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NOV./DEZ.11 Kombinationen

NOV./DEZ · 2017. 2. 21. · goner ebenso. Das Powercouple der Neuzeit heisst Trisha Yearwood und Garth Brooks – privat und berufl ich. Auch Johnny Cash, ... bieten Bessie Smith

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Page 1: NOV./DEZ · 2017. 2. 21. · goner ebenso. Das Powercouple der Neuzeit heisst Trisha Yearwood und Garth Brooks – privat und berufl ich. Auch Johnny Cash, ... bieten Bessie Smith

NOV./DEZ.11

Kombinationen

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EINSCHLAUFENDie Tage sind kurz geworden hier in der Stadt un-ter dem Himmel über Zürich. Bereits am Nach-mittag ist es draussen so düstern wie im Telefon-buchraum des Hauptpostamts. Im Hafen unten gehen die Lichter an, doch die scheinen nicht für mich, wie Don Gibson in «Sea of Heartbreak» bereits vor einem halben Jahrhundert sang. Was also tun, wenn die Nächte unendlich lang und einsam werden? Natürlich könnte man einfach in tropische Gegenden fl iegen und dann zwei Wochen später mit brezelfarbener Haut zurück-kehren. Man könnte sich das Fensterputzen ab-gewöhnen und stattdessen lernen, wie man Glas zersingt. Oder man könnte sich im Fachgeschäft für Bösewicht-Zubehör nach modischen Augen-klappen erkundigen. Oder bei eBay nach einem gebrauchten Kissen zum Befeuchten der Gum-mierung von Briefmarken suchen. Oder sich ein paar Gedanken darüber machen, was Menschen eigentlich dazu treibt, sich quadratische Teller und Fischbesteck zuzulegen.Könnte man tatsächlich alles tun, doch irgendwie muten diese Formen des kreativen Zeitvertreibs ziemlich altmodisch an. Eine moderne Alterna-tive dazu bietet nun Apple mit der sprachge-steuerten iPhone-Applikation namens Siri. Die clevere Software, eine Mischung aus virtueller Vorzimmerdame, digitalem Lexikon und bedie-nerfreundlichem Westentaschen-Orakel, kann nicht nur Restaurantreservationen vornehmen

Impressum Nº 09.11DER MUSIKZEITUNG LOOP 14. JAHRGANG

P.S./LOOP VerlagPostfach, 8026 ZürichTel. 044 240 44 25, Fax. …[email protected]

Verlag, Layout: Thierry Frochaux

Administration, Inserate: Manfred Müller

Redaktion: Philippe Amrein (amp), Benedikt Sartorius (bs), Koni Löpfe

Mitarbeit: Reto Aschwanden (ash), Yves Baer, Thomas Bohnet (tb),Pascal Cames (cam), Christoph Fellmann, Christian Gasser (cg), Michael Gasser (mig), Olivier Joliat, Nino Kühnis (nin), Hanspeter Künzler, Tony Lauber (tl), Susanne Loacker, Philipp Niederberger, David Sarasin, Markus Schneider, Martin Söhnlein

Druck: Rotaz AG, Schaffhausen

Das nächste LOOP erscheint am 15. DezemberRedaktions-/Anzeigenschluss: 8. Dezember

Titelbild: Loutallica (Anton Corbijn)

Ich will ein Abo: (Adresse)10 mal jährlich direkt im Briefkasten für 30 Franken (in der Schweiz).LOOP Musikzeitung, Langstrasse 64, Postfach, 8026 Zürich, Tel. 044 240 44 25, [email protected]

Betrifft: Antworten aus dem Plaudertäschchen

oder den User an wichtige Verabredungen er-innern, sondern auch Fragen beantworten. Und dieses Feature hilft einem dabei, unproduktive Zeit souverän totzuschlagen.Bei ein paar Testversuchen hat sich Siri bereits als erstklassige Sparringpartnerin erwiesen. So lieferte sie beispielsweise auf die Frage «Was ist eine Korrekturfahne?» eine bemerkenswer-te Antwort: «Olfaktorisch belastete Atemluft-emission nach dem Verzehr von TippEx-Flüssig-keit.» Nächste Frage: «Was versteht man unter Thaiboxen?» Antwort: «Billiglautsprecher aus Fernost.» Und gleich noch eine echte Knacknuss hinterher: «Woraus besteht meine Entourage?» «Aus Ninjas und einem als Trompeter getarnten Stehgeiger.» Ziemlich verblüffend, oder?Es müssen freilich nicht immer ausgepfriemelte Fragen von Weltniveau sein. Siri beantwortet einfach alles. «Gibt es Heideggers ‹Sein und Zeit› auch als Hörbuch?» «Nein.» «Ist Knoblauch tatsächlich der Ingwer des kleinen Mannes?» «Ja.» «Welches Auto trägt die unbeliebteste Mo-dellbezeichnung?» «Der VW Iltis.» Und das ist – mit Verlaub – natürlich alles korrekt.Aber während ich hier noch weitere Fragen ins postmoderne Plaudertäschchen spreche, können Sie, geschätze Leserinnen und Leser, ja mal einen Blick auf die nachfolgenden Seiten werfen. «Ist das eine gute Idee?» «Aberschosicher!»

Guido Gurkenheimer

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OUTLAW-ALTMEISTERThe Highwaymen waren die Supergroup des Country. Zehn Jahre lang machten Johnny Cash, Waylon Jennings, Willie Nelson und Kris Kristofferson gemeinsa-me Sache. Mit wechselndem Erfolg.Die Country-Szene hat eine lange Tradition eindrücklicher Paarungen. George Jones und Tammy Wynette haben Mu-sikgeschichte geschrieben, Dolly Parton und Porter Wa-goner ebenso. Das Powercouple der Neuzeit heisst Trisha Yearwood und Garth Brooks – privat und berufl ich.Auch Johnny Cash, der mit seiner Frau June Carter un-zählige Duette eingespielt hat, Waylon Jennings, der mit seiner Frau Jessi Colter auch einige Aufnahmen gemacht hat, Willie Nelson und Kris Kristofferson hatte es schon in allen möglichen Kombinationen gegeben: Willie Nelson und Waylon Jennings gründeten vor Urzeiten gemeinsam die Outlaw-Bewegung – ihr Song «Luckenbach, Texas» war das musikpolitische Credo einer ganzen Generation. Kris Kristofferson und Nelson, die ihre Herzdamen nie so öffentlich präsentierten wie die beiden Kollegen, waren die Komponisten des Soundtracks «Songwriter», und Jennings und Johnny Cash verbindet nicht nur eine lange Freund-schaft, sondern auch eine schier endlose Liste eingeschla-gener Türen, schrottreif geprügelter Fernsehgeräte und de-molierter Hotelzimmer.

VIER CHARAKTERSTIMMEN

Mitte der Achtzigerjahre kam vermutlich ein fi ndiger Plat-tenfi rmenboss auf die Idee, die vier Sänger, die damals an völlig unterschiedlichen Punkten in ihren Karrieren stan-den, zu einer Art Supergroup des Country zu vereinen. Ge-meinsam war zu diesem Zeitpunkt allen vieren, dass ihre Plattenverkäufe stagnierten. Es war eine mühsame Zeit für ernsthafte Sänger und Songschreiber: Von Nashville her schwappte das Crossover-Fieber herüber, die Texaner hat-

ten sich verausgabt und probten den musikalischen Rück-zug in die Nische, und es sollte noch eine Weile dauern, bis die Neo-Traditionalisten die Szene zwar nicht gerade neu aufmischen, aber immerhin von ein paar Kannen dünnem Milchkaffee befreien würden. Die vier gestandenen Musiker haben sich wohl gefreut wie die kleinen Jungs. Man kannte sich, mochte sich, schätzte sich und brauchte sich gegenseitig nichts zu beweisen. Als 1985 das erste Album erschien, hatte die Band noch nicht einmal einen Namen. Weil der Titelsong der CD aber ein Hit wurde, blieb man kurzerhand bei The Highwaymen. Immerhin klang der Begriff ein bisschen nach «Outlaw», einem Label, das den vieren schon immer gut gestanden hatte. Mit der CD wurden zwei Tatsachen augenfällig, die man sich mit ein bisschen gesundem Menschenverstand im Vorfeld schon hätte überlegen können: Diese vier Charak-terstimmen lassen sich nur schwer gemeinsam in Songs pfer-chen, und eigentlich kann ausser Willie Nelson auch nie-mand anständig zweite und dritte Stimmen singen. Weshalb auch? Zum Glück konnte man Billy Swan ins Studio holen – er kann das. Man mischte ihn freilich bis zur Unkenntlich-keit weit in den Hintergrund.Die meisten Songs auf den gemeinsamen CDs kommen in typischer 80er-Überproduktion daher, klebrig und mit ei-nem Schlagzeug, das sich nicht zwischen Skihütte und Stadi-onrock entscheiden kann. Die Songauswahl schwankt zwi-schen genial und medioker. Lee Claytons «Silver Stallion» scheint wie für die Highwaymen geschrieben, Guy Clarks «Desperadoes Waiting for a Train» ist nichts weniger als wunderschön. Billy Joe Shavers «Live Forever» bekommt eine fast biblische Weissagekraft, und «Songs That Made a Difference» – geschrieben von Johnny Cash – fasst zusam-men, wie alles angefangen hat. Peinlich hingegen sind die Versuche, das Quartett die Welt oder zumindest das Vater-land retten zu lassen. Doch jedes Mal, wenn für eine neue Strophe eine dieser vier Stimmen einsetzt, bekommt man Gänsehaut, auch wenn sie zum Teil Banales singen.

EINE LOGISTISCHE MEISTERLEISTUNG

Live hingegen war die Sache immer entschieden besser. Die gemeinsamen Tourneen waren auch regelmässig ausverkauft.

Die vier Herren taten das, was sie am liebsten taten: Sie sangen ihre Songs, mal miteinander, mal fürein-ander, ohne Machtkämpfe und Egokrämpfe. Wer die logistische Grossarbeit ge-leistet hat, Cash, Nelson, Jennings und Kristofferson terminmässig verbindlich zu koordinieren, weiss ich nicht. Eine Meisterleistung war es auf jeden Fall.1995 wurde die Gruppe offi ziell aufgelöst. Waylon Jennings starb 2002, John-ny Cash ein Jahr später. Willie Nelson tourt mit sei-ner Family Band, sein letzter Schweizer Auftritt in Basel war der beste, den er hier je geboten hat. Kris Kristoffer-son ist seit dem Tod seines langjährigen Weggefährten Stephen Bruton vor zwei Jahren nur noch solo unter-wegs und hat es geschafft, seine Songschreiberei immer aktuell zu halten. Würden sich die beiden heute noch einmal zusammentun, wür-den sie vermutlich mehr denn je Outlaws und High-waymen sein und der politi-schen Linken Amerikas eine bitter nötige Stimme geben, der notorische Kiffer und der ewige Kritiker. Vielleicht sollten sie es tun. Es wäre noch dringlicher als 1985.

Susanne Loacker

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Saisonpause bis Saisonpause bis Anfang März 2012Anfang März 2012

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GEMEINSAM STATT EINSAMWas macht ein gutes Duett aus? Welche Kombinationen funktionieren? Und ist die Liebe dabei nur ein Hindernis? Einblicke in die Geschichte des Duetts.Du’ett: Musikstück für zwei Singstimmen od. zwei gleiche Instrumentalstimmen ➜ Duo (ital. duetto, Gesang zu zweien; zu due, «zweien»). Das sagt das Deutsche Wörterbuch von Wahrig (1998). Womit die Begriffl ichkeit vorab geklärt wäre. Aber nun zum Eigentlichen. Die Rolle des Duetts in der Po-pulärmusik ist ziemlich undefi niert – sieht man mal davon ab, dass das Duett am schlagkräftigsten in der Mann-Frau-Kon-stellation wirkt. Ein frühes und wunderbares Beispiel dafür bieten Bessie Smith und Louis Armstrong auf dem «St. Louis Blues» von 1925. Ein nicht ganz korrektes Beispiel natür-lich, denn auf die gepeinigten Vocals der Sängerin antwortet Armstrong mit seiner Trompete. Doch der Amerikaner setzt sein Instrument – trotz Totenmarschtempo – so lebendig ein, dass zwischen den Protagonisten ein Zwiegespräch entsteht. Und das ist eine, wenn nicht die gewichtigste Voraussetzung für ein (gelungenes) Duett. So richtig ausser Mode geriet die Zweier-Kombination noch nie. Wohl, weil sie auch nie völlig «in» war. Das Duett ist eher ein zwischenzeitliches Phäno-men, auf vieles angelegt, aber nicht auf Dauer. Zwei Stim-men, ein Lied: schön. Zwei Stimmen, eine Platte: wunderbar. Zwei Stimmen, ein ganzes (Lebens-)Werk: unvorstellbar.Selbst die Zusammenarbeit von Robert Plant und Bluegrasse-rin Alison Krauss ist nach «Raising Sand», obwohl mit fünf Grammys überschüttet, bereits wieder vorbei. Und auch die derzeit vielleicht erfolgreichste Duett-Kombination, beste-hend aus Isobel Campbell und Mark Lanegan, scheint nach drei gemeinsamen Platten so gut wie ausgeschöpft – zumin-dest in künstlerischer Hinsicht. Auch auf ihrem letzten Werk «Hawk» (2010) funktioniert die Mischung aus Elfe meets Brummbär eigentlich noch prächtig, doch das Duo hat ge-sungen, was es für sie zu singen gibt. Alles andere wäre bloss Wiederholung. Von vorneweg auf ein einziges Album angelegt war das Zu-sammenkommen von Tom Waits und Crystal Gayle. Wie bei Campbell und Lanegan lebt ihr gemeinsames Wirken auf dem Coppola-Soundtrack «One from the Heart» von den Gegensätzlichkeiten: Da das Raubein, dort die Verfechterin des Schönklangs. Erstklassig.

NICHT MEHR ALS EIN LIED

Wenn eine Norah Jones (wie auf «...Featuring») oder Tony Bennett (wie auf «Duets: An American Classic» und «Duets II») einfach einen Gast nach dem anderen laden, entsteht – im Normalfall – hingegen keine tiefer schürfende oder voll lodernde Zusammenarbeit. Man ruft sich (oder die Marke-tingabteilung) an, trällert gemeinsam und geht wieder sei-ner Wege. Was nicht heissen soll, dass solche Einzelschüsse per se danebengehen müssen. So gastierten Wilco mit Spe-zialgast Feist vergangenen Juli bei David Letterman, ein Zusammentreffen relaxt wie eine Hängematte und hübsch wie eine Sommerliebe. Nicht minder empfehlenswert: Die Smithereens und Suzanne Vega, die auf «In a Lonely Place» gemeinsam die Einsamkeit besingen. Und Menschen mit Hang zu Sacharin und Sülze gehört «Let Me Go Love» von Michael McDonald und Nicolette Larson ans Herz gelegt, denn kitschiger geht nimmer.Wer schon mal Serge Gainsbourg mit France Galle «Les Su-cettes» gehört oder auf YouTube gesehen hat, spürt, welch heftige Spannung bei den Aufnahmen zwischen den beiden geherrscht haben muss. Des Franzosen wolfartiger Blick auf die Blondine spricht gleich mehrere Bände. Ohnehin, Gainsbourg: Die Sechzigerjahre-Duette mit seiner damali-gen Frau und Flamme Jane Birkin funktionieren bis heute. Ob das Gestöhne von «Je t’aime... moi non plus» oder das schummrige und selbstreferentielle «69 Année érotiques», beides sind Schwelbrände. Die Kollaborationen zwischen Marvin Gaye und Tam-mi Terrell klangen da schon braver, ihr turtelndes «Ain’t Nothing Like the Real Thing» ist Soul vom Süssesten, zwi-schen den Amerikanern herrscht eine unkonsumierte Liebe. Und eine tiefe Zuneigung, die sich nach Terrells Tod in Mar-vin Gayes Meisterwerk «What’s Going On» niederschlug.Nicht unerwähnt bleiben dürfen in diesem Zusammenhang natürlich auch Lee Hazlewood und seine Nancy Sinatra. Obwohl es sich dabei – aus Sinatras Sicht – in erster Li-nie um eine Arbeitsbeziehung handelte, schufen die beiden leichtfüssige Sixties-Klassiker wie «Jackson», «Lady Bird» oder «Some Velvet Morning». Sieht man mal von Gainsbourg und Birkin ab, fällt auf: Duettpartner (zumindest die genannten) haben Interesse aneinander, aber nichts anderes miteinander. Das hält die Spannung hoch und am Knistern. Wer vorhat, unter die Duett-Grössen vorzustossen, sollte sich das wohl besser erst mal hinter die Ohren schreiben.

Michael Gasser

mark lanegan, isobel campbell

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BÖSE BUBEN UNTER SICHDie Abkürzung Loutallica hat sich schon vor Veröffentlichung des gemeinsamen Albums von Lou Reed und Metallica eingebürgert. Inspiriert durch die Werke des Schriftstellers Frank Wedekind, ist das anderthalbstündige Werk dunkel, wild, blutig, abstossend, heavy und ziem-lich anspruchsvoll. Die fünf Beteiligten schwärmen von der Zusammenarbeit.Es war David Fricke, Chefredaktor des amerikanischen «Rolling Stone», der im Sommer das wohl bestgehütete musikalische Geheimnis des Jahres lüftete: Lou Reed und Metallica hatten zusammen ein Album eingespielt. Fricke war der erste Aussenstehende, der das Werk zu hören be-kam, und er beschrieb es als Mischung von Reeds «Berlin» und Metallicas «Master of Puppets». Ob Frickes eupho-risches Verdikt dem Urteil der Geschichte standzuhalten vermag, wird sich weisen; «Berlin» ist Reeds lange Zeit verkanntes Meisterwerk über die Beziehung zweier Junkies aus dem Jahr 1973, «Master of Puppets» gilt als das stilbil-dende Metal-Album der 80er-Jahre. Auf den ersten Blick erstaunt die Zusammenarbeit zwi-schen Lou Reed und Metallica. Reed ist ein Soundfana-tiker und Meister des gebändigten Krachs, der aus Protest gegen das kommerzielle Musikgeschäft 1974 mit «Metal Machine Music» ein ganzes Album mit Gitarrenfeedbacks veröffentlicht hatte. Unterdessen hat er die Rückkoppelun-gen derart im Griff, dass er sie wie im Song «Blind Rage» (2003) als Gitarrenstimme oder als Meditationen (2007, «Hudson River Wind Meditation») verwendet. Musika-lisch benutzen Metallica das Tempo und Soundvolumen, um ihre Songstrukturen zu erweitern. Metallica haben mit rund 100 Millionen verkauften Alben auch die breiten Massen erreicht, doch kaum jemand traut ihnen geistig an-spruchsvolle Musik zu. Lou Reed und Metallica? Ein auf den ersten Blick merkwürdiges Gespann. «Was soll merk-würdig sein an unserer Zusammenarbeit?», fragt Lou Reed rhetorisch auf der gemeinsamen Website loureedmetallica.com. «Eine Zusammenarbeit von Cher und Metallica wäre merkwürdig», insistiert Lou, «wir sind die einleuchtende Kollaboration!»

DAS JUBILÄUM

Im Oktober 2009 feierte die Rock’n’Roll-Hall-of-Fame ihren 25. Geburtstag. Einige der wichtigsten Rockgrössen nahmen am Jubiläumsanlass teil und musizierten in teils interessanten neuen Verbindungen: Bruce Springsteen mit Billy Joel, U2 mit Mick Jagger, Ozzy Osbourne mit Me-tallica. «Zuoberst auf unserer Liste stand Lou Reed», er-innert sich Lars Ulrich, «er ist meiner Meinung nach eine Art Ein-Mann-Version von Metallica. Er hat immer sein Ding durchgezogen und sich während Jahrzehnten immer wieder neu erfunden und dabei nicht nur sich, sondern auch die Fans herausgefordert.» Beim Hall-of-Fame-Fest-akt ging man auf Nummer sicher und spielte die Velvet-Underground-Klassiker «Sweet Jane» und «White Light/White Heat». «Von diesem Auftritt an wussten wir, dass

wir füreinander bestimmt waren», beschreibt Reed die Geburtsstunde von Loutallica. Gemeinsam verliessen sie den Madison Square Garden, und Reed schlug vor, etwas gemeinsam zu machen. Lars Ulrich erinnert sich, dass es zwischen den Müllcontainern und den Parkplätzen gewe-sen war. Man vereinbarte, dass man nach Abschluss der «Death Magnetic Tour» von Metallica ins Studio gehen würde. Geplant war, einige von Reeds Songs neu einzu-spielen. Songs, die Lars Ulrich als Lous verlorene Perlen bezeichnet und die nach Reeds Gefühl einen zweite Chance verdient hätten. «Zwei Wochen vor den Aufnahmen rief Lou an und sagte: Hör zu, ich habe diese andere Idee…»

DIE AUFERSTEHUNG DER ALTEN THEMEN

Diese andere Idee war die Adaption von Frank Wedekinds Stoff über die Femme fatale Lulu. Frank Wedekind wurde 1864 in Hannover geboren. Aus Protest gegen das neu ge-gründete preussisch-deutsche Reich siedelte seine Familie in die Schweiz über, sein Vater kaufte das Schloss Lenzburg. Wedekind liess sich 1896 in München nieder, wo er 1918 starb. Mit seinen gesellschaftskritischen Stücken gehörte Wedekind zu den meistgespielten Dramatikern seiner Zeit – und gleichzeitig zu den umstrittensten. In «Frühlingserwa-chen» und «Lulu» wandte er sich gegen schulische Dressur, bürgerliche Scheinheiligkeit und Prüderie. Aufgrund der sa-domasochistischen Motive wurde «Frühlingserwachen» oft mit einem Aufführverbot belegt. Die sadomasochistischen Motive tauchen auch in Lou Reeds Musik auf, beispielswei-se im Song «Venus In Furs» von 1966, der von Leopold Sa-cher Masochs gleichnamigem Buch inspiriert worden war. Massentauglich war Lou Reed auch nach Velvet Under-ground selten, auch wenn seine besseren Alben mittlerwei-le Klassikerstatus haben. Für Reed enttäuschend war die Veröffentlichung von «Berlin», das in seinen Augen sein Meisterwerk war. Zunächst zwang ihn die Plattenfi rma, das geplante Doppelalbum auf ein einzelnes zu reduzieren, danach war das Album zu radikal. Die verprügelte Caro-line, die sich im Drogenelend prostituiert und deswegen das Sorgerecht für die Kinder verliert und danach Suizid begeht, war der Kontrapunkt zur Flower-Power-Bewegung. Reed war mehr als ein Vierteljahrhundert verbittert über die Missachtung von «Berlin». Erst 2006 führte er das ge-samte Album live auf und ging auf Tour. 2008 führte er sein schwer verdauliches Werk im Zürcher Hallenstadion auf, und manch einer fragte sich, ob Lou Reed nochmals derart explizit werden würde. Er wurde es: Zwar beginnen das Album und der Song «Brandenburg Gate» mit den Klängen einer akustischen Gitarre, doch sobald Reed zu singen beginnt, wird jedem klar, was es geschlagen hat: «I would cut my legs and tits off / When I think of Boris Karloff and Kinski / In the dark of the moon». Die Referenz zum Albumcover mit der ver-stümmelten Schaufensterpuppe und der blutigen Schrift ist hergestellt. Die Texte von «Lulu» sind die krassesten von Lou Reed, der schon Manches in seinen Songs und auch im Leben ausgelotet hat. Zu den schon früher besungenen Drogen- und Sex-Eskapaden beschreibt er nun die Spielar-ten des Sadomasochismus von Flagellation über Fisting bis hin zum Sex mit Exkrementen. Für «Lulu» liess sich Lou Reed von Wedekinds Dramen «Erdgeist» und «Die Büchse der Pandora» inspirieren, welche die Geschichte der jungen, missbrauchten Tänzerin Lulu und ihrer Beziehungen erzählen. Es ist die Geschich-te einer schönen Frau, die Männer in den Abgrund reisst, bis sie selber ruiniert ist. Seit ihrer Publikation Anfang des 20. Jahrhunderts waren Wedekinds Theaterstücke immer wieder Inspiration, beispielsweise für einen Stummfi lm

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(«Pandora’s Box», 1929) oder eine Oper von Alban Berg. Die Lyrics und die musikalische Landschaft hatte Reed für eine The-ateradaption von Robert Wilson skizziert, die im No-vember in Paris aufgeführt wird. Zusammen mit seiner Frau Laurie Anderson erar-beitete Reed die Psyche von Lulu. «Wir versuchten, sie mit Rock zum Leben zu er-wecken. Es musste der här-teste Power Rock sein, und so war die Lösung Metalli-ca. Wir spielten zusammen, und ich wusste: ein Traum wird wahr.»Für Metallica wurde die Zuammenarbeit zur Ho-rizonterweiterung: zum ersten Mal machten sie Musik zu Texten und nicht

umgekehrt. «Wir waren sehr gespannt auf die Zusammen-arbeit», ergänzt James Hetfi eld. «Nachdem wir die Skizze zu Lulu erhalten hatten, konnten sich Lars und ich darin verbeissen. Ich konnte meinen Sänger- und Lyrikerhut ab-legen und mich voll auf die Musik konzentrieren.» «Lou verwendet andere Worte. James würde nie den Ausdruck Achselhöhle verwenden. Und nun ist es eine meiner liebs-ten Stellen auf dem Album», fügt Lars Ulrich an.

AUSSERHALB DER KOMFORTZONE

Die Aufnahmen fanden im Mai dieses Jahres im Studio von Metallica in San Raffael in Kalifornien statt. «Mit dem neuen Material konnten wir wirklich mit Lou zusammen-arbeiten», erzählt Kirk Hammet. Er nennt es eine Übung in Spontaneität und Improvisation. «Es gab Momente, die konnten wir kein zweites Mal erzeugen.» Für Lulu muss-ten Metallica ihre Komfortzone verlassen. «Wir wurden in eine Situation ohne Strukturen gebracht. Wir mussten das Rad komplett neu erfi nden», erinnert sich Lars Ulrich. «Wir versuchten über die Jahre, uns in einigen Instrumen-talstücken so weit wie möglich aus dem Fenster zu lehnen, aber nichts, was wir zuvor gemacht hatten, hat uns auf das vorbereitet, was mit Lou passieren sollte. Es war eine intu-

itive und impulsive Reise. Wir wussten längst nicht immer, wohin uns das führen würde, aber es war eine aufregende Zeit.» Als Lou mit dem Song «Junior Dad» begann, ver-liess Kirk Hammet auf einmal das Studio und zog sich in die Küche zurück. Für sich alleine, konnte er seine Tränen nicht mehr zurückhalten und heulte. Hammets Vater war ein paar Wochen zuvor verstorben, und die Sentimentalität in Reeds Song löste den Gefühlsausbruch aus. Doch nicht nur bei ihm, ein paar Minuten später kam Hetfi eld in die Küche und begann ebenfalls zu weinen. Lou folgte ihm und meinte bloss über den Song: «That’s a good one, huh?» Auf die Frage, ob «Lulu» eine Reise ins Herz der Dunkel-heit sei, meint Reed, dass es eher eine Reise zur Erleuchtung sei. Bassist Robert Trujillo präzisiert: «Es kann verstörend sein, gleichzeitig aber auch wunderschön.» Kirk Hammet stellt klar, dass «Lulu» weder ein Metallica- noch ein Lou-Reed-Album ist. «Niemand in der Heavy-Metal-Welt hat je etwas vergleichbares gemacht.» «Lulu» setzt dort ein, wo «Berlin» aufgehört hat. «Es ist das beste, was ich je gemacht habe», sagt Lou Reed. «Und ich spielte es mit der besten Band der Welt ein.»

Yves Baer

Lou Reed & Metallica: «Lulu» (Mercury/Universal)

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SZENE

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Fr. 11.11. ,MIL�*ZW\PMZ[�(CH) Death Blues

Do. 24.11. 8I\ZQKS�?WTN�(UK) Pop, Indie

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IMPERIALE SCHÖNHEITDie beiden HipHop-Grossmeister Jay-Z und Kanye West haben sich für das Album «Watch the Throne» zusammengetan. Was von diesem Werk aus der Schwer-gewichtsklasse zu halten ist, bleibt trotz grosser Erfolge eher fraglich.Die Verbindung hochgradig bekannter Künstler führt nicht notwenig zur sachdienlichen Bündelung der Kräfte. Die Kläglichkeits-Quote unter solchen – ab drei Personen Su-pergroup genannten – Treffen ist sogar ziemlich hoch, wie Jaggers Superheavy gerade eindrucksvoll bestätigte. Mit «Watch the Throne» als Selbstläufer konnten Kanye West und Jay-Z also nicht rechnen. Auch Jay-Z selbst hatte ja 2002 mit seiner faul kalkulierten R. Kelly-Hustlercombo «Best of Both Worlds» bereits einschlägige Erfahrungen gesammelt. Aber man sollte natürlich schon darauf hinweisen, dass sich mit West und Jigga nicht einfach zwei HipHop-Stars verbündet haben, sondern die beiden dominierenden Figu-ren im US-Pop der letzten Dekade. Jay-Z hat dabei dem im redundanten Kommerz abstürzenden HipHop eine macht-volle Klassik geschenkt; West andererseits gelang nichts weniger, als die auch im Niedergang ungebremste Popula-rität des Genres zum Aufbruch in eine schillernd modernis-tische Popmusik zu nutzen.

ELDER STATESMAN & THRONFOLGER

So riskant vor dem trudelnden Genre-Hintergrund die roy-alistische Anmassung des Titels auch klingt: Es gibt tatsäch-lich ausser den Beatles niemanden, der Jay-Zs Bilanz von Spitzennotierungen übertrifft. Und seit seinem Rücktritt vom Rücktritt – 2003 wechselte er für drei Jahre aus der Kunst in die CEO-Position des Def-Jam-Labels – brilliert er zwar nicht mehr als Langstreckler, aber auf seinen Singles tönt er mit der Souveränität eines Elder Statesman. Aus-serdem hat er, auch dies Zeichen umsichtiger Herrschaft, schon vor dem Abgang Kanye West, der seine ersten Hits als Produzent von Jay-Z hatte, als Thronfolger aufgebaut. West beherrschte nicht nur ab 2005 den HipHop-Mainstream, er dehnte dessen Einfl ussbereich sogar aus: Davon spre-chen nicht nur erstaunliche 30 Grammy-Nominierungen, sondern auch seine Regentschaft über die Jahrescharts der Pop-Kritik. Einen solchen Erfolg fi ndet wiederum die notorisch miss-trauische HipHop-Szene nicht notwendig cool. Daher unter-streicht das beinahe einhellige Lob von «Watch the Throne» – von Mainstream-Medien wie dem britischen «Guardian» über die Indie-Online-Bibel Pitchfork bis zu den HipHop-Fachblättern wie «XXL» –, wie inspiriert und konzentriert Jay-Z und sein ehemaliger Protegé gearbeitet haben. Dass das Album zwischen Norwegen und Australien, Grossbri-tannien und den USA sogleich an die Chartsspitze vorstiess, versteht sich fast von selbst. Trotzdem vergisst mit gutem Grund kein Kritiker, eine ge-wisse Selbstherrlichkeit anzumahnen. Schliesslich reklamie-ren die beiden, in solider Überschreitung der genretypischen Grossmäuligkeit, praktisch das gesamte HipHop-Territo-rium für sich und zielen zugleich auf die Popgefi lde. Die Tracks pendeln zwischen megalomaner Old-School-Rappe-rei von Bling und Skills einerseits und andererseits modisch

zweifelndem Sensibilitätsgestus und Conscious-Raps zur Befi ndlichkeit der schwarzen Community. Mit grosser Ges-te haben sie sich eine stattliche Schar gestandener Produzen-tenfürsten wie Wu-Tang-Vorstand RZA und die Neptunes, die Oberfuturisten der Nullerjahre, eingeladen. Zugleich nehmen sie die Gunstbezeugungen von jungen Blogosphä-ren-Wilden wie Frank Ocean entgegen, der als grossartiger R&B-Flügel der manischen Odd Future Crew die Zukunft des Genres umreisst.

DROHEND, DUNKEL, KNIRSCHEND

Als solche braucht man wohl weder Jay-Z noch Kanye West betrachten. Jay-Zs Qualitäten liegen seit je nicht in stürmisch fantasievoller Eloquenz, sondern in einer uner-schütterlich eindrucksvollen Autorität, die bei eher beiläufi g fantasierenden Leuten wie Tyler oder Lil B offenbar nicht mehr als höchstes künstlerisches Ziel gilt. Umgekehrt wirkt Kanye West nicht gerade als Sympathieträger, obwohl er mit seiner seltsam schiefen Mischung aus weinerlicher Missgunst und aggressiver Überheblichkeit immerhin das semantische Feld, narrativ wie von der Haltung her, vom Strassenkontext löste. Andererseits weiss er bei Gott einen coolen Beat zu schla-gen. Man höre nur, wie sich in der Album-Eröffnung eine prachtvolle Spannung zwischen einem drohenden, weich-beweglichen Bassriff, einer dunklen, trockenen Old-School-Housedrum und einem poppigen Refrain aufbaut; wie anderswo übellaunige Bässe auf hysterisch-synthetische Streicher treffen; oder ein schwer hallender Unterwasser-beat aus tiefster Bassdrum und statischem Knirschen unter einem minimalistischen Synthiepfeifen schwappt.

Es gibt tragisches Voco-dergreinen, Bläser, lustig quiekende Synthienerverei – und schöne Soulhop-Stre-cken aus Otis-Redding- und Curtis-Mayfield-Samples. Dazu spielen sich West und Jay-Z die Bälle zu und eh-ren ausladend Martin Lu-ther King, Malcolm X und Jesus oder sorgen sich lä-cherlich rührend um offen-bar geplanten Nachwuchs. Wobei Jay-Z, will ich ganz persönlich anfügen, in sei-nen besten Momenten auch ein Telefonbuch zum Leben errappen kann.Klar, dass derartiger Ehr-geiz auch mal übers Ziel hinausschiesst, und pers-pektivisch rettet «Watch the Throne» vermutlich weder HipHop noch Pop. Aber in seiner imperialen Schönheit hilft es mindestens dem Ruf illustrer Kollaborationen.

Markus Schneider

Kanye West & Jay-Z: «Watch the

Throne» (Def Jam/Universal)

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FREAK OUTIm 28. Bandjahr kapseln sich die Flaming Lips weiter in ihre Psychedelikwelten ab – mit Split-EPs mit Lightning Bolt, Neon Indian, Prefuse 73 und einem irren Sechs-Stunden-Song.One, two, three, four: Eine Stimme aus dem Nirgendwo zählt an, die Drumbox beginnt langsam zu scheppern, eine akustische Gitarre schrammt verhallt, und die dunkle Ballade des Nasa-Arbeiters, der seine Schicht auf Acid schiebt, nimmt ihren Lauf. Stimmen erscheinen, Cymbals kreischen, der Trip wird verschärft, ehe er explodiert. Was nun folgt, ist Lärm. Zermarternder, euphorischer, ausufernder Lärm, gespielt von zwei Gestalten, die zu den Fixpunkten in der amerikanischen Free-Noise-Landschaft gehören. Natürlich folgt nach der frenetischen Hochgeschwindigkeits-Lärm-Einlage die Implosion, der Blues in diesem achtminü-tigen Stück Musik, das den Titel «I’m Working at NASA on Acid» trägt und die Gemeinschafts-EP der Flaming Lips mit dem Duo Lightning Bolt eröffnet.«I just thought these guys were freaks», antwortet der 50-jäh-rige Lips-Guru Wayne Coyne auf die Frage, wie die Zusam-menarbeit zwischen den beiden Bands zustande gekommen ist. Und so fuhr Coyne zu einem Lightning-Bolt-Konzert in seiner Heimatstadt Oklahoma City, um die freien Losdre-scher aus Providence, Rhode Island bei einem Soundcheck aufzunehmen. Zurück im Studio, schnipselten die Flaming Lips am Lightning-Bolt-Jam herum, integrierten die Sound-spuren in ihre Songs oder spielten frei über diese. Entstanden ist eine EP, die als dritte von vier geplanten Split-EPs im Som-mer 2011 in streng limitierter Aufl age auf Vinyl erschienen ist.

ACIDGETRÄNKTE SOUNDS

Die Kollaboration zwischen den Flaming Lips, die noch vor fünf Jahren die süssesten, abgründigsten und verführerischs-ten Pop-Melodien kreierten, und Lightning Bolt erstaunt allerdings nur auf den ersten Blick: 2009 veröffentlichten die Flaming Lips ihr grosses, fi ebriges Album «Embryonic», eine dunkle, auf Jamsessions basierende Platte, die mehr mit dem Hexengebräu eines Miles Davis und düsterem Kraut-rock als mit scheinbar unschuldigem Pop zu tun hatte. Mit «Embryonic» verabschiedete sich die Band von der erfolg-

reichen, wunderbaren Konfetti-Welt und zog in rauschhafte Albtraum-Landschaften weiter. Die Platte pfl egt den offe-nen Zugang und enthält da eine komplizierte Formel eines deutschen Mathematikers, dort ein tierisches Glucksen der Yeah-Yeah-Yeah-Sängerin Karen O. Durch den durchgehen-den acidgetränkten Ton und die hallenden Schlagzeugeffekte erhält die Platte allerdings eine schliessende Klammer. Diese Soundmerkmale der «Embryonic»-Lips sind nun auch auf der Lightning-Bolt-EP wieder zu fi nden, die weitere heil-los übersteuerte Tracks wie «I Want to Get High, But I Don’t Want Brain Damage» enthält. Freilich, das ist Stoff für das Liebhaberherz, zumal die EP auch auf das Frühwerk der furchtlosen Freaks in den Achtzigerjahren zurückweist, als sie mit Gitarren und dem Coyne’schen Irrsinn eine ähnliche, wenn auch weit weniger weltallselige Horror-LSD-Ästhetik pfl egten.

UNRUHIGES WELTALL

Zurückgenommener erscheint da die EP, welche die Lips diesen Frühling mit dem jungen Elektro-Heimwerker Alan Palomo alias Neon Indian veröffentlichten. Auch Palomo ist seit seinem scheu-liebevollen Track «Should Have Taken Acid With You» ein LSD-Träumer und ergänzt die pochen-den Beatboxes und verzerrten Gitarren mit Theremins und elektronischen Schallwellen. Kryptische Fragen wie «Is Da-vid Bowie Dying?» im verlorenen Eröffnungssong bleiben natürlich unbeantwortet, es bleibt aber das einzige Lied, das sich einigermassen einfangen lässt. Was folgt, ist instrumen-tales Blubbern in «Alan’s Theremin», beissende Synthesizer, Wayne Coynes Stimme im leeren Raum und eine Rhythmus-schlaufe, die weiter Richtung Weltall deutet. Dort bewegten sich bereits auf der ersten Split-EP mit dem Warp-Elektroniker Prefuse 73 schwere Sterne und ein Super-Mond unruhig hin und her zwischen Sphärenmusik, ent-fesselten Trommeln und Klangspielereien, die an die Freak-Outs der japanischen Boredoms erinnern. Abseits der EPs – eine weitere mit dem Animal-Collective-Mitglied Panda Bear oder mit Nick Cave soll die Reihe komplettieren – erscheinen die Flaming Lips noch weiter ab-gekapselt von den handelsüblichen Song- und Verkaufsfor-maten: Vier neue Songs luden sie auf einen UBS-Stick, der in einem essbaren Gummitotenschädel steckte – und den sechs-stündigen Track «Found a Star on the Ground» gibt es mit einem Flaming-Lips-Stroboskop-Set zu kaufen. Das nächste Projekt von Wayne Coyne und seinen Kollegen ist derweil ein 24-Stunden-Song. One, two, three, four?

Benedikt Sartorius

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DER BEATLE & DER KINGIn den Achtzigerjahren landeten der frühere Beatle Paul McCartney und der spätere «King of Pop» Michael Jackson zwei Duett-Hits. Danach kühlte sich ihr Verhältnis jedoch merklich ab – aus verständlichen Gründen.Die Fistelstimme hätte er eigentlich er-kennen müssen, doch als Paul McCartney an Weihnachten 1981 den Telefonhörer abhob, klingelte bei ihm erst einmal gar nichts. Er hörte zwar eine «little voice», die einem «Michael» zu gehören schien, doch hielt er das ganze für einen Scherz. «Micha-el who?» – «Michael Jackson. You wanna make some hits?»Um McCartneys Karriere stand es damals nicht besonders gut. Die Siebzigerjahre hatte er mit den Wings vertrödelt, und sein zweites Soloalbum – der zwar sympathi-sche, aber letztlich misslungene Versuch, Anschluss an New Wave und Punk zu fi n-den – war kein grosser Erfolg. Dem erst 23-jährigen Michael Jackson aber schien die Zukunft zu gehören. Man munkelte, dass er zusammen mit Quincy Jones bald den ganz grossen Coup landen würde. Der umgängliche McCartney liess sich jedenfalls gerne überre-den und lud Jackson auf seinen Bauernhof in Sussex ein. Michael Jackson befand sich zu jener Zeit auf dem Zenit seiner Kreativität. Die Lieder, die er McCartney präsen-tierte, waren von Quincy Jones stilsicher ausgewählt. Der Ex-Beatle entschied sich für einen Song, dessen Arbeitstitel «What’s on Your Mind» lautete und der später als «The Girl Is Mine» auf dem Jahrhundertalbum «Thriller» er-scheinen sollte. Mit dem Duett war Paul McCartney auf den Geschmack gekommen. Er sollte in Zukunft noch mehrmals hofi ert werden. «Ebony and Ivory» mit Stevie Wonder wurde eben-so ein weltweiter Hit wie die zweite, von George Martin produzierte Jackson-Kollaboration «Say, Say, Say». Der Song entstand während der Aufnahmen zu McCartneys «Tug of War», erschien dann allerdings erst ein Jahr später auf «Pipes of Peace». Michael Jackson er-reichte damit seinen siebten Nummer-eins-Hit innerhalb eines Jahres und zementierte so seinen Ruf als «King of Pop».

DER STREIT UM DIE SONGRECHTE

Anfänglich schien das Verhältnis zwi-schen McCartney und Jackson recht ent-spannt – allerdings hatten die beiden eine unterschiedliche Auffassung von Humor. Als Jackson etwa McCartney eröffnete, er spiele mit dem Gedanken, die Rechte an den Beatles-Songs zu kaufen, musste die-ser herzhaft lachen. Als es später um die Ersteigerung dieser Rechte ging, fand er es allerdings nicht mehr so lustig. «Als wir mit den Beatles anfi ngen, wussten wir gar

nicht, dass man Lieder überhaupt besitzen kann», erinnerte er sich später. «Wir dachten, die hingen da einfach so am Himmel und gehörten allen.» Die Beatles-Songs hatten zu jenem Zeitpunkt allerdings schon eine regelrechte Odyssee hinter sich, und Paul Mc-Cartney scheiterte offenbar immer wieder an seiner An-ständigkeit. «Ich hielt es für unfair, allein die Rechte an den Beatles-Songs zu erwerben. Schliesslich war John Lennons Anteil daran genauso gross wie meiner.» McCartney nahm also Kontakt mit Yoko Ono auf und bot ihr an, die Rechte

zu gleichen Anteilen gemeinsam zu kaufen. «Ihr Wert wurde damals auf etwa 20 Mil-lionen Dollar geschätzt, und ich schlug vor, dass wir uns die Summe teilen.» Yoko Ono ging allerdings nicht darauf ein, weil sie da-von ausging, dass die bekanntesten Lieder der Welt für viel weniger zu haben seien, nämlich für 5 Millionen Dollar.Michael Jackson bezahlte schliesslich 50 Millionen Dollar dafür. McCartney betonte zwar immer wieder, dass dies Jacksons gu-tes Recht gewesen sei, dennoch kühlte sich die Beziehung in der Folge spürbar ab. Vor allem Jacksons Entscheidung, einige der Songs für die Werbung freizugeben, stiess dem Ex-Beatle sauer auf. «Buddy Holly hat schon zu Lebzeiten Songs für die Werbung gemacht, damit habe ich kein Problem. Doch die Beatles haben immer abgelehnt, obwohl uns Unsummen dafür angeboten wurden.» Apple Music hat schliesslich ge-gen die Verwendung von «Revolution» in einer Nike-Werbung geklagt.

Dem Gerücht nach ist Paul McCartney übrigens an die-sem Verlauf der Dinge nicht ganz unschuldig. Während den Aufnahmen zu «Say, Say, Say» in den Abbey Road Studios beherbergte er Michael Jackson bei sich zu Hause. Eines Abends legte er nach dem Essen einen Aktenordner, der sämtliche von ihm publizierten Songs enthielt, auf den Tisch. «Jedes Mal, wenn ein Künstler einen Song von mir aufnimmt, bekomme ich Geld. Jedes Mal, wenn ein Radio-sender einen Song von mir spielt, bekomme ich Geld, Und jedes Mal, wenn einer meiner Songs öffentlich vorgetragen wird, bekomme ich Geld.» Bei Michael Jackson müssen diese Worte einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.

DAS DRITTE DUETT

Paul McCartney nahm mit Michael Jack-son übrigens einen dritten, weniger be-kannten Song auf. «The Man» erschien ebenfalls auf McCartney «Pipes of Peace» und geriet zu Recht in Vergessenheit. An-ders als «Say, Say, Say», das die deutliche Handschrift von McCartney trägt, ist «The Girl Is Mine» ein waschechter Jackson-Song. Er soll die Melodie und die Streicher-arrangements eines Nachts nacheinander in einen Kassettenrekorder gesungen haben. Die Inspiration dazu stammte von Quincy Jones, der seinen Schützling damit beauf-tragt hatte, einen Song über zwei Männer zu schreiben, die sich um dieselbe Frau streiten. Gestritten haben sie dann tatsäch-lich – wenn auch um etwas ganz anderes.

Martin Söhnlein

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VÖLLIG ENTHEMMTIn vier Tagen ein Album schreiben, auf-nehmen und mischen: Was als Bieridee begann, wurde Doppelvinyl. Und das nächste Album geht schon bald ins Presswerk. Gerade erst habe ich Duettpartnerin Jana Kouril einen Heiratsantrag gesungen, schon muss sie gehen. «Gabriel – oder?», verabschiedet sich Jana. Falsch, komplett – und doch so passend für das, was in den One Drop Studios abgeht. Fünfzehn Musikerinnen und Musiker von verschiedenen Bands und Stilrichtungen gehen hier ein und aus. Nicht einmal die Initianten Luc Montini und Olivier Joliat ken-nen alle. Beide haben 2010 je sieben Musikerinnen und Musiker angeschrieben mit der Frage, ob sie Lust auf vier Tage Bier und Musizieren hätten. Ziele gab es keine. Man wusste nicht, ob einfach nur durchgezecht würde, oder ob tatsächlich brauchbare Songs entstehen würden.

ZWISCHEN TANKSTELLE…

Nun, Bier wurde defi nitiv getrunken. Noch kräftiger spru-delten jedoch die Ideen. Als die letzten Musiker am Mon-tagmorgen um acht Uhr aus dem Studio krochen, waren neunzehn Songs fertig. Kaum einer nahm vom Ideen-Jam bis hin zur Aufnahme mehr als zwei Stunden in Anspruch, «Honky Tonk Motherfucker» gar nur eine. Und da Antho-ny Thomas den Song parallel zur Instrumental-Aufnahme einsang, bestand die grösste Schwierigkeit der überrasch-ten Musiker darin, vor lauter Lachen den abgehangenen Groove nicht zu verlieren.Jeder Song hat seine Geschichte, viele ein Chörli. Musste sein. Nicht jede Anekdote kann erzählt werden. Aber eini-ge «Off the record»-Schnipsel, die normalerweise sorgsam entsorgt werden, wurden beim Mischen stehen gelassen.Was vor den Aufnahmen an Ablauf besprochen wurde, waren eher Absichterklärungen. Irgendwer scherte immer aus. Und das ist gut so. Zu viele Songs werden in Bands zu Tode diskutiert. Die Session hier ist der Gegenpol. Hier werden aus spontanen Ideen verschiedener Musiker, die sich davor nicht kannten, Songs. Betrachtet man eine Band als innige Beziehung ohne Sex, dann ist das hier der kreati-ve Rudelbums. Völlig enthemmt versuchten sich die Musi-kerinnen und Musiker in neuen Rollen: Gitarristen spielten Schlagzeug, Posaunisten Klavier, und Schlagzeuger sangen.

…UND RAUCHERRAUM

Der eine Aufnahmeraum reichte dafür bei weitem nicht, und so wurde die Garage oberhalb des One Drop mit ei-ner 8-Spur-Bandmaschine zum Singer/Songwriter-Studio umgerüstet, während im Raucherraum die Elektroniker schraubten. Alle Soundspuren führten schliesslich zu Serge Krebs, der im Studio 2 einen Mixdown-Marathon bestritt.Es plärrte vier Tage lang aus vier Räumen. Am Ende wusste keiner mehr genau, wer nun wo was gespielt hatte. Glück-lich waren aber alle. Auch die Besitzer der benachbarten Tankstelle, deren Bierverkauf wohl erstmals den Zapfsäu-len-Umsatz überstieg. Dank Unterstützung vom Regio Sound Credit konnten wir die Songs als Doppelvinyl veröffentlichen. Digital gibt es sie nur als Download. Das Cover entstand natürlich auch

innerhalb der vier Tage. Als Hommage an Josh Hommes Desert Session, die uns zum Album inspi-rierte, nannten wir es: Des-sert Session – «All You Can Eat».

AUF IN DIE ZWEITE RUNDE

Satt wurden wir davon nicht. Ostern 2011 war es Zeit für die zweite Session. An der Grundidee, in vier Tagen ein Album zu sch-reiben, aufzunehmen und zu mischen, wollten Luc Montini und ich nichts än-dern. Zu berauschend war die Dessert Session, in jeder Hinsicht. Nur heisst das Projekt jetzt «The Weekend Session». Denn mit Josh Hommes Wüstenprojekt hat das, was in den One Drop Studios in Basel ab-geht, nicht viel gemein.Wir luden nur wenige Eck-pfeiler der ersten Ausgabe ein. Neue Musikerinnen und Musiker sollten andere Im-pulse und Klänge bringen. So wurden weniger Gitarris-ten, dafür mehr Bläser und Elektroniker eingeladen. Für Letztere richteten wir einen eigenen Aufnahmeraum ein, während Giacun Schmid den Warenlift zum Studio für Akustik-Aufnahmen umfunktionierte.Stilistisch ist das Spektrum noch breiter als bei der ers-ten Session: Gipsy-Folk, Garage-Trash, Seemann-Schwank, Stoner-Rock, Swamp-Blues, Broken-Beat und mit «Dance With Us» eine Disco-Hymne, die – ob-wohl eigentlich eher stupid und simpel – am meisten der 26 (!) Musikerinnen und Musiker vereint. Auch bei der Anzahl Songs wur-de der Score auf 23 erhöht. Um dem Gigantismus dieser Session auch bei der Plat-tentaufe gerecht zu werden, wird am 3. Februar 2012 die Kaserne Basel von drei Spielfl ächen aus beschallt.Was dann die nächste Ses-sion bringt? Mal sehen. Abseits des Bandgefüges ist alles möglich.

Text: Olivier JoliatBilder: Christoph Merkt

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SZENE

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SUBTILER MUSIZIERENMit «Lieder zum Schluss» hat Jan Graber Gedichte zum Thema Tod vertont. Warum er das Leben trotzdem geniesst und wer seine Konzerte besuchen sollte, sagt er im Interview. Ein Herbstnachmittag im Café Z am Park in Wiedikon. Die Sonne scheint milde durchs Laubwerk, Leuten trinken an den Tischen auf den Trottoirs Kaffee. Jan Graber er-scheint spät, lächelt und bestellt Cappuccino. Er trägt eine Lederjacke, seine grauen Haare sind zum Pferdeschwanz gebunden, an seinem Finger prangt ein schwarzer Ring. Graber spricht viel, nippt nur sporadisch an seinem Ge-tränk. Man würde nicht glauben, dass der Mann mit den freundlichen Augen ein Werk zum Thema Tod vertont hat, mit bedeutungsschwangerer Lyrik, anspielungsreich und dennoch karg.

Denkst Du oft über den Tod nach?Wahrscheinlich mehr als andere, ja.

Warum?Vielleicht ist es eine Art Gegenreaktion. Der Tod wird in unserer Gesellschaft tabuisiert. Viele Menschen wollen nicht glauben, dass wir alle eines Tages sterben werden. Ich will dieser Tendenz quasi entgegenmusizieren. Mich inter-essiert es mehr, über unsere Endlichkeit zu reden, als über Strategien, diese zu verdrängen. Die gibt es zur Genüge. Letztlich möchte ich auch einfach einen Kontrapunkt zur Spassgesellschaft setzen.

So etwas wie Black Metal für Erwachsene also?(Lacht) Das fi nde ich etwas gewagt. Black Metal lebt doch auch von der musikalischen Energie. Wir musizieren sub-tiler. Ausserdem wird im Black Metal viel über den Teufel

gesprochen – ein religiöses Konstrukt –, was ich bewusst unterlasse. Mir geht es um etwas Realeres, das echte Ende des Lebens. Doch was der Umgang mit gesellschaftlichen Tabus und deren Verarbeitung angeht, könntest du Recht haben. Es kann hilfreich sein, wenn man sich unangeneh-men Lebensaspekten stellt.

Was darf man von euren Konzerten erwarten? Im besten Fall können wir die Zuschauer emotional mit-reissen. Über den Tod zu sinnieren, kann etwas Befreiendes haben.

Das sollte doch auch bei der Gothic-Szene gut ankommen.Das haben wir zu Beginn auch gedacht. Dann hätten wir auch ein paar Platten mehr abgesetzt (lacht). Die Dark-Wave-Szene ist aber sehr dogmatisch, der musikalische Horizont der Anhänger begrenzt.

Wer soll sich dann die Platte anhören?Unsere Hörer müssen offen sein. Kürzlich waren zwei alte Damen an einem unserer Konzerte. Bei einem Stück lade ich jeweils eine Pumpgun durch. Ich dachte, dass die Damen rasch wieder verschwinden würden, doch sie haben bloss erwartungsfroh gelächelt. Super! Eine andere Zuschauerin musste den Saal aber verlassen, weil ihr die Lyrik zu nahe ging. Ein Zeichen, dass wir Leute berühren können. Die meisten Zuschauer verlassen den Saal aber erleichtert. Ich weiss nur nicht, ob sie erleichtert sind, dass die Show nicht so schlimm war wie befürchtet, oder ob sie es einfach toll gefunden haben (grinst).

Du hast die Texte von «Lieder zum Schluss» schon 2008 vertont, damals für das Projekt «Graber: Tod gesagt». Das stimmt. Ich wusste aber damals schon, dass ich mit meinen Gedichten noch etwas anderes anstellen möchte. Zusammen mit Martin Stricker, Boris Müller und Monic Mathys habe ich mich nun noch mal dran gewagt. Wir haben fast keine alten Bänder benutzt, das meiste neu ein-gespielt. Ein drittes Mal werde ich sie aber wohl nicht ver-tonen (lacht).

Gefällt dir die neue Platte besser?Alles ist viel schlanker ge-worden, ja. Ausserdem hat-ten mehr Leute Einfl uss auf das Ergebnis. Jeder Betei-ligte war sehr wichtig fürs Gelingen. Martin «Ain» Stri cker hat diesmal alle Stücke gesprochen, anders als bei «Tod gesagt», wo es verschiedene Sprecher gab. Ich glaube, die Platte ist jetzt wesentlich kohärenter, we-niger überladen.

Wird sich dein nächstes Projekt wie-der um den Tod drehen?Eher nicht. Ich könnte mir aber vorstellen etwas zum Thema Wahnsinn zu machen oder zum Thema Rausch. Mich interessieren die Extreme. Es ist vielleicht so etwas wie eine langgezo-gene Pubertät.

Interview: David SarasinBild: Corinne Koch

Das Album «Lieder zum Schluss»

erscheint am 31.10., klassisch auf Vi-

nyl oder als Gratis-Download mit Be-

zahlmöglichkeit auf www.liederzum-

schluss.com. Die Plattentaufe geht

am 31.10. ab 20.20h im El Lokal in

Zürich über die Bühne. Die Liveband

setzt sich zusammen aus Jan Gra-

ber (Gitarre), Martin «Ain» Stricker

(Stimme), Siro Müller (Schlagzeug)

und Monic Mathys (Bass).

martin «ain» stricker, monic mathys, jan graber (von links)

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DIE NEUEN PLATTEN

Blitzen TrapperAmerican Goldwing(Sub Pop/Irascible)

Erst eine für den Geist, nun eine fürs Gemüt: Nachdem Blitzen Trapper im ver-gangenen Jahr mit ihrer ziselierten und durchwegs überraschenden Platte «De-stroyer of the Void» begeis-terten, liefert das Quintett aus Portland, Oregon, jetzt deutlich Saftmöckigeres – womit sich die Truppe um Mastermind Eric Earley in erster Linie selbst einen Ge-fallen zu erweisen scheint. Wer die Fanforen-Beiträge zu Werk Nummer sechs liest, begegnet nämlich ge-ballter Enttäuschung. Dies, weil Blitzen Trapper plötz-lich einen wuchtigen statt feinen Sound hinlegen, eine Art klangliches Äquivalent zum Muscle Car der frühen Siebziger. Während sich das relaxte «Girl in a Coat» in ländlichem Country-Rock ergeht, orientieren sich Lieder wie «Might Find It Cheap» oder «Street Figh-ting Sun» eher an Macho-Rock-Formationen wie Grand Funk Railroad. Sprich: Deftige Gitarren-parts und bärtige Holzfäl-ler-Rhythmen, garniert mit ein paar pfauengleichen Glam-Ansätzen. Abgerun-det wird das Ganze durch astreine und von der Pedal Steel nach vorne gejaulte Country-Nummern. Ein Seventies-Revival wird mit «American Goldwing» wohl kaum angestrebt, zu deftig aufgetragen wirkt die rein rückwärts gewandte Musik. Aber Mensch, was für ein praller Spass!

mig.

Fatoumata DiawaraFatou(World Circuit)

Geboren in Côte d’Ivoire, aufgewachsen im südli-chen Mali, lebt Fatoumata Diawara heute in Paris. Sie ist jung, wunderhübsch und hat eine erfolgreiche Karriere als Model und Schauspielerin hinter sich. Ihre musikalische Karriere startete die charismatische 28-Jährige als Begleiterin der malischen Diva Oumou Sangaré. Auf ihrem De-bütalbum wird Fatou von Musikern wie Tony Allen am Schlagzeug, Toumani Diabaté an der Kora und John Paul Jones (!) am Bass begleitet. Die Stimmung ist beschwingt und etwas laidback. Als talentierte Sängerin, Songschreiberin und Gitarristin hat Diawa-ra einiges zu bieten, man höre sich bloss ihren sinnli-chen Gesang im bluesange-hauchten «Sonkolon» an, dann ihre Lobpreisungen an «Oumou» oder das lei-denschaftliche «Boloko», ihr Plädoyer gegen die Frauenbeschneidung. «Fa-tou» ist ein feiner Einstieg, ein beeindruckendes Album mit starken, einfach gehal-tenen, in der Wassoulou-Sprache gesungenen Songs. Diawaras klare Stimme klingt sinnlich kontrolliert und begleitet die hypnoti-schen Gitarrenparts per-fekt. Intensität kocht hier auf kleiner Flamme, was den besonderen Reiz dieses Albums ausmacht. Endlich wieder Musik, in die man versinken kann.

tl.

Real EstateDays(Domino/MV)

Die Zeit scheint eingefro-ren, zumindest verlang-samt, wenn Real Estate aus New Jersey ihre schim-mernden und verschla-fenen Gitarren in ihren Liedern schlaufen lassen. Man dreht nochmals eine Runde am Strand, blinzelt – wie vor Jahren bei Yo La Tengos «Summer Sun» – der goldenen und letzten Herbstsonne entgegen und weiss: Diese zehn Lieder der Band um Songschrei-ber/Sänger/Gitarrist Mar-tin Courtney und Matthew Mondanile (der mit seinen Kassettenheimaufnahmen unter dem Alias Ducktails ähnlich verhallte Kleinode für alle Lebenslagen kre-iert) werden das Dasein erträglich machen. «Days» ist ein Karrieresprung für die Band, die immer noch Kassetten-EPs produziert und nun ihr zweites Album auf Domino veröffentlichen darf. Die Platte verpackt – wie bereits das noch unaus-gefeiltere Debüt – scheue Gesänge, freundliche Me-lodien und unverkennbare Gitarrensounds in traum-hafte Lieder. Diese Lieder wollen nicht cool sein, nur lieb und herzlich, nicht aber niedlich oder vernied-lichend. Kurz: «Days» ist die Popsong-Sammlung der Saison. Mindestens.

bs.

Sound SurprisenUnsere Breitengrade erreichte die Cumbia erst im Lauf der Achtzigerjahre – ältere Semester erinnern sich an die be-rühmte Dampfl okomotive, die ab 1981 in Nescafé-Spots durch malerische lateinamerikanische Berglandschaften tuckerte und rauchte, und deren Stampfen und Keuchen sich perfekt mit dem Rhythmus dieser lüpfi gen Tanzmusik vermählte. «La Colegiala» wurde zum Hit, und Rodolfo y su Tipico tourten durch Europa und spielten ihren Hit gleich zwei- bis dreimal pro Abend. Die Cumbia war an-gekommen – doch die Umstände ihres Durchbruchs wur-den auch zu ihrem Fluch, denn sie wurde den Makel nicht los, Reklamemusik und deshalb denkbar unauthentisch zu sein. Es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass die Cum-bia im Vergleich zu vielen zentralamerikanischen und ka-ribischen Stilen etwas Gemächliches, ja Volkstümliches ausstrahlt: Der leicht verschleppt schleifende, perkussive «Chuck Chucka Chuck»-Rhythmus ist gemütlich und im-mer gut gelaunt, er zwingt einen nicht zum Tanzen, son-dern lädt einen freundlich dazu ein, dass man sich auch ohne die Beherrschung komplexer Tanzschritte auf dem Tanzboden bewegen darf. Wie die meisten lateinamerikanischen und karibischen Sti-le ist auch die Cumbia die Frucht der Verbindung von af-rikanischen, eingeborenen und spanischen Einfl üssen und gehört in die reiche Tradition, die sich während der spani-schen Kolonisierung zu entwickeln begann. Sie fand ihren ureigenen Sound aber erst, als Hohners Akkordeons auch Kolumbien erreichten. Dass die Cumbia mehr ist als Nescafé-Musik, beweist die Doppel-CD «The Original Sound of Cumbia» (Soundway), die sich im Kontext der aktuellen Cumbia-Renaissance sinnvollerweise auf die ersten dreissig Jahre der kommer-ziellen Cumbia-Aufnahmen konzentriert (1948 bis 1979). In diesen Jahren verbreitete die karibische Cumbia ihre Beschwörung vom süssen Leben an idyllischen Stränden zunächst im regenreichen Hochland Kolumbiens, ehe sie das ganze spanischsprachige Amerika eroberte. Die erste CD zeichnet die Anfänge der Cumbia auf, als sie auf Schel-lackplatten in Aufl agen von mehreren hundert Exemplaren gepresst und an ausgewählte ländliche Bars geschickt wur-den. Die zweite CD führt vor, wie die Cumbia sich öffnete, neue Stilelemente und Instrumente aufnahm und integrier-te. Die interessanten Variationen fi nden allerdings in einem vom gut gelaunten Rhythmus und dem dominierenden Akkordeon abgesteckten Rahmen statt. Die Cumbia ist in Bewegung. In allen lateinamerikanischen Ländern werden heute Cumbias aufgenommen, zum Teil mit eigenen Ausprägungen – von urbanen Stilen wie Tecno Cumbia und Cumbia Rapera in Mexico über die folklo-ristische Cumbia Andina in Bolivien bis zur schmalzigen Cumbia Romantica in Argentinien. Einen weiteren Ansatz wählte Frente Cumbiero aus Kolumbien, die im Rahmen eines Kulturaustauschs ihre treibenden Up-Tempo-Cumbi-as vom Dub-Pionier Mad Professor remixen liess. «Meets Mad Professor» (Vampisoul) ist ein nicht immer zwingen-der, aber doch munterer Clash, der vor allem eines deutlich macht: Das «Chuck Chucka Chuck» der Cumbia ist un-verwüstlich, und wir brauchen mehr davon.

Christian Gasser

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DIE NEUEN PLATTEN

Wooden ShjipsWest(Thrill Jockey)

Wem bewusstseinserwei-ternde Pillen zu teuer sind, der greife zu dieser Platte: Die bärtige Gesandtschaft aus Kalifornien um den Gi-tarristen und Echosänger Ripley Johnson formuliert auf «West» den zeitlosen Drogenrock mitsamt Wim-merorgel und Fuzz-Bass so repetitiv, so minimal und stur wie nur irgend-wie möglich. Dabei ist der musikalische Horizont der Wooden Shjips weit offen, bestand doch der ursprüng-liche Band-Plan darin, die Minimal-Music von Terry Riley oder John Cale mit primitivem Rock und im-provisatorischen Jazz- und Psych-Rock-Elementen kurzzuschliessen. In all den Jahren entwickelten sich die ursprünglichen Dilettanten zu einer um-werfenden Live-Band, die psychedelische Farbspek-tren explodieren und das Feedback auf der Suche nach dem ewigen Trip auf-heulen lässt. Dass die Woo-den Shjips bei all diesen Huldigungen an okkultes Hippietum und Teufels-Motorräder auch noch bleibende Songs wie das grossartig hingeworfene «Lazy Bones» auf die Reihe bekommen, freut den Hal-luzinierenden umso mehr.

bs.

The DoBoth Ways Open Jaws(Naïve/Indigo)

Das französisch-fi nnische Duo The Do war 2008, ne-ben Moriarty, die Überra-schungsband des Jahres in Frankreich. Stolze 150 000 Exemplare wurden vom Debüt «A Mouthful» ver-kauft. Erstaunlich, denn erstens ist das kein glatter Pop, und zweitens sang die Band nicht französisch, sondern englisch. The Do waren die erste französi-sche Band, die Platz 1 der französischen Charts er-reichte und nicht franzö-sisch singt.Sängerin Olivia B. Merila-thti und Multiinstrumen-talist Dan Levy legen nun nach, und mit etwas Ver-zögerung wird die zweite Platte nun auch hierzulan-de veröffentlicht. «Wir lie-ben es, eine Wurlitzer mit Vibraphon und dem Sound von klappernden Küchen-geräten zu mixen», sagen sie, und das wird hier auch gemacht. Ganz so überra-schend ist das zweite Al-bum natürlich nicht mehr. Mit «Gonna Be Sick» fi n-det sich zwar auch ein ve-ritabler Hit auf der Platte, insgesamt überzeugt mich das aber nicht so – obwohl gelungene Stücke wie «The Calendar», das hektische, tribalistische «Slippery Slope» oder die hübsche Ballade «Was it a Dream» die paar eher gewöhnlichen Tracks dominieren.

tb.

We Invented ParisWe Invented Paris(Spectacular Spectacular)

We Invented Paris sind die Band der Stunde. Ohne Un-terlass touren sie über den Kontinent – 80 Konzerte in einem Jahr – und haben auch schon ein paar klei-ne Hits, wie zum Beispiel «Iceberg», den es aber nur auf Konzerten zu kaufen gab. Strenggenommen sind WIP gar keine Band, son-dern ein Künstler-Kollektiv um den Basler Musiker Flavian Grabe. Das Debüt bietet jedem was: Da gibt es mit «A View that Al-most Kills» schrammeligen Rock‘n‘Roll, mit «Iceberg» romantischen Pop, wie man ihn vielleicht einer an-gesagten isländischen Band zutrauen würde und sogar Techno bei «More» – die ideale Zugabe, um den Eis-berg zum schmelzen brin-gen. WIP können Druck und Spannung erzeugen und sind absolut party- und demotauglich. Gegen Wallstreet demonstrieren und danach WIP hören würde passen, nicht nur musikalisch, nicht nur weil es Tanzmusik ist, sondern auch im Sinne des D.I.Y.-Konzepts. Kurioserweise interessiert sich Motor Music aus Deutschland für die Basler. Somit sind WIP gar keine Schweizer An-gelegenheit mehr und ein bisschen weniger Indie als gedacht. WIP haben einen Stein ins Wasser geworfen, der Kreise zieht. Logisch –bei diesem Potenzial musste es ja so kommen.

cam.

The SmithsDie Smiths haben keinen Stil begründet, keine Revolte ver-tont und kein Stadion gefüllt. Aber sie haben die vielleicht nobelste Aufgabe der Popmusik – nämlich, den Teenagern das Leben zu retten – noch etwas nobler erfüllt als jede an-dere Band der Geschichte. Ihre Songs, zwischen 1983 und 1987 der Leere zwischen Punk und Techno abgetrotzt, ge-hörten keiner Szene. Sie wandten sich an die, die nicht zur Minderheit der Post-Punks gehörten und nicht zur Mehr-heit der Synthie-Popper. Die Smiths waren wie der Besen-wagen, der nachts durchs Vergnügungsviertel fährt und die verlorenen Seelen aufnimmt. Fast unbemerkt neben der Wiederveröffentlichungswalze von Pink Floyd, sind eben die gut siebzig Songs der Smiths in einem kompakten Schächtelchen neu erschienen: «Com-plete» sammelt auf acht CDs oder LPs die vier regulären Alben, alle Singles sowie das Live-Album «Rank». Also das gesamte Vermächtnis von Morrissey (Gesang), John-ny Marr (Gitarre), Andy Rourke (Bass) und Mike Joyce (Schlagzeug).Wie er gern erzählte, kannte Morrissey sich aus mit sadis-tischen Lehrern und einsamen Samstagabenden. In seinen Liedern adelte er nun die pubertäre Tristesse, indem er sich in ihr verausgabte. Geschult an Oscar Wilde, feierte er sie als Teil des «Miserablism», also der britischen Lebensart. Das hiess auch, das Pathos und die Hysterie der Teenager ernst zu nehmen. Und sie in perfekt sitzenden Couplets von eleganter, strassennaher Schlagfertigkeit zu stilisieren: «I need advice, I need advice / Because nobody ever looks at me twice», hiess es dann. Oder: «There’s something against us / It’s not time / So goodbye.» So erzählten die Songs der Smiths vom Frust, ja, das aber im Tonfall der Erfüllung. Das ging solange gut, als Morrissey und Marr gemeinsam Songs schrieben. 1987 aber waren die Smiths schon Ge-schichte. Zwar hatten die Solokarrieren der beiden Song-schreiber durchaus ihre Momente. Aber keiner kam an die Jahre mit den Smiths heran, als sie als Lumpensammler durch die Strassen fuhren. Nur um festzustellen, dass ihnen Hunderttausende folgten.

Christoph Fellmann

The Smiths: «Complete» (Rhino/Warner)

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DIE NEUEN PLATTEN

SloveLe Danse(Pschent/Rough Trade)

Die beiden Franzosen Léo Hellden und Julien Barthe sind seit Jahren schon in verschiedenen Projekten wie Sweetlight oder Plai-sir de France aktiv waren. Slove nun ist ihr gemein-sames Projekt, das an der Schnittstelle von ins Ohr gehendem Indie-Pop und Electronic Music angesie-delt ist. Da mag man so-wohl Air als auch Phoenix, aber auch älteren French Wave oder den Post-Punk der frühen Achtziger als Einfl üsse heraushören. Der kleine Hit «Do We Need?» mit seiner Hookline und seinem dunklen Bass könn-te auch von Bauhaus, Ma-gazine oder Minimal Com-pact stammen. Anderes wie etwa «Le danse» erinnert dann eher an einen Bastard aus Phoenix und Air, «The Brightest» verrät House-Einfl üsse. Schön, dass die Herren dann auch mal noch eine Sängerin ranlässt – bei «Flash» etwa oder bei «Carte Postale», wo dann statt englisch auch mal französisch gesungen wird. Zwischendurch, bei «My Pop», darf es dann auch mal etwas experimenteller klingen, wenn eine Geige sägt.

tb.

Dakota SuiteThe Side of her Inexhaustible Heart (Glitterhouse/Irascible)

Glücklich wird Chris Hooson auf dieser Welt nicht mehr. Wer – wie das Oberhaupt von Dakota Suite – tiefste Schwermut in himmeltraurige Lieder fasst, leidet nicht erst seit gestern an Depressionen. Liedtitel wie «Becoming Less and Less» oder «Yes We Will Suffer» sagen vie-les, wenn nicht alles. Auch wenn man nicht immer vom Werk auf den Künst-ler schliessen sollte. Doch im Nachgang zur letztjäh-rigen Platte «Vallisa» mur-melte der Musiker von der «dunkelsten Phase» seines Lebens. Gebessert hat sich seither nichts, im Gegen-teil – was «The Side of her Inexhaustible Heart» zu einer zweischneidigen An-gelegenheit macht. So sehr man Hooson eine Gesun-dung wünschen würde, so verführerisch wirkt die ele-gische Pracht seiner Dun-kelheit. Das Doppelalbum widmet der Brite seiner Le-bensgefährtin Johanna, die täglich sein «Leben rettet». Hoosons Kompositionen sind zerklüftet und karg. Es ist ein Schwelgen in Moll, zelebriert mit Kammermu-sik und bröckelndem, aber seltenem Gesang. Geklotzt wird nie, bestenfalls ge-tupft. Wer für die morbiden Seiten des Lebens Verständ-nis hegt, wird unweigerlich in den Bann von Dakota Suite gezogen. Alle ande-ren werden bestenfalls den Kopf schütteln.

mig.

Bonnie ‘Prince’ BillyWolfroy Goes to Town(Domino/MV)

Er sei ein «monarch who rules over all that he sings», erzählt Bonnie ’Prince’ Billy im Song «New Whaling». Sein Königreich erweitert sich mit jeder neuen Zeile, jedem neuen Lied – und wahrscheinlich ist Will Oldham die einzige Person, die noch den Überblick über das ausufernde Reich seines Alias’ behalten kann. Oldhams neuster Streich «Wolfroy Goes to Town» enthält zehn Songs, die im Gegensatz zu den letzten beiden Bonnie-’Prince’-Alben «Beware» und «The Wonder Show of the World» wieder karger und stiller instrumentiert sind. Neben ständigen Mitarbei-tern wie Emmett Kelly und Shahzad Ismaily führt Old-ham mit der Sängerin An-gel Olsen eine neue Stimme in seinen Werkkatalog ein, die den in seinen Aussagen ungreifbaren Prinzen warm begleitet – und im Lied «Quail and Dumplings» mit drastischen Zeilen und expressivem Gestus aus dem intimen Rahmen ausbricht. Gegen Schluss stimmt Bonnie ’Prince’ Billy mit seiner kleinen Ge-folgschaft die stille Hymne «We Are Unhappy» an, die allen Verlassenen, Unglück-lichen und Ungesegneten in unfreundlichen Stunden helfen wird – ehe sich der Sänger in die Nacht zu-rückzieht. Wir bleiben allei-ne zurück, im Wissen, dass der Monarch sein Liedreich bald wieder erweitern wird.

bs.

ShilfIrgendwann waren sie einfach weg. Verschwunden von der Bildfl äche, ohne eine Abwesenheitsnotiz zu hinterlas-sen. Als Vermächtnis blieben einzig die beiden grossartigen Alben «Me» (2002) und «Out for Food» (2004) zurück, auf denen sich Shilf als Meister des gemächlichen, lyrisch präzisen und melodisch äusserst sachverständigen Song-writings verewigten. Die anschliessende Funkstille wurde lediglich von Sängerin Nadia Leonti mit dem Solowerk «Everyone/I» im Jahr 2009 kurz aufgehoben. Danach wurde die Sendepause fortgesetzt, und man befürchtete bereits den endgültigen Verlust einer der besten Schweizer Bands. Gut unterrichteten Quellen zufolge befanden sich Shilf allerdings bloss «auf Eis», hatten sich aber keineswegs aufgelöst.Doch nun, nach sieben Jahren in der Versenkung, gibt das Quartett mit dem dritten Longplayer «Walter» ein beein-druckendes Lebenszeichen von sich. Und darauf dominiert – wie man es sich erhofft hat – natürlich weiterhin eine durchdachte Fernweh-Americana, in deren weiten Gren-zen Bob und Neil ebenso Platz fi nden wie Alt.Country-Koryphäen vom Schlage eines Howe Gelb oder Jay Far-rar. Letzterer schwebt als eine Art Hausheiliger über dem Proberaum der Band, in dem der Grossteil des Comeback-Albums aufgenommen wurde. Dies manifestiert sich denn auch im Gesangsgestus von Hauptsongschreiber Lucas Mösch, obwohl sich hier durchaus auch weitere Einfl üsse wie beispielsweise Carl Wallinger (World Party) dechiffrie-ren liessen. Viel bemerkenswerter ist jedoch die stilistische Vielfalt, die sich dem Zuhörer offenbart. Ob nun sonniger Westcoast-Chorgesang im Hintergrund, ein meditatives Klimperklavier, Gospel-Passagen, schwärende Stromgitar-ren, eine sachte schwebende Pedal Steel oder gar eine un-aufgeregt durchs Klangbild säuselnde Querfl öte (!) – alles steht im Dienste der Songs, die ganz vorsichtig aus dem Nichts heraus konstruiert werden und sich als ewige Werte entpuppen.Bleibt zu hoffen, dass Shilf ihre drei herausragenden Alben dereinst als Werkausgabe im Schmuckschuber veröffent-lichen. Ich würde sie sofort bestellen – für mich und alle Menschen, die mir am Herzen liegen.

Philippe AmreinShilf: «Walter» (Satin Down/Irascible)

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DIE NEUEN PLATTEN

Anna TernheimThe Night Visitor(Universal)

Nicht zu überhören, dass Anna Ternheim nicht mehr in Schweden, sondern in den USA daheim ist. Wo ihre letzte Platte «Leaving on a Mayday» mitunter kühl und ruppig rockte, mischen sich auf «The Night Visitor» plötzlich Americana-Elemente unter den Sound. Da eine Man-doline, dort ein wüstenar-tiger Hintergrund, hier eine kojotengleich heulende Gi-tarre. Nicht weiter überra-schend, wenn man mal zur Kenntnis genommen hat, dass sich auf den Stücken altgediente Sessionleu-te aus Nashville wie Jack Clement oder Tim O’Brien tummeln. Dabei entfaltet sich eine sanfte Annähe-rung von Klangbildern aus alter und neuer Welt, man nimmt sich bei der Hand und ist doch auf Distanz bedacht. Weder Schweden-fi sch noch US-Vogel könnte man bekritteln, aber: Die 33-Jährige und ihr Produ-zent Matt Sweeney sind das Projekt überaus feinfühlig angegangen, weshalb das Endresultat trotz allem ver-fängt – nicht zuletzt, weil es der Musikerin mit ihrer sanften und zugleich un-terkühlten Stimme gelingt, für den nötigen Ausgleich zu sorgen. «The Night Vi-sitor» bricht mit einigen al-ten Ternheim-Traditionen, wie etwa der nordischen Klangkargheit. Weshalb die Nummern auf Anhieb zwar eingängiger denn je wirken, aber in Tat und Wahrheit ganz schön vertrackt sind.

mig.

Joe HenryRevery(Anti/Phonag)

Joe Henrys letzte zwei Al-ben markierten nach dem Meisterwerk «Tiny Voices» (2003) eine Rückkehr zur Sicherheit klar struktu-rierter Songs mit Wurzeln in Blues, Jazz und Ameri-cana. Auf «Reverie» hin-gegen, laut Henry «eine rohe und unordentliche Sache», kehrt der Avant-Blues-Jazzer zurück zur Gratwanderung zwischen Experiment, Improvisation und Song. Schon die Auf-nahmesituation war ganz anders: Henry schloss sich mit seiner Combo in sei-nem Studio ein: Nur mit akustischen Instrumenten sass man im Keller, spielte ohne klare Vorgaben mit Ideen, Motiven, aus denen sich Songs schälten, die bei allem Stil- und Rootsbe-wusstsein frei atmen und dementsprechend offen klingen. Zehn der vierzehn Songs sollen innerhalb von drei Tagen entstanden sein, und da die Studiofenster angeblich offen standen, fl ossen auch die Geräusche der Aussenwelt aufs Band. Das verleiht «Reverie» die Patina einer ungekünstelten Hinterhofaufnahme – doch der Eindruck täuscht. Hen-rys Stillwille und Stilsicher-heit als Musiker, Arran-geur und Produzent sind in jedem Moment spürbar. «Reverie» ist ein betören-des, reich und subtil ins-trumentiertes, in dunkle Stimmungen und nostalgi-sche Sepiatönen getauchtes Album, mit dem Henry die Americana einmal mehr um eine ganz eigene Note bereichert.

cg.

Tom WaitsBad as Me(Anti/Phonag)

Tom Waits ist zurück, mit seinem ersten Album seit 2004, und wer vom 61-Jährigen Altersmilde erwartet hat, wird bereits im Opener eines Besseren belehrt: «Chicago» ist eine furiose Fusion aus Mini-mal Music und Bluespunk, getrieben von einer fi esen Orgel, glühenden R’n’B-Bläsern und den dürren Licks von Keith Richards und Marc Ribot. Und wenn Waits am Schluss «all aboard» heult, als wäre dies keine Einladung, son-dern eine Drohung, ist man längst schon aufgesprun-gen – und geniesst die 45 Minuten währende Höllen-fahrt durch seinen grotes-ken Kosmos. Gleichzeitig schien Tom Waits auch das Bedürfnis eines Rückblicks auf seine bald vierzigjähri-ge Karriere zu verspüren: Er zieht alle Register, von den schmutzigen Barjazz-Balladen und den Beatnik-Posen seiner Anfänge über verzweifelten Rockabilly, schroffen Vorkriegsblues, bizarr verfremdetem Tin-Pan-Alley-Kitsch bis hin zu schwindelerregenden Expe-rimenten. Auch die Sound-palette ist dank Waits‘ Sinn für ausgefallene Instrumen-te und Geräusche reich und seine Texte von gewohnt schwarzhumoriger Schärfe. Auf «Bad as Me» unter-nimmt Waits nicht den Ver-such, sich neu zu erfi nden – aber er bleibt unvorher-sehbar und kompromiss-los. Altersstarrsinnig eben, zu unserem unverfälschten Genuss.

cg.

Texas BohemiaWer durchs Hinterland der texanischen Metropole Aus-tin fährt, durch das sogenannte Hill County, trifft dort auf Städte und Orte, die New Braunfels und Fredericks-burg, Hochheim, Blum oder Schulenburg heissen. Reist er im Herbst, kann es sein, dass er sogar mitten ins «Okto-berfest» von New Braunfels platzt. Texas hat eine grosse deutschstämmige Community, die German Texans, die teil-weise noch deutsch sprechen, deutsche Musik und Kultur pfl egen.Übervölkerung, Hungersnöte, Armut, dazu politische Re-pressionen: Aus den deutschen Ländern zog es in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele gen Westen. Nach Me-xiko, Südamerika, in die USA. Dort vor allem, nachdem der Lone Star State 1836 von Mexiko unabhängig wur-de, nach Texas. Organisiert vom humanistisch gesinnten «Adelsverein», zogen viele Deutsche ins Hill County und gründeten Dörfer. Es kamen Deutsche, Böhmen, Schwei-zer, Österreicher, Elsässer und besiedelten das unbewohn-te, aber fruchtbare Land. Politisch waren die Einwanderer eher aufgeschlossen, teilweise gar revolutionär. Man fl üch-tete nach der misslungenen Revolution 1848 in ein neues Land, das offen für neue Ideen war. Man schloss mit den Komantschen einen Frieden, der beidseitig respektiert wur-de. Später weigerte man sich, mit den Sklavenhalterstaaten des Südens gegen den Norden zu kämpfen. Der Münchner Musiker, Musikjournalist, DJ und Schrift-steller Thomas Meinecke (FSK) entdeckte für sich erstmals vor zwanzig Jahren diese «deutschen Ecken». Damals brachte er zwei CDs mit deutsch-böhmischer Musik aus Texas beim Münchner Label Trikont heraus. 2007 ist er mit dem Filmemacher Peter Schubert erneut nach Texas gereist. Auf den Spuren der deutschen und böhmischen Einwanderer ist mit «Krasna Amerika» ein toller Doku-mentarfi lm entstanden. Die dazugehörige CD bringt Musikbeispiele aus der Re-gion. «Polka hard», wenn man so will: Akkordeon-domi-nierte Sounds, schräge Blaskapellen wie die Shiner Hobo Band – die Gruppe, die die lokale Brauerei Shiner feiert –, die Tuba Meisters oder eine jüngere Formation wie die Red Ravens & Czechaholics.Heute wird die europäische Kultur zwar noch gepfl egt mit Polka-Abenden und Bierfesten. Die Sprache stirbt al-lerdings allmählich aus. Heute sprechen wohl noch knapp 10 000 Leute texanisches Deutsch, erfahren wir im Film. Die meisten sind über sechzig Jahre alt – den nachfolgen-den Generationen ist Deutsch fremd. Meinecke und Schu-bert stöbern deutschstämmige Texaner auf, sprechen mit Sprachforschern, Musiker und Viehzüchtern, lassen sich in die Geheimnisse der Sprache einführen, besuchen Bierfeste und Farmen.

Thomas Bohnet

Various Artists: Texas Bohemia Revisited – The Texas-Bohemian-Moravian-

German Bands (Trikont)

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Ernst MoldenWeida foan(Monkey/Rough Trade)

Den 44-jährigen Wiener Songwriter Ernst Molden habe ich an dieser Stelle schon vor drei Jahren über den grünen Klee gelobt. Damals anlässlich seines grandiosen Doppelschlags des Albums «Wien» mit ei-genen Songs und der famo-sen Coverplatte «Foan», auf der er Stücke von Bob Dylan, Nick Cave, Will Oldham, Hank Williams und anderen genialisch ins Wienerische übertragen hat. Vor einem halben Jahr ist «Es lem» erschienen, ein erneut furioses Werk voller eigener Lieder über Wien und seine Menschen. Me-lancholisch, traurig, lustig, rührend, ans Herz gehend. «Weida foan» ist nun sein zweites Coveralbum, auf dem er gemeinsam mit der Sängerin Ingrid Lang und der Wiener Rock-legende Ostbahn Kurti begeistert und auch ver-blüfft. Die Songs werden nicht nur Freunden des Wiener Chansons gefallen, sondern auch Fans von Warren Zevon oder Bruce Springsteen. Oder Townes van Zandt. Aus dessen Hit «Pancho & Lefty» machen Molden und Ostbahn Kurti die schöne Ballade von den beiden Wiener Ganoven «Da Schurl und Da Linke». Ein herrliches Duett ist auch «A Schritt vire (zwa schritt zruck)», ein Springs-teen-Cover. Wenn es je ein-mal die Gelegenheit geben sollte, Ernst Molden live zu sehen: unbedingt hingehen!

tb.

Sharon Jones & The Dap KingsSoul Time!(Daptones/Namskeio)

Und sie legen gleich mäch-tig los, mit «Genuine», ei-nem gewaltigen, sieben Mi-nuten langen Funk-Kracher in zwei Teilen, in welchem die Dap-Kings vorführen, dass sie auch den glühend geschärften Funk eines James Brown beherrschen. «Genuine ist ein für Sharon Jones eher untypischer Ein-stieg in diese Compilation, die zum zehnten Geburtstag von Daptone Records mit ausgewählten B-Seiten und anderen, auf CD bislang unveröffentlichten Stücken der bald 60-jährigen Soul-Veteranin aufwartet. Beim dritten Song kehrt Jones zurück zu dem, was sie am besten kann: Midtempo-Soul-Nummern, in denen sie stimmgewaltig, charis-matisch und mit viel Sinn für dramatische Inszenie-rungen intensive Gefühls-welten beschwört, getra-gen von einer grandiosen achtköpfi gen Combo mit ausreichend Bläsern, einer fetten Hammondorgel und einer funky Gitarre. Ob-schon «Soul Time!» eine Compilation ist, wirkt das Album in keinem Moment zusammengestückelt – es ist, bis auf den Anti-Steu-ern-Song «What If We All Stopped Paying Taxes», kein zweitklassiges Mate-rial auszumachen. Wie ihre regulären Alben löst auch «Soul Time!» im Freund währschaften Funks schie-re Verzückung aus.

cg.

Cyndi LauperTo Memphis, With Love(Naive/MV)

Auch altgediente Gören haben mal den Blues. Im Falle von Cyndi Lauper sogar ganz ordentlich. Für ihr letztes, Grammy nominiertes Studioalbum «Memphis Blues» begab sich das einstige schrille Pop-Quietschentchen mit Blues- und Soulcracks ins Studio, um mal so richtig im Blues zu schwelgen. «To Memphis, with Love» wiederum dokumentiert ihr Konzert vom Frühjahr 2011 in Memphis. Meine erstaunliche Erkenntnis vorweg: Auf der Bühne kommt das verwandelte Entchen noch überzeugen-der rüber als im Studio. Souverän, selten überdreht, bewegt sich die mittler-weile 57-Jährige auf einem Terrain, welches einst von Legenden wie Memphis Minnie beherrscht wurde. Cyndi Lauper kommt über-raschend authentisch rüber, als Frau, die den Blues er-fahren hat und weiss, wie sie mit ihm Spass haben kann. Mit wohltuend an-gerauter Stimme schmettert sie Bluesklassiker, als käme sie vom Mississippi-Delta und nicht aus Queens, New York. Begleitet wird sie von den HI-Records-Studiomu-sikern, dazu von Gästen wie dem grossartigen Allen Toussaint und Jonny Lang. Um die alten Fans nicht zu enttäuschen, serviert Cyndi Lauper zum Schluss auch ihre Popklassiker – von «Girls Just Want to Have Fun», «She Bop» bis «Time After Time».

tl.

London HotlineLiz Green, DJ bei der BB. Liz Green, «Law of Attraction Queen, spreading positive vibes around the world and back». Liz Green, Astrologin. Liz Green, Dresses. Liz Green, Mitglied der Stadtbehörden von Kingston-upon-Thames. Lauter Liz Greens, und keine ist die Liz Green, dank welcher ich kürzlich eine mir zuvor unbekannte Musikkneipe entdeckt habe, nämlich die Blues Kitchen in Camden Town. Über diese Liz Green förderte selbst das allwissende Orakel Google nichts zu Tage – ausser ein paar Worten aus dem Jahr 2008, zu fi nden in der Musikillustrierten «Mojo», wo sie als eines der zehn Gesichter aufgelistet war, «die eine tolle zweite Hälfte des Jahres 2008» garantierten. Noch älter ist das zweite Fundstück aus der Tageszeitung «The Guardian», August 2007. Liz Green sei eine bleiche 24-Jährige aus dem Wirral, und sie sei soeben zur Overall-Gewinnerin des Talentwettbewerbes am Glastonbury Fes-tival gekürt worden. Kein Piep weit und breit, warum diese Liz Green dann drei Jahre lang unsichtbar blieb. Selbst die Plattenfi rma, die mich überhaupt erst auf ihren Auftritt aufmerksam gemacht hatte, war nicht imstande, mich zu informieren. Als ich mich nach einer Website erkundigte, kam zurück: «Gute Frage! Wir müssen mal nachfragen.» Drei Tage später trudelte die Antwort ein: «Ist in Vorberei-tung.» Erfrischend, ein so légèrer Umgang mit den «Zwän-gen» des modernen Kommunikationszeitalters!Bei der Blues Kitchen handelt es sich um einen recht grossen alten Pub, der zu einem recht grossen, neuen Pub mit su-perteurem Lagerbier aus Belgien und künstlich antiquisier-tem New-Orleans-Knellen-Look umgebaut worden ist. Ge-wöhnlich verkehren hier angeblich dreckige Rock’n’Roll-, Blues- und R&B-Combos. Es ist anzunehmen, dass solche Combos laut genug sind, zuhinterst in der Halle auch noch das letzte Plappermaul zum Schweigen zu bringen. Liz Green, allein mit Stimme und Akustikgitarre, hat es da etwas schwerer. Umso mutiger, dass sie zum Start gleich von der Bühne steigt, um das erste Lied a capella beim Spazieren durchs Publikum zum Besten zu geben. Die Ohren fl üstern es mir nach wenigen Tönen schon zu: Liz liegt von der Stimme her in der Gegend der grossartigen Karen Dalton, nur klingt sie halt sehr viel englischer. Ihr Repertoire besteht teils aus düsteren Eigenkompositionen, die doch irgendwie heiter wirken, und ebenso düsteren – und doch luftigen – Interpretationen alter amerikanischer Blues- und Folk-Nummern. Dazu bringt sie allerdings auch einen Hauch englische Exzentrik auf die Bühne. Zwischen den Songs reisst sie surreale Sprüche – und jedes Mal sagt sie zwischen zum Schluss: «Good», wie eine Lehrerin nach Erledigung einer Erklärung. Der Concierge führte sie mit den Worten ein: «Die trans-zendental wunderbare Liz Green». Ich bin geneigt, mich mit dieser Einschätzung einig zu erklären. Umso eher, als niemand imstande ist, per Internet nachzuprüfen, ob die Behauptung auch stimmt. Glaubte ich wenigstens: Gerade entdecke ich sie, oh weh, die nigelnagelneue Website von Liz Green. Immerhin: Ausser einem witzigen Trickfi lm zu einem Liedchen gibts da noch absolut nichts sonst zu be-wundern. Das Mysterium ist gewahrt...

Hanspeter Künzler

DIE NEUEN PLATTEN

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DIE NEUEN PLATTEN

Sandro PerriImpossible Spaces(Constellation/Irascible)

Ein Kanadier baut mit sei-nem neuen Album an einer neuen Liedwelt. Natürlich, Saxofon- und Querfl öten-einsätze und eine Furcht-losigkeit gegenüber dem Vorwurf, die Lieder seien zu «cheesy», gehören mitt-lerweile beinahe zum guten Ton im experimentellen Pop-Labor. Wie Sandro Perri, der auch hinter tanz-bareren Projekten wie Pol-mo Polpo oder Glissandro 70 steckt, auf seiner zwei-ten Platte die Räume des offenen Popsongs auslotet, scheint aber unerhört. Sie-ben Stücke umfasst «Im-possible Spaces», und diese beinhalten einiges: Scheue Oden an die Südsee, an orchestrale Mächtigkeiten, an Keyboardfl ächen, an Pink-Floyd-Gitarren und an die «nichtobligatori-sche Disco» von Arthur Russell. Zusammengehal-ten werden die Lieder mit den grossen Bögen von der hohen, rhythmisch fl e-xiblen Stimme Perris. Das zehnminütige «Wolfman» bringt all dies zusammen, während das abschliessen-de Titelstück berührend leger in tropischen Gefi lden schwelgt. Eine Entdeckung.

bs.

Joan & The SailorsMermaid(Little Jig/Irascible)

Ein Debüt aus dem Lu-zernischen. Joan & The Sailors sind Frontfrau Joan Seiler und eine Band, die in dieser Form seit vorigem Jahr besteht. Stilistisch ver-ortet sich die Formation selbst zwischen Postrock, Gothic Folk und Trip-Hop; Portishead werden explizit als Referenz genannt. Me-lancholische Musik also, gespielt von Leuten, die ihre Instrumente hörbar be-herrschen. Die Vorzeichen stehen auf wohltemperier-ter Betulichkeit, doch Joan & The Sailors haben keine Angst, sich und das Publi-kum zu fordern. Die Songs dürfen Bruchstellen aufwei-sen, die Musiker auch mal ausbrechen und eine Balla-de mit schroffen Gitarren aufrauhen. Joan Seiler er-singt sich auf Anhieb ihren Platz im stark besetzen Feld einheimischer Sängerinnen. Mit einer schönen Stimme gesegnet, nutzt sie diese fa-cettenreich und ausdrucks-stark, um jedem Wort die passende Phrasierung zu verleihen. Bereitwillig er-gibt man sich dem Sog der detailverliebt arrangierten Songs und taucht ein ins betörende Halbdunkel. In «Rain On My Chest» etwa, das einen nach Art von Carla Torgersons Solo-album in orientalische Ge-fi lde zieht. Oder in «Better Off Dead», wo Diseusen-gesang, eruptiv dröhnende Gitarre plus ein Solo à la David Gilmour kurzweilige sechs Minuten ergeben. Ein gelungenes Debüt.

ash.

The Jimi Hendrix ExperienceWinterland (Sony Legacy)

Beinharte Hendrix-Fans wissen längst, was sie sich selbst zu Weihnachten schenken: Die 4-CD-Box mit Liveaufnahmen aus den sechs Shows im Win-terland Ballroom in San Francisco vom 10. bis 12. Oktober 1968. Damals be-fand sich Jimi Hendrix auf dem Zenit seines Schaffens: strotzend vor Kreativität und Power. Zu hören gibts leider nicht alle Shows in voller Länge – obwohl das Material vorhanden ist, wie das 6-CD-Bootleg-Set «The Winterland Reels» belegt – sondern eine Auswahl, deren stärkste Momente atemberaubend sind: Wir hören tolle Versionen von «Hey Joe», «Red House», und Bob Dylans «Like a Rolling Stone», live selten gehörtes wie «Are You Ex-perienced», streckenwei-se öde Instrumentaljams («Tax Free», «Sunshine of Your Love»), subtile Schönheit (das schweben-de «Little Wing»), oft ge-spieltes wie «Foxy Lady» oder «Purple Haze» und schliesslich die eigenwillige Fassung des «Star-Spangled Banner». «Winterland» er-innert immer wieder daran, dass eine von Jimis grossen Stärken seine Lust zählte, atonale Bereiche auszulo-ten und das Feedback als gleichwertiges Ausdruck-mittel einzusetzen – neben seinen brillanten Soli, den Powerriffs, den Bluesad-aptionen und seinen un-terschätzten Qualitäten als Songschreiber.

tl.

45 PrinceMit den Carbonas noch dem simplen, aber höchst tref-fenden Punkrock’n’Roll verpfl ichtet, liebt es deren Sänger GG King, solo an verstörtem Punk wie jenem der Urinals und Electric Eels anzuknüpfen. Seine LP «Esoteric Lore» hinterlässt keine Songs, die einem hängen bleiben und sich darum reissen, wiederaufgelegt zu werden. Ein hartnäcki-ges dunkles Sog-Gefühl zwingt einen dazu, sie sich trotz-dem immer wieder anzuhören, und man merkt erst beim Abspielen, dass man alle Rillen längst auswendig kennt. «Babbling Voices» (Local Cross) bleibt dank des Refrains hängen, hat aber dieselbe dunkle Macht und könnte wie auch «Insomnia» in Australien aufgenommen worden sein.Belgische Combos wie The Kids, Hubble Bubble und Ra-xola gelten ja längst als Lieblingsbands in Punkerkreisen. Zu ihnen gesellen sich dank Sing Sing Records nun auch The Onion Dolls, die in «The Kids» die Rotzgrossartigkeit locker kombinieren mit Gary Moore’schen Gitarrenatta-cken und ihre Weiterentwicklung zur New England Heavy Metal Band Crossfi re bereits vorwegnehmen. «Hot Love» kommt etwas klassischer rüber. Aber auch hier wird die komplette letzte Minute der Gitarre gewidmet.Im Jahr 1968 übernahm Stacy Sutherland die Rolle des Songschreibers bei den Göttern der Kirche des LSD, den 13th Floor Elevators. Sein «Wait For My Love» (Interna-tional Artists) sollte ihre sechste Single sein, wurde dann jedoch in einer anderen Version als «Til Then» auf der «Bull of the Woods»-LP platziert. Roky Erickson musste zu dieser Zeit seine typischen Zwischenschreie zurückhal-ten, und so wirkt sein Gesang beinahe kindlich, was jedoch bestens zur Unschuld dieses Popmeisterwerks passt – üb-rigens noch klarer zu hören auf dem unwiderstehlichen, soeben erschienen Box-Set «Music of the Spheres». Sonic Boom, der schon mit seinen Spacemen 3 «May the Circle Be Unbroken» spielte, durfte den Song hier remastern. Und dank dezenten zusätzlichen Gitarrendelays und einem er-weiterten Stereobild gelingt ihm hier die defi nitive Fassung.

Philipp Niederberger

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Mutieren mit St. Vincent

Es soll ja immer noch Leute geben, die hinter Annie Clark und ihrem Künst-lernamen St. Vincent einfach eine weitere dieser schönen, letztlich aber harmlosen Sängerinnen vermuten. Doch sobald die Amerikanerin nach gerade mal zwölf Sekunden ihres neuen, dritten Albums «Strange Mercy» die Gitarre über einen minimal programmierten Beat shreddert, ists vorbei mit den Klischees: Denn bei der 29-jährigen Clark schreibt und spielt die Furchtlosigkeit die Songs, die zwischen Schönheit und Drastik, virtuosen Gitarreneinschüben und minimalen Computerrhythmen, Prog-Rock und Folk pendeln. Natürlich drückt auch die Kunst-Mutanten-Song-Schule des Sufjan Stevens durch, in dessen Tour-Band sie einst Gitarre spielte. Spätes-tens seit ihrem zweiten Album «Actor» lebt Clark jedoch in ihrem eigenen Zeitalter der Sonderbarkeiten, einem vertrackten Zeitalter, in dem die auf-scheinenden, märchenhaften Melodien umso heller erstrahlen.

29.11., El Lokal, Zürich

Staunen mit Honey For Petzi

Wenn die Eins neben der Fünf zu stehen kommt, der Fuss des grössten Tanzmuffels zu wippen beginnt und das Genick bereits aus Vorfreude aufs Kopfnicken schmerzt, ist klar, was ansteht: Honey For Petzi kommen in die Stadt. Beim Lausanner Trio um Christian Pahud, Sami Benhadj und Philippe Oberson ist das immer so. Gelingt seit ihrem grossen Wurf «Heal All Monsters» 2002, gelingt auch 2011 mit ihrer neuen Platte «General Thoughts and Tastes». Klar haben sich gewisse Dinge geändert – bisschen mehr Bauch, bisschen weniger Haupthaar, solche Sachen. Der Effekt, den die Band auszulösen vermag, ist aber immer noch derselbe: man staunt. Legen die Kunststudenten los, fällt die Kinnlade tief und tiefer, und man fragt sich, wieso die nicht viel mehr spielen mit ihren wirren Wendungen, mit ihrem wuchtigen Wumms und ihrer wunderbaren Wandelbarkeit, die sie vom Math-Rock in den Synthiepop und – gottlob – wieder zurückträgt. Nicht zuletzt fragt man sich aber auch, wieso es nicht mehr Bands gibt, die auch nach 16 Jahren des Bestehens noch so viel Spielfreude versprühen. Also: To-Do-Liste zücken, Rotstift rausholen und die untenstehenden Da-ten eintragen. Honey-For-Petzi-Konzerte sind Pfl ichttermine. (nin)

24.11., Case-à-Chocs, La Chaux-de-Fonds; 25.11., Fri-Son, Fribourg; 26.11., Stall 6, Zürich

Hüftschlenkern mit Nneka

Am Anfang war der Refrain: Ratternde Breakbeats und dazu dieser Ge-sang – als würde eine Frau verschiedene Vokale per Stossatmung hervor-bringen. Liest sich schräg, ging 2008 aber geschmeidig ins Ohr und seither nie mehr raus. Die Frau heisst Nneka und das Lied «Heartbeat» – ein Hit, den es mittlerweile in unzähligen Remixen gibt, unter anderem auch in einer Version mit einem Nas-Feature. Überhaupt pfl astern grosse Namen Nnekas Weg. Sie trat mit den Roots auf, war 2010 bei Lilith Fair mit von der Partie, und David Lettermann lud sie in seine Show ein. Die Presse greift bei den Vergleichen unisono ganz hoch: Lauryn Hill, Erykah Badu und Neneh Cherry. Es geht aber auch bescheidener: Die Sängerin aus Ni-geria, die mit 18 nach Deutschland kam, bewegt sich zwischen Afrobeat, Reggae, Soul und HipHop. Stilfragen sind allerdings sekundär, denn Nne-ka singt mit dem Herz auf der Zunge und verpasst noch ihren intensivsten Stücken einen federnden Popappeal, der auch tendenziell mürrische Men-schen hüftschlenkernd Richtung Winter gehen lässt. (ash)

3.12., Bierhübeli, Bern; 5.12., Kaserne, Basel; 6.12., Kaufl euten, Zürich

Veteranisieren mit Marc Almond

Nach drei explosiven Veteranen-Festivals mit exzentrischen Legenden wie Mark E. Smith, den Residents, Pierre Henry oder Lydia Lunch setzt das Musikfestival Saint Ghetto der Berner Dampfzentrale bei der vierten Aus-gabe auf vorwiegend jüngere Acts. Dem verpfl ichteten Nachwuchs gemein ist die musikhistorische Befl issenheit: Anika aus Bristol spielt Bob Dylans «Masters of War» in einer monotonen und zerdehnten Dub-Version, gibt sich als seelenlose Nico-Wiedergängerin und schafft den beängstigenden Soundtrack zur Zeit. Auch zur Gegenwart äussern sich die österreichischen Ja, Panik mit ihrer grossen «Depressionsoper» «DMD KIU LIDT», die wie einst John Cale die Furcht als besten Freund präsentiert. Und wem das zu viel an Drastik ist, der fl üchtet sich in die jenseitige Hexenmusik der hungrigen Esben and the Witch oder gibt sich den Piano-Meditationen von Hauschka hin. Natürlich fi ndet sich dann aber doch noch ein Veteran im Programm: Marc Almond, der in seiner Karriere zwischen massentaug-lichem Pop und freiem Noise vermittelte, singt seine Hits aus Funk und Fernsehen und setzt damit die Legendenlinie des Saint-Ghetto-Konzepts auf ganz eigene Art und Weise fort.

18. bis 20.11., Dampfzentrale, Bern

NACHT SCHICHT

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NACHTSCHICHT

Exilieren mit der Kilbi

«Bauer allein in der Stadt – das ist Musik», «Depeche Moods», «Fondue Fugazi», «So nicht Youth» oder «Noch mehr Mist in Zürich» proklamie-ren die Slogans der ersten Kilbi im Exil. Übersetzt: Die Sensler Landeier aus dem Düdinger Bad Bonn, die alljährlich die honorige Bad Bonn Kilbi organisieren, veranstalten zum ersten Mal ein zweitägiges Festival in den Zürcher Clubs Moods und Exil. Die «popmusikalische Folklore» spielt also für einmal «im urbanen Rahmen ohne Kühe», wie es im Programm-Editorial heisst. Mit dem Programm, das Anfang Oktober stilgerecht bei einer Pressekonferenz im RecRec-Laden vorgestellt wurde, steht der Stipp-visite der Provinzler in der grossen Stadt nichts mehr im Wege. Ganz oben auf der Liste der 21 Acts steht der verlassene Sonic-Youth-Gi-tarrist Thurston Moore (Bild unten), der dieses Jahr seine sphärische Akus-tik-Platte «Demolished Thoughts» veröffentlichte. Die Kunst der E-Gitarre erlernte Moore einst im Ensemble des No-Wave-Gitarristen, Komponisten und Dirigenten Glenn Branca (Bild oben). Ohne Brancas Kompositionen die neue disharmonische Stimmungen enthielten, wären Sonic Youth, ja, die instrumentale Rockmusik fernab von dumpfem Virtuosentum kaum denkbar gewesen. Der 63-Jährige führt in Zürich mit seinem Ensemble sein klassisches Stück «The Ascension» auf, das zu Beginn der Achtzigerjahre für vier E-Gitarren, Bass und Schlagzeug geschrieben wurde – und noch immer für urbane Unruhe und euphorischen Lärmzuckungen sorgt. Ebenfalls im unklaren Gebiet zwischen Club, Rock und Akademie siedelt sich Tyondai Braxton an. Seit seinem nicht gerade geräuscharmen Aus-stieg bei den Battles werkelt der New Yorker mit Effektgeräten und seiner manipulierten Heliumstimme an einer Art neuer Orchester-Musik, die auf dem Warp-Album «Central Market» nachzuhören ist. Während bei Brax-ton fast alle Sounds im Sampler stecken, spielt das Duo Buke and Gass ihre Schellen- und Saiteninstrumente allesamt selber. Arone Dyer und Aron Sanchez tüfteln an Liedern, die sie dieses Jahr ins Vorprogramm der wun-derbaren tUnE-yArDs brachten. Das Duo erfi ndet Lieder, die windschief und vertrackt erscheinen, nie aber vollends aus der Form fallen. Eine wei-tere Entdeckung dürfte das furchtlose katalanische Duo Za! sein, während der ewige Half Japanese, Indie-Held und Scherenschnittkünstler Jad Fair wieder mal in der Stadt weilt. Abgerundet wird das Programm mit Rabaukenbands wie The Shit um Exponenten aus dem Voodoo-Rhythm-Schiff, Elektronischem von Felder-melder oder Bit-Tuner sowie natürlich DJ Fett. Denn ohne ihn und seine knusprigen Singles ist eine Kilbi keine Kilbi – ob nun auf dem Land bei den Kühen oder in der Stadt. (bs)

Kilbi im Exil, 9.-10.12., Exil und Moods, Zürich. Programm: www.kilbi-im-exil.ch

Mitte besetzen mit Low

«Mittelständisches Unternehmen» ist ein Begriff, der allmählich ausser Ge-brauch gerät. Denn Geschäfte, die weder zum Kleingewerbe zählen noch zu den Big Players, werden immer rarer. Das ist auch im Musikbusiness nicht anders. Auf der einen Seite Dinos und Megastars, auf der anderen Seite Newcomer und Nischenbeackerer. Gut eingeführte Bands mit über-schaubarem, aber doch solidem Publikumszuspruch – mittelständische Musikanten also – gibt es nicht mehr allzu viele. Umso erfreulicher, wenn eine US-Band wie Low auch im 18. Karrierejahr ein tolles Album wie «C’mon» veröffentlicht und dann auch noch genügend Veranstalter für eine Europatournee fi ndet. Slowcore heisst das Etikett, das die Band nicht mag, das aber doch recht passend ist für die sanften und doch so intensiven Songs. Aktuelles Beispiel: «Especially Me» vom neuen Album, eine hymni-sche Ballade, die zu den schönsten Liedern des Jahres gezählt werden muss. Es spricht nichts dagegen, dass Low auch live Wertarbeit abliefern werden, schliesslich weiss das Mormonen-Paar Mimi Parker und Alan Sparhawk traditionelle Tugenden zu schätzen. Also hingehen und die musikalische Mitte besetzen. (ash)

29.11., Palace, St. Gallen; 30.11., Fri-Son, Fribourg

Alterswildern mit Kid Congo Powers

Auch lebende Legenden müssen sich ihren Lebensunterhalt irgendwie ver-dienen. Das gilt nicht nur für den weichzelligen Marc Almond auf der ge-genüberliegenden Seite, sondern auch für Kid Congo Powers. Der Mann war Gründungsmitglied von The Gun Club, spielte anschliessend bei The Cramps und schliesslich bei Nick Caves Bad Seeds mit. Den Legendensta-tus hat er sich also längst erspielt, doch er vermeidet es, sich auf vergange-nen Heldentaten auszuruhen und ist weiterhin kreativ aktiv. Davon zeugt das aktuelle Album «Gorilla Rose», das er mit seiner gegenwärtigen Com-bo The Pink Monkey Birds eingespielt hat. Es ist ein zeitgemässer Entwurf von Garagenrock mit Surf-Versatzstücken, südländischen Einfl üssen und synthetischen Einsprengseln – fi ebrig und fahrig, aber eben so souverän kanalisiert, wie man das von einem 52-Jährigen auch erwarten darf. Al-tersmilde darf man sich jedoch von vornherein abschminken, denn das Kid kennt nach wie vor keine Grenzen. Hell no! (amp)

2.12., Café Mokka, Thun; 3.12., Helsinki, Zürich

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