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Noroviren – ein Impfstoff muss erst entwickelt werden Friedrich Hofmann Im Oktober 1968 kam es zum ersten wissenschaftlich genau untersuchten Ausbruch der so genannten ‚Winter vomiting disease‘ in einer Volksschule in Norwalk, Ohio. Es war etwa die Ha ¨lfte der Schu ¨ler betroffen, die u ¨ber U ¨ belkeit, Erbrechen, Diarrhoe und Fieber klagten (Dolin et al., 1972). Da im Rahmen des Ausbruchs in der Umgebung 27% Sekunda ¨rfa ¨lle beobachtet wurden, schloss man auf die hohe Ansteckungsfa ¨higkeit des vermuteten Erregers, der schließlich von Albert Kapikian entdeckt wurde und heute als Norovirus bezeichnet wird. Dabei handelt es sich um ver- schiedene Genotypen eines zur Gat- tung Norwalk-Virus geho ¨renden unbe- hu ¨llten Calicivirus, das gegenu ¨ber Umwelteinflu ¨ssen a ¨hnlich resistent ist, wie vergleichbare RNA-Viren, so u.a. das Hepatitis-A- oder auch das Poliovirus. Von der seit 2001 in Deutschland meldepflichtigen Krank- heit werden ja ¨hrlich um die 100.000 Fa ¨lle mit bis zu 76 Todesfa ¨llen bekannt. Da humane Noroviren bisher nicht kultiviert werden ko ¨nnen und kein Tiermodell verfu ¨gbar ist, kann die Wirksamkeit von Desinfektionsmit- teln nicht direkt gegen diese Viren gepru ¨ft werden. Nimmt man 1.000 Viruskopien mit der Nahrung auf, liegt die Wahrscheinlichkeit, krank zu wer- den, bei 10%, wa ¨hrend es bei hundert Millionen Viren 70% sind. Da aber von den Erkrankten im Mittel pro Gramm Stuhl etwa 100 Milliarden Viren ausgeschieden werden, genu ¨gt ein Milligramm Stuhl, also eine win- zige Spur, um mit 70%iger Wahr- scheinlichkeit eine Erkrankung her- vorzurufen. Und eine solche Menge kann bei unachtsamer Behandlung und mangelnder Hygiene leicht in ein Lebensmittel geraten (o.A., 2013). Auch im Erbrochenen ist die Viruskonzentration mit durchschnitt- lich 10.000 Viren noch recht hoch. Die Virusausscheidung, und damit die An- steckungsfa ¨higkeit erlischt ha ¨ufig erst nach etwa 8 Wochen, obwohl sich die Betroffenen schon wochenlang wieder gesund fu ¨hlen. Im Jahre 2013 wurden in Deutschland 87.060 Fa ¨lle (2012: 112.854 Fa ¨lle) mit Norovirenbefall bekannt, wobei zwi- schen 2005 und 2011 12 bis 76 Todes- fa ¨lle pro Jahr registriert wurden (Bernard et al., 2014, o.A., 2014, Teunis et al., 2008). Frauen und a ¨ltere Menschen sind regelma ¨ßig ha ¨ufiger betroffen als Ma ¨nner und ju ¨ngere Per- sonen. Auf der einen Seite dominieren bei den Ausbru ¨chen, falls die jeweili- ge Ursache u ¨berhaupt bekannt wird, Kleinraum-Epidemien mit kontami- nierten Fru ¨chten als Erregervehikel. Auf der anderen Seite gibt es aber auch spektakula ¨re Ereignisse wie den gro ¨ßten Lebensmittel-assoziierten Ausbruch, der jemals in Deutschland beobachtet wurde. Er begann im Okto- ber 2012 v.a. in den Neuen Bundes- la ¨ndern und Kinderga ¨rten und Schulen als hauptsa ¨chlich betroffenen Einrich- tungen und erlosch erst Monate spa ¨ter. Als Ursache fu ¨r die bei Kindern, Schu ¨- lern und Lehrern beobachtete Gast- roenteritis konnte Erdbeerkompott mit aus China importierten Fru ¨chten identifiziert werden (o.A., 2012). Ebenso spektakula ¨r verlaufen jedes Jahr mehrere Ausbru ¨che auf Kreuz- fahrtschiffen, die regelma ¨ßig mit der Evakuierung der Passagiere enden, da der Erreger gegenu ¨ber diversen Des- infektionsmaßnahmen sehr resistent ist und deshalb Public Health-Maß- nahmen in ihrer Wirksamkeit sehr begrenzt sind. Aus diesem Grund mu ¨ssen sich alle Hoffnungen auf die Entwicklung einer wirkungsvollen Vakzine richten. Erste Ansa ¨tze mit hohen Serokonversionsraten, u ¨ber die ku ¨rzlich berichtet wurde, zeigen, dass dieser Weg durchaus Erfolg ver- sprechend zu sein scheint. 2010 wur- den die Ergebnisse der Entwicklung eines nasal zu applizierenden bivalen- ten Totimpfstoffs auf der Basis von Virus-like-particles (VLP) pra ¨sentiert (N = 77), bei der Challengeversuche mit Noroviruswildviren vorgenom- men wurden (El-Kamary et al., 2010). Wurde den Versuchspersonen nach der Impfung Norovirus verab- reicht, so bekamen 47% keine NV- Gastroenteritis und 26% keine Infektion. Im Jahr 2012 wurden die Resultate einer weiteren Studie (o.A., 2012) pra ¨- sentiert. Dabei handelte es sich um die Entwicklung eines bivalenten (i.m.) Tot- impfstoffs auf der Basis von Virus-like- particles (VLP) mit Monophos- phoryllipid A als Adjuvans. An der randominisierten, placebokontrollier- ten Doppelbildstudie nahmen 77 Im- pflinge (18 – 85 Jahre alt) teil. Die Impfung erfolgte an den Tagen 0 und 28, die Antiko ¨rpermessung an den Ta- gen 0, 7, 21, 28, 35 und 56 und der Antiko ¨rperanstieg je nach Altersgrup- pe war im Falle des Genotyps GI 1 118fach, 83fach bzw. 24fach und bei Genotyp GII4 49fach, 25fach bzw. 9fach. Bemerkenswert erschien die Tatsache, dass die Verabreichung der zweiten Dosis nicht mit einem wesent- lichen Auffrischeffekt assoziiert war (Parra et al., 2012). Das du ¨rfte daran liegen, dass man im Leben schon so viele Norovirusinfektionen mitgemacht Public Health Forum 22 Heft 84 (2014) http://journals.elsevier.de/pubhef 22.e1

Noroviren – ein Impfstoff muss erst entwickelt werden

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Public Health Forum 22 Heft 84 (2014)http://journals.elsevier.de/pubhef

Noroviren – ein Impfstoff muss erst entwickelt werden

Friedrich Hofmann

Im Oktober 1968 kam es zum ersten

wissenschaftlich genau untersuchten

Ausbruch der so genannten ‚Winter

vomiting disease‘ in einer Volksschule

in Norwalk, Ohio. Es war etwa die

Halfte der Schuler betroffen, die

uber Ubelkeit, Erbrechen, Diarrhoe

und Fieber klagten (Dolin et al.,

1972). Da im Rahmen des Ausbruchs

in der Umgebung 27% Sekundarfalle

beobachtet wurden, schloss man auf

die hohe Ansteckungsfahigkeit des

vermuteten Erregers, der schließlich

von Albert Kapikian entdeckt wurde

und heute als Norovirus bezeichnet

wird. Dabei handelt es sich um ver-

schiedene Genotypen eines zur Gat-

tung Norwalk-Virus gehorenden unbe-

hullten Calicivirus, das gegenuber

Umwelteinflussen ahnlich resistent

ist, wie vergleichbare RNA-Viren, so

u.a. das Hepatitis-A- oder auch das

Poliovirus. Von der seit 2001 in

Deutschland meldepflichtigen Krank-

heit werden jahrlich um die 100.000

Falle mit bis zu 76 Todesfallen

bekannt.

Da humane Noroviren bisher nicht

kultiviert werden konnen und kein

Tiermodell verfugbar ist, kann die

Wirksamkeit von Desinfektionsmit-

teln nicht direkt gegen diese Viren

gepruft werden. Nimmt man 1.000

Viruskopienmit der Nahrung auf, liegt

die Wahrscheinlichkeit, krank zu wer-

den, bei 10%, wahrend es bei hundert

Millionen Viren 70% sind. Da aber

von den Erkrankten im Mittel pro

Gramm Stuhl etwa 100 Milliarden

Viren ausgeschieden werden, genugt

ein Milligramm Stuhl, also eine win-

zige Spur, um mit 70%iger Wahr-

scheinlichkeit eine Erkrankung her-

vorzurufen. Und eine solche Menge

kann bei unachtsamer Behandlung

und mangelnder Hygiene leicht in

ein Lebensmittel geraten (o.A.,

2013). Auch im Erbrochenen ist die

Viruskonzentration mit durchschnitt-

lich 10.000 Viren noch recht hoch. Die

Virusausscheidung, und damit die An-

steckungsfahigkeit erlischt haufig erst

nach etwa 8 Wochen, obwohl sich die

Betroffenen schonwochenlangwieder

gesund fuhlen.

Im Jahre 2013 wurden in Deutschland

87.060 Falle (2012: 112.854 Falle) mit

Norovirenbefall bekannt, wobei zwi-

schen 2005 und 2011 12 bis 76 Todes-

falle pro Jahr registriert wurden

(Bernard et al., 2014, o.A., 2014,

Teunis et al., 2008). Frauen und altere

Menschen sind regelmaßig haufiger

betroffen als Manner und jungere Per-

sonen. Auf der einen Seite dominieren

bei den Ausbruchen, falls die jeweili-

ge Ursache uberhaupt bekannt wird,

Kleinraum-Epidemien mit kontami-

nierten Fruchten als Erregervehikel.

Auf der anderen Seite gibt es aber

auch spektakulare Ereignisse wie den

großten Lebensmittel-assoziierten

Ausbruch, der jemals in Deutschland

beobachtet wurde. Er begann im Okto-

ber 2012 v.a. in den Neuen Bundes-

landern und Kindergarten und Schulen

als hauptsachlich betroffenen Einrich-

tungen und erlosch erst Monate spater.

Als Ursache fur die bei Kindern, Schu-

lern und Lehrern beobachtete Gast-

roenteritis konnte Erdbeerkompott

mit aus China importierten Fruchten

identifiziert werden (o.A., 2012).

Ebenso spektakular verlaufen jedes

Jahr mehrere Ausbruche auf Kreuz-

fahrtschiffen, die regelmaßig mit der

Evakuierung der Passagiere enden, da

der Erreger gegenuber diversen Des-

infektionsmaßnahmen sehr resistent

ist und deshalb Public Health-Maß-

nahmen in ihrer Wirksamkeit sehr

begrenzt sind. Aus diesem Grund

mussen sich alle Hoffnungen auf die

Entwicklung einer wirkungsvollen

Vakzine richten. Erste Ansatze mit

hohen Serokonversionsraten, uber

die kurzlich berichtet wurde, zeigen,

dass dieser Weg durchaus Erfolg ver-

sprechend zu sein scheint. 2010 wur-

den die Ergebnisse der Entwicklung

eines nasal zu applizierenden bivalen-

ten Totimpfstoffs auf der Basis von

Virus-like-particles (VLP) prasentiert

(N = 77), bei der Challengeversuche

mit Noroviruswildviren vorgenom-

men wurden (El-Kamary et al.,

2010). Wurde den Versuchspersonen

nach der Impfung Norovirus verab-

reicht, so bekamen 47% keine NV-

Gastroenteritis und 26% keine

Infektion.

Im Jahr 2012 wurden die Resultate

einer weiteren Studie (o.A., 2012) pra-

sentiert. Dabei handelte es sich um die

Entwicklungeinesbivalenten (i.m.)Tot-

impfstoffs auf der Basis von Virus-like-

particles (VLP) mit Monophos-

phoryllipid A als Adjuvans. An der

randominisierten, placebokontrollier-

ten Doppelbildstudie nahmen 77 Im-

pflinge (18 – 85 Jahre alt) teil. Die

Impfung erfolgte an den Tagen 0 und

28, die Antikorpermessung an den Ta-

gen 0, 7, 21, 28, 35 und 56 und der

Antikorperanstieg je nach Altersgrup-

pe war im Falle des Genotyps GI 1

118fach, 83fach bzw. 24fach und bei

Genotyp GII4 49fach, 25fach bzw.

9fach. Bemerkenswert erschien die

Tatsache, dass die Verabreichung der

zweiten Dosis nicht mit einem wesent-

lichen Auffrischeffekt assoziiert war

(Parra et al., 2012). Das durfte daran

liegen, dass man im Leben schon so

viele Norovirusinfektionen mitgemacht

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hat, dass eine Dosis Impfstoff fur die

Bildung einer genugend großen Anzahl

von Antikorpern ausreicht.

Zur weiteren Abklarung der Proble-

matik erscheinen groß angelegte Sero-

pravalenzstudien notwendig, um bei

verschiedenen Bevolkerungsgruppen

das Vorkommen (Pravalenz) vonAnti-

korpern im Serum zu messen und eine

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sachgerechte Impfempfehlung aus-

sprechen zu konnen.

Der Autor gibt als Gegenstand eines mogli-chen Interessenkonflikts vereinzelt vonPharmaunternehmen refinanzierte Vortrage(GSK, SPMSD, Takeda) an, die sich aufweniger als einen pro Jahr beschranken.

http://dx.doi.org/10.1016/j.phf.2014.07.009

Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Dr. med. habil.Friedrich HofmannBergische Universitat WuppertalFachbereich D – SicherheitstechnikLehrstuhl fur Arbeitsphysiologie,Arbeitsmedizin und InfektionsschutzGaußstraße 2042119 [email protected]

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Einleitung

Seit der ersten wissenschaftlich genauen Dokumentation der ‘winter vomiting disease’ mit den typischenMerkmalen einer

Gastroenteritis im Jahre 1968 und der wenig spater erfolgten Entdeckung des verantwortlichen Pathogens (heute als

Norovirus bezeichnet) hat man in zahlreichen Studien versucht, Praventionsmaßnahmen zu erforschen. 2010 wurden erste

Ergebnisse einer Studie zur Produktion eines Impfstoffs mit Hilfe virusartiger Partikel prasentiert, denen 2012 eine

weitere, ahnliche Untersuchung folgte. In dieser Arbeit sollen die Eigenschaften von Noroviren und die Ergebnisse der

Impfstoffstudien prasentiert werden.

Abstract

After the first scientific documentation of a ‚winter vomiting disease‘-outbreak in Norwalk, Ohio and the detection of the

causal agent many studies have been performed to establish effective preventive measures against Noro-Virus-infection. In

2010 first results of a successful vaccine trial using virus-like-particles were presented, followed by another vaccine-

development in 2012. In this communication data on properties of Noroviruses and results of vaccine trials are presented.

Schlusselworter:

Norovirus = Norovirus, Gastroenteritis = Gastroenteritis, Impfstoff = Vaccine

22.e3