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In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG) L EBENS F ORUM Zeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA) Nr. 115 | 3. Quartal 2015 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– E B 42890 Interview Der weite Weg zur Inklusion Ausland Kinder sind keine Waren Medizin PraenaTest: Warum ihm nicht zu trauen ist Skandal um Planned Parenthood Leber gefällig?

Nr. 115 | 3. Quartal 2015 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4 ... · kung von Frau Sanger, wurde von dem »Das Geld aber wird mit Abtreibungen verdient.« »Die Organisation erhält

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In Kooperation mit Ärzte für das Leben e.V. und Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e.V. (TCLG)

LEBENSFORUMZeitschrift der Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)

Nr. 115 | 3. Quartal 2015 | ISSN 0945-4586 | Einzelpreis 4,– E B 42890

InterviewDer weite Wegzur Inklusion

AuslandKinder sindkeine Waren

MedizinPraenaTest: Warumihm nicht zu trauen ist

Skandal um Planned Parenthood

Leber gefällig?

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I N H A LT

LEBENSFORUM 115EDITORIAL

Ein »Abgang«, der alles ändert 3Dr. med. Claudia Kaminski

TITEL

Leber gefällig? 4Alexandra Maria Linder M. A.

INKLUSION

Der weite Weg zur Inklusion 8Interview mit Prof. Dr. Holm Schneider

BIOETHIK-SPLITTER 12

AUSLAND

Kinder sind keine Waren 14Sebastian Sander

Fällt das Abtreibungs-Verbot in Chile? 16Eckhardt Meister

Klare Absage 18Sebastian Sander

MEDIZIN

Künstliche Befruchtung lässt Gefäße 20schneller altern Pressemitteilung der DGK

Trau keinem Test unter dreißig 21 Prof. Dr. Paul Cullen

Neuer Trend: Babyfernsehen 24 Dr. Edith Breburda

GESELLSCHAFT

Nachruf auf Prof. Dr. Seelentag 27Dr. med. Claudia Kaminski

BÜCHERFORUM 30

KURZ VOR SCHLUSS 32

LESERBRIEFE 34

IMPRESSUM 35

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Im Mai hatte das SchweizerBundesgericht ein viel diskutiertes Urteil zur Leihmutterschaft gefällt.Nun haben die Richter ihre schriftliche Begründungveröffentlicht.

Die Konstanzer LifeCodexx AGhofft, den von ihr entwickelten

PraenaTest demnächst alsRegelleistung der gesetzlichen

Krankenkassen anbieten zukönnen. Lesen Sie hier, welche

gravierenden Folgen dies hätte.

In den USA sorgt der größte Anbieter vorgeburtlicher Kindstötung für Schlagzeilen. Mit versteckter Kamera gefilmte Videos legen den Verdacht nahe, »Planned Parenthood« mache Geschäfte mit dem Gewebe abgetriebener Kinder.

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E D I T O R I A L

oder ob diese Tat in bestimmten Kons-tellationen in den Rang eines Rechts erhoben und das ihm entgegenste-hende Berufsrecht für nichtig erklärt wird. Im Ergebnis würde der Entwurf Brand/Griese et al. dazu führen, dass die Beihilfe zum Suizid, die derzeit straffrei ist, strafrechtlich in allen Fällen verfolgt werden kann, in denen sie auf Wieder-holung angelegt ist. Sowohl Suizidhilfe-vereine als auch Ärzte, die als »Sterbehel-

fer« durchs Land reisen, müss-ten künftig fürchten, rechtlich belangt zu werden. Dagegen würde der Entwurf Hintze/Lauterbach et al. Ärzten erst-mals das Recht einräumen, ei-ner bestimmten Gruppe von Menschen bei der Selbsttö-

tung zur Hand zu gehen. Der Ärzte-schaft würde ferner jede Möglichkeit ge-nommen, ein solches Verhalten zu sank-tionieren oder auch nur als »unärztlich« zu brandmarken.

Gesteht die Gesellschaft Ärzten aus-drücklich das Recht zu, Menschen bei der Selbsttötung zu unterstützen, ändert dies alles. Suizidhilfe und auch der Su-izid selbst würden nicht mehr als Fehl-entscheidungen in tragischen Situationen betrachtet, sondern als eine von mehre-ren Möglichkeiten, aus dem Leben zu scheiden. Als Nächstes würde die Frage aufgeworfen, wie Ärzte mit Menschen, die sich nicht selbst töten können, um-gehen sollen? Unter Druck gerieten auch jene, die einen solchen »Abgang« ableh-nen und stattdessen – wie bisher üblich – bis zu ihrem natürlichen Tod auch Hil-fen der Solidargemeinschaft in Anspruch nehmen. Wollen wir das wirklich?

Eine erhellende Lektüre wünscht

Ihre

Claudia KaminskiBundesvorsitzende der ALfA

Ein »Abgang«,der alles ändert

Liebe Leserin, lieber Leser,

Anfang Juli hat der Bundestag in Ers-ter Lesung über vier Gesetzentwürfe be-raten, mit denen die Beihilfe zum Suizid neu geregelt werden soll. Bleibt es beim derzeitigen Zeitplan, wird die endgülti-ge Entscheidung über die künftige ge-setzliche Regelung am 6. November ge-fällt. Zur Wahl stehen vier Gesetzent-würfe, die unterschiedlicher kaum sein könnten: Sie reichen vom aus-nahmslosen Verbot der Sui-zidhilfe über die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Beihil-fe zum Suizid bis hin zur Au-ßerkraftsetzung des ärztlichen Standesrechts und der Legali-sierung des ärztlich assistier-ten Suizids im Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB).

Der aus Sicht von Lebensrechtlern klarste aller Entwürfe hat im Parlament leider bisher keine Aussicht auf eine Mehr-heit. Nach menschlichem Ermessen wer-den sich die Abgeordneten daher zwischen zwei Entwürfen entscheiden: Zwischen dem der Abgeordneten Brand/Griese et al., der Suizidhilfevereinen das Hand-werk legen will, und dem der Abgeord-neten Hintze/Lauterbach et al., der den ärztlich assistierten Suizid zu einer »Be-handlungsalternative« erheben und dies im BGB festschreiben will, um das ärzt-liche Standesrecht auszuhebeln, das dem entgegensteht.

Auch wenn der Entwurf Brand/Griese et al. nicht sämtliche Formen der Suizid-hilfe mit Strafe bewehrt, zielt er doch auf eine Verschärfung der jetzigen Rechtsla-ge und verspricht insofern ein Mehr an Lebensschutz. Dagegen würde der Ent-wurf Hintze/Lauterbach et al. den ärzt-lich assistierten Suizid in den Rang einer »Behandlungsalternative« erheben, für die sich Menschen am Lebensende beim Vorliegen bestimmter Voraussetzungen entscheiden können sollen.

Gesellschaftspolitisch betrachtet macht es einen gewaltigen Unterschied, ob ein und dieselbe Tat nicht in allen denkbaren Kontexten für strafwürdig erachtet wird

»Wollen wirdas wirklich?«

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Der Erlanger Kinderarzt und Genforscher Holm Schneider über »Inklusion« und warum der Weg dorthin noch weit ist.

Im traditionell katholischen Chile spaltet der Versuch, das totale Abtreibungsverbot zu kippen, Politik und Gesellschaft.

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Mit versteckter Kamera gedrehte und im Internet anschließend veröffentlichte Videos, die »Planned Parenthood«-Mitarbeiter in skandalösen Gesprächen mit den

vermeintlichen Käufern von fötalem Gewebe zeigen, haben den größten Anbieter vorgeburtlicher Kindstötungen in den USA in die Hauptnachrichtensendungen katapultiert.

Von Alexandra Maria Linder M. A.

U nsere Mission: Bei steigender Nachfrage nach seltenen Mate-rialien und Dienstleistungen in

der Forschungsgemeinschaft wird Stem-Express angespornt und bestimmt durch persönliche Erfolgs-, Unglücks- und Tri-umphgeschichten. Jedes Teammitglied widmet sich der Versorgung der globalen Forschungsgemeinschaft mit den Mate-rialien, die notwendig sind, um zu neuen Einsichten zu gelangen, neue Fragen zu

stellen und der menschlichen Erfahrung Hoffnung zu geben.« Offen wirbt die Fir-ma »StemExpress« mit Blutspendeaufru-fen und lukrativen Angeboten für Kran-kenhäuser, zum Beispiel Nabelschnur-blut zu verkaufen. Weniger offen findet sich unter anderem eine Produktkatego-rie »Fötale Leber«. Zurzeit sind einige dieser Produkte nicht mehr erhältlich, die »Fact sheets« sind gelöscht. Denn »StemExpress« hat die Zusammenar-

beit mit Abtreibungseinrichtungen der amerikanischen »Planned Parenthood« plötzlich aufgekündigt.

Es sind hehre Ziele, die sich millio-nenschwere Unternehmen wie »StemEx-press« öffentlich geben – die Rettung der Menschheit. Doch welchen Preis sie und viele andere dafür zu zahlen bereit sind und welchen Preis andere dafür zahlen müssen, tritt seit einigen Wochen auf er-schreckende Weise zutage: Nach drei Jah-

Leber gefällig?

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ren intensiver, verdeckter Arbeit trat das amerikanische »Center for Medical Pro-gress« an die Öffentlichkeit, mit heimlich aufgenommenen Gesprächen. Die Ver-treter des Centers gaben sich gegenüber Funktionären der »Planned Parenthood« als potentielle Käufer von fötalen Orga-nen aus. Man spricht in diesen Gesprä-chen zwanglos über Organe, die man ge-winnen kann (vor allem gefragt sind zur-zeit Leber, Herz, neuerdings auch Lunge und Extremitäten, wohl wegen der Mus-kelzellen), über Preise, die man erzielen kann (30 bis 100 US-Dollar pro Probe), über Schwierigkeiten mit Gesetzen und den Versuch, nicht offen als Beschaffer aufzutreten, sondern eher »hinter ver-schlossenen Türen«.

Das Video, das man sich trotz des un-fassbaren Inhalts wirklich ansehen sollte, zeigt ein etwa achtminütiges Gespräch mit der Leiterin der Medizinischen Dienste von »Planned Parenthood«, Dr. Deborah Nucatola. Man sitzt gemütlich in einem Lokal bei Salat und Rotwein und sie er-läutert kauend, dass man die Abtreibungen ultraschallkontrolliert vornimmt, damit man genau sehen kann, wo man bei dem Fötus ansetzen muss, um die gewünschten Organe nicht zu beschädigen. So könne man die Leber, die Lunge und das Herz unbeschadet herausbekommen und lie-fern. Bei der Planung der Abtreibungen könne man schon festlegen, von welchem Fötus man welche Teile gewinnen kön-ne. Der Kopf sei in der Tat ein Problem. Denn normalerweise würde man die Ab-treibungen ja mit dem Kopf zuerst voll-ziehen, was eine Zerstörung notwendig mache. Wenn man die Sache aber um-drehe, also die Abtreibung bei den Füßen beginne, wäre das ganze am Ende so er-weitert, dass auch der Kopf in Gänze he-rausgezogen werden könne. Je besser er-halten der Fötus ist, desto eher ist er ver-wertbar und muss nicht im Müll landen.

Was Frau Nucatola hier beschreibt, ist der in den USA verbotenen Form der

»Partial Birth Abortion« ähnlich: Das Kind wird mit den Füßen zuerst gebo-ren, man zieht es bis zum Genick her-aus. Dann stößt man Scheren in das Ge-nick des Kindes, erweitert das Loch, um das Gehirn herauszuziehen. Da der Kopf des Kindes noch nicht geboren ist, gilt es nicht als Geburt, sondern als Teilge-

burtsabtreibung. Aber, so Frau Nucato-la beim nächsten Schluck Wein, Geset-ze müssten ja interpretiert werden. Sie sieht die Abgabe der Kinderteile keines-falls als Geschäft an und will nicht als Verkäufer betrachtet werden. Vielmehr stellt sie der Forschung und der Medizin dringend benötigtes Material zur Verfü-gung, ist also sozusagen der Vermittler, und das ist etwas ganz anderes – ein Ver-kaufsimage möchte sie als »Planned Pa-renthood« keinesfalls haben.

Als der vorgebliche Käufer sich am Ende bei der Vorsitzenden von »Planned Parenthood Amerika«, Cecile Richards, für diese Möglichkeit und die wunderba-re Arbeit von Frau Nucatola bedankt, ist diese ganz gerührt und lobt ihre Leiterin:

»Yes, she’s amazing«. Mrs. Richards hat übrigens in ihrer Funktion als Präsiden-tin und CEO von »Planned Parenthood« ein Jahresgehalt von 400.000 US-Dollar.

Das »Center for Medical Progress« hat nicht nur ein Video gedreht, wie man sieht, in weiser Voraussicht. Denn es wur-de versucht, dieses erste Video medial möglichst untergehen zu lassen. Es folg-te ein zweites, ein drittes, ein viertes, mit immer grausameren Inhalten.

Die amerikanische »Planned Par-enthood« ist der größte Anbieter von Abtreibungen in den USA. Nach außen tritt die Organisation als Retterin für vor allem mittellose Frauen in Not und als maßgebliche Familienplanungsorganisa-tion auf. Das Geld aber wird mit Abtrei-bungen verdient. Hinweise darauf gibt es viele. Im Jahr 2013 bekam die Aurora-Ein-richtung in Colorado einen Preis dafür, die angesetzten Abtreibungszahlen über-

troffen zu haben. Die amerikanische Le-bensrechtlerin Abby Johnson, die selbst acht Jahre lang für PP tätig war, beschreibt in ihrem Buch Unplanned (deutsch: Le-

benslinie) die Vorgaben zur Steigerung der Abtreibungszahlen – unter anderem durch Ausweitung der Abtreibungen bis zur 24. Schwangerschaftswoche.

Von den über eine Million Abtreibun-gen, die jährlich in den USA stattfinden,

führt »Planned Parenthood« zwischen 32 und 40 Prozent aus. Damit erzielt »Plan-ned Parenthood« ungefähr die Hälfte sei-nes Jahresumsatzes mit vorgeburtlichen Kindstötungen: Die Organisation erhält im Jahr mindestens 300 Millionen US-Dollar aus staatlichen Programmen. Mit der zugrunde gelegten Zahl von 350.000 Abtreibungen pro Jahr errechnet sich ein Durchschnittsumsatz von 164,5 Millionen US-Dollar (bei durchschnittlichen Kos-ten von 470 US-Dollar pro Abtreibung).

Auch die Geschichte der Organisation hat Flecken: Gegründet wurde sie im Jahr 1921 unter dem Namen »American Bir-th Control League« von der Eugenikerin Margret Sanger, die eng mit dem Grün-der der deutschen »pro familia«, Hans Harmsen, zusammenarbeitete. Die Um-benennung in »Planned Parenthood« er-folgte 1942. Im Jahr 1952, unter Mitwir-kung von Frau Sanger, wurde von dem

»Das Geld aber wird mitAbtreibungen verdient.«

»Die Organisation erhält im Jahrmindestens 350 Mio US-Dollar.«

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Hillary Clinton Barack Obama

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»Sozialhygieniker« Hans Harmsen die »Deutsche Gesellschaft für Ehe und Fa-milie« gegründet, heute »pro familia«. Man tauschte den Begriff der »Gebur-tenkontrolle« im Jahr 1965 durch den Begriff »Familienplanung« aus. Beide Vereine gehören zu den Gründungsmit-

gliedern des inter-nationalen Dach-verbands »Inter-national Planned Parenthood Fede-ration«.

Schon oft wur-de »Planned Pa-renthood Ame-rika« vorgehal-ten, vor allem in Latino- und Schwarzen-vierteln Ab-treibungsein-richtungen zu betreiben. Beim Zahlenvergleich ist der Anteil schwarzer Kinder (ca. 370.000), ungefähr ein Drittel al-ler Abtreibungen, in der Tat deutlich höher als der Anteil der schwarzen Bevölkerung an der Ge-samtbevölkerung der USA, der lediglich um die 13,2 Prozent beträgt.

Dass Kinder nach ihrer Abtreibung weiterverwertet werden, ist keine neue Erkenntnis. Der Organ- und Gewebe-bereich ist als Verwendungsmöglichkeit international gängig (»fetal organ har-vesting« / fötale Organernte). Die Zellen der abgetriebenen Kinder (vorzugswei-se im Fötalstadium, weil dann die Orga-

ne ausgebildet sind und die Zellen unter-schieden werden können) verwendet man zum Beispiel, um so genannte Biohybrid- organe mit künstlichen Trägermateriali-en als Transplantate herzustellen. Außer-dem kann man neben Nieren, Lunge, Le-ber auch Eierstöcke, Augenbestandteile,

Bauchspeichel-, Thymusdrüse etc. nut-zen. Gängig ist die Verwertung in osteu-ropäischen Staaten wie der Ukraine, wo Firmen wie »Em-Cell« oder

»UCTC« ganz offen für Verjüngungs-kuren mit Zellen von abgetriebenen Kin-

dern werben.In Deutschland wurde

die mögliche Verwer-tung der abgetrie-

benen Kinder ohne öffent-

liches Auf-sehen im Jahr 2007 durch ei-nen neuen

§ 4 a im Gesetz über die Qua-lität und Si-cherheit von menschli-chen Ge-

w e b e n und Zel-

len (Gewebe-gesetz) geregelt. Eine

Frau darf unmittelbar nach der Abtreibung gefragt werden, ob sie das

tote Kind »spendet«. Abgesehen von der Zumutung für eine Frau, die einen belas-tenden Eingriff hinter sich hat, stellt sich die ethische Frage, ob man ein Kind, das man ohne Einwilligung getötet hat, auch noch ohne Einwilligung ausschlachten darf. Insofern muss man spätestens jetzt hellhörig werden und prüfen, ob es sol-che Zustände auch bei uns geben könnte. Denn durch diese Änderung wird deut-lich gemacht, dass solche »Spenden« vor-

kommen und offensichtlich gere-gelt werden mussten. Folglich muss es auch einen, wenn auch hierzulande noch sehr grauen Markt dafür geben.

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Fötale GewebespendenSpende ja, Handel nein – Was in den USA als gesetzlich erlaubt und was als verboten gilt

Nach Veröffentlichung des ersten Videos hatte Cecile Richards, Präsidentin von »Planned Pa-renthood« in den USA, in einer eigenen Videobotschaft die Vorwürfe zurückgewiesen: »Ich möchte sehr deutlich sagen: Die Behauptung, ›Planned Parenthood‹ profitiere in irgendeiner Weise von Gewebespenden, ist nicht wahr. Unsere Spender-Programme befolgen – wie die al-ler Anbieter hochwertiger Gesundheitsdienste – sämtliche Gesetze und ethischen Richtlinien.«

In den USA können Frauen Gewebe ihrer abgetriebenen Kinder wissenschaftlichen Einrichtun-gen unentgeltlich zu Forschungszwecken zur Verfügung stellen. Der Handel mit Körperteilen abgetriebener Kinder ist gesetzlich verboten. Einrichtungen, welche die »Spende« von Gewe-ben organisieren, ist es aber erlaubt, sich die Kosten für die Sammlung und den Transport der Leichenteile von Forschungseinrichtungen, die diese verwenden, finanziell erstatten zu lassen.Dagegen ist es Abtreibungseinrichtungen gesetzlich verboten, vorgeburtliche Kindstötungen im Falle einer anschließenden »Gewebespende« zeitlich oder methodisch so zu steuern, dass da-bei die Interessen der Empfänger nach möglichst intakten Föten gewahrt werden.

»Auch die Geschichte derOrganisation hat Flecken.«

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Beweise lassen sich nicht leicht finden, eher weitere Indizien. Für ein wichtiges Indiz könnte man die Tatsache halten, dass »pro familia« eine Schrift aus dem Jahr 2000 neu aufgelegt hat. Diese »Ex-pertise« hat den Titel: »Fötales Gewebe

– Ein Gutachten zu Forschung und Ver-wendung von embryonalem/fetalem Ge-webe« (gefördert vom Bundesministeri-um für Familie, Senioren, Frauen und Jugend). Ausführlich geht die Expertise darauf ein, welche Organe und Gewebe verwendet werden können, und dass man

in manchen Ländern die Abtreibungspra-xis entsprechend geändert habe, um die Kinder möglichst zu erhalten. Auch das ist bekannt. So gibt es zum Beispiel ma-nuelle Vakuumaspiratoren (ein mechani-sches Gerät für Frühstabtreibungen, meist verschleiert durch den Begriff »Mens- truationsregelung«) inzwischen auch mit größerer Kanüle, um den Kopf und etwas größere Embryonen intakt zu halten. Die Schrift endet mit der Empfehlung, sich als Verband intensiv mit diesem Thema zu beschäftigen, weil es durchaus entspre-chende Anfragen geben könne. Das war vor 15 Jahren. Es ist nicht davon auszuge-hen, dass es keine Anfragen gab und gibt, zumal von privaten Praxen und Einrich-tungen solche Fälle schon bekannt, nicht aber thematisiert wurden.

Um Kinder vor ihrer Weiterverwer-tung zu schützen, wären eine Melde-pflicht und eine Beerdigungspflicht sinn-voll. Damit hätte man außerdem endlich eine saubere Statistik, um das Gesetz zu prüfen, wie es im Gesetz vorgeschrieben

ist, und man hätte einen Ort der Trauer, des Weiteren gerieten diese Kinder im gesellschaftlichen Ansehen aus dem Be-reich des »Gebärmutterinhalts« heraus wieder in die Kategorie der Menschen, was ein wichtiges Zeichen wäre.

Nach anfänglicher, erstaunlicher Zu-rückhaltung nach dem ersten Video haben weitere Veröffentlichungen des »Center for Medical Progress« dazu geführt, dass »Planned Parenthood« unter Druck ge-rät. Wie heilig diese Kuh ist, zeigt sich unter anderem darin, dass ein Antrag zur Beendigung der finanziellen Unterstüt-zung bereits gescheitert ist – ein erster Versuch im Senat wurde mit 53 zu 46 Stimmen abgelehnt. Die Bundesstaaten Louisiana und Alabama haben sich in-zwischen anders entschieden und geben keine Gelder mehr für die Organisation, in weiteren Staaten wird die Sachlage ge-prüft. Die Demokratin und US-amerika-nische Außenministerin Hillary Clinton versuchte nichts zu sagen, musste dann aber doch: Sie sei stolz auf ihre Unter-stützung der Organisation und würde nie-mals aufhören, die Möglichkeit und das Recht jeder Frau zu unterstützen, ihre eigenen gesundheitlichen Entscheidun-gen zu treffen. Auch US-Präsident Barack Obama ist ein »Pro-choicer«. »Planned Parenthood« pflegt politische Kandida-ten der »Pro-choice«-Fraktion im Wahl-kampf zu unterstützen. Sicher nicht zu-

fällig erschien der Präsident persönlich am 26. April 2013 bei einer »Planned Parenthood«-Konferenz in Washington. Laut »Planned Parenthood« sagte er: »Cecile, (…) thank you for the outstan-ding leadership that you’ve shown over

the years. You just do a great, great job.« (www.plannedparenthood.org/about-us/newsroom/press-releases/obamas-histo-ric-speech). Er dankt Cecile Richards bei seinem Auftritt also ausdrücklich für ih-re wundervolle, außergewöhnliche Füh-rungstätigkeit.

Die heilige Kuh »Planned Parenthood« wird nach Jahrzehnten der unbehelligten Tätigkeit endlich, wenn auch mit Hin-dernissen, geprüft. Wie heißt es noch bei »StemExpress«? »Unser Versprechen: Der Schutz der Privatsphäre unserer For-scher und Spender hat bei StemExpress immer höchste Priorität.« Jetzt kann man sich auch vorstellen, warum das so ist.

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Cecile Richards Fetales Gewebe zu verkaufen: Ausschnitt aus dem versteckt gedrehten Video

I M P O R T R A I T

Alexandra Maria Linder M. A.Die Autorin, Jahrgang 1966, hat Roma-nistik und Ägyptologie studiert und sich als Übersetzerin und Lektorin selbstän-

dig gemacht. Die 1. Stellvertretende Bundesvorsitzende der ALfA e. V. hat 2009 das Sach-buch »Geschäft Abtreibung« veröf-

fentlicht, das auch dieses Thema behan-delt. Sie lebt mit ihrem Ehemann und drei Kindern im Sauerland.

»Louisiana und Alabama gebenkeine Gelder mehr.«

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I M P O R T R A I T

Prof. Dr. med. Holm SchneiderJahrgang 1969, arbeitet als Kinder-arzt und Leiter der Abteilung für Mo-lekulare Pädiatrie am Universitätskli-nikum Erlangen. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern.

I N K L U S I O N

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LebensForum: Herr Professor Schneider: Inklu-sion ist derzeit in aller Munde. Als Genforscher und Kinderarzt, der sich besonders für Men-schen mit Behinderungen einsetzt, könnte Sie dies freuen. Wie zufrieden macht Sie der Um-gang von Politik und Gesellschaft mit dem The-ma Inklusion?

Professor Dr. med. Holm Schneider: Nun, die Richtung stimmt, aber der Weg ist noch weit. Es freut mich, dass die Fa-milien meiner Patienten heute Möglich-keiten vorfinden, um die andere vor zehn Jahren noch mit ganzem Einsatz kämpfen mussten. Das ist politischen Entscheidun-gen zu verdanken. Ich nehme vielerorts ein Bemühen um Chancengleichheit für Menschen mit Behinderung wahr: in Kin-dergärten, Schulen, Vereinen, sogar auf dem ersten Arbeitsmarkt. Missverständ-nisse bleiben da nicht aus, und manchmal kommt es auch zu echten Interessenskon-flikten – mit der Gefahr, dass Betroffene ins mediale Rampenlicht gezerrt werden und erbitterte öffentliche Debatten aus-lösen. Wie Henri aus Baden-Württem-berg zum Beispiel, dem die Schlagzeile »Geistig behindert aufs Gymnasium?« wohl eher zweifelhafte Popularität ver-schafft hat. Inklusion heißt nicht, dass je-dem Kind jede Schule offenstehen sollte.

Sondern?

Dass Menschen mit Behinderung gleichberechtigt mit anderen entschei-den können, welcher Ort für sie der pas-sende ist, und dass sie tatsächlich die glei-chen Chancen bekommen. Gerade jene, die sich von klein auf als »anders« erle-ben, brauchen solche Chancengleich-heit, um Selbstachtung und ein realisti-sches Selbstbild zu entwickeln. Und da viele Begabungen sich erst in der Ge-meinschaft entfalten, profitieren auch Gemeinschaften davon, wenn sie Aus-grenzung vermeiden und jemanden, der ernsthaft dazugehören möchte, so anneh-men, wie er nun mal ist.

Wo sehen Sie die größten Defizite?

Da, wo man meint, Inklusion lasse sich von außen, durch Verordnungen bewir-ken. Das geht fast immer schief. Inklu-sion beginnt im Kopf, nicht auf dem Pa-pier. In Nordrhein-Westfalen zum Bei-spiel, wo im Sommer 2014 das 9. Schul-rechtsänderungsgesetz in Kraft trat, wird jetzt ein Drittel der Kinder mit sonder-pädagogischem Förderbedarf an Regel-schulen unterrichtet. Ich kenne Lehrer, die das als »Zumutung« bezeichnen – und sie haben recht. Inklusion an Schulen kann nicht ohne die Bereitschaft der Lehrkräf-te und der Klassengemeinschaft gelin-gen, auch nicht ohne adäquate Fortbil-dung und zusätzliche Ressourcen. Wenn es an solchen Voraussetzungen mangelt, lassen wir uns ungern etwas zumuten – ein Wort, das ursprünglich »zutrauen, besonderen Mut anerkennen« bedeute-te. Und tatsächlich braucht es Mut, in ei-ner Gemeinschaft aus lauter jungen, leis-tungsfähigen, unbehinderten Individuen unsere eigentliche Abhängigkeit vonein-ander nicht zu verleugnen.

Und was schlagen Sie da vor?

Zuerst sollten wir die Bilder von Be-hinderung in unseren Köpfen korrigie-ren. Jeder von uns kann jederzeit zum Behinderten werden. Kaum jemand wird ein Leben lang gesund sein. Krankhei-ten und Handicaps gehören zum Leben einfach dazu, manchmal schon von An-fang an. Eltern, Mitschüler und Lehrer, die das verstanden haben, werden ein-ander zutrauen, mitzuwachsen mit ei-nem besonderen Kind. Die meisten Er-wachsenen wissen auch, dass es sinnlos ist, an jedes Kind die gleichen Anforde-rungen zu stellen. Der Überflieger lernt dabei, dass er sich nicht mühen muss, an-dere werden überfordert und damit de-motiviert. Bildung sollte jedoch helfen, eigene Stärken zu erkennen und schät-

zen zu lernen, ebenso wie die der ande-ren. Kurz: Es braucht mehr als nur po-litische Vorgaben, um Behinderte inklu-dieren zu können.

Ist es kein Widerspruch, wenn Bund, Länder und Kommunen überlegen, wie Inklusion in Städ-ten und Gemeinden, in Kindergärten und Schu-len, am Arbeitsplatz und in der Freizeit gelingen kann, andererseits aber Gesetze beibehalten, die die vorgeburtliche Tötung von Menschen mit Behinderungen ermöglichen, und darüber hin-aus die Entwicklung von Gentests fördern, mit denen sich die Träger genetischer Besonderhei-ten identifizieren und selektieren lassen?

Ja, das ist ein frappierender Wider-spruch, auf den ich auch immer wieder hinweise. Wirkliche Inklusion beginnt schon vor der Geburt.

In Deutschland ist der sogenannte PraenaTest seit August 2012 erhältlich. Laut dem Herstel-ler, der Konstanzer BioTech-Firma LifeCodexx, haben bereits im ersten Jahr 6.000 Frauen von diesem Test Gebrauch gemacht. Rund die Hälf-te davon in Deutschland. LifeCodexx bewirbt den Bluttest als schnelle und sichere Alternative zu Fruchtwasseruntersuchungen und der Cho-rionzottenbiopsie, da er eine Genauigkeit von 99,8 Prozent aufweise und nicht das Risiko ei-ner Fehlgeburt berge. Befürworter des Praena-Tests argumentieren, durch den Bluttest sei eine vorgeburtliche Diagnostik nun mit weniger Ri-siken für Mutter und Kind verbunden. Ein Argu-ment, das auch den Genforscher und Kinderarzt Schneider überzeugt?

Nun, für das Kind ist dieser Test durch-aus riskant, denn wenn es tatsächlich oder auch nur vermeintlich – infolge falsch-positiver Befunde – von der Norm ab-weicht, dann kann sein Lebensrecht vom Staat nicht mehr gewährleistet werden. Wir wissen ja zum Beispiel, dass nach der vorgeburtlichen Diagnose einer Triso-mie 21 (Down-Syndrom) über 90 Pro-zent der Betroffenen abgetrieben wer-den. Der PraenaTest wird ab der vollen-

Trotz legitimer Wünsche gibt es »kein Recht« auf ein »gesundes Kind«, meint der Genforscher, Kinderarzt und Buchautor Holm Schneider. Stefan Rehder sprach mit dem Leiter der

Molekularen Pädiatrie am Universitätsklinikum Erlangen, der auch 2. Stellvertretender Vorsitzender der Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e. V. ist.

Der weite Weg zur Inklusion

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deten neunten Schwangerschaftswoche angeboten. Das Ergebnis liegt nach vier bis zehn Tagen vor. Laut § 218 a Absatz 1 StGB ist bis zur zwölften Lebenswoche des ungeborenen Kindes dessen straffreie Abtreibung möglich, wofür nur ein Bera-tungsschein vorgelegt werden muss. Ob das Testergebnis der Grund dafür war, wird nirgends erfasst. Auf dem Auftrags-bogen zum PraenaTest lassen sich außer Trisomie 21 derzeit sechs weitere gene-tische Besonderheiten ankreuzen, die man beim Baby »ausschließen« möchte. Zum Beispiel das Turner-Syndrom, eine Chromosomenanomalie, die zu behandel-barem Kleinwuchs führt – bei normaler Intelligenz und Lebenserwartung. Die-ser Test birgt also nicht nur für Kinder mit Down-Syndrom ein tödliches Risiko – und er bringt Schwangere in Gefahr, eine Entscheidung unter Zeitdruck zu treffen und dann ein Leben lang Mutter eines getöteten Kindes zu sein.

Derzeit ist der PraenaTest eine sogenannte IGeL-Leistung, die von den Patientinnen privat be-zahlt werden muss. LifeCodexx bemüht sich aber um Aufnahme des PraenaTests in den Leis-tungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen. Der Gemeinsame Bundesausschuss berät bereits über einen Antrag auf Erprobung des Praena-Tests. Entscheidet der sich dafür, könnte als Er-gebnis der dann durchzuführenden Studien die Aufnahme des Tests in die Regelleistungen der gesetzlichen Krankenkassen folgen. Mit wel-chen Veränderungen müsste unsere Gesellschaft in einem solchen Fall rechnen?

Damit, dass der PraenaTest dann ein Test für fast jede Schwangere wird, weil viele Ärzte ihn dann unabhängig vom Al-ter der Schwangeren oder anderen Risiko-faktoren anbieten werden. Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik erklärte dazu schon 2012, dass diese Untersuchung »allen Schwangeren verfügbar gemacht werden sollte«. Damit käme es zu einer weiteren Aushöhlung des Lebensschut-zes ungeborener Kinder, auch der gene-tisch normalen. Denn je breiter der Test eingesetzt wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass die Diagnose einer »Chromo-somenstörung« gar nicht stimmt. In Stu-dien lag eine falsch-positive Diagnose in 0,2 bis 0,3 Prozent der Fälle vor. Würde man alle Schwangerschaften testen, also auch die junger Frauen, bei denen kind-liche Chromosomenanomalien viel selte-ner sind, wären die meisten vermeintlich Betroffenen ganz normale Kinder. Solche Screening-Untersuchungen würden au-ßerdem dazu führen, dass Menschen, de-ren genetische Merkmale aus Sicht ihrer Eltern unerwünscht sind, keine Chance

mehr haben, geboren zu werden. Diese »Eugenik von unten« könnte das Glei-che bewirken wie »von oben«, vom Staat angeordnete Eugenik, nämlich das Aus-sterben bestimmter Menschengruppen. Ich finde es absurd, so etwas als Regel-leistung von Krankenkassen vorzuschla-gen. Das ist ein Angriff auf die Würde des Menschen insgesamt.

Besondere Bedeutung kommt in diesem Zusam-menhang auch dem Arzthaftungsrecht zu. In der Vergangenheit haben Richter bereits Ärz-te zu Schadensersatz verurteilt, weil diese Frau-en nicht eindrücklich genug vor der Möglichkeit gewarnt hätten, ein Kind mit Down-Syndrom zu bekommen. Ist eine Kind-als-Schaden-Recht-sprechung in einer Gesellschaft, die sich die In-klusion auf die Fahne geschrieben hat, nicht ein merkwürdiger Anachronismus?

Als Vater wie als Kinderarzt verstehe ich natürlich den Wunsch nach gesunden Kindern. Der ist völlig legitim. Ich weiß aber auch, dass es kein Recht darauf gibt und dass kein Test auf dieser Welt ein ge-sundes Kind garantieren kann. Dennoch wurden Ärzte zur Unterhaltskostenzah-lung verurteilt, weil die Eltern erklärten, dass sie ihr Kind bei rechtzeitiger Kennt-nis seiner Behinderung abgetrieben hät-ten. In Österreich zum Beispiel gab und gibt es solche Fälle immer wieder. In Deutschland dagegen wurde die soge-nannte embryopathische Indikation vor 20 Jahren abgeschafft – wegen des Dis-kriminierungsverbotes im Grundgesetz. Da eine Abtreibung allein wegen einer

gesundheitlichen Beeinträchtigung des Ungeborenen seitdem immer rechtswid-rig ist und das Verhindern einer rechts-widrigen Tat nie einen Schadensersatz begründen kann, sollten Kind-als Scha-den-Prozesse in unserem Land eigentlich nicht mehr vorkommen. Trotzdem hat der Bundesgerichtshof 2002 eine Ärztin zur Zahlung von Kindesunterhalt verurteilt, weil sie schwere Fehlbildungen der Arme und Beine, die bei vorgeburtlichen Ul-traschalluntersuchungen hätten erkannt werden müssen, der Schwangeren nicht mitteilte. Auch bei erfolglosen Abtrei-bungsversuchen wurden Ansprüche ge-richtlich verhandelt oder über die Haft-pflichtversicherung des Arztes befriedigt.

Aus meiner Sicht ist nicht die Haft-pflichtversicherung des Frauenarztes, son-dern die gesamte Solidargemeinschaft in

der Verantwortung, wenn einer Familie durch die Geburt eines Kindes mit ange-borenen Besonderheiten Nachteile ent-stehen. Dafür zu sorgen, wäre notwendi-ge Anti-Diskriminierungspolitik.

Welche Maßnahmen müsste der Gesetzgeber Ih-rer Ansicht nach ergreifen, um derartige Urteile zukünftig unmöglich zu machen?

Er müsste zunächst die immense Wir-kung solcher Gerichtsurteile zur Kennt-nis nehmen: Schon das erste Urteil des Bundesgerichtshofs zur fehlerhaften Auf-klärung über Pränataldiagnostik führte zu einer sprunghaften Ausbreitung der Fruchtwasseruntersuchung. Während

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Über 90 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom werden heute abgetrieben

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das Verfahren noch lief, verdoppelte sich bundesweit die Zahl der Fruchtwasserun-tersuchungen. Und Ärzte, die Schwangere so berieten, dass sie ein mutmaßlich be-hindertes Kind nicht zur Welt brachten, fühlten sich auf der sicheren Seite. Das Problem ist nicht die Pränataldiagnos-tik an sich, sondern der Auftrag an den Arzt, vorgeburtlich festzustellen, ob ein Kind bestimmte Eigenschaften hat, um sein Leben gegebenenfalls »rechtzeitig« zu beenden. Wofür werden Ärzte bei feh-lerhafter Pränataldiagnostik haftbar ge-macht? Nicht für die Beeinträchtigung des Kindes, sondern für das Unterblei-ben eines Schwangerschaftsabbruches. Der Gesetzgeber müsste also verhindern, dass Selektion und Tötung menschlichen Lebens als ärztliche Aufgaben angesehen werden, die dann eben auch »Qualitäts-ansprüchen« zu genügen hätten. Das gilt für das Thema Abtreibung genauso wie für die aktuelle Debatte um aktive Ster-behilfe. Im Falle des Oldenburger Babys Tim – eines heute 18-jährigen Mannes, der seine eigene Abtreibung überlebte – wurde einer Zeugin vor Gericht eine ei-desstattliche Erklärung abverlangt, dass Tims Mutter vor dem Eingriff auf das mögliche, wenn auch unwahrscheinli-che Überleben des Kindes hingewiesen worden war. Das ist eigentlich unfassbar. Gehört es nicht zum Grundverständnis unseres Rechtssystems, dass Menschen dem Versuch ihrer Tötung normaler-weise Widerstand entgegensetzen und, Gott sei Dank, manchmal überleben? Der Gesetzgeber sollte Möglichkeiten schaf-fen, dass Kinder ungewollt Schwangerer leichter von ungewollt Kinderlosen ad-optiert werden können, und er sollte da-für sorgen, Alternativen zur Selbsttötung wie Hospize und Palliativstationen noch viel bekannter zu machen. Und nicht zu-letzt sollte er der verbreiteten Vorstel-lung, alles einklagen zu können, entge-gentreten. Ein gesundes Baby ist und bleibt ein Geschenk.

Als Kinderarzt beraten Sie selbst ja auch Schwangere, bei deren Kind eine Fehlbildung oder Krankheit diagnostiziert wurde. Wie gehen Sie selber mit dem Haftungsrisiko um?

Wenn die Diagnostik und die Infor-mationen, die im Aufklärungsgespräch übermittelt werden, dem medizinischen Standard und der konkreten Situation der Schwangeren entsprechen, ist jeder Arzt berechtigt und nach aktueller Ge-setzeslage auch verpflichtet, lebenserhal-tend zu beraten. Ich muss bei ordnungs-gemäßer Aufklärung keine Haftung be-fürchten, wenn ich versuche eine Frau

zur Fortsetzung der Schwangerschaft mit einem mutmaßlich behinderten Kind zu ermutigen, wenn ich Kontakte zu Fami-lien herstelle, die das Leben mit einem betroffenen Kind anschaulich machen, oder auf die Nachteile und ungewollten möglichen Folgen weiterer Pränataldia-gnostik hinweise.

Wer nicht regelmäßig mit Menschen mit Behin-derung zu tun hat, wirkt im Umgang mit ihnen oft verunsichert und gehemmt. Vergleichbar je-mandem, der sich in einer Sprache auszudrücken sucht, die er nicht beherrscht. Kann man sagen, Übung macht auch hier den Meister, oder gibt es da vielleicht noch anderes zu berücksichtigen, etwa dass behinderte Menschen uns unsere ei-gene Verletzlichkeit vor Augen führen, was zum Beispiel auch Ängste hervorrufen kann?

Das trifft sicher zu. Menschen, deren Grenzen sichtbar sind, erinnern uns eben auch an unsere eigene Schwäche, daran, dass jeder Mensch angewiesen ist auf an-dere, dass niemand alles alleine schafft. Damit muss ich mich erst mal ausein-andersetzen. Habe ich den Mut, mich meiner Begrenztheit zu stellen, meinen Schattenseiten, meinen Schwächen und Ängsten? Das konfrontiert mich plötz-lich ganz konkret mit der Frage: Was macht mein Leben wertvoll? Und hier können Menschen mit Behinderung uns Wesentliches sagen: Mein Wert ist nicht das Produkt meiner geistigen und körper-lichen Kräfte. Er ist nicht an Leistungs-fähigkeit gebunden, weder im Himmel noch auf Erden – ich erinnere da nur an Papst Johannes Paul II. bei seinen letzten öffentlichen Auftritten. Wer über diese Frage nachdenkt, dem kann nichts Bes-seres passieren, als Menschen mit Behin-derung kennenzulernen, sie schätzen zu lernen – und dadurch an die Hand ge-nommen zu werden, die eigenen Gren-zen anzunehmen. Wer sich darauf ein-lässt, der kann enorm viel gewinnen. Es gibt viele Menschen mit Behinderung, die anderen gern einen Einblick in ihr Leben gewähren, und es gibt Gemein-schaften, wo man staunend erkennt, dass auch Menschen mit einem ganz kleinen Kompetenzbereich eine ihnen gemäße Aufgabe finden können.

Kinder, die zusammen mit Behinderten den Kin-dergarten und die Schule besuchen, verlieren meist recht schnell die Hemmung und lernen re-lativ problemlos, angemessen mit ihnen umzu-gehen. Aber was ist mit den Menschen, die noch in einer exklusiven Bildungslandschaft aufge-wachsen sind? Was kann ihnen helfen, die Angst oder auch nur Scheu vor dem Umgang mit Be-hinderungen zu überwinden?

Am besten der eigene Wille, es ein-fach mal zu versuchen.

Sie sind nicht nur Kinderarzt und Genforscher, sondern auch Autor mehrerer Kinder- und Sach-bücher, die auf ganz unterschiedliche Weise zei-gen, wie Menschen mit Behinderung unsere Ge-sellschaft bereichern. In Ihrem 2014 im Neu-feld Verlag erschienenen Buch »Was soll aus die-sem Kind bloß werden?« haben Sie sieben Men-schen mit Down-Syndrom porträtiert und damit gezeigt, wie eine gelungene Inklusion von Men-schen mit Behinderung in der Arbeitswelt aus-sehen kann. Welche Rückmeldungen haben Sie auf dieses Buch, das bereits seine 2. Auflage er-lebt hat, bekommen?

Mehr als erwartet. Es gab Rückmel-dungen von Eltern, die zeigen, dass diese Geschichten tatsächlich Mut machen, dass sie den Blick auf das lenken, was Men-schen mit Down-Syndrom können. Unser Bundespräsident Joachim Gauck schrieb, er freue sich über die Zuversicht, die das Buch ausstrahle und die in unserem Land gebraucht werde. Auch der Brief eines Bi-schofs, der mich wissen ließ, dass er aktiv zur Verbreitung des Buches beiträgt, hat mich sehr berührt. Gestaunt habe ich, auf welch originellen Wegen es in die Hän-de von Firmenchefs, also potenziellen Arbeitgebern, gelangt ist – oder zu einer Schwangeren, die voller Angst war, weil man bei ihrem Baby im Bauch eine ver-dickte Nackenfalte festgestellt hatte. Sie hat Kraft für das »Ja« zu ihrem Kind aus diesem Buch gewonnen, zusammen mit der Erkenntnis, dass auch aus Kindern mit Down-Syndrom etwas werden kann.

Arbeiten Sie bereits an einem neuen Projekt? Und wenn ja, was ist davon schon mitteilbar?

Im Sommerurlaub möchte ich ein an-deres Buch abschließen, in dem es nicht um die Arbeitswelt geht, sondern um In-klusion im privaten Umfeld: Es erzählt von Menschen mit unterschiedlichen Handicaps, die den Wunsch nach einer eigenen Familie trotzdem verwirklicht haben. Und von Kindern, die ihre El-tern, obwohl sie anders sind, nicht we-niger lieben.

Es soll im Frühjahr 2016 im Neufeld Verlag erscheinen. Patienten in meiner Spezialambulanz fragen mich immer wie-der: »Kann so jemand wie ich auch mal heiraten und Kinder bekommen?« Dar-auf zu antworten, fiel mir anfangs schwer. Deshalb habe ich sehr genau hingehört, wenn Menschen mit Behinderung über ihre Erfahrungen sprachen, und einige haben mir erlaubt, ihre persönliche Ge-schichte weiterzuerzählen.

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EGMR: Es gibt kein Rechtauf einen assistierten Suizid

Straßburg (ALfA). Es gibt kein Grund-recht auf assistierten Suizid. Das hat Mit-te Juli der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg bekräftigt (Az.: 2478/15). Die Richter wie-sen die Klage einer Britin als unbegrün-

det ab. Mit der Klage wollte die Frau die vermeintlichen Rechte ihres inzwischen verstorbenen Mannes geltend machen. Nach einem Schlaganfall litt dieser un-ter dem Locked-in-Syndrom: Er war bei vollem Bewusstsein, sein Körper aber fast völlig gelähmt. Laut den britischen Ge-richten habe er sterben wollen, sei aber aufgrund seiner Lähmungen nicht in der Lage gewesen, sich ohne fremde Hilfe das Leben zu nehmen.

Beihilfe zum Suizid ist in Großbritan-nien strafbar und kann mit bis zu 14 Jah-ren Haft geahndet werden. Mit der Kla-ge wollte der Mann erreichen, dass die britischen Gerichte seinen Sterbewunsch akzeptieren. Dies war jedoch bis hinauf zum Obersten Gerichtshof erfolglos ge-blieben. Daraufhin verweigerte der Mann die weitere Aufnahme von Nahrung, Flüs-sigkeit und Medikamenten und starb im August 2012. Seine Ehefrau rief später den EGMR an. Das Verbot des assistier-ten Suizids, die Strafandrohung bei ent-sprechender Hilfe sowie das Urteil des Obersten Gerichtshofs in Großbritanni-en hätten das Grundrecht ihres Mannes auf Privat- und Familienleben verletzt.

Der EGMR wies die Beschwerde ab. In ihrer Begründung beriefen sich die Rich-ter auf ein Urteil vom 29. April 2002 (Az.: 2346/02). Damals hatten die Straßbur-ger Richter eine Britin mit einer unheil-baren, zuletzt ebenfalls zu völliger Läh-mung führenden Muskelschwäche abge-wiesen. Ein Recht auf assistierten Suizid lasse sich aus der Europäischen Menschen-rechtskonvention nicht unmittelbar ablei-

ten. Unter den Zeichnerstaaten gebe es auch keinerlei Konsens in dieser Frage. Daher hätten die Staaten bei deren Re-gelung einen weiten Spielraum.

In dem von den Richtern nun zu ent-scheidenden Fall hatte die Ehefrau ei-nen gesellschaftlichen Wandel geltend zu machen versucht. Die Bereitschaft, ei-nen assistierten Suizid zu akzeptieren, sei deutlich gewachsen. Dem hat der EGMR nun widersprochen. Ein Konsens in die-ser Frage sei nicht in Sicht. In dieser Si-tuation biete die Menschenrechtskonven-tion den britischen Gerichten keinerlei Handhabe, sich über die Gesetzesent-scheidungen des Parlaments hinwegzu-setzen. Die Beschwerde sei offensicht-lich unbegründet und daher unzulässig, befanden die Straßburger Richter. san

Losinger für neuesReproduktionsmedizin-Gesetz

Berlin (ALfA). Augsburgs Weihbi-schof Anton Losinger hält es für not-wendig, Gesetze wie das Embryonen-schutzgesetz, das Gentechnikgesetz und das Stammzellgesetz zu novellieren und »zu einem großen Reproduktionsmedi-zin-Gesetz zusammenzuführen«.

Im Interview mit dem »Berliner Ta-gesspiegel« (Ausgabe vom 2. August) sag-te Losinger, der auch Mitglied des Deut-

schen Ethikrates ist, mittlerweile könn-ten menschliche Körperzellen »so repro-grammiert werden, dass daraus pluripo-tente Zellen entstehen. Aus ihnen kann man Nerven-, Muskel-, Leber- oder Blut-zellen generieren.« Das sei ethisch un-bedenklich. In Kürze würden Forscher jedoch in der Lage sein, aus menschli-chen Körperzellen totipotente Zellen zu entwickeln. »Das wäre ein gigantischer Sprung«, so Losinger. »Denn aus totipo-tenten Zellen lassen sich Funktionen und

Fähigkeiten eines menschlichen Embryos herstellen.« Menschen wären dann »in der Lage, Menschen zu konstruieren – nach eigenen Vorstellungen«. Dies bedrohe die Einmaligkeit des Menschen. »Jeder Mensch hat ein Recht auf Einmaligkeit und eine eigene Würde. Kein Mensch darf sich anmaßen, willkürlich die gene-tischen Merkmale eines anderen zu be-stimmen. Das Klonen würde der Selek-tion von Menschen mit vermeintlich hö-heren Qualitäten Tür und Tor öffnen.« Ein Mensch dürfe aber niemals »Mittel zum Zweck« werden, so Losinger weiter.

Die »gesetzlichen Strukturen« zu ei-nem Reproduktionsmedizin-Gesetz zu-sammenzuführen, hält der Weihbischof für einen »notwendigen Ansatz«. Wich-tig sei, »dass dabei die hohen ethischen Standards gewahrt bleiben. Der Lebens-schutz für Embryonen, den das Embryo-nenschutzgesetz garantiert, darf nicht an-getastet werden«, fordert Losinger. reh

Mütter nur noch selten»guter Hoffnung«

Gütersloh (ALfA). So gut wie alle Schwangeren (99 Prozent) nehmen mitt-lerweile Vorsorgemaßnahmen in Anspruch, die in den Mutterschafts-Richtlinien gar nicht vorgesehen sind. Hierzu zählen etwa mehr als drei Ultraschalluntersuchungen sowie Blut- oder Herztonmessungen. So lautet das Ende Juli präsentierte Ergeb-nis einer Studie der Bertelsmann Stiftung, für die knapp 1.300 Mütter kurz nach der Geburt befragt wurden. Nahezu unerheb-lich war dabei, ob bei den Frauen eine so-genannte Risikoschwangerschaft oder ein unauffälliger Verlauf vorlag. Laut der Stu-die ließen 49 Prozent der Frauen mit nor-mal verlaufender Schwangerschaft fünf und mehr Ultraschalluntersuchungen durch-führen. Nahezu jede ließ eine Kardiotoko-graphie (CTG) durchführen. Beim CTG werden die Herztöne des Kindes und die Wehen der Mutter erfasst. Vier von fünf Frauen haben für die oft unnötigen Un-tersuchungen auch ins eigene Portmonee gegriffen. Laut den Autoren der Studie hatten weder das Alter (Frauen ab 35 Jah-ren gelten automatisch als Risikoschwan-gere) noch das Einkommen oder der Bil-dungsabschluss der Schwangeren einen Einfluss darauf, ob die Frauen Zusatzun-tersuchungen in Anspruch nahmen oder nicht. »Mehr ist nicht zwingend besser.

Weihbischof Anton Losinger

Der EGMR in Straßburg

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Es gibt eine klare Überversorgung wäh-rend der Schwangerschaft«, erklärte Uwe Schenk, Gesundheitsexperte der Bertels-mann Stiftung. Experten fürchten, eine Schwangerschaft werde immer häufiger als etwas Krankhaftes und Behandlungs-würdiges verstanden. reh

Verkaufsboom bei»Pille danach« hält an

Berlin (ALfA). Die Handlungsemp-fehlungen für den rezeptfreien Verkauf der »Pille danach« in Apotheken las-sen weiter auf sich warten. Die Empfeh-lungen würden noch an einigen Stellen überarbeitet, sagte eine Sprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Apothe-kerverbände Ende Juli der Katholischen Nachrichten-Agentur. Die Grundprinzi-pien der bisherigen Empfehlungen blie-ben erhalten.

Seit Mitte März ist die »Pille danach« in deutschen Apotheken rezeptfrei er-hältlich. Versandapotheken wurden von der Abgabe ohne Rezept ausgenommen, um Missbrauch zu verhindern. Die Bun-desvereinigung der Apothekerverbän-de hatte Ende Januar erste Handlungs-empfehlungen und eine Checkliste ver-öffentlicht. Darin heißt es, der Apothe-ker solle die »Pille danach« der Kundin persönlich und möglichst nicht auf Vor-rat verkaufen. Bei minderjährigen Kun-dinnen weisen die Verbände auf die be-sondere Sorgfaltspflicht hin. Eine Abga-be ist aber laut Verordnung grundsätz-lich an »Frauen im gebärfähigen Alter« rechtens. Die endgültige Verkaufsent-scheidung liege beim Apotheker, beton-te die Sprecherin.

Frauenärzte hatten unter anderem kri-tisiert, dass die Empfehlungen nicht aus-reichende Informationen über die nach-lassende Wirksamkeit des Präparats bei einer Zunahme des Gewicht enthielten. Seit der Rezeptfreigabe der »Pille da-nach« wurden in Deutschland bis Ende Mai 167.500 Packungen über den Tre-sen gereicht. Das teilte der Gesundheits-informationsdienst »IMS Health« mit. Im Vergleichszeitraum des Vorjahres sei-en es 119.800 Packungen gewesen. Das entspreche einem Anstieg von nahezu 40 Prozent. Vor allem in ostdeutschen Bun-desländern stieg der Verkauf stark an. Den höchsten Anstieg gab es in Brandenburg und Sachsen-Anhalt mit einem Plus von

mehr als 74 Prozent im Vergleich zum Zeitraum März bis Mai 2014. In Sach-sen und Bremen betrug der Anstieg rund 67 Prozent. Am geringsten fiel der An-stieg im Saarland und in Berlin aus mit einem Plus von rund 21 beziehungswei-se 27 Prozent. reh

Zahl der Organspenderwieder gestiegen

Frankfurt am Main (ALfA). Die Zahl der Organspender in Deutschland ist im ersten Halbjahr 2015 erstmals seit län-gerem wieder gestiegen. Von Januar bis Ende Juni gab es 464 Organspender ge-genüber 435 im Vergleichszeitraum des Vorjahres. Dies teilte die Deutsche Stif-tung Organtransplantation (DSO) Ende Juli in Frankfurt mit.

»Damit ist der seit einigen Jahren an-haltende Abwärtstrend bei der Organ-spende durchbrochen« wird der Medizi-nische Vorstand der DSO, Axel Rahmel, zitiert. Rahmel sprach von einer »vor-

sichtigen Hoffnung«, dass sich »die Or-ganspendezahlen weiter erholen«. Aller-dings sei es zu früh, »um von einer ech-ten Trendwende bei der Organspende zu sprechen«. Nachdem in mehreren Trans-plantationszentren Manipulationen bei der Verteilung von Organen aufgedeckt wurden, ging die Zahl der Organspen-den in Deutschland in den vergangenen Jahren zurück. Im ersten Halbjahr 2010 hatten noch 648 Menschen Organe ge-spendet. reh

PID: Ethikkommissionkonstituiert

Stuttgart (ALfA). Die gemeinsame PID-Ethikkommission der Länder Ba-

den-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen und Thürin-gen zur Durchführung der Präimplan-tationsdiagnostik (PID) hat sich am 15. Juli 2015 konstituiert. Sie wurde gemäß Staatsvertrag bei der Landesärztekam-mer Baden-Württemberg eingerichtet. Die PID-Ethikkommission hat die Auf-gabe, Anträge auf Durchführung einer Präimplantationsdiagnostik zu bewerten. Nach dem Willen des Gesetzgebers ist ei-ne solche Behandlung nur ausnahmswei-se und nur unter strengen Voraussetzun-gen zuzulassen.

Der Kommission gehören acht Mit-glieder an: Vier medizinische Sachver-ständige aus den durch die PID berühr-ten Fachrichtungen, jeweils ein Sachver-ständiger oder eine Sachverständige der Fachrichtungen Ethik und der Fachrich-tung Recht. Ferner jeweils ein Vertreter einer Organisation, die sich maßgeblich für die Wahrnehmung der Interessen der Patienten engagiert, sowie ein Vertreter einer Organisation, die sich maßgeblich für die Wahrnehmung der Interessen der Selbsthilfe der Menschen mit Behinde-rung engagiert. Jedes Mitglied hat zwei Stellvertreter.

Zur Vorsitzenden wählten die Mit-glieder der Kommission einstimmig Dr. med. Gabriele du Bois aus Böblingen. Die Fachärztin für Humangenetik ist seit Jahren im Ethikausschuss des Deutschen Ärztinnenbundes aktiv und seit 2011 auch dessen erste Vorsitzende.

Im März dieses Jahres hatte sich die Bayerische Ethikkommission für Präim-plantationsdiagnostik konstituiert. Sie wird von Prof. Dr. med. Hugo Segerer geleitet. Segerer ist Professor und Chef-arzt der Neonatologie und Diabetologie im St. Hedwig Krankenhaus der Barm-herzigen Brüder. Aufgabe der Ethikkom-mission ist es zu prüfen, ob eine medizi-nische Indikation vorliegt, die zur Vor-nahme einer PID berechtigt. Die Kom-mission ist für alle vier im Freistaat ange-siedelten PID-Zentren zuständig und soll gewährleisten, dass in ganz Bayern nach einheitlichen Kriterien entschieden wird. »Die genetische Untersuchung von Em-bryonen ist ein ethisch-moralisches und rechtliches Spannungsfeld. Klar ist: Die PID darf auf keinen Fall als ein Selekti-onsinstrument wahrgenommen werden«, betonte Bayerns Gesundheitsministe-rin Melanie Huml. pd/reh

Wertvolles Gut: Menschliche Organe

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EINE VORBEMERKUNG

Manches stellt man heute besser gleich am Anfang klar. In diesem Beitrag geht es nicht um Homosexualität, sondern um künstliche Befruchtung und Leihmutter-schaft. Auf die Gefahr hin, dass der Au-tor den einen oder anderen Leser ent-täuscht, es geht hier auch nicht um die Frage, was sündhafte Sexualität ist, son-dern darum, was Recht und Unrecht ist. Nicht vor Gott, sondern vor dem Ge-setz. Dass das Paar, das von Schweizer Behörden die Anerkennung eines auf sol-che Weise gezeugten Kindes verlangte, ein homosexuelles ist, das in einer einge-tragenen Lebensgemeinschaft lebt, spielt bei dem bemerkenswerten Urteil, das die Schweizer Bundesrichter bereits im Mai fällten und dessen schriftliche Fassung sie nun veröffentlichten, keine Rolle. Es hät-te auch ein heterosexuelles sein können. In der Schweiz ist – wie in Deutschland – nicht Homosexualität verboten, sondern die Leihmutterschaft, und das unabhän-gig vom Zivilstand der Betroffenen. Na-türlich steht es jedem trotzdem frei, den Schweizer Bundesrichtern und/oder dem Autor dieses Beitrags einen Hang zur Ho-mophobie zu unterstellen. Es wäre aller-dings wahrheitswidrig.

DIE VORGESCHICHTE

Am 11. April 2011 erblickte in Ba-kersfield im US-Bundesstaat Kaliforni-en ein Kind das Licht der Welt, das auf natürliche Weise gar nicht hätte entste-hen können. Denn das Kind wurde in ei-nem Labor aus einem Spermium seines Vaters und einer von einer anonymen Frau gespendeten Eizelle gezeugt. An-schließend wurde die so befruchtete Ei-zelle in die Gebärmutter einer anderen Frau transferiert, mit welcher der Vater und sein homosexueller Partner im Juli 2010 einen Leihmuttervertrag geschlos-

sen hatten. Das Paar lebt in der Schweiz, wo es am 11. Februar 2011 seine Lebens-gemeinschaft eintragen ließ.

Im Land der unbegrenzten Möglich-keiten erwirkte das Paar am 24. Febru-ar 2011 zudem ein Vaterschaftsurteil des Superior Courts des County of Kern von Kalifornien, welches den Spermienspen-der zum genetischen und leiblichen Va-ter und dessen Partner zum vermuteten zweiten leiblichen Vater des noch unge-borenen Kindes erklärte. Außerdem ver-

fügte das Gericht, in der Geburtsurkunde des Kindes die Namen der beiden Män-ner einzutragen.

Zurück in der Schweiz bemühten sich die beiden Männer um die Anerkennung des ausländischen Gerichtsurteils und der daraufhin ergangenen Geburtsurkun-de und beantragten eine entsprechende Eintragung in das Personenstandsregis-ter. Nachdem das zuständige Amt dies abgelehnt hatte, legten die beiden Män-

ner Beschwerde gegen die Entscheidung ein. Nach mehreren Instanzen landete der Fall schließlich vor dem Schweizeri-schen Bundesgericht.

DAS URTEIL

In ihrem Urteil (5A_748/2014) wei-sen die obersten Schweizer Richter dar-auf hin, dass sowohl die Schweizer Bun-desverfassung als auch das Schweizer Fortpflanzungsmedizingesetz sämtliche

Formen der Leihmutterschaft verböten. In ihrer schriftlichen Urteilsbegründung führen die Richter dazu aus: »Das Ver-bot der Leihmutterschaft wird mit dem Schutz der Frau vor Instrumentalisierung und mit dem Schutz des Kindeswohls be-gründet. (...) Die biologische (austragende) Mutter soll nicht dem Konflikt zwischen der psychischen Bindung an ihr Kind und der Zusage gegenüber den Wunscheltern ausgesetzt werden und das Kind ist davor

Im Mai dieses Jahres hat das höchste Gericht der Schweiz einem homosexuellen Paar die Anerkennung eines mittels Leihmutterschaft in den USA gezeugten Kindes als leibliches Kind

beider Männer verweigert und dafür in vielen Medien harsche Kritik geerntet. Ende Juli hat das Bundesgericht nun sein schriftliches Urteil veröffentlicht. Eine lohnende Lektüre.

Von Sebastian Sander

Kinder sind keine Waren

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Es gibt Dinge, die man nicht mieten können sollte: etwa den Bauch einer Frau

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zu schützen, dass es zur Ware degradiert wird, die man bei Dritten bestellen kön-ne.« Das Verbot der Leihmutterschaft gel-te »unabhängig vom Zivilstand«.

Der US-amerikanische Vaterschafts-Entscheid könne in der Schweiz nicht an-erkannt werden, da er mit dem »Ordre public«, den inländischen Wertvorstel-lungen, »schlechthin unvereinbar wä-re«. Dabei halten die Richter ausdrück-lich fest, das kalifornische Urteil sei nicht deshalb »Ordre public-widrig«, »weil es ein Kindesverhältnis zu zwei miteinan-der rechtlich verbundenen Männern her-stellt«. Eine im Ausland ausgesprochene Stiefkindadoption sei auch bei eingetrage-nen Lebenspartnern »grundsätzlich aner-kennbar« und verstoße »nicht per se ge-gen den schweizerischen Ordre public«. Und das, obwohl in der Schweiz Homo-sexuellen die Adoption eines Kindes, das einer der Partner aus einer früheren he-terosexuellen Verbindung mitbringt, bis-lang rechtlich untersagt ist.

Die beiden Männer hätten jedoch, als sie in den USA einen Leihmutterschafts-vertrag abschlossen, die für die Schweiz geltende Rechtsordnung bewusst umgan-gen. Dass die beiden Männer »als schwei-zerische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Schweiz, ohne weiteren Bezug zu Kalifornien – die Leihmutterschaft gera-de zur Vermeidung des schweizerischen Verbots in Kalifornien« vereinbart und durchgeführt hätten, stelle eine »recht-lich relevante Rechtsumgehung dar«. »Grund dafür ist«, so die Richter weiter, »dass die Rechtsordnung offensichtlich um die von ihr beabsichtigte Wirkung ihrer Vorschriften gebracht werden soll, wobei diese Vorschriften vor der Verlet-zung der Moral, das öffentliche Interesse und die Menschenwürde schützen sollen«.

Da das Kind aber an der Rechtsumge-hung der »Wunscheltern« keine Schuld trage, prüften die Richter auch, ob die An-erkennung der in den USA ausgestellten Geburtsurkunde im Interesse des Kindes-wohls sein könne.

In ihrer schriftlichen Urteilsbegrün-dung führen sie dazu aus: »Wohl ist es möglich, dass die Anerkennung eines aus-ländischen Leihmutterschaftsurteils im Interesse des Kindes ist.« »Ebenso gut« sei jedoch denkbar, »dass sich ein Leih-mutterschaftskind später als Objekt des – durch das Recht verbotenen – Vorgehens sieht. In diesem Fall würde ihm die Gül-tigerklärung der Verbotsüberschreitung jedes Recht absprechen, sich als Opfer zu fühlen.« »Sicher« sei jedenfalls, »dass der Schutz des Kindes davor, zur Ware degradiert zu werden, die man bei Drit-ten bestellen kann, aber auch der Schutz

der Leihmutter vor der Kommerzialisie-rung ihres Körpers, bedeutungslos wäre, wenn die Rechtsumgehung der Wunsch-eltern nachträglich gültig erklärt würde.«

Ferner würde »die Verneinung der Ordre public-Widrigkeit« die »rechtsan-wendenden Behörden zwingen, ein durch Rechtsumgehung erreichtes Kindesver-hältnis als fait accompli (Anm. der. Re-daktion: vollendete Tatsache) zu akzep-

tieren, womit der Fortpflanzungstouris-mus gefördert würde und das inländische Leihmutterschaftsverbot weitgehend wir-kungslos wäre«.

KONSEQUENZEN UND LEHREN

Die Richter verfügten, dass die kalifor-nische Geburtsurkunde von den Schwei-zer Behörden insoweit anzuerkennen sei, soweit diese das Abstammungsverhältnis des Kindes zu seinem genetischen Vater beurkunde. Nicht anerkannt werde da-gegen die Geburtsurkunde, soweit damit ein Kindesverhältnis zwischen dem mit-tels künstlicher Befruchtung gezeugten Kind und dem Lebenspartner des gene-tischen Vaters konstruiert wurde. Statt-dessen wiesen die Richter die zuständige Behörde an, »zusätzlich zum Kindesver-hältnis gemäss Geburtsurkunde folgende Angaben zur Abstammung einzutragen: Genetische Mutter: anonyme Eizellspen-derin«. Zu vermerken sei im Personen-standsregister ferner: »Gebärende Mut-ter:« und dahinter seien der Name, das Geburtsdatum sowie der Wohnsitz der Leihmutter einzutragen.

Für Lebensrechtler in Deutschland ist das Urteil der obersten Schweizer Rich-ter in mehrfacher Hinsicht ermutigend: Denn auch Deutschland steht eine De-batte über eine Liberalisierung des Ver-bots der Leihmutterschaft wie der Eizell-spende bevor. Und auch deutsche Paare – homosexuelle, aber auch heterosexuelle – umgehen längst das geltende deutsche Recht, indem sie im Ausland sittenwidri-

ge Leihmutterschaftsverträge abschließen und anschließend über die deutschen Bot-schaften im Ausland eine Anerkennung des gewünschten statt des tatsächlichen Elternverhältnisses anstreben.

Bedenkt man, dass bei den mehrstufi-gen Verfahren der Laborzeugung auf je-der Stufe menschliche Embryonen ster-ben oder gar gezielt selektiert und getö-tet werden, so muss das Urteil der Schwei-zer Bundesrichter von Lebensrechtlern als wegweisend betrachtet werden. Der Staat kann zwar seine Bürger letztlich nicht da-ran hindern, etwas zu begehren und sich andernorts auch zu beschaffen, das hier-zulande aus guten Gründen verboten ist. Aber er muss sich von ihnen auch nicht für dumm verkaufen lassen und ihre rechtswid-rigen Handlungen im Nachhinein zu hei-len suchen. Dass Letzteres auch nicht im Interesse des Wohles eines unschuldigen Kindes ist, haben die Richter des Schwei-zer Bundesgerichts in ihrem höchstrich-terlichen Urteil eindrucksvoll hervorge-hoben. Vor allem aber hat der Staat dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nicht als Ware (Kind) und Mittel zu ihrer Produk-tion (Leihmutter) herabgewürdigt werden.

Schweizer Bundesgericht: Leihmutterschaft verstößt gegen den »Ordre public«

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Seit mehr als einem Viertel-jahrhundert gehört Chile zu den Ländern der Welt,

in denen vorgeburtliche Kinds-tötungen noch ausnahmslos ver-boten sind. Dass es dabei auch in Zukunft bleiben wird, ist nun al-lerdings erstmals fraglich. An-fang August stimmte der Gesund-heitsausschuss der großen Kam-mer des chilenischen Parlaments mit acht gegen fünf Stimmen für die Behandlung einer Gesetzes-vorlage, mit der Chiles sozialisti-sche Präsidentin Michelle Bache-let ein Wahlversprechen einzulö-sen gedenkt.

Bachelets Gesetzentwurf sieht vor, Abtreibungen in Teilen zu le-galisieren. Ihm zufolge sollen vor-geburtliche Kindstötungen in dem Andenstaat zukünftig erlaubt sein, wenn das Leben der Mutter in Ge-fahr ist, das Kind bei einer Ver-gewaltigung gezeugt wurde oder Ärzte bei ihm eine schwere Miss-bildung diagnostizieren.

Die Reform der chilenischen Abtreibungsgesetzgebung ist Teil des Regierungsprogramms, mit dem Bachelet, eine ausgebildete Kinderärztin, 2013 die Wahlen in Chile gewann. Stimmt die Abge-ordnetenkammer der Gesetzesvor-lage zu, muss sie noch durch den Senat. Und selbst dann wäre das Ende der Fahnenstange womög-lich noch nicht erreicht. Nicht wenige Experten halten es näm-lich durchaus für möglich, dass das Gesetzesvorhaben am Ende

vor dem Verfassungsgericht des Landes landen werde: Ausgang ungewiss.

Sicher ist hingegen, dass das Vorhaben der Generalstochter das Parlament und auch weite Teile der Bevölkerung in dem traditio-nell katholischen Land spaltet. Als symptomatisch für das Ausmaß der Spaltung können zwei Kampagnen betrachtet werden, die mit über-aus drastischen Mitteln für bezie-hungsweise gegen die Liberalisie-rung vorgeburtlicher Kindstötun-gen zu Felde ziehen.

Auf der einen Seite steht die Or-ganisation »Miles Chile«, die für die sogenannten »Reproduktiven Rechte« von Frauen eintritt. Sie wirbt in professionell gemachten Videos, die im Internet unter dem Namen »Abortion Tutorials« fir-mieren, für das Gesetzesvorhaben. In den ziemlich geschmacklosen Clips gibt eine junge Frau ihren Geschlechtsgenossinnen »Tipps«, wie sie in Chile trotz des Abtrei-bungsverbots eine vorgeburtliche Kindstötung erreichen könnten. So sollten abtreibungswillige Frauen etwa dafür sorgen, dass sie von ei-nem gerade anfahrenden Auto er-fasst würden oder die Absätze ihrer High-Heels ansägen und dann so fallen, dass sie mit ihrem schwan-geren Bauch auf die Spitze eines Hydranten treffen.

Nicht derart zynisch, aber da-für nicht minder schockierender kommt die Kampagne »Inform-Aborto« daher, bei der Lebens-

Kommt nach Irland nun Chile an die Reihe? Geht es nach Chiles Präsidentin Michelle Bachelet, dann gehört das Abtreibungsverbot, das in dem Andenstaat seit mehr als 25 Jahren gilt,

bald der Vergangenheit an. Anfang des Jahres reichte sie eine Gesetzesvorlage ein, mit der sich nun der Kongress befasst hat. Wie auch immer das parlamentarische Verfahren am Ende ausgeht,

eines hat Bachelet bereits erreicht: Das traditionell katholische Land ist gespalten.

Von Eckhardt Meister

Fällt das Verbot derAbtreibung in Chile?

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Primas Welby gegen Sterbehilfe London (ALfA). Der Primas der anglikani-schen Kirche in England, Erzbischof Justin Welby, hat vor einer Liberalisierung der Sterbehilfe in Großbritannien gewarnt. Ein Recht auf Suizid würde einen »rechtlichen und ethischen Schritt über den Rubikon« bedeuten, schrieb der Erzbischof von Can-terbury in einem Gastbeitrag für den britischen »Obser-ver«. Beihilfe zur Selbsttötung »aus Mitleid« bliebe in der Praxis schon jetzt strafffrei. Ein entsprechender Rechtsanspruch würde auch die Rolle der Ärzte grundlegend än-dern. Ein entspre-chendes Gesetz gefährde »viele Tausend« schutzbedürftiger Menschen. Beihilfe zum Suizid ist in Großbritannien verboten und kann theoretisch mit bis zu 14 Jahren Haft geahndet werden. Das britische Parlament beriet Mitte September erstmals über einen Gesetzentwurf, der dies ändern will. Nach Schätzungen der Senioren-Hilfsor-ganisation »Age UK« erlitten jährlich 500.000 alte Menschen in Großbritannien Formen der Gewalt. Es sei »unmöglich sicherzustel-len, dass sie und andere Schutzbedürftige nicht unter Druck gesetzt werden, ihr Leben vorzeitig zu beenden, ohne dass die vorge-schlagenen Schutzinstanzen dies feststellen können«, so das Oberhaupt der anglikani-schen Kirche. In den US-Bundesstaaten Ore-gon und Washington, in denen Sterbewillige sich tödliche Pharmaka verschreiben lassen können, gäben vier beziehungsweise sechs von zehn Patienten als ein Motiv die Sorge an, ihren Angehörigen zur Last zu fallen, so Welby. Mit der gesetzlichen Freigabe des assistierten Suizids falle »jeder wirksame Schutz gegen diese Sorge weg«, ganz zu schweigen von einem »heimlichen Druck«, der tatsächlich von Verwandten vermittelt werden könnte. Welby äußerte die Befürch-tung, ein Suizidhilfe-Gesetz leiste einer Gesellschaft Vorschub, »in der das einzelne Leben nicht mehr wert ist, geschützt, ge-würdigt und verteidigt zu werden«. Mit dem katholischen Kardinal Vincent Nichols und Vertretern anderer Glaubensgemeinschaften hatte Welby einen Aufruf gegen das geplan-te Gesetz unterzeichnet. Darin heißt es, die Möglichkeit eines vorzeitigen Todes sei für die Betreffenden kein Trost, sondern sei eine zusätzliche Last. reh

rechtler mit Kleintransportern und groß-formatigen Plakaten, auf denen die Lei-chen abgetriebener Kinder zu sehen sind, durch Chiles Städte touren. Dass auf bei-den Seiten zu derart schweren Geschüt-zen gegriffen wird, ist sicher nicht nur dem lateinamerikanischen Temperament geschuldet, sondern zeigt auch, wie sehr die Frage das Land spaltet.

»Vergewaltigung ist nach der Abtrei-bung der schlimmste Angriff auf Frau-en. Aber bei diesem Verbrechen ist der Kriminelle der Vergewaltiger, nicht das

Kind. Das Kind ist unschuldig, es ist das zweite Opfer dieses Verbrechens. Eine Abtreibung kann das Trauma der Verge-waltigung nicht ungeschehen machen. Im Gegenteil. Die Abtreibung fügt diesem Trauma noch ein weiteres Trauma hinzu. Und das unschuldige Kind wird getötet«, sagt Rosana Landaluce, die für die An-ti-Abtreibungs-Kampagne arbeitet. Die Spanierin ist vor mehr als 20 Jahren nach Chile gezogen. Sie sei froh, in einem der letzten Länder der Welt zu leben, das Ab-treibung völlig verbietet. Jetzt kämpfe sie dafür, dass das so bleibe.

Auch Vertreter der Katholischen Kir-che sind über das Vorhaben betrübt. »Wir sehen den Vorschlag, Abtreibungen in ein-zelnen Fällen zu erlauben, mit einiger Be-sorgnis, weil es in der Praxis einen Rück-schritt für unsere Gesellschaft, für unsere Kultur, bedeuten würde. Wir würden ei-ne Form von Diskriminierung etablieren: Wer darf leben? Und wer nicht? Das be-sorgt uns – sehr«, erklärt Fernando Ra-mos, Weihbischof des Erzbistums Sant-iago de Chile. »Aufgrund der teils trau-matischen Erfahrungen, die wir in die-

sem Land gemacht haben, stellt für uns die Achtung der Menschenwürde, eines jeden menschlichen Wesens, den Grund-pfeiler für das Funktionieren unserer Ge-sellschaft dar«, sagt Ramos, der damit auf die Militärdiktatur in Chile anspielt.

Der Erzbischof von Concepción, Fern-ando Chomali, sprach gar vom einem »traurigen Tag für Chile«. Der Gesetzes-text, den die beiden Kammern des Parla-ments beraten werden, sei »taub gegen-über so vielen wunderbaren Erfahrungen von Frauen, die dank einer liebevollen Be-gleitung oder Hilfe auch unter dramati-schen Umständen ihr Kind zu Welt ge-bracht haben«, klagt Chomali. Auch wis-senschaftliche Erkenntnisse zeigten, »dass das Leben mit der Empfängnis beginnt«. »Der Text ist auch taub gegenüber der Anweisung der chilenischen Verfassung, die die Pflege und den Respekt vor dem Leben der Ungeborenen vorschreibt«, so der Erzbischof weiter, der auch his-torische Vergleiche nicht scheut: »Auch in anderen Ländern hat man damit an-gefangen, drei Ausnahmen zuzulassen, und dann letztlich die freie Abtreibung erlaubt«, warnt Chomali.

Vorgeburtliche Kindstötungen waren bei Vorliegen einer medizinischen Indi-kation in Chile 1931 legalisiert worden. Im September 1989 dekretierte jedoch General Augusto Pinochet, kurz vor der Aufgabe seiner Macht, ein absolutes Ab-treibungsverbot. Keine der demokratisch gewählten Regierungen der letzten 25 Jahre hat bisher eine Änderung in dieser Frage für nötig gehalten.

Im chilenischen Fernsehen begründe-te Michelle Bachelet ihren Vorstoß unter anderen damit, »dass die völlige Krimi-nalisierung nicht dazu beigetragen hat, Abtreibungen zu verhindern«. Wie vie-le vorgeburtliche Kindstötungen in Chi-le vorgenommen werden, kann niemand sagen. Harte Zahlen gibt es kaum. Die Regierung spricht von rund 33.000 Fäl-len pro Jahr, die in Krankenhausakten erfasst worden seien. Strafrechtlich ver-folgt wurden laut einer 2014 veröffent-lichten Studie zwischen Januar 2011 und September 2012 nur 310 Fälle.

Die Schätzungen von Organisationen, die Abtreibungen befürworten, sprechen von 70.000 bis 160.000 Fällen im Jahr, da-runter auch solche, die im Ausland durch-geführt worden seien.

Dabei ist Chile gar nicht das einzige Land in Lateinamerika, das vorgeburtli-che Kindstötungen unter allen Umstän-den gesetzlich verboten hat. Außer in Chile existiert auch in Nicaragua, El Sal-vador und in der Dominikanischen Re-publik ein absolutes Abtreibungsverbot.

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Biopolitisch gesehen gehört Groß-britannien zu den liberalsten Län-dern der Erde. 1978 erblickte mit

Louise Brown hier nicht nur das erste mit-tels künstlicher Befruchtung im Labor er-zeugte Kind das Licht der Welt. Auf den britischen Inseln sind längst auch die For-schung mit embryonalen Stammzellen und das Klonen menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken legal. Gesetz-lich erlaubt ist ferner die Präimplanta-tionsdiagnostik (PID), also die Selektion von im Labor erzeugten Embryonen vor ihrem Transfer in den Uterus der Mut-ter. Und zwar sowohl, um zu verhindern, dass Eltern genetisch vererbbare Krank-heiten auf ihre Nachkommen übertragen, als auch, um sogenannte Designer-Babys zu erzeugen, die als Zellspender für er-krankte Geschwisterkinder dienen sollen. Auch die Produktion von Tier-Mensch-Mischwesen ist in Großbritannien seit lan-gem legal. Seit Anfang dieses Jahres dürfen Reproduktionsme-diziner hier sogar Drei-Eltern-Babys erzeugen.

Es ist nicht so, dass ethische Argu-mente in den bio-politischen De-batten der Briten keine Rolle spiel-ten. Aber dass sie sich auf der Insel besonderer Wert-schätzung erfreuten oder gar ausschlag-gebend wären, wird man auch nicht be-haupten können. Insofern hat auch Ex-perten die klare Mehrheit überrascht, mit der das britische Unterhaus Ende ver-gangener Woche einen Gesetzentwurf ablehnte, der auf eine Legalisierung der Beihilfe zum Suizid abzielte.

Die ist in Großbritannien laut dem »Suicide Act« von 1961 strafbar und kann theoretisch sogar mit bis zu 14 Jahren Haft geahndet werden. Theoretisch. Denn

in der Praxis wird davon schon lange kein Ge-brauch mehr gemacht.

2010 erließ der damalige britische Chefankläger Sir Keir Starmer neue Richtlinien für den Umgang der Straf-verfolgungsbehörden mit Personen, die im Verdacht stehen, Beihilfe zum Sui-zid geleistet zu haben. In diesen wurden die Staatsanwälte angewiesen, von einer Strafverfolgung der Suizidhilfe abzuse-hen, wenn »das Opfer eine freie, klare, geregelte und informierte Entscheidung, Suizid zu begehen, erreicht« habe und der Suizidhilfe-Verdächtige »vollstän-dig von Mitleid motiviert wurde«. Fer-ner darf laut den Richtlinien die Hand-lung des Helfers, »obwohl ausreichend um als Straftat definiert zu werden, nur eine geringe Unterstützung oder Hilfe« darstellen. Darüber hinaus muss der Su-izidhelfer nach der begangenen Tat den Suizid des Opfers bei der Polizei melden und bereit sein, diese »in vollem Um-

fang bei der Aufklärung der Umstän-de« zu unterstützen.

Vorausgegangen war der Über-arbeitung der Richtlinien ein

Gerichtsurteil. Darin hatten die auch »Law Lords« ge-nannten Richter, die zugleich

dem »House of Lords«, al-so dem Senat des briti-

schen Parlaments, angehören, 2009 verfügt, der briti-sche Chefankläger müsse die Kriteri-

en veröffentlichen, nach denen er An-klage in jenen Fäl-len zu erheben ge-

denkt, in denen briti-sche Bürger Personen be-

gleiten, die sich in der Schweiz das Le-ben zu nehmen beabsichtigen.

Geklagt hatte die damals 46-jährige Debbie Purdy. Die an Multipler Sklero-se erkrankte und im Alter von 51 Jahren

Mit einer Dreiviertel-Mehrheit hat das britische Unterhaus Anfang September einen Gesetzentwurf vom Tisch gefegt, der den ärztlich assistierten Suizid in Großbritannien legalisiert hätte.

Auf der Insel ist die Beihilfe zur Selbsttötung eine Straftat. Und auch wenn sie seit langem längst nicht mehr in jedem Fall verfolgt wird – zur Normalität wollen die Briten sie offenbar auch

nicht erheben. Deswegen stimmten sie nun dagegen, sie in die Hände von Ärzten zu legen.

Von Sebastian Sander

Klare Absage

G R O S S B R I TA N N I E N

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in einem Hospiz verstorbene Frau, die sich mit solchen Gedanken trug, woll-te wissen, inwieweit ihrem Mann eine Strafverfolgung in Großbritannien dro-he, wenn er sie eines Tages in die Schweiz begleiten sollte.

In ihrem Urteil gingen die Lordrich-ter jedoch weit über ihre Aufgabe, Recht zu sprechen, hinaus. In ihrer 43 Seiten umfassenden Entscheidung ließen sie wenig Zweifel daran, dass sie den »Sui-cide Act« für hoffnungslos überholt hal-ten. Und zwar vor allem, weil das Gesetz dem heute vorherrschenden Verständnis des Begriffs der Selbstbestimmung keine Rechnung trage.

Das sieht das britische Unterhaus of-fenbar anderes. Mit 330 gegen 118 Stim-men lehnten die Mitglieder des »House of Commons« am Freitag einen von dem Labour-Abgeordneten Rob Marris initi-

ierten Gesetzentwurf ab. Der sah vor, dass Patienten mit einer Lebenserwartung von weniger als sechs Monaten sich von Ärz-ten eine tödliche Dosis Medikamente ver-schreiben lassen können, um damit Suizid begehen zu können. Marris begründete seinen Gesetzentwurf damit, der derzeit geltenden Gesetzgebung fehle die Aus-gewogenheit. Sie gehe an den Bedürfnis-sen von Sterbenskranken, deren Famili-en und Ärzten vorbei. Es gebe »zu vie-le Amateur-Suizide und zu viele Leute, die zu Sterbehilfeorganisationen wie Di-gnitas gehen«.

Sein Labour-Kollege Keir Starmer – der frühere Chefankläger sitzt seit 2015 im britischen Unterhaus – sagte, das gel-tende Recht toleriere amateurhafte Su-izidbeihilfe durch mitleidende Angehö-rige, schließe aber professionelle Hilfe aus. Es bleibe dann nur der Ausweg, zum

Sterben in die Schweiz zu reisen. Das sei ungerecht. »Wir sind in unseren eigenen rechtlichen Arrangements gefangen.« Dass er dazu maßgeblich beigetragen hat, indem er die »Beihilfe zur Selbsttötung aus Mitleid« von der Strafbarkeit ausge-nommen hatte, sagte er nicht.

Die Tories-Abgeordnete Fiona Bru-ce erklärte, die Gesetzesvorlage entbeh-re derart der Schutzmechanismen für Patienten, dass es »zum Lachen wäre, wenn der Gegenstand nicht so ernst wä-re«. Das Parlament habe Wehrlose zu schützen und »keine Gesetze zu erlassen, die sie töten«. Ihre Parteifreundin Caro-line Spelman argumentierte, aus einem »Recht zu sterben« könne »schnell eine Pflicht zu sterben werden«.

Die Katholische Kirche begrüßte die Ablehnung des Entwurfs durch gut drei Viertel der Mitglieder des britischen Un-

terhauses. Der stellvertretende Vorsit-zende der Bischofskonferenz von Eng-land und Wales, Erzbischof Peter Smith von Southwark, erklärte, der Entwurf enthalte »schwere Risiken« für das Le-ben schutzloser Patienten. Es gebe inzwi-

schen »exzellente Möglichkeiten« für die Palliativmedizin. Diese sollten im Fokus der parlamentarischen Debatten stehen.

In Deutschland begrüßte die Deutsche Stiftung Patientenschutz den Ausgang der Abstimmung. Der Vorstand der Stiftung,

Eugen Brysch, erklärte: »Es ist gut, dass sich Großbritannien gegen jede Form der organisierten Suizidhilfe ausgespro-chen hat.« Das Votum mache »Mut für die Sterbehilfediskussion in Deutschland«.

Am 6. November will der Deutsche Bundestag in Zweiter und Dritter Lesung abschließend über die rechtliche Neure-gelung der Beihilfe zum Suizid beraten. Hier ähnelt ein von den Abgeordneten Pe-ter Hintze (CDU) und Karl Lauterbach (SPD) initiierter Gesetzentwurf sehr dem Entwurf, dem das »House of Commons« jetzt eine klare Absage erteilte. Mit ihm wollen die Parlamentarier im Bürgerli-chen Gesetzbuch (BGB) festschreiben, dass Ärzte unheilbar kranke Patienten bei einem Suizid unterstützen können. Durch die Regelung im BGB soll das Ärztliche Standesrecht, das dem bislang entgegen-steht, außer Kraft gesetzt werden.

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Sitz des bioethisch meist liberalen britischen Parlaments

Eugen Brysch

»Wird bereits nicht verfolgt: Hilfezur Selbsttötung ›aus Mitleid‹«

»Nicht grenzenlos: Das Rechtauf Selbstbestimmung«

G R O S S B R I TA N N I E N

L e b e n s F o r u m 1 1 520

London/Bern/Berlin, 1. September 2015 – Neuere Studien liefern Hinweise dar-auf, dass In-vitro-Fertilisation ein neuer wichtiger Risikofaktor für Herz-Kreis-lauf- und Stoffwechsel-Erkrankungen sein könnte. Das berichtete Dr. Emrush Rexhaj (Inselspital Bern) auf dem Kon-gress der Europäischen Kardiologischen Gesellschaft (ESC) in London.

Eine kürzlich publizierte Studie über »Retortenbabies« zeigte eine ausgeprägte generalisierte Funktionsstörung der Ge-fäße und eine deutlich erhöhte Gefäß-wanddicke (Intima-Media Dicke, IMT) der Halsschlagader im Vergleich zu Kon-trollkindern. Im Gegensatz dazu war die Gefäß-Funktion zum Beispiel der El-tern dieser IVF-Kinder und bei natür-lich gezeugten Geschwistern der IVF-Kinder normal. Dr. Rexhaj: »Das erlaubt

den Schluss, dass IVF per se die Funkti-onsstörung der Gefäße verursacht.« Die Funktionsstörung der Gefäße zusammen mit der erhöhten IMT entsprach bereits dem ersten Stadium einer vorzeitigen Ar-teriosklerose.

Als erste Folge der arteriellen Funkti-onsstörung der Gefäße manifestiert sich bei IVF-Kindern bereits in jungen Jah-ren ein erhöhter Blutdruck im Vergleich zu Kontrollgruppen, sagt Dr. Rexhaj: »In unserer 5-Jahre Folge-Studie bestand bei IVF-Kindern die Funktionsstörung der Gefäße weiter, und 24h-Blutdruckmes-sungen zeigten signifikant erhöhte sys-tolische und diastolische Blutdruckwer-te. Diese Daten sprechen für eine wahr-

scheinliche Zunahme der Häufigkeit von arteriellem Bluthochdruck in der IVF-Population bereits in jungen Jahren.«

Zusammengefasst zeigen die vorlie-genden Daten, dass beim Menschen und im Tiermodell IVF per se zu vorzeitiger Gefäßalterung und arteriellem Bluthoch-druck führt. Im Mausmodell ist ein so-genannter epigenetischer Mechanismus für diese Veränderungen verantwortlich, erklärt Dr. Rexhaj. Epigenetik befasst sich mit der Vererbung von nicht gene-tisch festgelegten Eigenschaften. Männ-liche IVF-Mäuse vererben zum Beispiel die Funktionsstörung der Gefäße an die nächste Generation. Ein Zusammenhang zwischen schädlichen Einflüssen während der Foetalzeit und einer erhöhten Häu-figkeit von kardiovaskulären und meta-bolischen Erkrankungen im späteren Le-ben konnte bereits vielfach gezeigt wer-den, so Dr. Rexhaj. IVF umfasst die Ma-nipulation des frühen Embryos in einer möglicher Weise besonders empfindli-chen Phase: »Ein ähnlicher Mechanismus wird bei IVF-Kindern angenommen.«

»Die IVF-Population ist noch sehr jung, vorzeitige kardiovaskuläre Morbi-dität und Mortalität tritt normalerweise ab dem fünften Lebensjahrzehnt auf. Es werden deshalb weitere 20 bis 30 Jahre vergehen, ehe sich genaue Zahlen zu den IVF-induzierten kardiovaskulären End-punkten herauskristallisieren werden«, so Dr. Rexhaj. »Das bedeutet, dass die pränatale Anamnese integraler Bestand-teil jeder Anamnese sein und bei der Im-plementation von kardiovaskulärer Prä-vention und/oder der Behandlung kar-diovaskulärer Krankheiten Berücksich-tigung finden sollte.«

Die weltweite Infertilitäts-Häufigkeit wird konstant auf etwa neun Prozent ge-schätzt. Bereits heute werden in westli-chen Ländern zwei bis fünf Prozent aller Geburten mit Hilfe von IVF ermöglicht.

»Diese neuen Daten machen deutlich, dass sich hier mittelfristig wohl ein Fak-tor entwickelt, der künftig einen relevan-ten Einfluss auf die Herz-Kreislaufmor-bidität haben wird und daher in der Ver-sorgungsplanung berücksichtigt werden sollte«, so der Pressesprecher der DGK Prof. Eckart Fleck (Berlin).

Quelle: ESC 2015 Abstract Assisted reproduc-tive technologies-induced premature vascular ageing persists and evolves into arterial hy-pertension in adolescents; E. Rexhaj, R. Von Arx, D. Cerny, R. Soria, E. Bouillet, C. Sartori, U. Scherrer, SF. Rimoldi

Vom 29. August bis 2. September veranstaltete die Europäische Gesellschaft für Kardiologie einen Kongress in London. In dessen Verlauf veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für

Kardiologie eine Pressemitteilung, die für Lebensrechtler von besonderem Interesse sein dürfte und die »LebensForum« daher nachfolgend ungekürzt im Wortlaut veröffentlicht:

Künstliche Befruchtung lässt Gefäße schneller altern

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Anm. d. RedaktionÜber Studien, die zeigen, dass Kinder, die mittels künstlicher Befruchtung er-zeugt werden, eine höhere Fehlbil-dungsquote aufweisen als Kinder, die auf natürlichem Wege gezeugt werden, wurde in »LebensForum« schon häufi-ger berichtet. Reproduktionsmediziner wenden dagegen regelmäßig ein, sol-che Studien zeigten lediglich Korrelatio-nen auf und belegten keineswegs, dass die bei der künstlichen Befruchtung ver-wandten Verfahren ursächlich für die höhere Fehlbildungsquote seien. Viel wahrscheinlicher sei, dass als Ursache für die höhere Fehlbildungsquote die schlechtere Qualität der Ei- und Samen-zellen angenommen werden müsste, da ihre Spender häufiger ein höheres bio-logisches Alter besäßen und sich erst dann an Reproduktionsmediziner wen-deten, wenn Versuche, Kinder auf natür-lichem Wege zu zeugen, erfolglos blie-ben. Zumindest in diesem Fall scheint das Studiendesign andere Schlussfolge-rungen zuzulassen. reh

»Bei IVF-Kindern manifestierte sich ein erhöhter Blutdruck«

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Seit 2012 ist es möglich, ungebore-ne Kinder mit Down-Syndrom an-hand einer Untersuchung des müt-

terlichen Blutes zu identifizieren. In al-ler Regel werden diese Kinder dann auch abgetrieben und so-mit getötet – denn eine The-rapie für das Down-Syndrom gibt es derzeit nicht. Wir ha-ben es bei diesem Test also nicht mit der Diagnose einer Krankheit, sondern mit Selek-tion zu tun.

Bei der Einführung dieses »nicht-in-vasiven vorgeburtlichen Tests« (engl.: non-invasive prenatal diagnostics, NIPD) wurde neben der Einfachheit und Risiko-losigkeit der Untersuchung insbesonde-

re die sehr hohe Treffsicherheit der Me-thode ins Feld geführt. Aber wie misst man eigentlich die »Treffsicherheit« ei-nes Tests? Um dies zu verstehen, wird es

leider nötig sein, ein wenig ins Grund-sätzliche zu gehen.

Die Treffsicherheit einer Untersu-chungsmethode wird daran gemessen, wie zuverlässig sie Betroffene von Nicht-Be-

troffenen (in der Regel Kranke von Ge-sunden) trennen kann. Um dies zu ermit-teln, wird die Methode bei einer Gruppe von Kranken und einer Gruppe von Ge-

sunden angewendet und die Anzahl der Fälle gezählt, die ein zutreffendes beziehungs-weise ein nicht-zutreffendes Ergebnis aufweisen.

Um dies an einem einfachen Beispiel zu illustrieren, gehen wir bei diesem zunächst von 100 Kranken und 100 Gesun-

den aus. Bei einem perfekten Test würde alle 100 Kranke ein »positives« Tester-gebnis und alle 100 Gesunde ein »negati-ves« Testergebnis aufweisen. (Zur Erklä-rung: In der medizinischen Fachsprache

Die börsennotierte Konstanzer BioTech-Firma LifeCodexx AG hofft, dass der von ihr entwickel-te PraenaTest demnächst zu einer Regelleistung der gesetzlichen Krankenkassen wird. Mit dem um-strittenen Bluttest können schwangere Frauen ihr ungeborenes Kind unter anderem auf das Down-Syndrom testen lassen. Unser Autor, selbst Labormediziner und Vorsitzender der »Ärzte für das Le-ben« (ÄfdL), erklärt, warum eine Ausweitung des PraenaTests massenhaft falsch-positive Ergebnisse

mit sich brächte und welche Konsequenzen dies für die betroffenen Kinder und Eltern hätte.

Von Professor Dr. med. Paul Cullen

Trau keinem Test unter dreißig

»Es gibt Lügen und verdammte Lügen, und dann gibt es die Statistik ...«Mark Twain

M E D I Z I N

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M E D I Z I N

werden die Begriffe »positiv« und »ne-gativ« in Bezug auf Untersuchungsergeb-nisse meist so verwandt, dass sie genau das Gegenteil dessen meinen, was sie in anderen Kontexten bedeuten). Als Medi-ziner reden wir, um bei unserem Beispiel zu bleiben, daher von einer Richtig-Po-sitivrate und Richtig-Negativrate von je-weils 100 Prozent, beziehungsweise von einer Falsch-Positiv- und Falsch-Nega-tivrate von jeweils null Prozent.

Einen derart perfekten Test wie in un-serem Beispiel gibt es jedoch in der gan-zen Medizin nicht. Vielmehr weist jeder Test einen gewissen Anteil an Ergebnis-

sen auf, die nicht richtig sind: Das heißt, es wird bei den Gesunden trotzdem ei-nige Testergebnisse geben, die fälschli-cherweise »positiv« ausschlagen, sowie es unter den Kranken immer auch solche Testergebnisse geben wird, die fälschli-cherweise »negativ« ausschlagen. Für

viele Untersuchungsmethoden, die je-den Tag eine breite Anwendung finden, sind Falsch-Positiv- und Falsch-Nega-tivraten in der Größenordnung von zehn Prozent überhaupt keine Seltenheit. (Für

viele Methoden wird sogar der »Norm-bereich« als der Bereich definiert, der 95 Prozent der gesunden Bevölkerung ein-schließt, so dass fünf Prozent aller Ge-sunden ein »abnormes« Testergebnis auf-weisen müssen).

So gesehen überrascht es nicht, wenn die Konstanzer Firma LifeCodexx (wie auch inzwischen andere NIPD-Anbie-ter) bei der Einführung des PraenaTests mit der hohen Treffsicherheit der Metho-de werben. Und in der Tat lässt sich die Treffsicherheit dieser Untersuchungsme-thoden unter technischen Gesichtspunk-ten durchaus sehen. Auf ihrer Website

wirbt LifeCodexx beispielsweise damit, dass ihr Test eine Detektionsrate von min-destens 98 Prozent (anders ausgedrückt, eine Falsch-Negativrate von weniger als 2 Prozent) und eine Falsch-Positivrate von rund 0,1 Prozent aufweist.

Das bedeutet, dass statistisch betrachtet von 100 schwangeren Frauen, die tatsäch-lich ein Baby mit Down-Syndrom erwar-ten, nur zwei mittels des PraenaTests fälsch-licherweise als Mütter ausgewiesen wür-den, deren Kind »kein Down-Syndrom« aufweise. Und von 1.000 Frauen, deren Babys tatsächlich kein Down-Syndrom aufweisen, würde nur eines aufgrund des Tests fälschlicherweise mit dem »Verdacht auf Down-Syndrom« befundet. Aus Sicht eines Labormediziners sind diese Werte sensationell hoch und von kaum einer an-deren Laboruntersuchung zu übertreffen.

Gleichwohl sind Kennziffern wie die »Falsch-Positivrate« und die »Falsch-Ne-gativrate« nur die halbe Wahrheit. Denn entscheidend in der täglichen Praxis ist nicht, wie oft ein Test bei 100 Kranken positiv oder negativ wird, sondern was das Testergebnis im konkreten Einzel-fall bedeutet.

Diese Aussage nennt man die positive oder negative Vorhersagekraft eines Tes-tergebnisses. Im Falle der NIPD lautet die wichtigste Frage: »Was ist die Wahr-scheinlichkeit bei einem positiven Tester-gebnis, dass diese Frau, die vor mir sitzt, tatsächlich ein Kind mit Down-Syndrom austrägt?« Überraschenderweise hängt die Antwort auf diese Frage in erster Linie nicht von der Treffsicherheit des Tests, sondern von der Wahrscheinlich eines Kindes mit Down-Syndrom bei der be-troffenen Frau ab.

Dieser Umstand ist sehr wichtig, denn die Häufigkeit des Down-Syndroms hängt sehr vom Alter der Mutter (und zu einem geringeren Grad auch vom Alter des Va-ters) ab. Bei einer 20-jährigen Mutter liegt das Risiko einer Schwangerschaft mit ei-nem Down-Syndrom-Baby beispielswei-se bei etwa 1:2.000. Wir wissen aber, dass von 1.000 Schwangerschaften mit Babys ohne Down-Syndrom der Test in einem Fall »falsch-positiv« sein muss. Wird also

der PraenaTest bei 2.000 jungen Frauen mit Niedrigrisikoschwangerschaften an-gewendet, so müssen wir im Schnitt mit drei positiven Testergebnissen rechnen. Doch nur eines davon ist auch »richtig-positiv« und betrifft das Kind, das auch tatsächlich Träger des Down-Syndroms ist. Die beiden anderen sind »falsch-po-sitive« Testergebnisse. Das bedeutet aber im Ergebnis nichts anderes, als dass bei solchen Niedrigrisikoschwangeren etwa zwei Drittel der positiven Testergebnisse (rund 66 Prozent) falsch-positiv und da-mit auch tatsächlich falsch sein müssen. Dies entspricht im Übrigen auch den An-gaben des Deutschen Ethikrats, der im April 2013 geschätzt hatte, dass in Nied-rigrisikoschwangerschaften zwei Drittel der positiven Testergebnisse falsch-posi-tiv sein könnten.

Als der PraenaTest und die anderen NIPDs eingeführt wurden, hat man le-diglich die sogenannten »Hochrisiko-schwangerschaften« als Zielgruppe iden-

»Einen perfekten Testgibt es nicht«

»Bei 20-jährigen Schwangerenbeträgt das Risiko etwa 1:2.000«

»Zuverlässig. Schnell. Sicher.«: So wird der Praenatest beworben

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tifiziert. Außerdem wurde empfohlen, den Test erst ab der neunten Schwanger-schaftswoche einzusetzen. Möglicherwei-se getrieben durch die rege Konkurrenz auf diesem Sektor sieht man sich inzwi-

schen dazu veranlasst, diese Zielgruppe zu erweitern. Diese Erweiterung erfolgt erstens durch eine Ausweitung der Indi-kation. Das heißt, es wird nicht nur nach Down-Syndrom, sondern auch nach an-deren erblichen Störungen (beispielswei-se den Trisomien 15 und 18 (PraenaTest), dem Turner-Syndrom (Panorama-Test) sowie nach den Geschlechtschromoso-men zur Bestimmung des Geschlechts (alle NIPD-Verfahren)) gefahndet.

Sodann wird der Test Schwangeren angeboten, die nicht zu einer Hochrisi-kogruppe gehören, sprich Frauen unter 35 Jahren bis hin zu allen schwangeren Frauen unabhängig vom Alter. Schließ-lich versucht man, durch technische Ver-besserungen die Empfindlichkeit des Tests zu erhöhen, so dass er auch in einer mög-lichst frühen Phase der Schwangerschaft verwendet werden kann. So ist es heute zum Beispiel möglich, ein Ergebnis des PraenaTests deutlich vor der 12. Schwan-gerschaftswoche zu erhalten, was bedeu-tet, dass Abtreibungen noch innerhalb der Drei-Monats-Frist und ohne Angabe einer Indikation durchgeführt werden können.

Damit aber sind viele der Bedenken, die Gegner dieser Untersuchung bei ih-rer Einführung geltend gemacht haben, bereits drei Jahre später Realität. Insbe-sondere durch die Ausweitung der Un-tersuchung auf Niedrigrisikoschwanger-schaften weicht die Treffsicherheit der Untersuchung deutlich von der ab, die durch die Zahlen, mit denen die Her-steller werben, suggeriert wird. Hierbei muss bedacht werden, dass die Falsch-Positivrate der Untersuchung umso hö-her steigt, je seltener Chromosomenstö-rungen wie Down-Syndrom bei der un-tersuchten Alterskohorte vorkommen.

Bedenkt man nun, dass der Test aber gerade deshalb angewendet wird, um die Chancen der Eltern auf ein »gesundes« Kind möglichst zu erhöhen, entbehrt die-se Situation nicht einer gewissen Ironie. Selbst die Frauenärztinnen der »Arbeits-gemeinschaft Frauengesundheit«, die für »das Recht [einer Frau], ... eine Schwan-gerschaft abzubrechen, deren Austragen

sie körperlich oder seelisch überfordert«, eintreten, sind über diese Entwicklung be-sorgt. »Wir sehen«, schreiben sie, »dass durch eine immer ausgefeiltere Pränatal-diagnostik ein gesellschaftliches Problem,

nämlich der Umgang mit einem Leben mit Behinderung ... in unsere Arztpra-xis verlagert wird. Wir befürchten, dass ein risikoorientierter Denkstil sich mit hohen leistungsorientierten und ästhe-tischen Anforderungen an Kinder ver-bindet, während Bemühungen um In-klusion von Menschen mit Behinderung aus dem Blickfeld geraten. Eine bewuss-te Entscheidung für ein erkranktes oder behindertes Kind droht immer schwie-riger zu werden.«

Wir haben bei solchen Untersuchun-gen das Ende der Fahnenstange noch lange nicht erreicht. Schon in wenigen Jahren werden NIPD-Methoden verfügbar sein, mit denen sich Mutationen in einzelnen Genen feststellen lassen werden. Dadurch werden nicht nur Erbkrankheiten wie die zystische Fibrose oder die Muskeldystro-phie feststellbar sein, sondern auch Ge-ne für Krankheiten oder Krankheitsrisi-ken, die sich erst im Erwachsenenleben manifestieren, wie Morbus Huntington oder hereditärer Brustkrebs. Ähnlich ei-ner Hollywood-Diva, die bei dem ver-zweifelten Versuch, die Zeichen des Al-terns aufzuhalten, zu immer drastische-ren schönheitschirurgischen Maßnah-

men greift, versucht unsere Gesellschaft inzwischen wirklich alles, um Behinder-te restlos auszuselektieren und das »per-fekte« Kind zu gewährleisten.

So sind wir auch bereit, diesem Bemü-hen Nicht-Behinderte wissentlich zu op-fern. Aber selbst ein Test, der restlos alle genetischen Störungen erkennen könnte, würde letztlich wenig ausrichten, da über 95 Prozent aller Behinderungen erst nach der Geburt durch Unfälle oder Krank-heit entstehen.

So gerät das Prinzip dieser Testung vollends ad absurdum. Dass die Akzep-tanz von Behinderungen und behinderten Menschen durch diese frustrane Übung nicht gerade erhöht wird, liegt auf der Hand. Vielmehr ist zu befürchten, dass die Selektion umso wütender um sich greifen wird, je deutlicher ihre Impotenz sichtbar wird.

I M P O R T R A I T

Professor Dr. med. Paul CullenDer 1960 in Dublin geborene Autor ist Labormediziner, Internist und Molekular-

biologe. Er leitet ein großes medizi-nisches Labor in Münster und ist außerordentlicher Professor für Labo-ratoriumsmedizin

an der dortigen Universität. Seit vier Jahren ist er zudem Vorsitzender des Vereins »Ärzte für das Leben«, der sich dem Schutz des menschlichen Lebens von der Empfängnis bis zum natürlichen Tod widmet. Mehr Infos: www.aerztefuerdasleben.de.

»Gesellschaftliches Problem wirdin die Arztpraxen verlagert«

»Das Prinzip dieser Testung gerätvöllig ad absurdum«

Bei Niedrigrisikoschwangeren müssen zwei Drittel der Testergebnisse falsch sein

DPA

L e b e n s F o r u m 1 1 524

Gynäkologen in den USA war-nen vor zu vielen Ultraschall-untersuchungen bei normalen

Schwangerschaften. Milena Mrosovsky erzählt, dass sie mindestens ein Dutzend Ultraschalluntersuchungen hatte, als sie schwanger war. »Ich war glücklich über die vielen Bilder und klebte sie alle in mein kleines Album.«

Solche Aussagen sind nicht ungewöhn-lich für Eltern. Amerikanische Frauen lassen heute immer mehr Ultraschall-untersuchungen an ihren Ungeborenen durchführen. Sie posten die Bilder stolz auf Facebook oder in anderen sozialen Netzwerken.

Seit 2004 konnte man einen 92-pro-zentigen Anstieg dieser Untersuchungen beobachten. Jeder Besuch beim Arzt bein-haltet eine Ultraschalluntersuchung. Ex-perten warnen nun davor, dass es medizi-nisch nicht gerechtfertigt ist, bei einer ri-sikoarmen Schwangerschaft so viele Un-tersuchungen durchführen zu lassen. Im Mai 2014 machten verschiedene medizi-nische Gesellschaften, wie auch die ame-rikanischen Gynäkologen und Geburts-helfer, darauf aufmerksam, dass eine oder zwei Untersuchungen bei einer Schwan-gerschaft ohne Komplikationen genügen sollten. »Ultraschall sollte für die kurz-möglichste Zeit und mit der geringsten Energiefrequenz an einem Ungeborenen angewendet werden, und auch nur dann, wenn es unbedingt nötig ist«, empfehlen die Fachleute.

Daniel O’Keefe, Vizepräsident der Ge-sellschaft für Maternal-Fetal Medicine, schreibt 2013 im medizinischen Journal »Seminars Perinatology«, dass 4 bis 5 Ul-traschalluntersuchungen übertrieben sei-en. Wenn Frau Milena Mrosovsky dieses Wissen bei ihrer Schwangerschaft gehabt hätte, wäre sie nicht so naiv den Anwei-sungen ihres Doktors gefolgt. »Früher be-stand man auf einer Untersuchung um die 20. Woche herum. Neuerdings empfiehlt man die 12. Woche. Leider lesen Ärzte

nicht ihre Fachzeitungen«, so O’Keeffe.Ob Ultraschall dem Fötus schadet, un-

tersuchte man das letzte Mal 1992. Da-mals war die Dosierung, mit der die Appa-rate arbeiteten, viel geringer. Die Schall-wellen, die letztendlich vom Körper des Ungeborenen reflektiert oder absorbiert werden, verwandeln sich in elektrische Impulse, die vom Ultraschallgerät ver-stärkt und auf einem Bildschirm darge-stellt werden.

Wie man heute weiß, sind zu viele Mammogramme, Darmspiegelungen und andere medizinische Ultraschalluntersu-chungen meistens gar nicht notwendig. Eltern sind jedoch begeistert, dass ihnen die moderne Technik einen Einblick in die Gebärmutter ermöglicht. Immer genaue-re Bilder werden gemacht, weil man wis-sen will, wie das Baby aussieht. Ob man dafür nun mehr Schallintensität benötigt und eventuell dem Kind schadet, scheint kaum einen zu interessieren.

»Selbst Ärzte machen sich über die Si-cherheit von pränatalen Ultraschallunter-suchung keine weiteren Gedanken. Krebs kann man davon nicht bekommen, es sei schließlich keine Röntgenstrahlung da-mit verbunden«, sagt Jacques Abramo-wicz von der Wayne-State-Universität.

Ärzte warnen Frauen, sie sollten keinen Alkohol zu sich nehmen, kein heißes Bad und Stress vermeiden, wenn sie schwanger sind. Aber über die Sicherheit und Effi-zienz von Ultraschalluntersuchungen re-det kaum ein Arzt. Man hofft, dass Frau-en sich stärker an ihr Ungeborenes bin-den, wenn sie es sehen.

»Lernen Sie Ihr Kind kennen, bevor es geboren wird«, wirbt die Firma Gene-ral Electric auf ihrer Website. Sie verkauft ihre Maschinen nur an Gesundheitsein-richtungen. Einige Eltern drängen dar-auf, mehr von ihrem Kind zu sehen, als die Ärzte befürworten. Andere Ärzte sind besorgt, irgendein Detail zu übersehen, das Aufschluss über die Gesundheit des Ungeborenen geben könnte. Gynäkolo-

gen werden am häufigsten herangezogen, wenn es um Kunstfehler geht. Oft wird dann behauptet, weitere Ultraschallbil-der hätten Klarheiten gegeben.

Doch wie sicher sind die Apparate? Die Amerikanische Food und Drug Ad-ministration, die gleichbedeutend mit un-serer Lebens- und Arzneimittelbehörde ist, warnte im Dezember 2014 vor eini-gen Ultraschallgeräten. »Sie erhitzen das Gewebe und verursachen die Bildung von kleinen Blasen.«

Die Langzeiteffekte, welche diese Ma-schinen ausüben, kennt man nicht. Eini-ge Tierversuche an Hühnern und Mäu-sen lassen jedoch schädliche Auswirkun-gen vermuten. So haben einige Neurowis-senschaftler inzwischen ungeborene Tie-re Ultraschalluntersuchungen ausgesetzt. Eine Studie der Yale Universität, die 2006 in den »Proceedings of the National Aca-demy of Science« erschien, brachte neuro-logische Auffälligkeiten bei jungen Mäu-sen mit den Untersuchungen in Verbin-dung. Australische Forscher beschrieben 2009 im »International Journal of Deve-lopmental Neuroscience«, Küken-Eier mit Ultraschall bestrahlt zu haben. Die Küken hatten nach ihrem Schlüpfen Gedächt-nisstörungen. Ihre Lernfähigkeit war ge-ringer ausgeprägt als die anderer Küken.

Die Universität von Washington be-richtete 2014 im »Autism Research Jour-nal« von überaktiven Mäusen, die vorge-burtlich mit Ultraschall beschallt wurden. Dr. Pasko Rakic vom Nationalen Institu-te of Health untersuchte Affenhirne auf mögliche neurologische Folgen nach der intrauterinen Anwendung von Ultraschall. Frank A. Chervenak, Direktor der Gy-näkologie des New Yorker Presbyterian-Krankenhauses ist der Überzeugung, dass ein oder zwei Ultraschalluntersuchungen bei einer normalen Schwangerschaft nicht überschritten werden sollten.

2012 erschien im Amerikanischen »Journal of Obstetrics and Gynecolo-gy« eine Studie, die ergab, dass vermehr-

Nicht nur in Deutschland nehmen die Ultraschalluntersuchungen (vgl. S. 12 f. dieser Ausgabe) dramatisch zu. Der in den westlichen Industrieländern zu beobachtende Trend

hat offenbar zwei Ursachen. Paare wollen sichergehen, dass mit dem Kind auch wirklich alles stimmt. Nun warnen Experten vor unnötigem »Babyfernsehen«.

Von Dr. med. vet. Edith Breburda

Neuer Trend: Babyfernsehen

M E D I Z I N

L e b e n s F o r u m 1 1 5 25

te Ultraschalluntersuchungen manchmal ein falsches Bild geben. Manchmal meint man, das Ungeborene sei zu groß, und man macht einen Kaiserschnitt, der gar nicht nötig gewesen wäre.

Rebecca Loretz und ihr Mann Michael wollten immer eine große Familie. Doch als ihr zweites Kind durch einen Kaiser-schnitt zur Welt kam, warnten die Ärz-te vor weiteren Kindern. Die Narbe, die durch den Kaiserschnitt entstand, könnte einreißen, sagten sie. Die Eltern beachte-

ten den Rat nicht. Die medizinische Li-teratur beschrieb das Risiko mit nur ei-nem Prozent. Das wollten die beiden ger-ne auf sich nehmen. Es folgten sechs wei-tere Geburten. Alle Kinder wurden durch Kaiserschnitt entbunden.

Nach dem achten Kind dachten die El-tern, ihre Familie sei nun komplett. Doch im Mai 2013 erwartete Rebecca wieder ein Kind. »Das war wirklich eine Über-raschung. Wir dachten, diese Schwanger-schaft würde wie alle anderen verlaufen«, sagte Michael. Die erste Ultraschallunter-suchung ergab, dass das Baby genau auf dem Narbengewebe der Gebärmutter im-plantiert war. Man sagte den Eltern, solch eine ektopische Schwangerschaft auszutra-gen käme einer Katastrophe gleich. Die Ärzte gaben dem Kind keine Chance. Es müsse abgetrieben werden, um das Le-ben der Mutter zu retten. Selbst Ethiker würden in so einem extremen Fall zustim-men, die Stelle der Gebärmutter zu ent-fernen, wo sich das Kind implantiert hat.

Normalerweise spricht man von ei-ner ektopischen Schwangerschaft, wenn sich das Kind im Eileiter eingenistet hat.

Der Eileiter kann sich nicht ausdehnen wie die Gebärmutter. Er kann platzen, sobald das Kind größer ist. Eine Opera-tion würde unweigerlich auch den Tod des Kindes hervorrufen. Theologen ar-gumentieren, dass das Kind hierbei in-direkt getötet wird. Die Ärzte bedräng-ten Rebecca, ihr neuntes Kind durch die Einnahme von Methotrexate abzutrei-ben. Es sollte also direkt getötet werden. Das brachte das gläubige Ehepaar jedoch nicht über das Herz.

Einen Plan B hatte das Krankenhaus nicht, weil noch nie eine Mutter in so ei-nem Fall eine Abtreibung verweigert hat-te. Rebecca wurde in das Krankenhaus eingeliefert, um genauer beobachtet zu werden. Die Ärzte bedrängten die Mut-ter in den kommenden Tagen. Sie kamen alleine oder zogen andere Experten hin-zu. Sie sollte das Leben des Babys end-lich beenden, um ihr eigenes zu retten. Ein Arzt sagte zu Michael: »Ihre Chan-ce, am Ende der Schwangerschaft ein le-bendes Baby in den Armen zu halten, ist gleich null. Höchstwahrscheinlich stirbt auch Ihre Frau. Ist es das, was Sie wol-len? Sie wollen einfach nicht die Realität sehen und deshalb hören Sie auch nicht auf den Rat der Experten.« Erst nachdem den Ärzten klar wurde, dass sie das Paar nicht zu einer Abtreibung bringen konn-ten, sympathisierten einige Ärzte mit den Eltern und fingen sogar an, mit ihnen für das Ungeborene zu beten.

Bei der nächsten Ultraschalluntersu-chung hörten sie, dass die Schwanger-schaft fehldiagnostiziert worden war. Das Baby hatte sich nicht über der Narbe ein-

genistet, sondern im Muttermund. »Ist das besser?«, fragte Michael hoffnungs-voll. Er erinnert sich an die schmerzliche Antwort. »Nein. Im Grunde ist das noch schlimmer.« Ein drittes Ultraschallbild, das viel später gemacht wurde, brachte dann dennoch Hoffnung. Es sah nur so aus, als ob das Baby im Muttermund ein-genistet wäre. Aber es war in Wirklich-keit doch in der Gebärmutter. Nur eben sehr nahe an der Cervix.

Dies gab allen eine kleine Erleichte-rung, auch wenn die Beteiligten noch sehr besorgt blieben. Das Ehepaar gab zu, dass die Schwangerschaft sehr an ihnen zehrte. Nur das Wissen, dass viele Leute für Mutter und Kind beteten, half. »Fünf Wochen war ich vor der Geburt im Kran-kenhaus. Die Ärzte hatten Sorge, meine Gebärmutter würde zerreißen. Ich bete-te unentwegt, dass Gott mir dieses Kind schenkt. Nach einiger Zeit übergab ich mich in den Willen Gottes«, sagt Rebecca.

Am 1. November 2013 wurde die klei-ne Philomena nach einer vierstündigen Operation entbunden. Das Kind war voll-kommen gesund. Auch wenn es fast un-möglich schien, dass es überhaupt hätte geboren werden können. Die Eltern be-teten die ganze Zeit zur Heiligen Philo-mena und versprachen, ihrem Kind den Namen Philomena zu geben, wenn es ein Mädchen werden sollte. Während ih-rer ganzen Ehe beteten sie, Gottes Wil-len folgen zu können und so großmütig wie möglich zu sein. Das brachte ihnen viel Kritik ein.

Michael war erstaunt, als er in der Li-teratur fand, dass seit 1967 bereits 60.000 ähnliche Schwangerschaften zu 99,7 Pro-zent mit einer Abtreibung geendet hatten. Der Fall des Paares wurde bei einem wis-senschaftlichen Symposium präsentiert. Es wurde empfohlen, beim Vorliegen ei-ner ektopischen Schwangerschaft mit ei-ner Abtreibung länger zu warten und ge-nauere Untersuchungen heranzuziehen.

I M P O R T R A I T

Dr. med. vet. Edith BreburdaDie Autorin, Dr. med. vet. Edith Brebur-da, ehemals an der Justus-Liebig-Uni-

versität Gießen tä-tig, arbeitet heute als Biomedizinex-pertin in Madison, der Metropole der US-amerikani-schen Stammzel-

lenforschung. Sie hat mehrere Bücher veröffentlicht.

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Faszinierend, aber unnötig und womöglich sogar schädlich: zu viel Ultraschall

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G E S E L L S C H A F T

Marsch für das Leben

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19. 9. 2015 in Berlin

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Die im Fach Atomphysik habili-tierte Dozentin der Universi-tät Augsburg begann 1974 mit

außerordentlichem Engagement und großem persönlichem Einsatz, sich um Schwangere in Konfliktsituationen zu kümmern. Dazu gehörte auch, dass sie Frauen in Not in ihrer eigenen Woh-nung aufnahm. Was bewegte die allein-erziehende Mutter von drei Söhnen auf dem Höhepunkt der Frauenbewegung ei-ne Initiative zum Schutz der Kinder im Mutterleib zu gründen?

1971 bekennen sich 374 Frauen öffent-lich in der Illustrierten »Stern« zu »ih-rer« Abtreibung. Tatsächlich täuschten viele die Abtreibung nur vor, doch das Tabu ist gebrochen. In der DDR wird am 9. März 1972 das »Gesetz über die Un-terbrechung der Schwangerschaft« ver-abschiedet: eine Fristenlösung, die Ab-treibung innerhalb der ersten drei Mo-nate erlaubt.

Auch in der Bundesrepublik Deutsch-land erhitzt der Paragraf 218 die Gemüter. Nach zähen Verhandlungen wird am 18. Juni 1974 die Fristenlösung nach DDR-Modell eingeführt. Kurz zuvor hatten sich SPD und FDP unter Helmut Schmidt als Bundeskanzler auf die Fortführung der so-zial-liberalen Koalition geeinigt. Das von der Opposition angerufene Bundesverfas-sungsgericht verhindert ein Inkrafttreten der Reform mit der im Februar 1975 vor-gelegten Begründung: »Das sich im Mut-terleib entwickelnde Leben steht als selb-ständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung auch unter Art. 2 Abs. 2 und Art. 1 Abs. 1 GG, und hat auch Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.« Vorgeschlagen wird eine so genannte In-dikationenlösung.

Ein Braunschweiger Student, Rüdiger Dürr, lässt zusammen mit einer Gruppe Gleichgesinnter in zahlreichen Städten Deutschlands Plakate zum Thema »Ab-treibung« kleben. Als die Gesetzesplä-ne der Regierung bekannt werden, lädt er zur Lebensrechts-Kundgebung nach Hannover ein und kann – da Hoffnung

auf ein Scheitern des Vorhabens bestand – Tausende mobilisieren.

Dürr ist es auch, der Hubert Hüppe kennen lernt und ihm die »Aktivisten« anvertraut. Hüppe hatte schon damals für Schlagzeilen gesorgt. 1972 organi-sierte Pfarrer Winfried Pietrek vor der ersten, noch missglückten Abstimmung zur Fristenlösung – unter Schmidts Vor-gänger Willy Brandt – einen fünftägigen

Hungerstreik auf dem Beethovenplatz in Bonn. Mit dabei: Hubert Hüppe.

Dürrs Plakate erregten auch in Augs-burg Aufsehen. Dort verfolgt Seelen-tag die politische Entwicklung und be-schließt, wirklich konkret zu helfen. Mit einer Anzeige unter der Rubrik »Ver-schiedenes« in der »Augsburger Allge-meinen« beginnt 1974 die Lebensrechts-arbeit der ALfA: »Sind Sie Schwanger? Sind Sie verzweifelt? Rufen Sie an ... am Samstag zwischen 8 und 18 Uhr!« Der Auftraggeber: Ein kleiner Freundeskreis um Hedwig Seelentag – zusammenge-schlossen, um jungen Schwangeren zur Seite zu stehen. Nur mit einer schriftli-

chen Bürgschaft kann der Anzeigenleiter der Augsburger Allgemeinen damals da-von überzeugt werden, dass es nicht da-rum geht Abtreibungen durchzuführen. Und der Erfolg gibt dem Freundeskreis recht: Bis zu 31 Anrufe pro Tag führten früh zu einer Zusammenarbeit mit ande-ren Beratungsstellen.

Politisch gesehen gibt es für die junge Initiative schon 1976 einen Dämpfer: Am 18. Mai tritt die Neufassung des Paragra-fen 218 in Kraft. Zwar wird grundsätzlich eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe für Abtreibung vor-gesehen, für die Schwangere eine Geld-strafe oder eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr, es wird jedoch auch die In-dikationenregelung eingeführt: Medizi-nisch, kriminologisch, eugenisch oder durch eine Notlage begründete Abtrei-bungen werden straffrei gestellt.

Trotzdem – oder gerade deshalb – wächst der Augsburger Freundeskreis um Seelentag schnell. 1977 wird die »Aktion Lebensrecht für Alle Augsburg« als ge-meinnützig in das Vereinsregister ein-getragen mit den Schwerpunkten Bil-dungs- und Öffentlichkeitsarbeit sowie soziale Hilfen. Die sich organisierenden 40 Mitglieder denken zunächst nur an lokal begrenzte Aktionen. Zum ersten Vorstand der ALfA gehören die Vorsit-zende Frau Prof. Dr. Hedwig Seelentag sowie die Stellvertreter Dr. Georg Götz und Ulrich Schieder.

Dass aus dem Verein eine bundeswei-te Bewegung wird, liegt an Personen, die von der Arbeit der ALfA erfahren und Mitglieder werden wollen: Erstes über-regionales Mitglied wird bald eine Da-me aus Nordrhein-Westfalen, die flei-ßig weitere Mitglieder begeistert. 1980 haben sich die Aktivitäten der Bürger-initiative schon auf die gesamte Bundes-republik ausgedehnt: Beratung, Beglei-tung, Nachbarschaftshilfe, der Aufbau von Kleiderkammern für Babysachen, Vermittlung von Babysittern, Gebets-kreise, Leserbriefgruppen, ein Ärztekreis und ein Juristenkreis.

Die Aktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e. V. trauert um ihre Gründerin Professor Dr. Hedwig Seelentag, die mit 95 Jahren gestorben ist. Ein Nachruf.

Von Dr. med. Claudia Kaminski

In memoriam

Professor Dr. Hedwig Seelentag

G E S E L L S C H A F T

L e b e n s F o r u m 1 1 528

Briefe an Abgeordnete werden ver-fasst und bis 1980 hat die ALfA schon rund 500.000 Flugblätter und Schriften verteilt. Im gleichen Jahr schließt sich die Jugendarbeitsgemeinschaft für das Leben (JAL) unter der Leitung von Hu-bert Hüppe der ALfA, die mittlerwei-le 4.000 Mitglieder zählt, als Jugendor-ganisation an.

Die JAL ist ebenfalls überkonfessi-onell, überparteilich, überregional und unabhängig und engagiert sich in der Betreuung alter Menschen, in Nachhil-festunden für Gastarbeiter-Kinder und ähnlichen Aktivitäten. Allmählich kris-tallisiert sich die Solidarität mit der wer-denden Mutter und ihrem Kind immer mehr heraus und die ALfA erlebt die Ju-gendlichen als besonders aufgeschlossen für wissenschaftliche Fakten. Sie sind in den frühen 80ern leichter davon zu über-zeugen, dass das Ungeborene schon ein Mensch ist und sich als solcher entwickelt, und sie bringen Energie und jugendli-chen Schwung ein: 1981 und 1983 treten bis zu 30 Mitglieder der JAL in Essen in den Hungerstreik, um gegen das geplan-te »Schwangerschaftskonflikt-Zentrum« der Arbeiterwohlfahrt zu protestieren. Leider ohne den gewünschten Erfolg. Auch ein von der Diözese Essen organi-sierter Schweigemarsch mit 20.000 Teil-nehmern aus ganz NRW kann die Ein-richtung des Zentrums nicht verhindern.

1983 findet in Aachen das erste Bun-destreffen der JAL statt, die immer mehr zum Träger der ALfA-Aktivitäten wird. Für die jungen Aktiven ist die Teilnah-me an Kirchen- und Katholikentagen selbstverständlich, um auch dort auf das Recht auf Leben aufmerksam zu ma-chen. Dieses Engagement liegt Seelen-

tag sehr am Herzen. Um die wachsen-de Zahl der Mitglieder besser informie-ren zu können, kommt 1985 der 1. AL-fA-Rundbrief unter Jochen Beuckers mit einer Auflage von 2.800 Stück heraus. Im gleichen Jahr wird Josef Engel aus Mem-mingen der erste hauptamtliche Bundes-geschäftsführer.

Ein besonderes Jahr wird 1986 für die noch junge Lebensrechtsorganisation: Auf der am 15. März stattfindenden Mitglie-derversammlung sucht die ALfA nach ge-eigneten Wegen, um der stark gewach-senen Organisation in der ganzen Bun-

desrepublik Rechnung zu tragen. Es wer-den Landes- und Regionalverbände in der Satzung verankert und es erfolgt die Umbenennung in die »Aktion Lebens-recht für Alle, ALfA e. V.«. Vorsitzende des ersten Geschäftsführenden Bundes-

vorstandes nach der neuen Satzung ist Professor Dr. Hedwig Seelentag.

Die bisher als Bundeszentrale fungie-rende Privatwohnung Seelentags, die für

ihren Einsatz mit dem Bundesverdienst-kreuz ausgezeichnet wird, reicht für die Bewältigung der Arbeit längst nicht mehr aus. Die ALfA bezieht die erste Bundes-geschäftsstelle in der Heilig-Kreuz-Straße in Augsburg und richtet in der Bundes-hauptstadt den »Arbeitsraum Bonn« ein.

Mittlerweile haben sich 9.000 Mit-glieder der Bewegung angeschlossen und die ersten Regionalverbände werden in Augsburg und München gegründet. Zu-dem erhält die ALfA ihr bis heute erhal-tenes grün-blaues Logo, mit dem dann auch 1987 das zehnjährige Bestehen ge-feiert wird. Ebenfalls 1987 ruft die AL-fA den 1. Juni als »Tag des Lebens« aus, der schon im folgenden Jahr internati-onal begangen wird. Das zum »moder-nen Hexenprozess« stilisierte Verfahren um den Memminger Abtreibungsmedizi-ner Theissen beschäftigt 1988 und 1989 die Lebensrechtler in Deutschland. Ge-legenheit für Seelentag und die ALfA, klar Stellung für das Leben zu beziehen. Rund 100 Delegierte nehmen im Janu-ar an der ersten Bundesdelegiertenver-sammlung der ALfA teil. Im Büro Bonn kommt im gleichen Jahr das erste »Le-benszeichen«, die Verbandszeitschrift, in den Druck.

Die Gründerin hat zwischenzeitlich die Lebensrechtsbewegung in der DDR im Blick und gründet auf einer Reise in den Osten erste ALfA-Freundschafts-kreise. Schon zu Beginn des Jahres 1989

G E S E L L S C H A F T

A N Z E I G E

Stern-Titel von 1971

Hubert Hüppe, CDU

L e b e n s F o r u m 1 1 5 29

zeigen sich die Früchte. Es kommt zum Treffen der ALfA-Freundeskreise in der DDR mit katholischen und evangelischen Kirchenvertretern in Leipzig, bei dem ei-ne Teilnahme am »Tag des Lebens« dis-kutiert wird. Bereits im Oktober folgt die zweite Reise von Professor Dr. Hedwig Seelentag in die DDR. Sie führt offiziel-le Gespräche mit SED-Vertretern über die Gründung eines ALfA-Zweiges in der DDR. Durch die Wiedervereinigung 1990 entwickelt sich die ALfA ohne jeg-liche staatliche Reglementierung in den neuen Ländern und gründet schließlich im Mai 1991 den ersten Regionalverband in Greiz in Thüringen.

Aufgrund eines Flugblatts, auf dem der Kommunistische Bund Westdeutschland sowohl Professor Dr. Hedwig Seelentag als auch maßgebliche Persönlichkeiten der Katholischen Kirche verunglimpfte, wird die Katholische Kirche auf die AL-fA aufmerksam. Es entwickeln sich gute Kontakte zum Augsburger Bischof Josef Stimpfle. Die Diözese unterstützt die AL-fA großzügig und finanziert die bis heu-te bestehende Geschäftsstelle der ALfA im Ottmarsgäßchen in Augsburg, die im Sommer 1991 bezogen wird.

Ende 1991 gründet der Landesver-band Bayern unter Leitung von Seelen-tag eine Patenschaftsaktion zur dauer-haften Unterstützung Schwangerer und Familien in Not. Sie weitet sich schnell auf das ganze Bundesgebiet aus und ist bis heute eine tragende Säule der sozia-len Hilfen der ALfA.

1992 kandidiert Professor Dr. Seelen-tag nicht mehr für den Vorsitz und wird Ehrenvorsitzende. Ruth Reimann, geb. Esser, Juristin aus Köln, wird zur ersten Bundesvorsitzenden der ALfA nach der Gründerin. Die Entwicklung ihrer ALfA begleitet Seelentag bis in das neue Jahr-tausend hinein weiter mit großem Enga-gement – und in den 90er Jahren schon zeigt sich auch die kluge und gerade-zu prophetische Weitsicht Seelentags in der Wahl des Namens »Aktion Lebens-recht für Alle« – denn tatsächlich sind die Bedrohungen des menschlichen Lebens seither in allen Phasen gewachsen: Über-zählige Embryonen, Selektion durch PID und andere Diagnostikverfahren bis hin zur aktuell diskutierten Sterbehilfe und den assistierten Suizid.

Nicht verschwiegen sei an dieser Stelle, dass Frau Professor Dr. Hedwig Seelentag

die Entwicklung der ALfA nicht bis zum Schluss weiter begleitet hat. Die Jahrtau-sendwende brachte der Lebensrechtsbe-wegung in Deutschland auch die Debat-te um die Beratungsscheinvergabe durch die Katholische Kirche. Viele sahen den Beratungsschein als »Lizenz zum Töten« an, weil er durch die Gesetzesänderung die einzige Voraussetzung für eine straf-freie Abtreibung darstellte. Dieser Mei-nung folgten auf der Bundesdelegierten-versammlung 2000 der ALfA mehrheit-lich auch die Delegierten. Nach ein paar Jahren des »Sowohl als auch« der Mei-nungen gab es endlich einen klaren Rich-tungsentscheid und Kurs der ALfA. Die-sen Kurs konnte und wollte Professor Dr. Hedwig Seelentag leider nicht mehr mit-gehen, sodass sie den Ehrenvorsitz nie-derlegte und zu unserem großen Bedau-ern aus der ALfA austrat.

Der Versuch, ihr zu sagen, dass manch-mal Kinder eigene Wege gehen und sich gegen die Meinung der Eltern stellen, konnte sie nicht mehr umstimmen, eben-so wenig wie die Tatsache, dass jedes ALfA-Mitglied nach wie vor mit jeder geeigneten Beratungsstelle zusammen-arbeiten konnte.

A N Z E I G E

„Warum sich Lebensschutz lohnt“ Unter diesem Motto laden die Jugend für das Leben (Jugendorganisation der ALfA) und die Jungen Christdemokraten für das Leben in diesem Jahr wieder gemeinsam zu einer Bioethik-Akademie für Jugendliche und junge Erwachsene ein.

Die Teilnehmer der Akademie erwarten wieder interessante Vorträge und Diskussionen mit hoch-karätigen Referenten und ein spannendes Wochenende mit anderen jungen Menschen, denen das Lebensrecht jedes Menschen am Herzen liegt.

Datum: 30. Oktober bis 01. November

Ort: JH Aachen, Maria-Theresia-Allee 260, 52074 Aachen

Tagungsbeitrag: 60 Euro (Schüler, Studenten) 130 Euro (ohne Ermäßigung)

Anmeldung: [email protected]

Bioethik-Akademie Der Jugend für das Leben und Christdemokraten für das Leben

L e b e n s F o r u m 1 1 530

B Ü C H E R F O R U M

Im Schaufenster

Kind auf Bestellung

Die Journalistin Eva Maria Bachin-ger könnte auch Vorsitzende eines Vereins oder einer Stiftung »zur Pfle-ge einer deutlichen Aussprache« sein. Schonungslos legt

sie in »Kind auf Bestellung« die Finger in die Wunden einer Gesellschaft, die glaubt, auch alles zu dürfen, was die Reproduktionsmedi-zin möglich gemacht hat. Dass auch bei Zeu-gungsunfähigkeit die Elternschaft mit gene-tisch eigenen Kindern als »Norm« gelte, hul-dige einem »Biologismus«, den man ansons-ten für vernachlässigbar halte. »In der po-litischen Mitte ist derzeit Beschönigen und Verharmlosen en vogue. Kritiker werden dif-famiert und in ein Eck gestellt. Halbwahrhei-ten werden auch von Experten verbreitet. Die Kommerzialisierung von Eizellspenden und Leihmutterschaft sei nur »mit einem inter-nationalen Verbot ansatzweise vermeidbar«. Angesichts des globalisierten Marktes sei »das Gerede vom hehren Altruismus schlicht-weg Unsinn, ebenso wie die Beschwörung«, die Präimplantationsdiagnostik (PID) bleibe nur »in engen Grenzen« erlaubt.Fazit: Für alle, die sich kein X für ein U vor-machen lassen wollen. reh

Eva Maria Bachinger: Kind auf Bestellung. Ein Plädoyer für klare Grenzen. Deuticke, Wien 2015. 240 Seiten. Klappbroschur. 19,90 EUR.

Und wenn ich nicht mehr leben möchte?

Viele dürften sich noch an die Debat-te erinnern, die der ehemalige Ratsvor-sitzende der Evan-gelischen Kirchen in Deutschland Ni-kolaus Schneider

ausgelöst hat, als er öffentlich machte, dass er seine damals krebskranke Frau auf deren Wunsch hin auch in die Schweiz begleiten würde, obwohl er selbst Beihilfe zum Suizid ablehnt. Auch wenn man nach wie vor fra-

D ieses Buch kommt zur rechten Zeit. Denn es setzt – rechtzeitig vor der für November geplanten

Entscheidung des Bundestags über die ge-setzliche Neurege-lung der Suizidhilfe – der Freitod-Rhe-torik maßgebliche Fakten und treffende Argumente entge-gen. Die »acht Plä-doyers gegen Sterbehilfe«, welche die drei Herausgeber – der Medizinrechtler Rainer Beckmann und die Bundesvorsit-zenden der Aktion Lebensrecht für Al-le (ALfA) und der Christdemokraten für das Leben (CDL), Claudia Kaminski und Mechthild Löhr – dort versammelt haben, ba-sieren auf einer Fach-tagung, welche CDL und ALfA im vergan-genen Herbst unter dem provokanten Ti-tel »Du sollst mich tö-ten – Kommt jetzt der ärztlich assistierte Su-izid?« in Berlin veran-stalteten.

Den Anfang macht der Philosoph Robert Spaemann. Sein Bei-trag ist – wie das Buch selbst – überschrieben mit »Es gibt kein gu-tes Töten« und räumt mit der Annahme auf, es könne so etwas wie ein »Recht auf Sui-zid« geben. Vielmehr sei der Suizid »ei-ne Handlung, die sich der Rechtssphä-re entzieht«. »Von ihr führt kein Weg zu irgendeinem Recht, einen anderen zu töten, beziehungsweise von einem anderen getötet zu werden.« Jenen, die sich auf ein »Sterben in Würde« beru-fen und den Suizid als geeignetes Mit-tel dazu betrachten, schreibt Spaemann, mit Kant, dem Vater des Würdegedan-kens, ins Stammbuch: Gerade für Kant sei der Suizid »nicht Ausdruck von, son-dern Absage an Autonomie und Freiheit des Menschen, da er ja gerade das Sub-jekt von Freiheit und Sittlichkeit vernich-tet«. Der Suizid sei deshalb »jener Akt der Selbstvergessenheit, mit welchem ein Mensch dokumentiert, dass er sich selbst nur noch als Mittel zur Erreichung oder Erhaltung wünschenswerter Zustände versteht, als Mittel, das sich, wenn es ver-sagt, selbst beiseiteräumt«. Für Kant, in dessen Tradition auch das Grundgesetz steht, bestand die Würde des Menschen

darin, dass er nie als bloßes Mittel an-gesehen, sondern immer als »Zweck an sich« betrachtet werden müsse. Wo da-gegen der Suizid »als legitime Handlung,

ja als Ausdruck der Menschenwürde« gelte, dort ergebe sich, so Spaemann, »unweigerlich ei-ne verhängnisvolle Folge«: Denn »wo

das Gesetz es erlaubt und die Sitte es bil-ligt, sich zu töten oder sich töten zu las-sen, da hat plötzlich der Alte, der Kran-ke, der Pflegebedürftige alle Mühe, Kos-ten und Entbehrungen zu verantwor-ten, die seine Angehörigen, Pfleger und

Mitbürger für ihn auf-bringen müssen. Nicht Schicksal, Sitte und So-lidarität sind es mehr, die ihnen dieses Opfer abverlangen, sondern der Pflegebedürftige selbst (...), da er sie ja leicht davon befreien könnte.« Mit anderen Worten: Die Legali-sierung des ärztlich as-sistierten Suizids lie-fe auf eine Entsolida-risierung der Gesell-schaft hinaus, mit der Gefahr, dass in ihr – früher oder später – all jenen die Tür gewiesen wird, die zum Weiter-leben auf Hilfe Dritter angewiesen sind.

Nicht minder erhellend nehmen sich auch die Beiträge aus, die der Osnabrücker Sozialethiker Manfred Spieker, der Hei-delberger Medizinethiker Axel W. Bauer, der Würzburger Medizinrechtler Rainer Beckmann, der Onkologe und Palliativ-mediziner Stephan Sahm und die Leite-rin des Hospiz- und Palliativberatungs-dienstes der Malteser in Berlin, Kerstin Kurzke, sowie die Journalisten und Buch-autoren Gerbert van Loenen und Andre-as Lombard zu diesem Band beigesteu-ert haben. Aus unterschiedlichen Erfah-rungswelten und mit unterschiedlichen Blickwinkeln kommen sie alle zum sel-ben Ergebnis: Es gibt kein gutes Töten.

Es gibt keingutes Töten

Stefan Rehder

Rainer Beckmann/Claudia Kaminski/Mechthild Löhr (Hrsg.): Es gibt kein gutes Töten. Acht Plädoyers gegen Sterbehilfe. Edition Sonderwege. Manuscrip-tum Verlagsbuchhandlung Thomas Hoof KG. Leipzig 2015. 176 Seiten. Klappbroschur. 9,80 EUR.

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gen kann, warum Schneider damit überhaupt an die Öffentlichkeit ging, so hilft das vorlie-gende Buch, doch seine Haltung und seinen Konflikt besser zu verstehen. Im Interview mit Evelyn Finger, Leiterin des Ressorts »Glauben und Zweifel« der Wochenzeitung »Die Zeit«, das Finger mit ihm und Bundesgesundheits-minister Hermann Gröhe führte, wird vieles differenzierter dargestellt, als es damals durch den Blätterwald rauschte. Ergänzt wird das Gespräch um ein Interview mit Anne Schneider, die sich einer offenbar erfolgrei-chen Chemotherapie unterzog, und um einen sehr lesenswerten Beitrag von Bundesärzte-kammerpräsident Frank Ulrich Montgomery.Fazit: Beachtlich. reh Und wenn ich nicht mehr leben möchte? Hermann Gröhe und Niklolaus Schneider im Gespräch mit Evelyn Finger. Adeo Verlag, Asslar 2015. Gebunden. 190 Seiten. 17,99 EUR.

Welche Medizin wollen wir?

Der Autor hat sich als Befürworter des ärztlich assistier-ten Suizids einen Namen gemacht. Und auch in die-sem Werk hält er erneut ein Plädoyer für die Beihilfe zur

Selbsttötung durch Ärzte. »Richtig verstan-dene ärztliche Suizidhilfe« sei »Ausdruck äu-ßerster empathischer Zuwendung des Arztes zu seinem Patienten auf der Grundlage ei-ner vertrauensvollen Beziehung«. Dem muss entschieden widersprochen werden. Denn im Grunde wird hier impliziert, dass Ärzte, die nicht bereit sind, einem Patienten bei der Selbsttötung zur Hand zu gehen, einen ge-ringen Grad an Empathie an den Tag leg-ten. Und von vielen dürfte dies so verstanden werden, als seien sie schlechtere Ärzte. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Wer meint, die Beihilfe zum Suizid könne ei-ne ärztliche Aufgabe sein, definiert in Wahr-heit den Beruf des Arztes nach eigenem Gut-dünken neu. Und das hat nichts mit Empa-thie, aber viel mit Hybris und Anmaßung zu tun.Das ist insofern bedauerlich, als dass der Au-tor in diesem Buch eine ganze Reihe beden-kenswerter Vorschläge für eine nachhaltige Reform des Gesundheitswesens macht.Fazit: Eingeschränkt empfehlenswert. reh

Michael de Ridder: Welche Medizin wollen wir? Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015. 304 Seiten. Gebunden. 19,90 EUR.

Die EKDspricht

Das vorliegende Buch besticht aus einer ganzen Reihe von Grün-den. Da ist zunächst seine po-

litische Dimension. Dass sich der Rats-vorsitzende der Evan-gelischen Kirchen in Deutschland (EKD), Heinrich Bedford- Strohm, der auch Lan-desbischof der Evange-lisch-Lutherischen Kir-che in Bayern ist, zur Suizidhilfe äußert, ist bereits als solches ein Politikum. Zu-nächst weil Protestanten, anders als die Katholiken, kein Lehramt besitzen, das die kirchliche Lehre in solchen Fragen verbindlich formu-lieren könnte, wes-halb der öffentlichen Äußerung des EKD-Ratsvorsitzenden, egal zu welchem Thema, stets besonderes Ge-wicht zukommt. Ge-wichtig ist dieses Buch aber auch deshalb, weil viele Journalis-ten die Äußerungen von Bedford-Strohms Amtsvorgänger, Niko-laus Schneider, er sei bereit, seine damals krebskranke Frau not-falls auch gegen seine Überzeugung zum Su-izid in die Schweiz zu begleiten, überstrapa-ziert haben. Vielfach wurde der Eindruck erweckt, als müssten Schneiders um-strittene Äußerungen als Abrücken von der Ablehnung der Suizidhilfe durch die EKD verstanden werden. Doch dies wä-re, wie der Autor klarstellt, ein Irrtum. Nach der Lektüre dieses Buches kann niemand mehr guten Gewissens behaup-ten, die EKD billige die Suizidhilfe. Mehr noch: Unter der Überschrift »Was die Kirchen sagen« widmet der EKD-Rats-vorsitzende ein ganzes Kapitel der Dar-stellung dessen, was die römisch-katho-lische, die griechisch-orthodoxe und die evangelische Kirche zu diesem Thema zu sagen haben. Selbst minimale Unter-schiede werden dabei so klar herausge-arbeitet, dass am Ende eines ganz deut-lich wird: Mögen die Begründungen auch unterschiedlich sein, in der Ablehnung der Suizidhilfe sind sich die christlichen Kirchen einig. Wer also glaubt, die Evan-gelische Kirche gegen die Katholische in dieser Frage ausspielen zu können, hat je-denfalls seine Rechnung ohne Bedford-

Strohm gemacht, der hier zudem ein ge-lungenes Beispiel für gelebte Ökumene gibt, die in bioethischen Fragen zuletzt recht brüchig erschien.

Bemerkenswert ist dieses Buch aber nicht allein wegen seiner po-litischen, innerkirchli-chen und kirchenüber-greifenden Dimensio-nen. Auch die Machart

des Buches beeindruckt. Und zwar so-wohl formal als auch inhaltlich. So findet sich am Ende eines jedes Unterkapitels eine kurze Zusammenfassung der wich-tigsten Passagen, für die der schnelle Le-

ser vermutlich eben-so dankbar sein wird wie der, welcher die-ses leicht verständlich geschriebene Werk als ein Studienbuch be-trachtet. Inhaltlich be-merkenswert macht das Buch zweierlei. So darf das vorliegende Werk wohl auch als gelungenes Beispiel für die Synthese von theoretischer Reflexi-on und pastoraler Sor-ge gelten, die der Au-tor hier wechselseitig aufeinander zu bezie-hen versteht. Das be-weist: Auch im Ange-sicht mitunter furcht-baren Leidens müs-sen Verstand und Herz

keineswegs gespalten vorliegen, sondern können harmonisiert werden, wenngleich sich der Verdacht aufdrängt, dies setze womöglich eine ähnlich integre Person, wie die des Autors, voraus. Bereichert wird der Leser aber auch durch fünf, vom Autor selbst entwickelte »ethische Leit-linien«, die dieser, nachdem er die gän-gigsten ethischen Ansätze treffend dar-gestellt hat, diesen zugesellt. Sie mögen mit »Dankbarkeit für das Leben«, »End-lichkeitsbewusstsein«, »Selbstbestim-mung und Verantwortung«, »Kontext-sensibilität« und »Soziokulturelle Ver-antwortung« zwar teilweise recht sperrig etikettiert sein, lohnen aber, wie das ge-samte Werk, einer gewissenhaften Aus-einandersetzung.

Stefan Rehder

Heinrich Bedford-Strohm: Leben dürfen – Leben müssen. Argumente gegen die Sterbehilfe. Kösel-Verlag, München 2015. 176 Seiten. 17,99 EUR.

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K U R Z V O R S C H L U S S

Expressis verbis»Es wäre weder human noch moralisch,

wenn der Gesetzgeber verbindlich festle-gen wollte: Das kann man aushalten. Sol-che Entscheidungen führen jedes Jahr in Deutschland zu Zehntausenden gescheiter-ten Suizidversuchen (...). Indem der Gesetz-geber diesen Menschen die Hilfe verwei-gert, weist er ihnen am Ende den Weg vor die U-Bahnen.«

Der Hamburger Strafrechtsprofessor Reinhard Merkel in einem Interview mit dem »Stern«

Die Idee des qualitätsgesicherten, klinisch ›sauber‹ durchgeführten Selbstmordes ist von der Euthanasie nicht mehr zu trennen und einer humanen Medizin fremd.«

Der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ul-rich Montgomery in einem Beitrag für das Buch »Und wenn ich nicht mehr leben möchte«

Es handelt sich um ein medizinisches Pro-blem, wenn Paare keine Kinder kriegen kön-nen. Daher gibt es keinen Grund, den Versi-cherten diese Leistung vorzuenthalten.«

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach im »Spiegel« zur Forderung, die gesetzlichen Kran-kenkassen sollten die Kosten für künstliche Be-fruchtungen wieder voll übernehmen

Die ›Baby-take-home-Rate‹ ist bei einer Pa-tientin mit Mitte 25 bei zwei Embryonen pro Versuch bei etwa 30 Prozent, bei einer Frau mit 40 oder über 40 liegt die Wahrschein-lichkeit bei 10 bis 15 Prozent.« Der Münchner Reproduktionsmediziner Wolf-gang Würfel gegenüber dem Bayerischen Fern-sehen

Die biologische (austragende) Mutter soll nicht dem Konflikt zwischen der psychi-schen Bindung an ihr Kind und der Zusage gegenüber den Wunscheltern ausgesetzt werden und das Kind ist davor zu schützen, dass es zur Ware degradiert wird, die man bei Dritten bestellen könne.« Auszug aus einem Urteil des Schweizer Bundes-gerichts (Az.: 5A 748/2014)zur Leihmutterschaft

Tops & Flops

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Ludwig A. Minelli, Chef der Schweizer Sterbehilfe-organisation »Dignitas«, hat sich – offenbar in der Hoff-

nung, Einfluss auf die Entscheidung des Parlaments zur rechtlichen Neuregelung der Suizidhilfe in Deutschland nehmen zu können – in ei-nem Schreiben an alle Abgeordnete des Bundestags ge-wandt. In diesem schildert er nicht nur ausführlich den Tod eines Krebspa-tienten mit Darm-verschluss, der an seinem Kot erstick-te, sondern stellt auch gleich die Kosten-frage: »An den vier Wochen im Kranken-haus nach der ersten Operation, an den beiden Operationen, durch die künstliche Ernährung und durch den Aufenthalt auf den verschiedenen Stationen im Kranken-haus und im Hospiz hat die Krankheits-industrie zu Lasten der Krankenkassen (und damit der Prämien- und Steuerzah-ler) an diesem Patienten viel Geld ver- dient.« reh

Lebensrechtler sollten »er-hobenen Hauptes und un-erschrocken weiterkämp-fen und sich nicht von un-

sachlicher Kritik oder gar Anfeindun-gen beeindrucken lassen«. Das riet der CDU-Bundestagsabgeordnete Wolfgang Bosbach in einem Interview mit dem katholischen Nach-richtenportal kath.net. »Wer gegen den Lebensschutz agitiert und pole-misiert, dem fehlen offensichtlich fun-dierte Sachargumen-te und deshalb soll-te man diesem Teil des Publikums nicht kampflos das Feld überlassen«, so Bos-bach weiter. Der 63-Jährige, der seit vielen Jahren den Rheinisch-Bergischen Kreis als Direktkandidat im Bundestag ver-tritt, sagte, »die Zahl von über 100.000 registrierten Abtreibungen pro Jahr« sei »nach wie vor erschreckend hoch«. »Um-so überraschender ist es, dass es eine ge-sellschaftliche Debatte hierüber nur am Rand gibt.« reh

Ludwig MinelliWolfgang Bosbach

Betreutes Wohnen für unter 1-Jährige:

Uterus zu vermieten

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»Die Anstalten, die der Idiotenpflege dienen, werden anderen Zwecken ent-zogen; soweit es sich um Pri-vatanstalten handelt, muß die Verzinsung berechnet werden; ein Pflegepersonal von vielen tausend Köpfen wird für die-se gänzlich unfruchtbare Auf-gabe festgelegt und fordern-der Arbeit entzogen; es ist eine peinliche Vorstellung, daß ganze Generationen von Pflegern neben diesen leeren Menschhülsen dahinaltern, von denen nicht wenige 70 Jahre und älter werden. Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfer-tigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen. [...]

Von dem Standpunkte einer höheren staatlichen Sittlichkeit aus gesehen kann nicht wohl bezweifelt werden, daß in dem Streben nach unbedingter Erhaltung le-bensunwerten Lebens Übertreibungen ge-

übt worden sind. Wir haben es, von frem-den Gesichtspunkten aus, verlernt, in die-

ser Beziehung den staatlichen Organismus im selben Sinne wie ein Ganzes mit eigenen Gesetzen und Rechten zu be-trachten, wie ihn etwa ein in sich geschlossener mensch-licher Organismus darstellt, der, wie wir Ärzte wissen, im Interesse der Wohlfahrt des Ganzen auch einzelne wert-los gewordene oder schädli-che Teile oder Teilchen preis-gibt und abstößt.«

Karl Binding/Alfred Hoche: Die Freigabe der Ver-nichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920).

Anm. d. Redaktion: Hoche war Psychiater, Binding Professor für Strafrecht. Ihr o. a. Buch erschien 1920 auf dem Höhepunkt einer Debatte, die in Deutschland über die »Tötung Geisteskranker« geführt wurde. Historiker vertreten die Auffassung, dieses Buch habe der Reichs-regierung unter Adolf Hitler die Begründungen für die Massenmorde an Menschen mit körperlichen, geistigen und psychischen Besonderheiten geliefert.

Thailand verbietet LeihmutterschaftBangkok (ALfA). In Thailand dürfen Kliniken Ausländern nicht länger die Dienste von Leihmüttern anbieten. Auch der Kauf von Ei- und Samenzellen ist verboten. Ärzte, die dennoch kommerzielle Leihmutterschaften unterstützen, müssen mit Haftstrafen von bis zu einem Jahr rechnen, Leihmütter mit

bis zu zehn Jahren. Das teilte Ende Juli das thailändische Gesundheitsministerium mit. Lediglich verheiratete, heterosexuelle Paare, von denen mindestens einer thailändischer Staatsbürger sein muss, dürfen – sofern diese nicht direkt bezahlt werden – noch Leihmütter in Anspruch nehmen. Mit der Ge-setzesänderung reagierte die thailändische Regierung auf zwei Skandale, die weltweit für Schlagzeilen gesorgt hatten. In dem einen Fall ließ ein australisches Paar ein krankes Zwillingskind bei der Leihmutter und nahm nur das gesunde Geschwisterchen mit nach Australien. In dem anderen Fall hatte ein reicher Japaner mindestens zehn Kinder mit Hilfe von Leihmüttern gezeugt, angeblich um seine Nachkommenschaft zu sichern. reh

EGMR: Richter weisen Klage abStraßburg (ALfA). Der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte (EGMR) hat die Klage einer Italienerin abgewiesen, die ihre künstlich erzeugten und anschließend tiefgefrorenen Embryonen der Forschung zur Verfügung stellen wollte. Der Staat Italien habe das Recht, eine solche Embryo-Spende zu verbieten, urteilten die Richter Anfang September. Die 1954 geborene Klägerin hatte sich 2002 einer In-vitro-Fertilisation (IVF) unterzogen, bei der fünf Embryonen künstlich erzeugt und tiefgefroren wurden. Als der Mann der Frau im Jahr darauf verstarb, lehnte sie den Embryotransfer zur Herbeiführung einer Schwangerschaft ab und beschloss stattdessen, die Eizellen der Wissenschaft zur Erforschung seltener Krankheiten zur Verfügung zu stellen. reh

Aus der BibliothekKarl Binding/Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form (1920)

Fünf Jahre, nachdem der Bundestag im November 2015 den ärztlich assis-tierten Suizid legalisiert hatte, ist im Deutschland von morgen eine Debatte darüber entbrannt, ob Ärzten die Ap-probation entzogen werden solle, die sich weigerten, Patienten bei einem Su-izid zu assistieren. Argumentiert wird unter anderem, vor allem in ländlichen Gebieten sei nicht sichergestellt, dass alle Suizidwilligen auch immer einen Arzt fänden, der bereit sei, ihnen bei der Selbsttötung zur Hand zu gehen. Im Petitionsausschuss des Bundestags seien zahlreiche Beschwerden von An-gehörigen eingegangen, die beklagten, dass – obwohl ihre hochbetagten Ver-wandten längst eingewilligt hätten, aus dem Leben zu scheiden – sich kein Arzt fände, der ihnen dabei helfen wol-le. Ein hochbetagtes Mitglied des wis-

senschaftlichen Beirats der »Giordano Bruno Stiftung« hat sogar die Bundes-republik Deutschland vor dem Euro-päischen Gerichtshof für Menschen-rechte verklagt. Er argumentiert, der Staat hindere ihn an einem »Sterben in Würde«, da er es versäume, Sorge dafür zu tragen, dass es ein flächende-ckendes Angebot von Ärzten gebe, die bereit seien, Suizidhilfe zu leisten. Da er weiter für die Kosten seiner Pflege aufkommen müsse, entstünden »durch die Abschmelzung des Erbes« zudem seinen Nachkommen erhebliche finan-zielle Nachteile. Die Leitungsgremi-en von »Amnesty International« dis-kutieren, ob die Organisation mit ei-ner Kampagne für ein »Menschenrecht auf Suizid« eine neue Zielgruppe auf sich aufmerksam machen und als Mit-glieder gewinnen könne. Stefan Rehder

»Die Welt. Die von morgen« (27)

K U R Z & B Ü N D I G

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T H A I L A N D

V I E T N A M

K A M B O D S C H A

M YA N M A R L A O S

G O L FV O NT H A I L A N D

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L E S E R F O R U M

An der Titelgestaltung von »Le-bensForum« wird häufiger Kritik geübt. Woher ich das weiß? Weil Sie sich nicht scheuen, diese, zumin-dest aber einen Teil davon, hier auch zu veröffentlichen. Deshalb hoffe ich, dass Sie auch dieses Lob veröffentlichen werden: Ich finde das Titelbild der letzten Ausgabe ganz besonders gelungen. Geradezu preisverdächtig.

Janette Husemann, Kleve

Auch Zeichen für den TodHochwürden Andreas Kuhlmann, ka-

tholischer Priester, plädiert (LF114, S. 24f.) dafür, beim »Marsch für das Le-ben« auf das Mitführen weißer Kreuze zu verzichten und statt ihrer leere Kin-derwagen mitzuführen. Das Kreuz sei mit Tod und Auferstehung des Sohnes Got-tes zum Zeichen der Hoffnung und der Liebe geworden. Es für politische Zwe-cke einzusetzen, gehe mit der Gefahr einher, diese seine eigentliche Aussage zu verfälschen. Da bin ich, auch ich ein katholischer Christ, ganz anderer Mei-nung. Ein Freund, mit dem ich Kran-kendienst gemacht habe, hat es einmal so ausgedrückt: »Das ist gerade der Un-terschied zum Roten Kreuz: An unse-rem Kreuz hängt einer!« Der da hängt, hat selbst gelitten und ist ungerecht ge-storben. Das Kreuz ist, da stimme ich zu, ein Zeichen für den Sieg über den Tod. Ebenso hält es uns aber, mit dem der da-ran hängt, das Sterben Christi vor Au-gen. So ist das Kreuz auch ein Zeichen für den Tod, für das Gedenken an die Toten und für die Barmherzigkeit Got-tes mit uns Lebenden und unseren To-ten. Stirbt ein kleines Kind, so wird es oft in einem kleinen weißen Sarg beigesetzt. Die weißen Kreuze sind so für mich ein starkes Symbol für den Tod kleiner Kin-der, ob wir sie nun zu Tode getragen ha-ben oder nicht.

Jesus selbst sagt uns: »Wer mein Jün-ger sein will, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach« (Lk 9,23). Die politisch zugelassenen vorgeburtli-chen Kindstötungen sind für mich ei-nes meiner Kreuze, die ich durch mei-

nen Alltag zu tragen habe. Warum soll ich dann nicht zum Gedenken an die durch Abtreibung um ihr Leben gebrach-ten Kinder dieses mein Kreuz auch beim »Marsch für das Le-ben« als sichtbares weißes Kreuz mit mir führen? Ob ein Kinderwagen leer ist oder nicht, sieht nur der, der ihn schiebt. Keinesfalls kommen mitgeführte Kinder-wagen in ihrer Sym-bolkraft für die toten Kinder an die wei-ßen Kreuze heran. Wir sollten sie des-halb beim »Marsch für das Leben« auch weiterhin gelassen mit uns tragen. Auch wenn wir vielleicht gerade wegen der weißen Kreuze und ih-rer klaren Aussage angegriffen, beschimpft und bespuckt werden.

Anton Graf von Wengersky, Grafing

Die Symbolik des KreuzesAndreas Kuhlmann und auch andere

Leser mögen es mir bitte gleich zu An-fang nachsehen, dass ich als lutherischer Christ nicht auf die angeführten Heiligen in der Stellungnahme eingehen kann und möchte. Ich finde den Beitrag trotzdem interessant und diskussionswürdig. Vor-weg, ich empfinde das Tragen der Kreuze beim »Marsch für das Leben« für richtig und würde nicht darauf verzichten wol-len. Zur Begründung: Das Kreuz bezie-

hungsweise der christliche Glaube ver-schwindet immer mehr aus der Öffent-lichkeit. Das ist schade und sehr bedau-erlich, gibt unser Glaube doch Hilfe zur Orientierung und im Umgang mit Prob-lemen wie zum Beispiel den Schwanger-schaftskonflikten. Ich stimme mit Herrn Kuhlmann darin überein, dass das Kreuz unter anderem Symbol für Hoffnung ist. Allerdings ist es auch ein Symbol für den Tod, der zwar durch Jesus Christus überwunden wurde, aber nur denen den Schrecken nehmen kann, die Christus auch als ihren Erlöser angenommen ha-ben. Da dürften wir dann an der Stelle sein, dass schon viele Bürger in diesem Land eben keine (aktiven) Christen mehr sind. Auch oder gerade diese sollen ja durch den Marsch angesprochen werden. Es ist und bleibt eben das Anliegen, auf den hunderttausendfachen Tod der Un-geborenen, beziehungsweise der gezielten Tötung eben dieser, einmal im Jahr hin-zuweisen. Dieses gelingt eben am besten durch eine Symbolik, die jeder versteht. Mit leeren Kinderwagen, wie das vorge-schlagen wurde, ist das meiner Meinung

nach nicht wirklich zu bewerkstelligen. Zudem ist der Transport dieser Kinder-wagen schon ein logistisches Problem, ein teures noch dazu.

Nein, das Kreuz, das Symbol unseres Glaubens, das sowohl für den Tod als auch für die Vergebung steht, muss noch massiver zurück in die Öffentlichkeit ge-bracht werden. In einer visuellen Welt wie der Unseren wird man ansonsten nicht mehr wahrgenommen. Wir haben eine Botschaft und diese muss durch eindeu-tige Symbole transportiert werden. Wer kein Kreuz nehmen mag, kann wie auch in den letzten Jahren mit leeren Händen gehen, ein Schild tragen, gerne auch einen leeren Kinderwagen schieben. Ich schrei-be es noch einmal ganz deutlich. Auf die Kreuze gänzlich zu verzichten, halte ich allerdings für absolut falsch!

Sven Behrens, Bremervörde

Der »Marsch für das Leben« durch Berlin

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I M P R E S S U M

IMPRESSUMLEBENSFORUMAusgabe Nr. 115, 3. Quartal 2015ISSN 0945-4586

VerlagAktion Lebensrecht für Alle (ALfA) e.V. Ottmarsgäßchen 8, 86152 AugsburgTel.: 08 21 / 51 20 31, Fax: 08 21 / 15 64 07www.alfa-ev.de, E-Mail: [email protected]

HerausgeberAktion Lebensrecht für Alle e.V.Bundesvorsitzende Dr. med. Claudia Kaminski (V.i.S.d.P.)

KooperationÄrzte für das Leben e.V. – Geschäftsstellez.H. Dr. med. Karl RennerSudetenstraße 15, 87616 MarktoberdorfTel.: 0 83 42 / 74 22, E-Mail: [email protected]

Treffen Christlicher Lebensrecht-Gruppen e. V.Fehrbelliner Straße 99, 10119 BerlinTel.: 030 / 521 399 39, Fax 030 / 440 588 67 FaxInternet: www.tclrg.de · E-Mail: [email protected]

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RedaktionMatthias Lochner, Alexandra Linder M.A.,Dr. med. Maria Overdick-Gulden, Prof. Dr. med. Paul Cullen(Ärzte für das Leben e.V.)

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ErscheinungsweiseLebensForum Nr. 116 erscheint am 14.11.2015. Redaktions-schluss ist der 18.09.2015.

Jahresbezugspreis16,– EUR (für ordentliche Mitglieder der ALfA und der Ärzte für das Leben im Beitrag enthalten)

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TitelbildDipl.-Des. Daniel Rennen / Rehder Medienagenturwww.rehder-agentur.de

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E inen zählbaren Erfolg für den Le-bensschutz haben die Caritasver-bände des Erzbistums Berlin und

der Diözese Görlitz vor Gericht errun-gen. Ende Juni bestätigten die Richter des Bundesverwaltungsgerichts in Leip-zig ein Urteil des Oberverwaltungsge-richts Berlin-Brandenburg aus dem Jahr 2013, das den beiden Schwangerenbe-ratungsstellen in Strausberg und Cott-bus der Caritasverbände im Erzbistum Berlin und im Bistum Görlitz einen An-spruch auf Förderung durch das Land Brandenburg attestiert hatte. Gegen die-se Entscheidung hatte das Land Branden-burg Revision beim Bundesverwaltungs-gericht eingelegt.

Das Land muss nun die rechtswidrig vorenthaltenen Fördermittel für die Jah-re 2007 bis 2015 (rund 1,6 Millionen Eu-ro) an die beiden Caritasverbände nach-zahlen. »Das Urteil ist ein Erfolg für den Lebensschutz. Schwangere Frauen müssen die Möglichkeit haben, eine Be-ratung zu wählen, die für das Leben ein-tritt«, erklärte Gabriela Pokall, Direk-torin des Caritasverbandes der Diözese Görlitz nach Bekanntgabe des Urteils. »Die Entscheidung des Gerichts stellt ei-ne Würdigung der besonderen Schwan-gerenberatung der Katholischen Kirche ohne Beratungsschein dar und bedeu-tet, dass diese Beratungsart in der welt-anschaulichen Vielfalt ihren Platz hat«, so Pokall weiter.

Nach dem Schwangerenkonfliktgesetz (SchKG) haben auch Einrichtungen, die »nur« eine Schwangerenberatung und nicht auch eine sogenannte Schwangeren-konfliktberatung anbieten – weil sie nach dem Umstieg der Katholischen Kirche in der Schwangerenberatung seit 2001 kei-ne Beratungsscheine mehr ausstellen, die schwangere Frauen zu einer straffreien Abtreibung berechtigen –, grundsätzlich einen Anspruch auf Förderung.

Das Land Brandenburg hatte jedoch, nachdem es sich in einem außergericht-

lichen Vergleich mit den Caritasverbän-den im Erzbistum Berlin und im Bistum Görlitz über die Nachzahlung von För-dermitteln für die Jahre 2001 bis 2006 geeinigt hatte, im Jahr 2007 ein Ausfüh-rungsgesetz erlassen, das es ihm ermögli-chen sollte, die von der Caritas getragenen Beratungsstellen künftig von einer Förde-rung auszuschließen. Dieses Gesetz be-sagt, dass das Land für den Fall, dass es auf seinem Territorium mehr Beratungsstel-len gibt, als zur Deckung des bundesein-heitlich definier-ten Bedarfs not-wendig sind, vor-rangig diejenigen Beratungsstellen zu fördern habe, die beide Formen der Beratung an-bieten.

Im Verlauf des Verfahrens, unter das die obersten Verwaltungsrich-ter in Leipzig mit ihrem Urteil nun einen Schluss-strich zogen, stell-te sich das Land Brandenburg auf den Standpunkt, die Beratungsstellen der Caritas seien zur Deckung des Beratungsbedarfs in Bran-denburg nicht notwendig. Dem war be-reits das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg nicht gefolgt. Nach Ansicht der Richter reicht es nicht aus, dass das Land dafür sorge, dass der sogenannte Mindestversorgungsschlüssel von einer Beratungskraft pro 40.000 Einwohner eingehalten werde. Gesetzlich gefordert sei auch die Gewährleistung eines welt-anschaulich pluralen Beratungsangebots. In ihrem Urteil hoben die Richter aus-drücklich hervor, dass das von der Ka-tholischen Kirche getragene Beratungs-angebot auf den »unbedingten Schutz

des ungeborenen Lebens« ausgerichtet sei. Insofern unterscheide es sich signi-fikant von allen anderen in Brandenburg geförderten Beratungsstellen.

Rund 75 Prozent der in Branden-burg geförderten Beratungsstellen trägt der Verband »pro familia«. Zudem wi-derspreche der Ausschluss eines Ange-bots von der öffentlichen Förderung, wie es die Katholische Kirche offeriere, der Schutzpflicht, die dem Staat für das un-geborene Leben obliege.

Der Rechtsstreit entstand, nachdem die deutschen Bischöfe 1999 beschlos-sen hatten, die Beteiligung am staatlichen System der Schwangerschaftskonfliktbe-ratung zu beenden. Seitdem stellen ka-tholische Schwangerschaftsberatungsstel-len keine Beratungsscheine mehr aus, die zur straffreien Abtreibung genutzt wer-den können. Nach Auffassung des Landes Brandenburg verloren die Beratungsstel-len der Caritas hierdurch ihre Förderbe-rechtigung. Die Caritas setzte ihre Bera-tung jedoch unvermindert fort. Experten messen dem Urteil eine grundsätzliche Bedeutung bei, die über das Land Bran-denburg hinaus reiche.

L E T Z T E S E I T E

Postvertriebsstück B 42890 Entgelt bezahltDeutsche Post AG (DPAG)

Aktion Lebensrecht für Alle e.V. (ALfA)Ottmarsgässchen 8, 86152 Ausgburg

Hilfe stattScheine

Gericht bestätigt den Anspruchkatholischer Beratungsstellen

auf finanzielle Förderung

Von Stefan Rehder

Brandenburg muss auch scheinlose Beratung fördern