur Frage: »Wie antisemitisch war die Gruppe 47?« Berlin / Wien 2003; Davies, Peter / Parker, Stephen / Philpotts, Matthew The Modern Restoration: Re-Thinking German Literary History 1930-1960 Berlin / New York 2004; sowie die Sammelbände von Fetscher, Justus u a (Hg ) Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik Würz-burg 1991; Winter, Hans-Gerd (Hg ) »Uns selbst mussten wir misstrauen.« – Die »junge Generation« in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur Ham-burg / München 2002; Gansel, Carsten / Nell, Werner (Hg ) »Es sind alles Geschichten aus meinem Leben«: Hans Werner Richter als Erzähler und Zeit-zeuge, Netzwerker und Autor Berlin 2011

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sie als integraler Bestandteil der narrativen Diskursebene der Texte zu fassen sind Dies ist ein bislang wenig beachteter Analyseansatz, der den publizistischen Arbeiten einen rhetorischen Eigenwert einräumt und die Erzählstrukturen aufzeigt, in die die jungen Autoren das Solda-tische Opfernarrativ kleideten

Im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen dann die deutschsprachigen Kriegsromane zum Zweiten Weltkrieg, die nach 1945 und vermehrt zwi-schen 1949 und 1960 in der Bundesrepublik und in Österreich erschie-nen sind Auf der Basis von über vierzig ausgewerteten Kriegs romanen aus diesem Zeitraum werden die metaphorologischen und poetologischen Verfahren der Wirklichkeitsaneignung herausgearbeitet, die dem Op-ferdiskurs der 1940er- und 1950er-Jahre eine literarische Form geben

Die Beschäftigung mit dem deutschsprachigen Kriegsroman zum Zweiten Weltkrieg erweist sich insofern als eine grundsätzlich Gewinn versprechende Aufgabe, als der Philologe hier ein weitgehend brachlie-gendes Forschungsfeld der Literaturwissenschaft erschließen kann Während die Verarbeitung des Ersten Weltkriegs in der Literatur der Weimarer Republik als Thema der Literatur- und Kulturwissenschaft eine seit den 1970er-Jahren anhaltende Konjunktur genießt6 und auch die kurze, aber intensive und für die Entwicklung der Literaturpolitik in der DDR bezeichnende Debatte um die sogenannte ›harte Schreib-weise‹ der wenigen, mit einiger Verspätung Ende der 1950er-Jahre pu-blizierten Kriegsromane ostdeutscher Autoren mittlerweile angemes-sen dokumentiert wurde,7 sind auf dem Gebiet des westdeutschen

6 Aus der Fülle an Forschungsliteratur seien hier nur die für diese Untersuchung relevanten Arbeiten genannt: Bohrer, Karl Heinz Die Ästhetik des Schreckens: Die pessimistische Romantik und Ernst Jüngers Frühwerk. München / Wien 1978; Erll, Astrid Gedächtnisromane: Literatur über den Ersten Weltkrieg als Medium englischer und deutscher Erinnerungskulturen in den 1920er Jahren Trier 2003; Schöning, Matthias Versprengte Gemeinschaft: Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914-33. Göttingen 2009 Einen Überblick über die jüngste Literatur zum Ersten Weltkrieg gibt Matthias Schöning (Zwischen Medien und Erfahrung: Die ›Rückkehr‹ des Krieges auf die Bühne der Literaturwissenschaft In: Zeitschrift für Germanistik 16,3 [2006] 610-618)

7 Vgl Hartmann, Karl-Heinz »… dem Objektivismus verfallen « Der Streit um den harten Stil in der Kriegsliteratur der fünfziger Jahre In: Scherpe, Klaus R / Winckler, Lutz (Hg ) Frühe DDR-Literatur: Traditionen, Institutionen, Ten-denzen Hamburg 1988 132-145; Langermann, Martina Diskussionen um die »harte Schreibweise« – eine Reaktion auf literarische Entdeckungen junger Autoren? In: Weimarer Beiträge 36 (1990) 1419-1429; Kasper, Elke »Ich wünschte, wir kämen durch « Der Kriegsroman der DDR In: Egyptien, Jürgen (Hg ) Der Zweite Weltkrieg in erzählenden Texten zwischen 1945 und

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Kriegsromans nach 1945 noch umfangreiche Entdeckungen zu ma-chen Zum Forschungsstand ist Folgendes zu sagen:

Obwohl die Stuttgarter Bibliothek für Zeitgeschichte in einer Bib-liografie zum »Erlebnis des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Lite-ratur« von 1960 bereits 335 belletristische Titel verzeichnet,8 unter denen um die hundert Prosatexte auch qualitativ selektiveren Maß-stäben genügen,9 liegt mit Jochen Pfeifers Vergleichsstudie Der deut-sche Kriegsroman 1945-1960 (1981)10 nach wie vor nur eine einzige im Buchhandel erschienene Monografie vor, die, ausgehend von den knappen Überblicksdarstellungen von Hans Wagener und Jost Hermand,11 einen gattungstypologischen Ansatz auf einer breiten em-pirischen Basis verfolgt und den Anspruch einer Gesamtdarstellung

1965 München 2007 83-98; Gansel, Carsten Die »Grenzen des Sagbaren überschreiten« – Zu ›Formen der Erinnerung‹ in der Literatur der DDR In: Ders (Hg ) Rhetorik der Erinnerung – Literatur und Gedächtnis in den ›ge-schlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus Göttingen 2009 19-38

8 Vgl Gersdorff, Ursula von Das Erlebnis des Zweiten Weltkrieges in der deutschen Literatur In: Bibliothek für Zeitgeschichte: Jahresbibliographie N. F. 32 (1960) 411-426 Die rechtsgerichtete Scharnhorst Buchkamerad-schaft hatte bereits 1958 einen »Militärischen Schrift-Weiser« herausgegeben, der über 400 lieferbare belletristische und populärgeschichtliche »Werke über Krieg, Gefangenschaft, Heimkehr« auflistet (Vowinckel, Kurt (Hg ) Der Zweite Weltkrieg im Buch Heidelberg 1957/58)

9 Vgl Egyptien, Jürgen / Louis, Raffaele 100 Kriegsromane und -erzählungen des Zeitraums 1945 bis 1965: Eine kommentierte Synopse ihrer Publikations-geschichte In: Egyptien (2007) 211-237

10 Pfeifer, Jochen Der deutsche Kriegsroman 1945-1960: Ein Versuch zur Ver-mittlung von Literatur und Sozialgeschichte. Königstein a Ts 1981

11 Wagener, Hans Soldaten zwischen Gehorsam und Gewissen: Kriegsromane und -tagebücher In: Ders (Hg ) Gegenwartsliteratur und Drittes Reich: Deutsche Autoren in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Stutt-gart 1977 241-264; Hermand, Jost Darstellungen des Zweiten Weltkriegs In: Ders (Hg ) Neues Handbuch der Literaturwissenschaft Bd. 21: Literatur nach 1945 1 Wiesbaden 1979 11-60, zur westdeutschen Literatur bes 29-39 Dem Aufsatzformat geschuldet, konnten Wagener wie Hermand ihre text-übergreifenden Aussagen nur auf kursorische Bemerkungen zu einigen her-ausgehobenen Beispielen stützen Dies gilt naturgemäß auch für ähnliche Kurzbeiträge jüngeren Datums; zu nennen sind noch: Bance, Alan Germany In: Klein, Holger (Hg ) The Second World War in Fiction. London 1984 88-130; Baron, Ulrich / Müller, Hans-Harald Weltkriege und Kriegsromane: Die literarische Bewältigung des Krieges nach 1918 und 1945 – eine Skizze In: LiLi 75 (1989) 14-38; Peitsch, Helmut Zur Geschichte der ›Vergangenheits-bewältigung‹: BRD- und DDR-Kriegsromane in den fünfziger Jahren In: Knapp, Gerhard / Labroisse, Gerd (Hg ) 1945-1995: Fünfzig Jahre deutsch-sprachige Literatur in Aspekten. Amsterdam u a 1995 89-117

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erhebt Die wenigen anderen selbständigen Publikationen, die sich mit Romanen zum Zweiten Weltkrieg auseinandersetzen, lassen ent-weder eine repräsentative Schnittmenge an Quellenmaterial vermissen, so die Arbeit von Bernd Zabel und das Buch über soldatische Männer-bilder von Waltraud Amberger,12 oder sie konzentrieren sich auf spezi-fische Subgattungen, was das jeweilige Korpus auf die enge Auswahl thesenrelevanter Texte beschränkt Zu nennen sind hier Michael Schornstheimers Auswertung von Illustriertenromanen13 sowie die Studien von Michael Kumpfmüller und Jörg Bernig zur Tradition der Stalingrad-Literatur, wobei Letztere in Westdeutschland bis 1960 im Grunde nur drei Texte umfasst 14 Thomas Kraft zieht in seiner Unter-suchung über Gegenbilder zur Ideologie des Kampfes ein größeres, bis in die 1980er-Jahre reichendes Spektrum an Kriegsliteratur in Betracht,

12 Zabels Dissertation besteht aus in sich geschlossenen Abhandlungen zu fünf Texten (vgl Zabel, Bernd Darstellung und Deutung des zweiten Weltkrieges in der westdeutschen Literatur 1945-1960 Diss Berlin 1978) Die stark sub-jektiv gefärbte Untersuchung von Waltraud Amberger vergleicht affirmative Kriegsliteratur aus zwei Weltkriegen, wobei sie den Schwerpunkt auf Texte um 1933 setzt Da sie sich mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg fast ausschließlich auf Literatur von rechtsradikalen Autoren wie Edwin Erich Dwinger, Erich Kern und Kurt Ziesel stützt, sind die allgemeinen Aussagen, die Amberger daraus über das Genre des Kriegsromans nach 1945 abzuleiten vorgibt, schlichtweg nicht zutreffend (vgl Amberger, Waltraud Männer, Krieger, Abenteurer: Der Entwurf des ›soldatischen Mannes‹ in Kriegsroma-nen über den Ersten und Zweiten Weltkrieg Frankfurt a M 21987)

13 Schornstheimer, Michael Die leuchtenden Augen der Frontsoldaten: Natio-nalsozialismus und Krieg in den Illustriertenromanen der 1950er Jahre. Berlin 1995; vgl Ders »Harmlose Idealisten und draufgängerische Soldaten « Militär und Krieg in den Illustriertenromanen der fünfziger Jahre In: Heer, Hannes / Naumann, Klaus (Hg ) Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944 Hamburg 1995 630-650 In diesem Kontext zu lesen sind auch die Auf-sätze von Walter Nutz und Habbo Knoch über Heftchen-Literatur (Nutz, Walter Der Krieg als Abenteuer und Idylle: Landser-Hefte und triviale Kriegsromane In: Wagener [1977] 265-283) und Populärgeschichte (Knoch, Habbo Die lange Dauer der Propaganda: Populäre Kriegsdarstellung in der frühen Bundesrepublik In: Hardtwig, Wolfgang / Schütz, Erhard (Hg ) Ge-schichte für Leser: Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahr-hundert Stuttgart 2005 205-223)

14 Michael Kumpfmüller vergleicht in seiner profunden Arbeit zum »Mythos Stalingrad« deutschsprachige Texte aus West und Ost und bezieht Lyrik und Dramatik mit ein (Kumpfmüller, Michael Die Schlacht von Stalingrad: Me-tamorphosen eines Mythos. München 1995) Jörg Bernig schlägt mit Chris-toph Fromms Roman zum Film Stalingrad (1993) den Bogen bis in die Ge-genwartsliteratur (Bernig, Jörg Eingekesselt: Die Schlacht um Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945 New York u a 1997)

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kommt in seinen Schlussfolgerungen aber nur punktuell über die Er-gebnisse von Pfeifers Gattungsbeschreibung hinaus 15 Nicht zuletzt deshalb ist Krafts Band paradigmatisch für die Aporien im vorherr-schenden Umgang der Literaturwissenschaft mit Romanen zum Zwei-ten Weltkrieg

Diese Probleme ergeben sich in erster Linie aus den Bewertungskri-terien, die an ein Genre ›Kriegsroman‹ gelegt werden: Authentizität und Ideologie 16 Die meisten Einteilungsversuche von Wagener bis Kraft erschöpfen sich weitgehend in einer Erörterung des Grads an Wirklichkeitstreue und in der Gegenüberstellung von inhaltlich-weltanschaulichen Positionen, die Autoren und Texte vermeintlich be-ziehen Neben dieser Applikation »kunstexterner Wertsysteme«17 auf die Romane spielten die spezifischen Konventionen des Literatursys-tems, allen voran die Entbindung der Werke von einer normativen Be-messung des Wahrheitsgehalts sowie der Abgleich mit einschlägigen

15 Kraft, Thomas Fahnenflucht und Kriegsneurose: Gegenbilder zur Ideologie des Kampfes in der deutschsprachigen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg Würzburg 1994 Der Vollständigkeit halber sei noch Dirk Wendtorfs Buch zur Darstellung adoleszenter Wehrmachtssoldaten in der autobiografischen Kinder- und Jugendliteratur erwähnt, wobei Wendtdorf nur vier Texte aus der Zeit vor 1960 behandelt (vgl Wendtorf, Dirk Adoleszente Wehr-machtssoldaten in der Nachkriegsjugendliteratur: Opfer oder Täter? Auto-biografische Erklärungsansätze zur Motivation adoleszenter Soldaten Bern 2006)

16 Dies trifft auch für Ursula Heukenkamps Bestandsaufnahme von Berliner Autoren und Verlagen zu, die bis 1960 mit Kriegsromanen hervorgetreten sind (vgl Heukenkamp, Ursula Der Zweite Weltkrieg in der Prosa der Nachkriegsjahre [1945-1960] In: Dies (Hg ) Deutsche Erinnerung: Berliner Beiträge zur Prosa der Nachkriegsjahre 1945-1960 Berlin 2000 295-372) Heukenkamp zeichnet auch verantwortlich für einen von drei Sammelbän-den, die von literaturwissenschaftlicher Seite zum Zweiten Weltkrieg vorge-legt worden sind Der Doppelband von 2001 (Heukenkamp, Ursula (Hg ) Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961) 2 Bde Amsterdam / Atlanta 2001) schließt in Bezug auf Themenfelder und Textkorpus eng an die von Hans Wagener her-ausgegebene Aufsatzsammlung Von Böll bis Buchheim (Wagener [1997]) an Dasselbe gilt für das von Jürgen Egyptien verantwortete Treibhaus-Themen-heft von 2007 (Egyptien [2007]) Mit der angehängten editionsgeschichtlichen Bibliografie von hundert ausgewählten Titeln bieten Egyptien und Louis aber eine wichtige, aktuelle Übersicht über herausragendes Textmaterial (Egyptien / Louis [2007])

17 Plumpe, Gerhard / Werber Niels Literatur ist codierbar Aspekte einer sys-temtheoretischen Literaturwissenschaft In: Schmidt, Siegfried J (Hg ) Lite-raturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven Opladen 1993 9-43 9

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Gattungseinteilungen und Poetologien,18 bislang nur eine untergeordnete Rolle Dies führt dazu, dass Pfeifer unter dem Rubrum »Kriegsroman« neben Frontfiktionen wie der Prosa Gert Ledigs auch autobiografische »Berichte« von Alfred Andersch oder Peter Bamm und selbst Kriegs-tagebücher – von Ernst Jüngers Strahlungen bis zu den nachgelassenen autobiografischen Notizen von Felix Hartlaub – führt

Die vorliegende Studie trägt dieser Problematik Rechnung Die im Hauptteil analysierten literarischen Werke gehören zu einer Text-gruppe, auf die die Gattungsbezeichnung ›Kriegsroman‹ am ehesten anwendbar ist 19 Ungeachtet von zum Teil in Paratexten gesetzten Au-thentizitätsmarken handelt es sich bei dem zugrunde gelegten Korpus allesamt um umfangreiche Prosastücke, die fiktive Handlungen fiktiver Figuren vor einem mehr oder weniger deutlich gekennzeichneten kriegs geschichtlichen Hintergrundgeschehen entfalten Im Zusammen-hang mit dem zentralen Untersuchungsinteresse, also der Herausarbei-tung von narratologischen Spezifika des Soldatischen Opfernarrativs im Kriegsroman, unterliegt das Textmaterial einer weiteren, nunmehr thematischen Beschränkung Behandelt werden nur solche Kriegs-romane, die überwiegend die Erlebnissphäre der Frontoffiziere und Frontsoldaten zum Gegenstand haben

Einen Beitrag zur literarischen Darstellung von zivilen ›Ereignis-strukturen‹ (R Koselleck) des totalen Kriegs wie den in den letzten Jahren breit diskutierten Bombardements deutscher Städte durch die Alliierten oder Flucht und Vertreibung leistet diese Studie nicht 20 Ge-nauso wenig kann es ihre Aufgabe sein, Vergleiche der deutschsprachi-gen Literaturen des 20 Jahrhunderts anzustellen, weder in synchronem Querschnitt mit den besagten ostdeutschen Kriegsromanen noch in diachroner Perspektive mit Texten aus der Zwischenkriegszeit zum Ersten Weltkrieg Dasselbe gilt auch für den Zeitraum nach 1960 bis

18 Vgl dazu Gansel, Carsten / Gansel, Christina Textsorten und Gattungen in-terdisziplinär: Plädoyer für eine sozialwissenschaftliche Perspektive In: Wir-kendes Wort 55 (2005) 481-499

19 Mit Rolf Düsterbergs Band Soldat und Kriegserlebnis liegt inzwischen eine empirische Auswertung der militärischen Autobiografik vom publizierten Landsertagebuch bis zu den Memoiren der Wehrmachtsgenerale vor (Düster-berg, Rolf Soldat und Kriegserlebnis: Deutsche militärische Erinnerungs-literatur [1945-1961] zum Zweiten Weltkrieg. Motive, Begriffe, Wertungen Tübingen 2000)

20 Zur Vertreibung der Deutschen aus Mittelosteuropa vgl z B Brumlik, Micha Wer Sturm sät: Die Vertreibung der Deutschen Berlin 2005, der auch einen Überblick über die literarische Verarbeitung des Themas bietet Zur Debatte um den Luftkrieg vgl Einleitung, FN 39

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zur Gegenwart Die Begrenzung des Untersuchungsfelds auf Romane der ersten Dekade der Bundesrepublik erscheint aus mehreren, eng miteinander verzahnten Gründen sinnvoll:

Zunächst gilt die Zeitspanne als »Blütezeit« der Gattung Kriegs-roman,21 wie sich an den Statistiken ablesen lässt Diese Hochkonjunk-tur bricht in den frühen 1960er-Jahren rapide ein 22 Das hängt einer-seits damit zusammen, dass die brisante erste Phase des Kalten Kriegs spätestens mit dem Mauerbau in Berlin 1961 zu Ende gegangen war, in der die Adenauer-Regierung die Westintegration der Bundesrepublik mit Wiederbewaffnung und NATO-Mitgliedschaft betrieb und radika-ler Antikommunismus zur Staatsraison zählte 23 Damit flachte auch der kulturpolitische Auftrieb für die belletristische Kriegsliteratur ab 24 Zum anderen kam es erst um 1960 zur entscheidenden Diskursver-schiebung in der öffentlichen Kommunikation über die jüngste Ver-gangenheit, die nun verstärkt den Holocaust zu thematisieren begann Mentalitätsgeschichtlich stand die »dominante Opfer-Selbst befind lich-keit«25 der Deutschen in den 1950er-Jahren einer Sensibilisierung für die NS-Verbrechen zunächst entgegen Den Mittelpunkt des privaten wie kollektiven Interesses bildeten die Vertriebenen aus Ostmittel-europa und die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion Dieses selektive Gedenken ist als ein gesamtgesellschaftlicher Versuch zu werten, über die Schaffung einer »Gemeinschaft des Leidens und des Mitgefühls«26 zu einer stabilen kollektiven Identität zu kommen Das Schicksal der Juden wurde dabei lediglich als vermeintlicher Ver-gleichsfall erinnert 27 Immerhin wirkte der Krieg noch so lange in viele Familien – und damit auch in die öffentliche Debatte – direkt hinein, bis die Millionen Flüchtlinge in die Nachkriegsgesellschaft integriert waren und die Sowjetunion 1955/56 die letzten Kriegsgefangenen ent-

21 Egyptien, Jürgen Erzählende Literatur über den Zweiten Weltkrieg aus dem Zeitraum 1945 bis 1965 Einleitende Bemerkungen zu Forschung, Gegen-stand und Perspektiven In: Egyptien (2007) 7-18 16

22 Vgl Egyptien / Louis (2007) 23 Vgl Wolfrum, Edgar Die geglückte Demokratie: Geschichte der Bundesrepu-

blik Deutschland von ihren Anfängen bis zur Gegenwart Bonn 2007 24 Vgl Wagener (1977) 241 25 Reichel, Peter. Erfundene Erinnerung: Weltkrieg und Judenmord in Film und

Theater München 2004 142 26 Moeller, Robert G Deutsche Opfer, Opfer der Deutschen – Kriegsgefangene,

Vertriebene, NS-Verfolgte: Opferausgleich als Identitätspolitik In: Nau-mann, Klaus (Hg ) Nachkrieg in Deutschland Hamburg 2001 29-58 32

27 Vgl Moeller, Robert G War Stories: The Search for a Usable Past in the Fed-eral Republic of Germany Berkeley / Los Angeles 2001 32-34 78/79

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ließ Hatte Konrad Adenauer die Rückho lung der Kriegsgefangenen noch persönlich betrieben,28 war der politische Umgang mit dem Holocaust weitgehend auf eine justiziable Aufarbeitung durch Ent-schädigungsgesetze und einer gegen Ende des Jahrzehnts konsequent betriebenen Strafverfolgung verlegt 29 Im Anschluss an das »Medien-ereignis«, zu dem das Tagebuch von Anne Frank durch seine Verfil-mung und Bühnenbearbeitung geriet,30 und befeuert durch die im-mense Aufmerksamkeit, die der Eichmann-Prozess in Jerusalem 1961 und später die Frankfurter Auschwitz-Prozesse erlangten, wurden die deutschen Verbrechen nun auch zum Gegenstand der Massenmedien, allen voran des Fernsehens 31 Eng mit der literarischen Rezeption der Jerusalemer und Frankfurter Gerichtsverfahren verbunden ist dann das Aufkommen des Dokumentartheaters, das wie Rolf Hochhuths Stellvertreter (1963) oder Peter Weiss’ dramatische Auswertung der Akten zum ersten Auschwitz-Prozess Die Ermittlung (1965) mit der Einbeziehung historischen Quellenmaterials neue Formen des gesell-schaftskritischen Schreibens erprobte 32 Dieser poetologische Neu-ansatz schlug sich auch im Bereich des Kriegs romans nieder: Vor allem Alexander Kluges Montageroman Schlachtbeschreibung (1964), aber auch Alfred Anderschs stark metaliterarisch angelegtes Spätwerk Winterspelt (1974) haben mit der Ästhetik der frühen Kriegsprosa nichts mehr gemein

Die vernachlässigte poetologische Systematisierung von Seiten der Literaturwissenschaft zugunsten einer Kategorisierung von Inhalten, Positionen und Wertvorstellungen weist darauf hin, dass man im Um-gang mit Kriegsromanen zum Zweiten Weltkrieg aus der Frühphase der Bundesrepublik leicht auf exegetisch vermintes Territorium ge-langt Noch immer ist das Genre mit der Hypothek belastet, dass die Mehrheit der Werke einer ideologiekritischen Auslegung nicht stand-halten konnte, die – symptomatisch für die Umorientierung in der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus33 – seit

28 Zu der von Adenauer initiierten sogenannten »Heimkehr der 10 000« von 1955 vgl ausführlich ebd Kap 4

29 Vgl Wolfrum (2007) 177-181 Vgl außerdem Reichel (2004) 143-151 30 Reichel (2004) 145 31 Vgl Hickethier, Knut Nur Histotainment? Das Dritte Reich im bundesdeut-

schen Fernsehen In: Reichel, Peter u a (Hg ) Der Nationalsozialismus – Die zweite Geschichte: Überwindung – Deutung – Erinnerung München 2009 300-317

32 Vgl Schlant, Ernestine Die Sprache des Schweigens: Die deutsche Literatur und der Holocaust München 2001 73/74

33 Vgl Hermand, Jost Geschichte der Germanistik Reinbek 1994 141

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Beginn der 1960er-Jahre in zunehmendem Maß die weitgehende Aus-klammerung des Holocaust als die zentrale Aporie der Literatur der Kriegsteilnehmer diskutierte In diesem Sinn resümierte der Autor und Kritiker Peter Jokostra 1975 das Abebben der Publikationsflut über den Zweiten Weltkrieg: »Der Kriegsroman wurde als suspekt dekla-riert, es wurde nicht mehr nach ihm gefragt Das Thema wurde tabu, ehe auch nur eine Schmutzecke der deutschen Vergangenheit ausge-räumt werden konnte «34

Die Problematisierung der verweigerten »Aufarbeitung der Vergan-genheit«, als deren Impuls- und Stichwortgeber Theodor W Adorno 1959 aufgetreten war,35 wurde zum lektüreleitenden Imperativ einer kritisch gewendeten Literaturwissenschaft 36 Reinhard Baumgart er-öffnete in seinem für den zeitgenössischen Diskurs wichtigen, in etlichen Punkten an Adornos Verdikt über das »Barbarische« einer Lyrik nach Auschwitz37 anknüpfenden Essay »Unmenschlichkeit be-schreiben« (1965) diesen Zugang für den Umgang mit Kriegsprosa 38 W G Sebalds viel beachtete Zürcher Vorlesungen von 1997 über die mangelhafte Auseinandersetzung der deutschsprachigen Literatur mit dem Luftkrieg und die dadurch angestoßene Debatte haben dann

34 Jokostra, Peter Dreißig Jahre nach dem Ende Der Zweite Weltkrieg in der deutschen Prosa In: Dokumente. Zeitschrift für übernationale Zusammen-arbeit 31 (1975) 107-111 110

35 Vgl Adorno, Theodor W Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit (1959) In: Ders Gesammelte Schriften Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesell-schaft II Frankfurt a M 1977 555-572 Christian Schneider sieht in diesem breit rezipierten Vortrag Adornos den eigentlichen Beginn einer ernsthaften Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen in der Bundesrepublik: »Kaum ein anderer Text als dieser vielfach veröffentlichte hat so viel dazu beigetra-gen, den Umgang mit der NS-Geschichte neu auszurichten« (Schneider, Christian Besichtigung eines ideologisierten Affekts: Trauer als zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik In: Ders / Jureit, Ulrike Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung Stuttgart 2010 105-212 109) Vgl dazu auch Peitsch (1995)

36 Vgl Hermand (1994) 155 Zum Einfluss der Kritischen Theorie der Frank-furter Schule auf den literaturwissenschaftlichen Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre vgl Zens, Maria Kritische Theorie in der Literaturwissenschaft In: Dies / Baasner, Rainer Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft: Eine Einführung 3 , überarbeitete und erweiterte Auflage Berlin 2005 191-200

37 Vgl Adorno, Theodor W Kulturkritik und Gesellschaft (1951) In: Ders Ge-sammelte Schriften Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I Frankfurt a M 1977 11-31

38 Vgl Baumgart, Reinhard Unmenschlichkeit beschreiben: Weltkrieg und Fa-schismus in der Literatur. In: Merkur 19 (1965) 37-50

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gezeigt, dass bis heute eine solche in erster Linie ethisch motivierte Erwartungshaltung bei der Behandlung von Texten zum Zweiten Welt-krieg vorherrscht 39

Unbestritten stellt die kritische Hinterfragung des Umgangs mit der NS-Vergangenheit im Literatursystem der Bundesrepublik einen not-wendigen Einschnitt in der Fachgeschichte der Germanistik dar Es waren nicht zuletzt Publikationen wie Heinz Brüdigams provokante Dokumentation über den rechtsradikalen Literaturmarkt, die die öffentliche Debatte um das latente Fortwirken des nationalsozialisti-schen Erbes anregten 40 Der ideologiekritische Paradigmenwechsel der 1960er-Jahre brachte jedoch analytische Ansätze hervor, »in denen Li-teratur als spezifische Form der Textstrukturierung, die sich von ande-ren Formen und Diskursen unterscheidet, keine wesentliche Rolle mehr spielte« 41 Dies zeigt sich gerade in den oben genannten Abhand-lungen Der ästhetische Eigenwert der Kriegsromane und seine im-manente Aussagekraft spielen dort keinerlei Rolle und nur in seltenen Fällen wird versucht, einen Zusammenhang von Inhalt und Form herzustellen 42

39 Vgl Sebald, W G Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch . Frankfurt a M 52005 [EA 1999] Zur Debatte vgl u a Streim, Gregor Der Bombenkrieg als Sensation und als Dokumentation: Gert Ledigs Roman Vergeltung und die Debatte um W G Sebalds Luftkrieg und Litera-tur In: Preußer, Heinz-Peter (Hg ) Krieg in den Medien Amsterdam / New York 2005 293-312; Leschke, Rainer Kriegerische Opfer: Von den Verlusten der Kriegserzählung In: Koch, Lars / Vogel, Marianne (Hg ) Imaginäre Wel-ten im Widerstreit: Krieg und Geschichte in der deutschsprachigen Literatur seit 1900 Würzburg 2007 98-117

40 Dass Brüdigam im aufklärerischen Furor so gut wie keinen Kriegsroman gel-ten lässt, ist ein typisches Beispiel für die zeitgenössische ideologiekritische Argumentationsweise Die Texte stärkten »in ihrer begrenzten Aussage ob-jektiv die Pro=Kriegsliteratur«, so Brüdigam, »da die Schilderung des Krieges an sich und die detaillierte Darstellung von Kriegsgreueln nur dann zu einer Antikriegs=Stellungnahme führen kann, wenn die Position der konsequenten Antikriegsliteratur« – und das ist für Brüdigam die Position der marxistischen Tradition – »selbst stark« sei Mit anderen Worten, weil die meisten Kriegs-romane eine ausgebreitete politische Stellungnahme verweigerten, vermittel-ten sie »die letztliche Bejahung des Krieges« (Brüdigam, Heinz Der Schoß ist fruchtbar noch … Neonazistische, militaristische, nationalistische Literatur und Publizistik in der Bundesrepublik 2 , neu bearbeitete Auflage Frank-furt a M 1965 146/147)

41 Plumpe / Werber (1993) 9/10 42 Bei Pfeifer im Kapitel zu »Romankonzeptionen« (Pfeifer [1981] 55-90); bei-

spielhaft Kumpfmüllers Analyse von Theodor Plieviers Roman Stalingrad (Kumpfmüller [1995] 89-124)

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Gleichzeitig ignoriert die Fachliteratur den tieferen Zusammenhang von Text und Entstehungskontext, und das obwohl – oder gerade weil – die ideologiekritische Literaturwissenschaft sich ursprünglich als kritische Gesellschaftsanalyse verstand 43 Dabei ist es für das Ver-ständnis von Literatur unabdingbar, auch nach ihrem historischen Ort zu fragen »Um die Bedeutung solcher Texte wiederherzustellen, um überhaupt aus ihnen klug zu werden«, so Stephen Greenblatt, »müssen wir die Situation rekonstruieren, in der sie hergestellt wurden «44 Die gängige Reduzierung der sozialgeschichtlichen Dimension der Litera-tur aus den 1950er-Jahren auf die Formel von der (kultur-)politischen ›Nachkriegsrestauration‹, durch Walter Dirks bereits 1950 zum Epo-chenbegriff erhoben45 und spätestens seit den wegweisenden Schriften von Heinrich Vormweg, Hans Dieter Schäfer und Frank Trommler feste Einteilungsgröße der Literaturgeschichtsschreibung,46 erweist sich hierfür allerdings als wenig konstruktiv 47 In Anbetracht eines derart begrenzten Blickwinkels verwundert es nicht, dass die Text-beschreibung bislang zumeist ex negativo erfolgte – also primär gefragt wurde: Was hat die (Kriegs-)Literatur nach 1945 nicht geleistet?

Möchte man dagegen die literarische Entwicklung in der Zeit nach dem Nationalsozialismus und die Bedeutung des kulturellen Felds für

43 Vgl Zens (2005) 200 44 Greenblatt, Stephen Kultur In: Baßler, Moritz (Hg ) New Historicism: Lite-

raturgeschichte als Poetik der Kultur 2 , aktualisierte Auflage Tübingen / Basel 2001 48-59 51

45 Vgl Dirks, Walter Der restaurative Charakter der Epoche In: Frankfurter Hefte 5,9 (1950) 942-954

46 Vgl Vormweg, Heinrich Deutsche Literatur 1945-1960: Keine Stunde Null In: Durzak, Manfred (Hg ) Die deutsche Literatur der Gegenwart: Aspekte und Tendenzen Stuttgart 1971 11-30; sowie Schäfer, Hans Dieter Zur Peri-odisierung der deutschen Literatur seit 1930; Trommler, Frank Nachkriegs-literatur: Eine neue deutsche Literatur? In: Born, Nicolas / Manthey, Jürgen (Hg ) Literaturmagazin 7: Nachkriegsliteratur Reinbek 1977 95-113 bzw 167-186

47 Vgl Gansel, Carsten Parlament des Geistes: Literatur zwischen Hoffnung und Repression 1945-1961. Berlin 1996 16: »Die Bundesrepublik der 50er Jahre sollte […] nicht primär unter dem Gesichtspunkt von Restauration und Reaktion betrachtet werden, sondern eher im größeren Umfeld moderner Entwicklungen « In diese Richtung gehen in jüngster Zeit die Bände von Davies / Parker / Philpotts (2004); Bollenbeck, Georg / Kaiser, Gerhard (Hg ) Die Janusköpfigen 50er Jahre Wiesbaden 2000; Kiesel, Helmuth Geschichte der literarischen Moderne: Sprache – Ästhetik – Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert München 2004; Frank, Gustav u a (Hg ) Modern Times? Ger-man Literature and Arts Beyond Political Chronologies / Kontinuitäten der Kultur: 1925-1955 Bielefeld 2005

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die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft einer angemessenen Neube-wertung unterziehen, die die Texte in ihr kontemporäres Recht setzt, statt sie im Nachhinein anhand subjektiver ideologischer Bewertungs-kriterien zu disqualifizieren, muss man nach der sozialen Funktion fragen, die dem literarischen Feld im Schlagschatten der Katastrophe des Dritten Reichs und des unvorstellbaren Ausmaßes der national-sozialistischen Verbrechen zukam Nur über die Berücksichtigung des Wechselverhältnisses »zwischen sozialem Prozeß und kultureller Se mantik«48 wird eine adäquate Beurteilung auch der Kriegs romane möglich Es gilt also nicht zu erörtern, was dieser Literatur nicht gelun-gen ist Stattdessen muss im Sinne einer gedoppelten Fragestellung er-mittelt werden: Was hat die Literatur nach 1945 tatsächlich geleistet? Und wie sind die Autoren dabei verfahren?

Die vorliegende Studie entwickelt ihre Antworten auf diese Fragen in drei Schritten Der erste Teil der Arbeit beschäftigt sich mit den Ent-stehungsbedingungen des Soldatischen Opfernarrativs der Nachkriegs-zeit Das Anfangskapitel zur Poetologie der Narrative erarbeitet zu-nächst ein kulturwissenschaftlich-erzähltheoretisches Fundament, das verschiedene Modelle von Narrativität in einem Definitionsvorschlag für den in der Literaturwissenschaft viel gebrauchten, bislang aber nicht näher bestimmten Begriff des ›Narrativs‹ zusammenbringt Der hierzu unternommene Durchgang durch relevante Konzepte der inter-disziplinären Erzählforschung ist nicht als eine bloße Theorierevue zu lesen Deutlich werden soll dabei vielmehr zweierlei: Zum einen, dass ein breiter Konsens darüber besteht, dass Erzählungen das wichtigste anthropologische Mittel zur Bildung, Verarbeitung, Gestaltung und Vermittlung von Erfahrungen – zumal Erfahrungen traumatischer Art – sind und Gemeinschaft im Sinne von gemeinsamer ›narrativer Identität‹ (P Ricœur) fundieren können; zum anderen, dass es sich bei individuellen wie kollektiv geteilten Erfahrungsgeschichten um hoch-gradig durchgeformte narrative Gebilde handelt In diesem Zusammen-hang geht die Definition von ›Narrativ‹ über das terminologische Angebot hinaus und bietet zugleich ein erzähltheoretisches Analyse-modell für intersubjektive Erzählformate Narrative werden in diesem Zu sammenhang als diskursive Kategorien verstanden; sie bilden sich in sozialen Kommunikationsprozessen heraus und sind auf eine breite affirmative Applikation angelegt Indem Narrative zum Beispiel katas-

48 Ort, Claus-Michael Sozialsystem ›Literatur‹ – Symbolsystem ›Literatur‹: Anmerkungen zu einer wissenssoziologischen Theorieoption für die Litera-turwissenschaft In: Schmidt (1993) 269-294 274

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trophalen gesellschaftlichen Zäsuren wie Kriegen eine intelligible nar-rative Struktur verleihen, statten sie diese mit Sinn aus und können durch ihr integratives Deutungsangebot zu einer Restabilisierung des betroffenen Gemeingefüges beitragen Deshalb sind Narrative, zumal Kriegsnarrative, als »wichtige Bezugspunkte einer gemeinsam geteilten Erfahrung der Nation als Solidargemeinschaft« zu verstehen 49

Mit der Bestimmung von Narrativen als sinnstiftende und wohl-geformte intersubjektive Erzählformate ist ein analytisches Instrumen-tarium gewonnen, das im zweiten Kapitel an die Publizistik der Kriegs-heimkehrer aus den späten 1940er-Jahren gelegt werden kann, um die diskursiven Prozesse einsehbar zu machen, die in Deutschland auf den erfahrungs- bzw erinnerungsgeschichtlichen Notstand nach dem Zu-sammenbruch des Dritten Reichs und den zutage tretenden national-sozialistischen Verbrechen reagierten Es zeigt sich, dass die jungen, aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrten Autoren relativ kurz-fristig und bemerkenswert übereinstimmend ihr Opfernarrativ zu einer tragfähigen legitimatorischen Grundlage fügten Dies hängt erstens damit zusammen, dass sie sich glaubhaft auf ihr Schicksal als eine vom totalen Staat total vereinnahmte Generation berufen konnten Zweitens schmückten sie die Gruppenbiografie zwischen nationalsozialistischem Erziehungssystem und Kriegseinsatz mit gängigen existenzialistischen Versatzstücken aus, partizipierten damit also an dem wohl einfluss-reichsten philosophischen Modediskurs jener Jahre Indem sie drittens den biografischen und ontologischen Bausteinen des Opfernarrativs eine (vermeintlich) tragische Plotstruktur unterlegten, bedienten sie sich eines der herausragenden Erzählschemata der europäischen Kul-turgeschichte mitsamt seines inhärenten Deutungspotenzials

Zum zweiten und Hauptteil der Studie leitet das dritte Kapitel über, das die Frage beantwortet, welche Bedeutung speziell literarischen Texten für die Konfiguration und Tradierung von Narrativen zu-kommt Abgesehen davon, dass es wesentlich die Literatur ist, die iden-tifikatorische kulturelle Plot- bzw Erzählstrukturen für die narrative Erfahrungsbildung und Erfahrungsvermittlung bereitstellt, liegt ihre Funktionalität, kurz gesagt, in ihrer Entbundenheit von Faktentreue sowie ihrem poietischen Potenzial Beides erlaubt Autoren, elaborierte Möglichkeitswelten und hypothetische Handlungsentwürfe zu ge-stalten Abschließend werden die allgemeinen erzähltheoretischen

49 Furrer, Markus Einführende Bemerkungen zu Kriegsnarrativen im Schul-geschichtsbuch In: Ders / Messmer, Kurt (Hg ) Kriegsnarrative in Geschichts-lehrmitteln: Brennpunkte nationaler Diskurse Schwalbach a Ts 2009 7-14 9

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Ausführungen der vorangegangenen Kapitel in eine narratologische Matrize übertragen, die ihn Anlehnung an Paul Ricœur als Konfigu-rations modell bezeichnet werden soll Ausgehend von der Prämisse, dass kulturelle Narrative per definitionem rekursive strukturelle und teleologische Elemente ausprägen, erlaubt das Konfigurationsmodell über die Parameter Zeit und Raum bzw ›Chronotopos‹ (M Bachtin), Figurenkonstellation und Handlungsschemata sowie Erzählperspek-tive wesentliche Aspekte der Literarisierung von Narrativen in fiktiven Erzähltexten zu erfassen

Die westdeutschen Kriegsromane gießen das Soldatische Opfernar-rativ in ein literarisches Konfigurationsmodell, das als entscheidende ›systemprägende Dominante‹ (H R Jauß) des Genres angesehen wer-den kann: die Figur der Einkesselung bzw des Eingekesseltseins Dies ist die Richtung gebende Erkenntnis der Textarbeit, die der Hauptteil der Studie leistet Die Figur der Einkesselung gründet zunächst in der histo-rischen Referenzialität der Kriegsromane und rekurriert auf das militäri-sche Phänomen der Kesselschlacht Sodann wirkt sie sich auf einer me-taphorischen Ebene aus und meint hier in existenzialistischer Auslegung den Daseinszustand des Einzelmenschen in der totalen gesellschaft-lichen wie militärischen Mobilmachung des 20 Jahrhunderts Die chro-notopische Konfiguration schließlich, die den Erzählwelten der Kriegs-romane zugrunde liegt, ist der Chronotopos des Kessels Zugespitzt meint dies, dass die Kriegsromane versuchen, über eine gemeinsame narratologische Wirkungsästhetik die Raum-Zeit-Konnotationen der Kesselschlacht – Raumschwund und zeitliche Beschleunigung – nach-zuahmen, um die Ausweglosigkeit der Situation des deutschen Landsers zu veranschaulichen Es ist die Figur der Einkesselung, die dem Selbst-narrativ der Frontgeneration eine kohärente, allgemein applizierbare Gestalt gab Die Autoren, die diese Figur in ihren Texten immer wieder umsetzten, versuchten damit ein und dieselbe Grundaussage zum Aus-druck zu bringen: Der deutsche Soldat des Zweiten Weltkriegs mag auch Täter gewesen sein, vor allem aber war er eines seiner Opfer

Diese Arbeit läge ohne die Unterstützung und die vielfältigen Anre-gungen all jener Personen, die ihren Entstehungsprozess mit kritischer Aufmerksamkeit begleiteten, nicht in der gegebenen Form vor Hierfür sei namentlich Carsten Gansel und Matthias Schöning gedankt, außer-dem den Kolleginnen und Kollegen am Institut für Germanistik der JLU Gießen sowie meiner Familie und den Freunden Mein Dank geht außerdem an Nikola Medenwald und Philipp Mickat vom Wallstein Verlag für die aufmerksame Betreuung der Publikation

Christine gebührt der herzlichste Dank Ihr ist dieses Buch gewidmet

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Erster Teil: Das Soldatische Opfernarrativ

der Nachkriegszeit

1 Poetologie der Narrative

Eine Arbeit, die sich der Rekonstruktion und Analyse eines kultur- und mentalitätsgeschichtlich bedeutsamen Narrativs verschreibt, sieht sich zunächst vor die epistemologische Problematik gestellt, ihre zentrale Untersuchungskategorie als heuristisches Prinzip allererst her vorbringen zu müssen Denn entgegen des gerade auch in der Lite-raturwissenschaft weitverbreiteten Begriffsgebrauchs steht noch keine maßgebende pragmatische Terminologie zur Verfügung

Fragestellungen zu Phänomenen des Narrativen – und damit auch der Begriff des Narrativs – erleben in den Fachdiskursen zwar eine seit mehreren Jahren an haltende Konjunktur: Einerseits, in meta theo-retischem Rahmen, ist neuerdings die Rede von »Narrativen der Humanwissenschaften«, wo es in wissenssoziologischer, um poetolo-gische Parameter erweiterter Perspektive um die Aufdeckung von Rhe-toriken der Wissensproduktion geht 1 Andererseits fasst eine kultur-geschichtliche Perspektive die Verarbeitungsstrategien von historischer Erfahrung zunehmend unter Stichworten wie »Narrative des Entset-zens« und der »Zeugenschaft« 2 »Narrativen der Shoah« werden seit der Jahrtausendwende breit diskutierte »deutsche Opfernarrative« von Bombenkrieg, Vertreibung und Massenvergewaltigung an die Seite gestellt;3 nationale, geschichtsphilosophische und künstlerisch-literari-

1 Vgl Höcker, Arne u a (Hg ) Wissen. Erzählen. Narrative der Humanwissen-schaften. Bielefeld 2006

2 Vgl Lorenz, Matthias N (Hg ) Narrative des Entsetzens: Künstlerische, me-diale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001 Würzburg 2004; Mein, Georg Narrative der Zeugenschaft In: Geulen, Eva u a (Hg ) Hannah Arendt und Giorgio Agamben: Parallelen, Perspektiven, Kontroversen. Mün-chen / Paderborn 2008 223-240

3 Vgl Düwell, Susanne / Schmidt, Matthias (Hg ) Narrative der Shoah: Repräsen-tationen der Vergangenheit in Historiographie, Kunst und Politik Paderborn u a 2002 Zu »deutschen Opfernarrativen« vgl die gleichnamigen Kapitel in

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poetologie der narrative

sche »Kriegsnarrative« konkurrieren um die Deutungshoheit gegen-über den militärischen Ernstfällen der Moderne 4 Obwohl die Etymo-logie das Lexem im Gegenstandsbereich der Erzählforschung – der Narratologie – verortet, steht eine praktikable literaturwissenschaft-liche Begriffsdefinition allerdings noch aus Dies ist deshalb bedenkens-wert, weil sich die Literaturwissenschaft damit eines analytischen Inst-ruments begibt, das in anderen Fachdiskursen schon seit Längerem zur Beschreibung von intersubjektiven Erzählformaten Verwendung fin-det Bevor also das Soldatische Opfernarrativ selbst zur Darstellung kommt, gilt es zu klären, was – mindestens – im vorliegenden Zusammenhang unter einem Narrativ überhaupt zu verstehen ist

Eine genauere terminologische Festlegung erscheint gerade für das deutsch sprachige Wissensfeld vonnöten Anders als im englischen Sprachraum, wo die unter schiedlichen Ausprägungen, Formen und Genres des Erzählens in einem Wortfeld um den zentralen, substan-tivisch wie adjektivisch verwendbaren Begriff narrative typologisch zusammengefasst sind, existiert im Deutschen ein heterogener termi-nologischer Komplex Diesem ist es geschuldet, dass disparate Aspekte des Narrativen oftmals unter gleichen Stichworten abgelegt und um gekehrt identische Phänomene oftmals ganz unterschiedlich ge-kennzeichnet werden Dass vom Narrativ als einer klassifikatorischen Größe der Lite raturwissenschaft bislang nicht gesprochen werden kann, stellt aus zwei Gründen ein eklatantes Desiderat dar:

Erstens operiert die Literaturwissenschaft bislang mit einer unein-heitlichen, teils widersprüchlichen Terminologie, wo es um die ver-gleichende Beschreibung und Analyse solcher kollektiver Erzähl-phänomene und narrativer Hypercodes geht, wie sie Gegenstand des vorliegenden Bands sind Entgegen dieser »Gewohnheitssünde vieler deutender Ansätze«, so lässt sich mit Clifford Geertz und Mieke Bal argumentieren, besteht ein Teil der Aufgabe der Kulturwissenschaften

Assmann, Aleida Der lange Schatten der Vergangenheit: Erinnerungskultur und Geschichtspolitik München 2006; und in Fischer, Torben /Lorenz, Mat-thias N (Hg ) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland: Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 Bielefeld 2007 Verschiedene exkulpatorische Opfernarrative der österreichischen Ver-gangenheitsbewältigung hat Siegfried Göllner eruiert (vgl Göllner, Siegfried Die politischen Diskurse zu »Entnazifizierung«, »Causa Waldheim« und »EU-Sanktionen«: Opfernarrative und Geschichtsbilder in Nationalratsde-batten Hamburg 2009)

4 Vgl Furrer / Messmer (2009); Borissova, Natalia u a (Hg ) Zwischen Apoka-lypse und Alltag: Kriegsnarrative des 20. und 21. Jahrhunderts Bielefeld 2009

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poetologie der narrative

aber gerade darin, »ein analytisches Begriffssystem zu entwickeln«, mit dem soziokulturelle Prozesse, Diskurse und Vorstellungsstrukturen systematisch gefasst werden können 5 Dasselbe gilt auch für die lite-rarischen Artefakte, in denen sich diese Tendenzen niederschlagen Ideologische, poetolo gische und wirkungsästhetische Gemeinsamkei-ten aus einer Fülle fiktionaler deutschsprachi ger Texte zum Zweiten Weltkrieg herauszupräparieren heißt deshalb zunächst, zu einem ange-messenen methodischen Vokabular zu kommen, das alle drei Aspekte in ihrer Wechsel beziehung in den Blick zu bekommen erlaubt Das heuristische Angebot, das diese Studie in diesem Zusammenhang an die literaturwissenschaftliche Erzählforschung richtet, besteht darin, das Prinzip des Narrativs terminologisch als eine rekursiv-struktur-gebende erzähltheoretische Größe von nicht zu letzt gattungstypologi-scher Relevanz zu setzen

Zweitens steht die Antwort derjenigen Disziplin auf begriffs-bildende Ansätze anderer Fachbereiche nach wie vor aus, auf deren ge-nuine Methodik diese als ein »Hilfsmittel«6 zurückgreifen Im Gegen-satz zur Narratologie haben Psychologie und Geschichtsphilosophie bestimmte übergrei fende erzählpragmatische bzw erzählstrategische Strukturzusammenhänge im therapeutischen Gespräch wie im histori-ografischen Schreiben offengelegt, die beide Disziplinen mittlerweile unter dem Terminus ›Narrativ‹ zusammenbringen und deren Grund-bausteine erstaunlich ähnlich sind Wenn im textanalytischen Teil die-ser Untersuchung von einem ›Op fernarrativ der Frontgeneration‹ oder einem ›Soldatischen Opfernarrativ‹ gesprochen wird, so geschieht dies im Wesentlichen auf der Basis einer Synthese der Konzeptionen bei der Richtungen mit Ergebnissen der narratologischen Grundlagenfor-schung, die in einem kulturwissenschaftlichen Rahmen entwickelt wird Mieke Bal hat betont, dass es die konsensorientierte Begriffsbil-dung ist, die als methodologische Basis einen interdisziplinären Zusam-menhang zwischen den kulturwissenschaftlichen Fächern herzustellen vermag 7 In diesem Sinn ist die aus dem Synthesevorschlag hervor-gehende erweiterte Defini tion von Narrativ als eine diskursive Katego-rie als Beitrag zur Lexik der Kulturwissenschaften zu verstehen

5 Geertz, Clifford Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme Frankfurt a M 1987 34, 39

6 Brockmeier, Jens Erinnerung, Identität und autobiographischer Prozeß In: Journal für Psychologie 7,1 (1999) 22-42 23

7 Vgl Bal, Mieke Kulturanalyse Frankfurt a M 2002 12/13

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1 1 Narrative Identität: Erfahrung und Erzählung

Es wurde bereits angedeutet, dass der Begriff Narrativ eng mit der epistemologischen Kategorie der Erfahrung zusammenhängt Eine Er-fahrung machen meint immer: ein Erlebnis sprachlich, oder genauer: narrativ verarbeitet zu haben »Die Formen der Narration sind«, so betonte bereits Karlheinz Stierle, »grundlegend für die Organisation, Transformation und Kommunikation von Erfahrung «8 Auf die Be-deutung von Sprache als »das wichtigste Zeichensystem der mensch-lichen Gesellschaft« hatten zuvor schon Peter L Berger und Thomas Luckmann in ihrer einflussreichen Studie über Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit (1966) hingewiesen 9 Wie später für Clifford Geertz oder Jurij M Lotman liegt dem ein Verständnis von Kultur und Gesellschaft zugrunde, das die Bedeutung der ›Semio-sphäre‹ (J Lotman) als »Ergebnis und Voraussetzung der Entwicklung der Kultur«, als Grundbe dingung gesellschaftlicher Interaktion und damit der Herausbildung sozialer Strukturen herausstellt 10 Aus der Annahme des Zeichencharakters von Kultur und des Entstehens gesell-schaftlicher Wirk lichkeit über die Interpretation der kulturell bereit-gestellten Codes ergibt sich dann der epistemolo gische Kernsatz des linguistic turn, dem auch die vorliegende Studie weitgehend folgt: die »Einsicht in den (sprachbegründeten) Kon struktivismus von Realität« 11

Erfahrungsgeschichten: Sprache – Erfahrung – Identität

Berger und Luckmann betrachten Wirklichkeit als Erfahrung von Ob-jektivationen der Alltagswelt und binden die Gültigkeit dieser Objekti-vationen an ihre Versprachlichung und konsensorientierte Kommu-nikation: Es ist die Sprache, »die Welt objektiviert, indem sie […] Erfahrung in eine kohärente Ordnung transformiert Durch die Errich-tung dieser Ordnung verwirklicht die Sprache eine Welt in doppeltem

8 Stierle, Karlheinz Erfahrung und narrative Form: Bemerkungen zu ihrem Zusammenhang in Fiktion und Historiographie In: Kocka, Jürgen / Nipper-dey, Thomas (Hg ) Theorie und Erzählung in der Geschichte. München 1979 85-118 92

9 Berger, Peter L / Luckmann, Thomas Die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit: Eine Theorie der Wissenssoziologie Frankfurt a M 232010 [engl EA 1966] 39

10 Vgl Lotman, Jurij M Die Innenwelt des Denkens Frankfurt a M 2010 Zi-tat: 165; vgl Geertz (1987) 99

11 Bachmann-Medick, Doris Cultural Turns: Neuorientierungen in den Kultur-wissenschaften 3 , neu bearbeitete Auflage Reinbek 2009 36

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narrative identität: erfahrung und erzählung

Sinne: sie begreift sie und erzeugt sie «12 Mit diesem Befund eng ver-bunden sind zwei weitere konstruktivistische Prä missen Zum einen folgt aus der Notwendigkeit, Erfahrung versprachlichen und kommu-nizieren zu müs sen, um zu einem Verständnis von Wirklichkeit zu ge-langen, dass Sprache gemeinschaftsbildend wirkt Zum anderen wirkt dies auch auf die Konstitution des individuellen Selbst zurück

Es war Reinhart Koselleck, der sich eingehend mit der Reziprozität von Prozessen individueller und kollektiver Erfahrungsbildung ausein-andergesetzt hat 13 Er unterscheidet die strukturellen – zu ergänzen wä-ren die kulturellen14 – Rahmenbedingungen des Erfahrungshaushalts einer Gemeinschaft von zwei interdependenten Arten synchronen, kurz- und mittelfristigen Erfahrungs gewinns 15 Erstere unterliegen einem langfristig-dia chronen Wandlungsprozess und können nur in der (historiografi schen) Retrospektive er fasst werden, sind gleichwohl als »Hintergrunderfah rung« stets präsent Demgegenüber wird eine Primärerfah rung gemacht im Moment eines singulären, unwiederhol-baren Überraschungseffekts, der jedes Individuum für sich affiziert Erfahrung als »Ergebnis eines Akkumulationspro zes ses« dagegen re-sultiert aus den Schlüssen, die sich aus Konfrontationen mit wiederholt auf tretenden Ereignissen ziehen lassen Solche Lebenserfahrungen ma-chen, insoweit es sich um »mittelfristige Erfah rungsstabilisierun gen« handelt, be grenzte Antizipationen künftiger Entwicklungen möglich Gleichzeitig sind sie in erhöhtem Maße überindividuell wirksam und vor allem als sozial vermittelt und generationenspezifisch anzusehen 16

12 Berger / Luckmann (2010) 164; vgl ebd 37, 39 13 Vgl Koselleck, Reinhart ›Erfahrungsraum‹ und ›Erwartungshorizont‹ – zwei

historische Kategorien In: Ders Vergangene Zukunft: Zur Semantik ge-schichtlicher Zeiten 1989 349-375 354: »Erfahrung ist gegenwärtige Vergan-genheit, deren Ereignisse einverleibt worden sind und erinnert werden kön-nen Sowohl rationale Verarbeitung wie unbewußte Verhaltensweisen, die nicht oder nicht mehr im Wissen präsent sein müssen, schließen sich in der Erfahrung zusammen Ferner ist in der je eigenen Erfahrung, durch Generati-onen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben «

14 Mit Verweis auf Koselleck Brockmeier (1999) 30: Es gibt »keine menschliche Erfahrungswirklichkeit, die nicht durch das Geflecht sozialer und kultureller Bedeutungen vermittelt und bestimmt ist«

15 Vgl Koselleck, Reinhart Erfahrungswandel und Methodenwechsel: Eine his-torisch-anthropologische Skizze In: Ders Zeitschichten: Studien zur Histo-rik Frankfurt a M 2003 27-77; vgl bereits Ders Darstellung, Ereignis und Struktur In: Koselleck (1989) 144-157

16 Koselleck (2003) 34/35, 39; vgl Ders Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen In: Koselleck (1989) 130-143 132

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poetologie der narrative

Die Lebenserfahrungen ihrer Mitglieder fundieren das, was mit Aleida und Jan Assmann auch als kommunikatives Gedächtnis einer Gemein-schaft bezeichnet werden kann: einen »allein durch persönlich ver-bürgte und kommunizierte Erfahrung gebildete[n] Erinnerungs raum« 17

Sprache schafft Erfahrungsgemeinschaf ten, indem sie für die Be-wältigung von Wirk lichkeit »vorgeprägte Muster« bereitstellt und dadurch individuelle Erfahrungen sinnbildend typisiert 18 Erfahrungs-gemeinschaften als Sprachgemeinschaften mit ererbten Artikulati ons- und Aussagefähigkeiten und, eng damit zusammenhängend, mit einge-fleischten Denkweisen, Selbstbeschreibungen und Weltanschauungen sortie ren die Erfahrungsmöglichkeiten einerseits nach den verfügbaren »Vorgaben der Sprachbilder, der Metaphern, der Topoi, der Begriffe, der Textualisierung«19 und andererseits nach dem überlieferten Bündel aus ideologischen Traditionen; kurz: Es sind die geteilten kulturellen Wissensbestände, die Erfahrungsgemeinschaften konstituieren helfen

Erfahrung ist also ein vielschichtiges Gut, »weil sie sich jederzeit aus allem zusam mensetzt, was aus der Erinnerung des eigenen und aus dem Wissen um anderes Leben abruf bar ist« 20 So gesehen steckt die Summe der sprachlichen Objektivationen, die einem bestimmten Sektor der Le benswelt zu einem bestimmten Zeitpunkt zugeordnet werden kön-nen, nach Berger und Luckmann die Koordinaten eines »semantischen Feldes« ab; Koselleck spricht von sedimentären »Erfahrungsräumen« Hier findet die Aneignung und Auswertung von Wirklichkeit statt: »Im Rahmen semantischer Felder können biographische und histori-sche Erfahrungen objektiviert, bewahrt und angehäuft werden «21

17 Assmann, Jan Das kulturelle Gedächtnis: Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 52005 50 Die Funktion, Er fahrungs- und Wissensbestände über Generationen zu tradieren, kommt in diesem Modell dem auf langfristige Wirksamkeit angelegten kulturellen Gedächtnis zu; vgl Assmann, Aleida Erinnerungsräume: Formen und Wand-lungen des kulturellen Gedächtnisses München 2003 15: »[D]as Erfahrungs-gedächtnis der Zeitzeugen [muss], wenn es in Zukunft nicht verloren gehen soll, in ein kulturelles Gedächtnis der Nachwelt übersetzt werden « So gese-hen besteht zwischen Erfahrung und Erinnerung ein Wechselverhältnis: Er-fahrung geht Erinnerung stets voraus; gleichzeitig ist Erfahrung abhängig von den soziokulturellen ›Gedächtnisrahmen‹ (M Halbwachs), die sie präformie-ren (vgl Assmann, A [2003] 166, 177; Assmann, J [2005] 42)

18 Vgl Berger / Luckmann (2010) 41 19 Koselleck, Reinhart Erinnerungsschleusen und Erfahrungsschichten: Der

Einfluß der beiden Weltkriege auf das soziale Bewußtsein In: Koselleck (2003) 265-284 267

20 Koselleck (1989) 356 21 Berger / Luckmann (2010) 43

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narrative identität: erfahrung und erzählung

Erfahrungen sind stets als Erfah rungsgeschichten vermittelbar Die Präferenz für das Medium der Erzählung ergibt sich aus dem anthro-pologischen Grundbedürfnis nach Ordnung und Kohärenz, entfaltet als konsistentes sequenzielles Zeitgefüge 22 Dies hängt nach Koselleck eng zusammen mit der Art und Weise, wie das Bewusstsein Erlebnisse in Erfahrung transformiert 23 Das Individuum macht eine Primärerfah-rung aufgrund eines singulären Überraschungseffekts Die Verarbei-tung des Irritationsmoments setzt nun eine temporale Zäsur Das Er-lebnis wird dadurch zum Ereignis eines Erfahrungsgewinns entwickelt Dieser gründet »in jener minimalen zeitli chen Differenz zwischen Vor-her und Nachher […], welche im Rückblick eine Erfah rungsgeschichte konstituier[t]« Derselbe Sequenzierungsprozess kommt zum Tragen, wo es um die akkumulierte Lebenserfahrung eines Individuums geht: »Die minimale Zeitspanne des primären Erfahrungsgewinns dehnt sich dann zu Fristen, die ein Leben gliedern, umordnen oder stabilisieren «24 Aus dieser Annahme einer genuin narrativen ›Medialität‹ von Erfah-rung folgt einerseits: »Erst im Erzählen gewinnen vergangene Erfah-rungen ihre endgültige Ge stalt «25 Andererseits kann der Volkskundler Albrecht Lehmann zuspitzen: »Erfahrungen lassen sich nicht anders als erzählend vermitteln «26

Befunde der narrativen Psychologie stützen diese erfahrungsge-schichtlichen und kulturanthropologischen Thesen: »Erzählen ist die Konstruktion von Erfahrung als Modellierung des Gegebenen in Bezug auf das erlebende Ich «27 Die Fähigkeit, in Geschichten zu

22 Vgl ebd 68 23 Zum Begriff des ›Erlebnisses‹, das Erfahrung vorausgeht, vgl Visser, Gerard

Erlebnisdruck: Philosophie und Kunst im Bereich eines Übergangs und Unter-gangs Würzburg 2005 Dieser macht drei Bedeutungsebenen des Begriffs aus: das »Motiv der Unmittelbarkeit, daß man selbst dabei ist«, eine gewisse »Dauerhaftigkeit« des Eindrucks (»es handelt sich um etwas, das Bedeutung für den Lebenszusammenhang hat «) und schließlich »die Unmöglichkeit, den Gehalt des Erlebten mit rationalen Mitteln auszuschöpfen« (ebd 61/62)

24 Koselleck (2003) 34, 35 25 Rese, Friederike Erfahrung und Geschichte: Ein notwendiger Zusammen-

hang? In: Breyer, Thiemo / Creutz, Daniel (Hg ) Erfahrung und Geschichte: Historische Sinnbildung im Pränarrativen Berlin / New York 2010 111-131 112

26 Lehmann, Albrecht Reden über Erfahrung: Kulturwissenschaftliche Bewusst-seinsanalyse des Erzählens Berlin 2007 9

27 Boothe, Brigitte Die Biographie – ein Traum? Selbsthistorisierung im Zeit-alter der Psychoanalyse In: Straub, Jürgen (Hg ) Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Ge-schichte Frankfurt a M 1998 338-361 342