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HANS-EDWIN FRIEDRICH Nützliche oder grausame Natur? Naturkonstruktion in der spätaufklärerischen Robinsonade (Campe, Wezel) Vorblatt Publikation Erstpublikation: Michael Scheffel (Hg.): Erschriebene Natur. Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts (Jahrbuch für Internationale Ger- manistik. Reihe A, Kongreßberichte, 66) Bern u.a.: Lang 2001, S. 289-308. Neupublikation im Goethezeitportal Vorlage: Datei des Autors URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/friedrich_robinsonaden.pdf> Eingestellt am 19.07.2004 Autor PD Dr. Hans-Edwin Friedrich Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 80799 München Emailadresse: <[email protected]> Empfohlene Zitierweise Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel das Datum der Einstellung oder des letzten Updates und nach der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Be- suchs dieser Online-Adresse anzugeben. Hans-Edwin Friedrich: Nützliche oder grausame Natur? Naturkonstruktion in der spätaufklärerischen Robinsonade (Campe, Wezel) (19.07.2004). In: Goethezeitportal. URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/friedrich_robinsonaden.pdf> (Datum Ihres letzten Besuches).

Nützliche oder grausame Natur? Naturkonstruktion in der ......und Wezel untersucht (IV/V). Abschließend wird ein Resumee zu ziehen sein (VI). 2. Daniel Defoe veröffentlichte 1719

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HANS-EDWIN FRIEDRICH

Nützliche oder grausame Natur? Naturkonstruktion in der spätaufklärerischen Robinsonade

(Campe, Wezel)

Vorblatt

Publikation Erstpublikation: Michael Scheffel (Hg.): Erschriebene Natur. Internationale Perspektiven auf Texte des 18. Jahrhunderts (Jahrbuch für Internationale Ger-manistik. Reihe A, Kongreßberichte, 66) Bern u.a.: Lang 2001, S. 289-308. Neupublikation im Goethezeitportal Vorlage: Datei des Autors URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/friedrich_robinsonaden.pdf> Eingestellt am 19.07.2004

Autor PD Dr. Hans-Edwin Friedrich Ludwig-Maximilians-Universität München Institut für Deutsche Philologie Schellingstr. 3 80799 München Emailadresse: <[email protected]>

Empfohlene Zitierweise Beim Zitieren empfehlen wir hinter den Titel das Datum der Einstellung oder des letzten Updates und nach der URL-Angabe das Datum Ihres letzten Be-suchs dieser Online-Adresse anzugeben. Hans-Edwin Friedrich: Nützliche oder grausame Natur? Naturkonstruktion in der spätaufklärerischen Robinsonade (Campe, Wezel) (19.07.2004). In: Goethezeitportal. URL: <http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/friedrich_robinsonaden.pdf> (Datum Ihres letzten Besuches).

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HANS-EDWIN FRIEDRICH

Nützliche oder grausame Natur? Naturkonstruktion in der spätaufklärerischen Robinsonade

(Campe, Wezel) [289] 1. Als die Konjunktur der Robinsonaden schon vorüber schien, entstanden gleich-zeitig zwei konkurrierende Bearbeitungen von Daniel Defoes Robinson Crusoe aus dem Umkreis des Philantropinums. Johann Karl Wezel hatte 1778 in den Pädagogischen Unterhandlungen des Dessauer Philantropinums Auszüge sei-nes Robinson Krusoe veröffentlicht. Im Februar 1779 kündigte Joachim Hein-rich Campe im Deutschen Museum den Roman Robinson der Jüngere an, der von Wezel sofort heftig befehdet wurde.1 Noch im gleichen Jahr erschien je-weils der erste, im Jahr darauf der abschließende Band beider Unternehmen, die in der Geschichte der Robinsonade einen Einschnitt markieren. Beide re-kurrieren auf Rousseaus pädagogische Empfehlung des Robinson Crusoe im Émile, dessen Erzähler von seinem Zögling wünscht, “qu’il pense être Robin-son lui-même”.2 Vorher galten Robinsonaden als “elender Zeitvertreib [...] vor Handwercks-Pursche”;3 Rousseau jedoch nobilitierte sie zur hochwertigen Li-

1 Zur Fehde zwischen Wezel und Campe vgl. Kurt Adel, Johann Karl Wezel. Ein Beitrag zur

Geistesgeschichte der Goethezeit, Wien 1968, S. 54 ff. u. Elke Liebs, Die pädagogische In-sel. Studien zur Rezeption des ‘Robinson Crusoe’ in deutschen Jugendbearbeitungen, Stutt-gart 1977, S. 59 ff., ausführlich: Dennis Brain, Johann Karl Wezel. From Religious Pessi-mism to Anthropological Scepticism, New York u.a. 1999, S. 3 ff.

2 Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV. Émile. Éducation - Morale -Botanique, Paris 1969, S. 455. Zur Bedeutung Rousseaus für die Robinson-Rezeption: Horst Brunner, “Kinder-buch und Idylle. Rousseau und die Rezeption des ‘Robinson Crusoe’ im 18. Jahrhundert”, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 2 (1967), S. 85-116, bes. S. 86 ff.; Karl Heinz Bohrer, Der Lauf des Freitag. Die lädierte Utopie und die Dichter. Eine Analyse, München 1973, S. 112 ff.; Peter Zupancic, Die Robinsonade in der Jugendliteratur, Diss. Bochum 1976, S. 45 ff. Liebs, Insel, S. 43ff. Vgl. allgemein zur Bedeutung Rousseaus für die deut-sche Aufklärungspädagogik: Reiner Wild, Die Vernunft der Väter. Zur Psychographie von Bürgerlichkeit und Aufklärung in Deutschland am Beispiel ihrer Literatur für Kinder, Stuttgart 1987, S. 263 ff.

3 Zitiert nach: Herbert Singer, Der galante Roman, Stuttgart 1961, S. 61.

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teratur für Kinder einer bestimmten Altersstufe. Campe und Wezel schrieben ihre Robinsone als Kinderliteratur.4

Die Konzeption der Hauptfigur wurde durch Rousseaus Impuls verän-dert. Ihm ging es nur um die Inselepisode; er wünschte sich den Roman “déba-rassé de son fatras”.5 Galt Robinson im frühen 18. Jahrhundert als Avanturier, war er nunmehr reinterpretiert zum Repräsentanten der Menschheit, der auf seiner Insel die Kulturstufen der Geschichte wiederholen mußte.6 Schon bei Defoe war ein entscheidendes Moment seiner insularen Existenz die Interakti-on zwischen Mensch und Natur: Robinson muß seine Existenz der Natur seiner Insel abringen. In dieser Konstellation zeichnet sich ein Diskurs über Natur ab, der die Veränderungen der Interpretation des Verhältnisses von Mensch und Natur im 18. Jahrhundert aufgreift und didaktisch verfestigt. Ich werde von der Konstruktion von Natur bei Defoe und in der frühen Robinsonade ausgehen (II). Diese Thematisierung von Natur ist anschließend in den umfassenden Pro-zeß der Lösung der Natur[290]interpretation aus der theologischen Deutungs-hoheit einzuordnen (III). Auf dieser Basis werden die beiden Texte von Campe und Wezel untersucht (IV/V). Abschließend wird ein Resumee zu ziehen sein (VI).

2. Daniel Defoe veröffentlichte 1719 den Roman The Life And Strange Surprizing Adventures Of Robinson Crusoe Of York, Mariner, der zu einem der großen ar-chetypischen Texte der Weltliteratur und europaweit zum Prototyp einer eige-nen Romangattung wurde. Die Hauptfigur wird durch einen Schiffbruch auf eine einsame Insel im Atlantik vor der Mündung des Orinoko verschlagen. Die Insel ist unbewohnt, später zeigt sich, daß dort gelegentlich die Bewohner einer

4 Zur pädagogischen Konkurrenz beider Bearbeitungen vgl. Zupancic, Robinsonade, S. 82f.,

Liebs, Insel, Reiner Wild, “Die aufgeklärte Kinderliteratur in der Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Zur Kontroverse um die Robinson-Bearbeitung zwischen Joachim Hein-rich Campe und Johann Karl Wezel”, in: Dagmar Grenz (Hg.), Aufklärung und Kinderbuch. Studien zur Kinder- und Jugendliteratur des 18. Jahrhunderts, Pinneberg 1986, S. 47-78.

5 Rousseau, Œuvres complètes, Bd. IV, S. 455. 6 “Robinson, in seinen rechten Gesichtspunkt gestellt [...], ist eine Geschichte des Menschen

im Kleinen, ein Miniaturgemälde von den verschiedenen Ständen, die die Menschheit nach und nach durchwandert ist, wie Bedürfnis und zufällige Umstände einen jeden hervorge-bracht und in jedem die nötigen Erfindungen veranlaßt oder erzwungen haben, wie stufen-weise Begierden, Leidenschaften und Phantasien durch die äußerliche Situation erzeugt worden sind.” (Johann Karl Wezel, Robinson Krusoe. Mit einem Nachwort von Rolf Stru-be, Berlin 1982, S. 9). Wezels Robinson Krusoe wird künftig zitiert mit der Sigle RK.

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Nachbarinsel kannibalische Riten vollziehen. Robinson sieht sich als Vertreter der europäischen Zivilisation einer wilden, weitgehend unberührten Natur ge-genüber, der er sein Überleben abtrotzen muß. Diesem Moment gilt zunächst die Aufmerksamkeit des Erzählers. Crusoe muß sich auf Strandgut, Jagdglück und Findigkeit verlassen, kann Überlebenstaktiken ausbilden und seine Exis-tenz auf der Insel dauerhaft absichern. Schließlich wird er gerettet und erlebt noch eine Vielzahl weiterer Abenteuer.

Literaturgeschichtlich war ein Novum, daß Natur überhaupt in der Wei-se eines Interaktionsverhältnisses thematisiert ist.7 Crusoes Insel ist topogra-phisch exakt verortet, allerdings ist die Natur dieser Insel nicht subtropisch, wie man angesichts der geographischen Lage annehmen sollte. Vielmehr scheint sie im wesentlichen den Lebensverhältnissen in Robinsons Heimat zu entsprechen.8 Die Insel ist eine Wildnis, sie ist aufgrund ihrer Öffnung zum Meer hin für Gefahren offen. Die Natur dieser Insel stellt dem Schiffbrüchigen die wesentlichen Ressourcen für sein Überleben und seine Kultivierungsversu-che zur Verfügung. Sie ist ein “fruchtbringendes Arbeitsfeld, das ein exaktes konditionales wie kausales Korrelat zu seinen Überlebenstechniken ist”.9 Die Beschreibung der Inselnatur ist nicht realistisch in dem Sinn, daß Defoe sich an den Gegebenheiten tropischer Inseln orientiert hätte. Vielmehr gilt das Interes-se des Erzählers der Zentralfigur, und auf diese Zentralfigur hin ist die Natur konzipiert. Robinsons Insel ist eine anthropometrische Insel, sie ist nur vorder-gründig eine terra incognita. Die Robinsonade zeigt sich im 18. Jahrhundert durchweg nicht, wie man aus heutiger Sicht vielleicht erwarten könnte, als Medium der Thematisierung einer fremden, unbekannten, nichteuropäischen Natur.10 Auch Rousseau interessiert sich primär für den Naturzustand des Men-schen, nicht aber für die Natur der Insel.

[291] In der ersten Phase der Robinson-Rezeption ist die insulare Natur, wie Jürgen Fohrmann herausgearbeitet hat, nur als Lebensgrundlage der Zent-ralfigur interessant; weder sie selbst noch die Modi ihrer Wahrnehmung spielen eine besondere Rolle. Sie wird selten eigens thematisiert, ist weitgehend impli-

7 Vgl. Horst Brunner, Die poetische Insel. Insel und Inselvorstellungen in der deutschen Lite-

ratur, Stuttgart 1967, S. 92. 8 Vgl. Eckhard Reckwitz, Die Robinsonade. Themen und Formen einer literarischen Gat-

tung, Amsterdam 1976, S. 76f. 9 Reckwitz, Robinsonade, S. 42. 10 Man kann die Robinsonade nicht umstandslos als Hinweis auf die Aufgeschlossenheit ge-

genüber anderen Kulturformen interpretieren. Vgl. das ansonsten vorzügliche Buch von Wolfgang Ruppert, Bürgerlicher Wandel. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. u. New York 1981, S. 42 ff.

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ziert. Die Natur ist für Menschen geschaffen und soll ihm nutzen.11 Die Insel Felsenburg etwa ist eine insula amoena, die nach außen durch hohe Steilwände abweisend und wüst wirkt, im Inneren aber ein “irdisches Paradieß”12 enthält. Schnabels “Natur hat einen Sinn nur dort, wo der Mensch sie gestaltet”.13 Kon-sequent wird sie nur dann wahrgenommen, wenn sie gebraucht wird. Die The-matisierung der Natur als für den Menschen nützliche Natur14 basiert auf einem anthropozentrischen Weltbild, das noch unter der Dominanz der Theologie steht. Natur ist von Gott für den Menschen geschaffen, sie steht zu seiner Ver-fügung.15

3.

Im 18. Jahrhundert verändert sich die kulturelle Schematisierung des Naturge-fühls einschneidend. Natur wird auf vielfältige Weise Rahmen für die Begrün-dung der conditio humana. In diesem Prozeß der Ausdifferenzierung von Natur verbinden sich überkommene theologische Deutungsschemata mit Neubestim-mungen, die nicht mehr von Gott, sondern von der Natur abgeleitet werden. Die theologische Grundannahme, daß die Welt für den Menschen und zu sei-nem Nutzen geschaffen sei,16 wirft Probleme auf, die semantisch bearbeitet werden müssen. Was dem Menschen augenfällig nicht nützt, noch mehr aber das, was ihm offensichtlich schadet, muß ebenfalls als nützlich gedeutet wer-den.

Die Frage, wie sich angesichts der Weltübel die Auffassung von der Weisheit, Güte und Allmacht des Weltschöpfers begründen lasse, wurde akuter denn je. Sprechen die wilde Natur, schroffe und eisige, schreckenerregende Berge, Wüsten, Meeres-

11 Vgl. Jürgen Fohrmann, Abenteuer und Bürgertum. Zur Geschichte der deutschen Robinso-

naden. Studien zur Herausbildung einer nationalen deutschen Kultur im 18. Jahrhundert, Frankfurt/M. u. New York 1981, S. 42 ff.

12 Johann Gottfried Schnabel, Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer, Frank-furt/M. 1997, Bd. I, S. 110

13 Rosemarie Haas, “Die Landschaft auf der Insel Felsenburg”, in: Zeitschrift für Deutsches Altertum und Deutsche Literatur 91 (1961/62), S. 63.84, hier: S. 75.

14 Vgl. zur Herausbildung des Konzepts der oeconomia naturae im 17. Jahrhundert Ruth Groh u. Dieter Groh, “Kulturelle Muster und ästhetische Naturerfahrung”, in: Jörg Zimmermann, Uta Sanger u. Götz-Lothar Darsow (Hg.), Ästhetik und Naturerfahrung, Stuttgart-Bad Canstatt 1996, S. 27-41.

15 Vgl. Ruth Groh u. Dieter Groh, Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt/M. 1991, S. 7.

16 Vgl. Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1987, S. 88.

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stürme, Feuersbrünste, Vulkanausbrüche, Erdbeben, Pest- und Seuchenzüge, Krie-ge, Heuschreckenplagen, Giftschlangen, Tiger, Skorpione, Brennesseln, Disteln und jegliches Unkraut nicht eine andere Sprache?17

Schon der antike Naturbegriff hatte Natur zweischichtig schematisiert. Einer-seits wurden ihre offenkundig korrupten Seiten registriert, andererseits die Na-tur auf einen idealen Zustand hin bezogen.18 An dieser in den Begriff der Natur eingebauten Differenzierung konnte man anknüpfen. Die Physikotheologie ging von der Prämisse aus, daß die Natur auf Gott als ihren Baumeister verwei-se.19 Alle empirischen Phänomene mußten diesem prinzipiell perfekten Bau-plan integriert werden. Grundsätzlich galt das Naturschöne als [292] “sinnliche Erscheinung des vollkommenen und harmonischen Ganzen einer durch natürli-che Gesetzmäßigkeiten geregelten Naturordnung.”20 Den korrupten Zuständen der Natur wurde jeweils ein Nutzen zugeordnet; falls dies allzu problematisch schien, blieb der Verweis auf die unerforschlichen Ratschlüsse Gottes. Leibniz kodifizierte die klassische Formel für diese Operation in seiner Metaphysik. Dem begrenzten Erkenntnisvermögen des Menschen sei nur die naturgesetzli-che Ordnung zugänglich, die Ordnung des Ganzen hingegen grundsätzlich un-begreiflich.21 Die theologische Kodierung für die anthropozentrische Teleolo-gie der Natur war die providentia dei,22 die auch schon immer das Benötigte für Robinson Crusoe bereitgehalten hatte.23

Die Umdeutung der korrupten Seiten der Natur, die Ruth und Dieter Groh mit dem Stichwort der “Positivierung des Negativen”24 gefaßt haben, treibt im weiteren eine umfassende Veränderung der Perzeption von Natur her-

17 Groh u. Groh, Weltbild, S. 55. Vgl. Begemann, Furcht, S. 86 ff. 18 Vgl. Niklas Luhmann, “Über Natur”, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien

zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 4, Frankfurt/M. 1995, S. 9-30, hier: S. 10 ff.

19 Vgl. Sara Stebbins, Maxima in minimus. Zum Empirie- und Autoritätsverständnis in der physikotheologischen Literatur der Frühaufklärung, Frankfurt/M. u.a. 1980; vgl. auch die Beiträge von Grage, Scheffel und Zelle im vorliegenden Band.

20 Ruth Groh u. Dieter Groh, Die Außenwelt der Innenwelt. Zur Kulturgeschichte der Natur II, Frankfurt/M. 1996, S. 118.

21 “Le concours extraordinaire de Dieu est compris dans ce que nostre essence exprime, car cette expression s’etend à tout, mais il surpasse les forces de nostre nature ou de nostre ex-pression distincte, qui est finie et suit certaines maximes subalternes.” (Discours de Méta-physique §16). Zit. nach: Gottfried Wilhelm Leibniz, Kleine Schriften zur Metaphysik, Hg. Hans Heinz Holz, Frankfurt/M. 1965, S. 102.

22 Vgl. Udo Krolzik, Säkularisierung der Natur. Providentia-Dei-Lehre und Naturverständnis der Frühaufklärung, Neukirchen-Vluyn 1988, S. 16 ff.

23 Vgl. Liebs, Insel, S. 18f. 24 Groh u. Groh, Weltbild, S. 55.

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vor. Landschaft wird im Lauf des 18. Jahrhunderts zunehmend als ästhetisches Phänomen wahrgenommen.25 Diese Entwicklung ist in der Gartentheorie und dem zunehmenden Aufkommen von Landschaftsgärten nachzuvollziehen, de-ren Anlage sich am Paradies, also am Musterfall zweckfreier Natur, orientiert und zunächst der Leitidee einer Rekonstruktion paradiesischer Natur folgt.26

Die zunehmende Verbreitung der Reiseliteratur und vor allem ihre qua-litative Veränderung27 belegen, daß nicht nur neue Wahrnehmungsfelder er-schlossen werden, sondern zunehmend der Wahrnehmungsprozeß selber the-matisiert wird. Die Gebirgslandschaft wird seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als ästhetische Landschaft entdeckt, zugleich aber das Verhältnis des Reisen-den zu ihr thematisiert.28 Das Gebirge wird im Rahmen der Ästhetisierung der Natur mittels der Kategorie des Erhabenen kodiert.29 Die Positivierung der Na-tur setzt lebensweltliche Distanz zur Natur voraus. Erhabene Natur ist gefähr-lich; genießen kann nur, wer sie aus der Sicherheit heraus beobachten kann.30

25 Initiierend: Joachim Ritter, “Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen

Gesellschaft”, in: ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt/M. 1974, S. 141-163 u. 172-190. Vgl. auch Burkhardt Krause, “Landscaft, Landschaft, Landscape. Die eigene und die fremde Landschaft. Anmerkungen zum ‘deutschen’ und nordamerikanischen Land-schaftsverständnis”, in: ders., u. Ulrich Scheck (Hg.), Natur, Räume, Landschaften, 2. In-ternationales Kingstoner Symposium, München 1996, S. 25-72, u. Uwe Dethloff (Hg.), Li-terarische Landschaft. Naturauffassung und Naturbeschreibung zwischen 1750 und 1830, St. Ingbert 1995.

26 Vgl. Siegmar Gerndt, Idealisierte Natur. Die literarische Kontroverse um den Landschafts-garten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Deutschland, Stuttgart 1981, S. 68 ff., Cle-mens Alexander Wimmer, Geschichte der Gartentheorie, Darmstadt 1989, S. 136 ff.

27 Vgl. William E. Stewart, Die Reisebeschreibung und ihre Theorie im Deutschland des 18. Jahrhunderts, Bonn 1978; mit Bezug auf die Robinsonade: Fohrmann, Abenteuer, S. 178ff.; exemplarisch: Albert Meier, “Von der enzyklopädischen Studienreise zur ästheti-schen Bildungsreise. Italienreisen im 18. Jahrhundert”, in: Peter J. Brenner (Hg.), Der Rei-sebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt/M. 1989, S. 284-305.

28 Diese Zusammenhänge sind deutlich herausgestellt bei: Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsge-schichte, Tübingen 1990, S. 183ff. u. 243ff. Zu entsprechenden Beobachtungen bei Moritz vgl. Ute Heidmann Vischer, Die eigene Art zu sehen. Zur Reisebeschreibung des späten 18. Jahrhunderts am Beispiel von Karl Philipp Moritz und anderen Englandreisenden, Bern u.a. 1993, Dirk Niefanger, “Melancholie und ästhetischer Genuß. Landschaft in den ‘Reisen eines Deutschen in Italien’ von Karl Philipp Moritz”, in: Aufklärung 8.1 (1994) S. 15-31.

29 Vgl. grundlegend Carsten Zelle, ‘Angenehmes Grauen’. Literarhistorische Beiträge zur Äs-thetik des Schreckens im 18. Jahrhundert, Hamburg 1987, S. 80 ff.

30 Vgl. die Topik im Anschluß an Lukrez, De rerum natura II/1-4: Hans Blumenberg, Schiff-bruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M. 1979, Karl Eibl, “Abgrund mit Geländer. Bemerkungen zur Soziologie der Melancholie und des ‘angeneh-men Grauens’ im 18. Jahrhundert”, in: Aufklärung 8.1 (1994) S. 3-14.

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Diese Veränderungen bestimmen auch den Naturdiskurs der späteren Robinso-nade.

4. Die Erzählkonstruktion von Campes Robinson der Jüngere31 weicht von der Defoes nicht nur durch den Wechsel zur auktorialen Erzählhaltung ab, sondern auch dadurch, daß Campe die Geschichte Robinsons als Binnenerzählung prä-sentiert.32 In der Rahmenerzählung fungiert ein nicht weiter namentlich be-kannter Vater33 im Familienkreis als Erzähler einer Geschichte, die als längst vergangenes Geschehen ausgewiesen wird. Das Erzählarrangement [293] dient der diaktischen Aufbereitung und hermeneutischen Steuerung der Robinsonge-schichte, deren abenteuerliche Momente moraldidaktisch gedeutet werden.34 Zwei Ebenen der Naturschematisierung sind gegeben. Einerseits wird von Ro-binsons Konfrontation mit der Natur berichtet, andererseits wird in natürlicher Kulisse erzählt. Robinsons Verhältnis zur Natur wird vom Vater der Familie gedeutet. Im Rahmen versammelt sich die Familie unter einem “Apfelbaume” vor den Toren Hamburgs. Die Kinder werden während der Erzählung dazu an-gehalten, “Erbsen auszukrüllen” und “türksche Bohnen abzustreifen”.35 Man befindet sich in der kultivierten Natur eines Nutzgartens; die Kinder sind zur Tätigkeit angehalten und verarbeiten Naturprodukte.36

31 Joachim Heinrich Campe, Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unter-

haltung für Kinder, nach dem Erstdruck hg. von Alwin Binder und Heinrich Richartz, Stuttgart 1981. Künftig zitiert mit der Sigle RdJ.

32 Zu den Abweichungen Campes von Defoe vgl. Zupancic, Robinsonade, S. 75 ff., Liebs, In-sel, S. 65 ff., Theodor Brüggemann u. Hans-Heino Ewers, Handbuch der Kinder- und Ju-gendliteratur. Von 1750 bis 1800, Stuttgart 1982, Sp. 220 ff.

33 Zur Dominanz des Vaters vgl. Wild, Vernunft, S. 205ff. 34 Zum Zusammenhang des Romans mit Campes jugendliterarischem Werk vgl. Gabriele

Brune-Heiderich, Die Begegnung Europas mit der überseeischen Welt. Völkerkundliche Aspekte im jugendliterarischen Werk Joachim Heinrich Campes, Frankfurt/M. u.a. 1989.

35 RdJ 20. 36 Vgl. zur Arbeit als Leitkategorie bei Campe: Klaus Klattenhoff, “Zur Pädagogik in Joachim

Heinrich Campes ‘Robinson der Jüngere’”, in: Kevin Carpenter u. Bernd Steinbrink (Hg.), Aufbruch und Abenteuer. Deutsche und englische Abenteuerliteratur von Robinson bis Winnetou, Oldenburg 1984, S. 31-41, Jörg Schönert, “Johann Carl Wezels und Joachim Campes Bearbeitungen des Robinson Crusoe: Zur literarischen Durchsetzung des bürgerli-chen Wertekomplexes: ‘Arbeit’ in der deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts”, in: Eda Sagarra (Hg.), Deutsche Literatur in sozialgeschichtlicher Perspektive. Ein Dubliner Kol-loquium, Dublin 1989, S. 18-34, Hans-Christoph Koller, “Destruktive Arbeit. Zur Ausei-nandersetzung mit der philanthropinischen Arbeitserziehung in J.K. Wezels ‘Robinson Krusoe’”, in: Lessing Yearbook 22 (1990), S. 169-197.

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Andererseits aber sollen die Kinder sich so zusammensetzen, “daß ihr die Sonne könt untergehen sehen; es wird heute ein schön Spektakel am Him-mel geben”.37 Der ästhetische Genuß der Natur - “Der halbe Mond an der einen Seite des Himmels und an der andern ein fernes Wettergewölk, aus dem es un-aufhörlich blizte! Die Luft dabei so sanft erwärmt, die ganze schlafende Natur so stille!”38 - ist nie Selbstzweck, sondern fast immer verknüpft mit einem Hinweis auf ihren Nutzen. Ein Naturschauspiel wird erwartet von einer “Lust-reise” nach Travemünde, zur

Zeit, da die Häringe in ihrem grossen Zuge, aus dem Eismeere herunter, auch in das Baltische Meer oder in die Ostsee kommen. Dan schwimt ein ganzes Heer der-selben auch bis zur Mündung der Trave, wo die Fischer ihrer eine grosse Menge mit leichter Mühe aus dem Wasser herausziehen.39

Der Naturbegriff des Rahmens ist gespalten in eine ästhetische und eine utilita-ristische Komponente.

Während Robinson der Natur seiner Insel den Lebensunterhalt erst ab-gewinnen muß, wird von seinen Bemühungen in der gesicherten Lage einer kultivierten Natur erzählt. Auf diese Perspektive ist der Naturdiskurs der Bin-nenerzählung ausgerichtet. Erzähler und Zuhörer befinden sich in der Situation des Zuschauers beim Schiffbruch. Robinsons unmittelbare Beziehung der Na-tur ist auf die Distanz von Erzähler und Zuhörer bezogen. In der Binnenerzäh-lung ist zu unterscheiden zwischen der Konfrontation Robinsons mit der Insel-natur und den Interpretaten des Vaters. Letztere ordnen sich einer Absicht Campes zu, “wahre Produkte und Erscheinungen der Natur - und zwar in Be-ziehung auf diejenige Weltgegend, wovon die Rede ist”,40 mittels der Ge-schichte vorzuführen. Es geht darum, “Erdbeschreibung [zu] lehren”41 und Re-alien zu vermitteln.42 Wie das vor sich geht, ist an einem Beispiel zu erläutern:

Eine von diesen Inseln heißt, wie ihr wißt, Madera. Diederich: Ach ja; die den Portugiesen gehört! [294] Johannes. Wo der schöne Maderawein wächst - Gottlieb. Und Zukkerrohr! Lotte. Und wo die vielen Kanarienvögel sind, nicht Vater?

37 RdJ 20. 38 RdJ 237f. 39 RdJ 125. 40 RdJ 5f. 41 RdJ 24. 42 Vgl. Reckwitz, Robinsonade, S. 277f.

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Vater. Ganz recht.43

Das vermittelte Wissen ist immer auf die Besitzverhältnisse und die Erzeugnis-se bezogen, die der Natur abgerungen werden: Wein und Zuckerrohr. Typi-scherweise stellt das Mädchen die Frage nach den zwecklos-schönen Kana-rienvögeln. Die fremde und wilde Natur ist nicht relevant. Alles, was Robinson auf seiner Insel vorfindet, wird in dieser Weise zur Vermittlung von Realien-wissen genutzt, d.h. die Funktion der Naturprodukte für die Zivilisation wird erklärt.44

Robinson ist anfangs der Natur seiner Insel hilflos ausgeliefert, empfin-det “Furcht und Angst”45 vor den Gefahren, die er noch nicht kennt. Zuneh-mend gliedert sich die Natur der Insel für ihn nach der Unterscheidung von nützlich und unnütz. Die kultivierte und nützliche Natur ist zugleich die schöne Natur.46 Ein wesentliches Ziel der Didaxe ist, diese Art der Wirklichkeitssche-matisierung auszubilden und zu perfektionieren. Man soll alles “mit der größ-ten Aufmerksamkeit achte[n] und sich immer selbst frag[en]: wozu mögte das wohl nützlich sein?”47

Natürlich bietet die Natur auch dieser Insel dem Gestrandeten peu a peu, wessen er bedarf. Der axiologische Bezugspunkt dieser Naturkonzeption ist die göttliche Vorsehung. Alle Erscheinungen der Natur haben einen hinter-gründigen Sinn; tritt sie Robinson feindselig gegenüber, handelt es sich um ei-nen verdeckten Fingerzeig. Die Natur verweist auf den Schöpfer, “der so un-zählbare Kräfte und Eigenschaften in die Natur der Dinge gelegt hat, daß es seinen lebendigen Geschöpfen nirgends an Mitteln fehlt, sich zu erhalten, und ihren Zustand angenehm zu machen”.48 Notwendiges Korrelat der utilitaristi-schen Wirklichkeitsschematisierung ist das “Vertrauen zu der göttlichen Vor-sehung”,49 welches Robinson erwerben muß. Nicht alles, was er nicht begrei-fen kann, ist nutzlos.50 Im Lauf dieses Lernprozesses findet Robinson eine

43 RdJ 41. 44 Pars pro toto: Robinson sucht “Kampeschenbäume” (RdJ 52), über die dann die Kinder be-

lehrt werden mit Hinweis auf die Nützlichkeit dieser Pflanze für die Färber. 45 RdJ 51. 46 Robinson auf der Insel Madeira: “Er konnte sich nicht sat sehen an dem herlichen Anblik,

den diese fruchtbare Insel gewährt. So weit sein Auge reichte, sahe er Gebirge, die mit lau-ter Weinreben bekleidet waren. Wie wässerte ihm der Mund nach den schönen süßen Trau-ben, die er da hengen sah!” (RdJ 41).

47 RdJ 94, vgl. RdJ 63. 48 RdJ 118. 49 RdJ 53. 50 Vgl. RdJ 148.

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Quelle, wenn er Durst hat, zum Schlafen einen Baumast, “der so dikke Aeste hatte, daß er bequem darauf sitzen, und mit den Rükken sich anlegen konte”.51 Hat er Hunger, findet er Austern;52 sind die aufgebraucht, wunderbarerweise eine ansonsten in diesen Breiten nicht vorkommende Kokospalme.53 Die Bei-spiele lassen sich beliebig vermehren.

Allerdings muß doch geklärt werden, warum Gott nicht gleich die Welt zu einem Schlaraffenland gemacht hat. Dann “würden wir sicherlich weiter nichts thun, als essen, trinken und schlafen; und dan würden wir bis an unsern Tod zu dum bleiben, als das liebe Vieh”.54 Zweckfreie Verschönerung der Na-tur spielt für Robinson erst dann eine Rolle, wenn die Grundlagen [295] seiner Existenz gesichert sind. Dann werden der Garten more geometrico angelegt und Blumen in den Nutzgarten gepflanzt.55

Der Nutzen impliziert jedoch ein Maß. Da die Welt für den Menschen geschaffen ist, obliegt ihm Verantwortung für sie. Robinson tötet für seinen Unterhalt ein junges Lama, was erzählerisch zurückhaltend als frevelhafte Tat markiert wird. “Die sorgenlosen Thiere, die hier vermuthlich niemahls waren gestöhrt worden, gingen ohne alle Furcht bei dem Baume, hinter welchen Ro-binson sich verstekt hatte”.56 Daß Robinson jagt, zeigt, daß die Insel kein Para-dies ist. Wieder bedauert das Mädchen Lotte die armen Tiere, weil es qua Ge-schlecht an der Beschaffung der Existenzgrundlagen nicht beteiligt ist. Die Mutter verweist darauf, “daß Gott uns erlaubt hat, die Thiere zu brauchen, wo-zu wir sie nöthig haben”.57 Die Kategorie des Nutzens wird hier qualitativ mo-delliert, denn mehr als benöthigt zu jagen überschreitet den Nutzen. Man darf nicht “[o]hne Noth ein Thier [...] tödten, oder [...] quälen”.58 Folglich erjagen Robinson und Freitag grundsätzlich “nie mehr, als sie jedesmahl brauchen kon-ten.”59

51 RdJ 51. 52 Vgl. RdJ 53f. 53 Kokospalmen gibt es “vornemlich da in Ostindien und hier auf den Inseln des grossen

Südmeers [...]. Wie dieser auf Robinsons Insel mogte gekommen sein, daß kan ich euch nicht sagen. Auf den amerikanischen Inseln pflegt es sonst dergleichen nicht zu geben.” (RdJ 63).

54 RdJ 61. 55 Vgl. RdJ 251. 56 RdJ 79. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 RdJ 252. - Dieses Moment avanciert in der Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts zum

Topos der Gegenüberstellung von zivilisierter Unersättlichkeit und Genügsamkeit der “wil-

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Natürlich gibt es auch Natur, die nicht in solcher Weise zuhanden und nützlich ist. Solche Natur ist entweder erhaben oder schön, wie der Blick vom Meer aus auf die Insel Teneriffa zeigt: “Es war ein köstlicher Anblik des A-bends, da die Sonne schon lange untergegangen und es auf dem Meere schon finster geworden war, zu sehen, wie der Gipfel dieses Berges der einer der höchsten in der ganzen Welt ist, noch von Sonnenstralen glühte, als wenn er gebrant hätte”.60 Diese Schönheit der Natur kann Robinson empfinden, wenn er kreatürlicher Sorgen ledig ist. Sein Blick ist abhängig von Stimmungen.

Es war ein reizender Morgen. Die Sonne stieg jezt eben in ihrer ganzen Klarheit, wie aus dem Meere, hervor, und vergoldete die Gipfel der Bäume. Tausend kleine und grosse Vögel von wunderbaren Farben sangen ihr erstes Morgenlied und freu-ten sich des neuen Tages. Die Luft war so rein und so erquikkend, als wenn sie jezt eben erst von Gott wäre geschaffen worden, und aus den Kräutern und Blumen duftete der süsseste Wohlgeruch empor61.

Dieselbe Natur nimmt er in Zuständen der Verzweiflung oder Bedrohung als öde und unfruchtbar wahr.62 Die Schönheit der insularen Natur verweist unmit-telbar auf den Schöpfer, die Sonne ist dazu da, “in ihrem Lichte die Wunder deiner Schöpfung [zu] sehen”.63 Der Blick vom Berg auf die Insel hinab dient allerdings nicht ästhetischem Vergnügen, sondern der Orientierung und Strate-gie.64

Das Erhabene ist die Kodierung der gefährlichen, schrecklichen Natur. Der ästhetische Genuß des Erhabenen setzt die Distanz des Betrachters voraus, wie die Beschreibung des Unwetters zeigt, das zu Robinsons Schiffbruch führt.65 Ausführlich behandelt wird es anläßlich eines Gewitters. Ro[296]binson ist, so kommentiert der Vater, “eine thörigte Furchtsamkeit vor dem Gewitter eigen”,66 weil seine Erziehung in diesem Punkt versagt hat. Die Kinder haben in der Rahmenhandlung die Argumente gegen Gewitterfurcht vorzubringen: Blitzschläge sind selten, Donner und Blitz “was Prächtiges”, “es

den” Eingeborenen. Vgl. Ralf-Peter Märtin, Wunschpotentiale. Geschichte und Gesellschaft in den Abenteuerromanen von Retcliffe, Armand, May, Königstein 1983, S. 79 ff.

60 RdJ 43. 61 RdJ 74, vgl. RdJ 97, 167. 62 Vgl. RdJ 53. 63 RdJ 167. 64 Vgl. RdJ 75, 223, 324. 65 Vgl. RdJ 25. 66 RdJ 86.

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sieht so schön aus, wenn der Bliz aus den schwarzen Wolken heraus fährt”.67 Nicht nur der ästhetische Genuß, auch der Nutzen des Gewitters - es reinigt die Luft, damit alles erquickt wird und gut wächst68 - wird ausführlich verhan-delt.69 Robinson kann diese ästhetische Perspektive aufgrund seiner unmittel-baren Gefährdung nicht entwickeln. Aber der zerstörende Blitzschlag stellt ihm Feuer zur Verfügung. “[S]o hatte die götliche Vorsehung grade zu der Zeit am sichtbarsten für ihn gesorgt, da er in seiner Aengstlichkeit sich einbildete, daß sie ihn verlassen habe”.70

Campes Naturkonzeption läßt an zwei Stellen Irritationsmomente er-kennen. Zum einen sind Naturkatastrophen nur um den Preis einer drohenden Überdehnung der Providenzvorstellung integriert. Zum anderen kann die Grau-samkeit in der Natur nicht bruchlos positiviert werden.

Robinson muß mit “Erstaunen und Schrekken”71 einen Vulkan-ausbruch, ein Erdbeben, einen Orkan und eine Wasserhose überstehen.72 Er kann nur überleben, weil das Erdbeben ihn weckt und er fliehen kann, bevor er in seiner Behausung erschlagen wird. Dieser geballte Aufwand einer multiplen Katastrophe ist ausschließlich “aus milder Fürsorge für ihn”73 veranstaltet. Gott hatte “der Erde von Anbeginn der Welt her, eine solche Einrichtung gegeben, daß grade um diese Zeit auf der Insel ein solches Erdbeben entstehen mußte.”74 Das heißt, daß der Gang der Naturgeschichte von Erschaffung der Welt her darauf zielt, ein Erdbeben als Wecker für Robinson zu erzeugen. Die anthropo-zentrische Teleologie wird bis auf den Punkt gesteigert, an dem tatsächlich die Augen des Weltalls teleskopisch auf Robinson gerichtet scheinen. Natur wird providentiell überdeterminiert.

Aber, wenn alle irdische Hülfe verschwindet, wenn die Noth unglüklicher Men-schen aufs höchste gestiegen ist, und nirgends, nirgends mehr ein Rettungsmittel übrig zu sein scheint; dan, lieben Kinder, dan pflegt die Hand der alles regierenden göttlichen Vorsehung am sichtbarsten einzugreifen, und uns durch Mittel zu helfen, die wir gar nicht voraus gesehen haben.75

67 Ebd. 68 Vgl. RdJ 87. 69 Vgl. Begemann, Furcht, S. 73ff., Olaf Briese, Die Macht der Metaphern. Blitz, Erdbeben

und Kometen im Gefüge der Aufklärung, Stuttgart u. Weimar 1998, S. 17ff. u. 87 ff. 70 RdJ 88f. 71 RdJ 129. Vgl. Begemann, Furcht, S. 69 ff. 72 RdJ 128-130. 73 RdJ 134. 74 Ebd. 75 RdJ 244.

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Die Grausamkeit der Natur sperrt sich vollends gegen die didaktische Abrun-dung des Naturkonzepts. Hier zeigt sich auch, daß physikotheologische Erklä-rungsmuster nicht mehr zufriedenstellend sind. Es wimmelt auf Robinsons In-sel von “Musquitos”. “Robinsons Gesicht und Hände waren fast immer davon aufgeschwollen”.76 Das führt zu einer immer ausgreifenderen Diskussion, bei der der Nutzen der “fatalen Insekten” gesucht wird, die “einem nur zur Last sind”.77 Hier kann der Vater nur darauf verweisen, daß Gott [297] eben nicht nur Tiere schuf, die “keinem was zu Leide thun”, “[w]eil du und ich und Wir alle sonst auch nicht da wären”:78

Weil wir grade zu den reissendsten und verheerendsten unter allen Thierarten ge-hören! Alle andere Geschöpfe auf Erden sind nicht nur unsere Sklaven, sondern wir tödten sie auch nach Gefallen, bald um ihr Fleisch zu essen, bald um ihre Felle zu bekommen; bald weil sie uns im Wege sind, bald um dieser, bald um jener un-erheblichen Ursache willen. Wie viel mehr Recht hätten also die Insekten zu fra-gen: warum mag doch Gott wohl das grausame Thier, den fatalen Menschen er-schaffen haben? - Was würdest du nun der Fliege auf diese Frage antworten? Diderich. (Verlegen) Ja - das weiß ich nicht. Vater. Ich würde ohngefähr so zu ihr sprechen: ‘liebe Fliege, deine Frage ist sehr verwegen, und beweiset, daß du mit deinem kleinen Kopfe noch nicht ordentlich zu denken gelernt hast. Sonst würdest du bei dem geringsten Nachdenken leicht erkant haben, daß Gott aus blosser Güte viele seiner Geschöpfe so eingerichtet habe, daß Eins von dem Andern leben muß. Den hätt’ er dies nicht gethan, so würde er nicht halb so viel Thierarten haben erschaffen können: weil Gras und Früchte nur für wenige Arten von lebendigen Geschöpfen hinreichend gewesen wären. Damit also die ganze Erde belebt würde, damit überal - in Wasser, Luft und Erde - lebendige Wesen wären, die sich ihres Daseins freuten, so lange sie lebten, und damit die eine Art von Geschöpfen nicht zum Untergang einer andern Art sich gar zu stark ver-mehrte: so mußte der weise und gute Gott die Einrichtung treffen, das einige Ge-schöpfe auf Unkosten anderer lebten. - Ueberdem hast du dir in deinem kleinen dummen Kopfe wohl nicht träumen lassen, was wir Menschen mit völliger Gewiß-heit wissen, nemlich: daß dies Leben für alle von Gott erschaffene Geister, auch für dich, Fliege! nur der Anfang, nur die erste Morgenstunde eines andern ewigen Le-bens sei, und daß sich also künftig einmahl Vieles, Vieles aufklären kann, wovon wir jetzt noch nichts begreifen. Wer weiß, ob nicht dan auch du erfahren wirst, wo-zu es dir und Andern gut gewesen sei, daß du dich erst an unserm Blute laben und dan von der Schwalbe gefangen oder vom Fliegenklap zerschmettert werden muß-test? Bis dahin bescheide dich, daß du nur eine Fliege seist, die über das, was der

76 RdJ 150. 77 RdJ 152. 78 RdJ 153.

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alweise und algütige Gott thut, unmöglich urtheilen kann; und wir - wollen dir hier-in mit unserm Exempel vorgehen.’ Was meinst du, Diderich, würde die Fliege, wenn sie Verstand hätte, mit dieser Antwort wohl zufrieden sein? Diderich. Ich bin’s.79

In der Tat, ob die Fliege mit einem solchen Verweis auf die Ökonomie der Schöpfung zufrieden wäre, muß wohl offen bleiben. Die Existenz der Moskitos führt an die Grenzen von Gottes Bauplan. [298] 5. Wezels konkurrierender Robinson Krusoe80 will “ein Stück Welt” liefern.81 Er erhebt den empirischen Anspruch, der “die Dinge [...] nach den natürlichen Eindrücken auf [die] Organe”82 schätzen lehren will. Die empirische Wende83 unterscheidet Wezels Robinsonade grundsätzlich von der Campes. Unter den Änderungen gegenüber Defoe,84 die Wezel ausdrücklich nennt, gehören auch “Erfindung, Anordnung und Kolorit einiger Naturszenen”.85 Sie sind deutlicher auf die Naturverhältnisse subtropischer Inseln hin konzipiert. Die wesentlichste Differenz ist aber, daß es bei Wezel keine providentielle Absicherung der Na-tur gibt.86 Vor dem Schiffbruch auf der Insel finden sich immer wieder Hin-weise auf die permanente Gefährdung durch Naturgewalten,87 die Furcht und Schrecken88 auslösen, aber nur als “Zufälle”89 kodierbar sind.90

79 RdJ 153f. 80 Im Gefolge der allgemeinen Wezel-Hausse ist auch Robinson Krusoe eingehender disku-

tiert worden. Vgl. Hans Peter Thurn, Der Roman der unaufgeklärten Gesellschaft. Untersu-chungen zum Prosawerk Johann Karl Wezels, Stuttgart u.a. 1973, S. 125 ff., Wolfgang Jan-sen, Das Groteske in der deutschen Literatur der Spätaufklärung. Ein Versuch über das Er-zählwerk Johann Carl Wezels, Bonn 1980, Fohrmann, Abenteuer, S. 127 ff., Philip S. McKnight, The Novels of Johann Karl Wezel. Satire, Realism and Social Criticism in Late 18th Century Literature, Bern u.a. 1981, S. 225 ff., Isabel Knautz, Epische Schwärmerku-ren. Johann Karl Wezels Romane gegen die Melancholie, Würzburg 1990, S. 228 ff.

81 RK 12. 82 RK 10. 83 Vgl. Wild, Kinderliteratur, S. 58. 84 Vgl. Brüggemann u. Ewers, Handbuch, Sp. 244 ff. 85 RK 9. 86 Vgl. Brent O. Petersen, “Wezel and the Genre of ‘Robinson Crusoe’”, in: Lessing Yearbook

20 (1988), S. 183-204, hier: S. 188. 87 Vgl. RK 31. 88 Vgl. RK 32.

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Die Interaktion zwischen Mensch und Natur ist nach der Kulturstufen-abfolge schematisiert, wobei eine Differenz zwischen “natürlichem” und “kul-tiviertem” Stadium des Menschen liegt. Schon vor dem Schiffbruch zeichnet sich das im Vergleich Robinsons mit dem Mohren Xury ab, der immer unmit-telbar auf Gefahren mit Empfindungen des Schreckens reagiert. Da es keine Providenz gibt, ist unbekannte Natur immer gefährlich. Die terra incognita sind “Länder[] voll grausamer Neger und wilder Tiere [...], wo er nicht eine Minute auf Gottes festen Erdboden treten durfte, wenn er nicht von einem un-ter beiden aufgezehrt sein wollte”.91

Das grundlegende Verhältnis des Menschen zur Natur ist der Kriegszu-stand.92 Man angelt nicht, sondern zieht “wider die Fische zu Felde”.93 Robin-son will “den Ungeheuern den Krieg ankündigen”.94 Der Krieg zwischen Mensch und Natur steuert sein Handeln. Da es nicht an der Kategorie des Nut-zens ausgerichtet ist, fehlt auch die moralische Komponente einer Fürsorge für Natur. Das zeigt sich beispielsweise daran, daß Robinson ohne unmittelbare Gefahr einen Löwen erschießt.

Robinson lud alle seine drei Flinten, eine jede mit einem paar Kugeln, und zielte nach dem Kopfe des Löwen; der Schuß traf die rechte Pfote, welche die Schnauze bedeckte; brüllend sprang das Ungeheuer auf, setzte sich nieder und sah ernsthaft auf die hängende zerschoßne Pfote. Robinson griff augenblicks die zweite Flinte und war so glücklich, den Löwen in den Kopf zu treffen, daß er niederstürzte, zu-ckend sich wälzte und verschied.95

Noch deutlicher zeigt sich der sinnfreie Mutwille des Tötens auf der Insel. Ro-binson stört die Ruhe des Paradieses:

Ein großer Vogel, der auf einem Baum saß und ihn ohne Furcht erwartete, reizte ihn, den ersten Krieg in diesem einsamen Ort anzufangen; er schoß nach ihm, [299] und da dieser Schuß seit der Schöpfung vermutlich in dieser Gegend der erste sein mochte, so setzte er das ganze Gehölze in Bewegung, aus allen Teilen desselben flogen ganze Heere Vögel mit lautem Schnattern und Schreien auf und durchirrten die Lüfte wie eine Armee, der Kanonen die Annäherung des Feindes verkündigt

89 RK 45. 90 Vgl. Liebs, Insel, S. 99 ff. 91 RK 23. 92 Vgl. Detlef Kremer, Wezel. Über die Nachtseite der Aufklärung. Skeptische Lebensphiloso-

phie zwischen Spätaufklärung und Frühromantik, München 1985, S. 113 ff. 93 RK 21. 94 RK 24. 95 RK 26.

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haben; doch sah er keinen darunter, dessen Stimme, Farbe und Gestalt ihm bekannt gewesen wäre.96

Selbsterhaltung ist immer ein Akt der Gewalt gegenüber der Natur, der sich aus ihrer Gefährlichkeit notwendig ergibt. Robinson muß täglich “auf Raub ausge-hen, um seine Nahrung zu suchen und mit den Tieren und Produkten der Insel bekannter zu werden.”97 Um sein Eigentum gegen “Räuber”, hungrige Vögel, zu schützen, muß er “List oder Gewalt”98 anwenden. Die Natur bekämpft ihn mittels Stürmen, Erdbeben, Gewittern und kaltem Regen, der Krankheiten ver-ursacht.

Dem entspricht die grundsätzliche Verfaßtheit des Menschen, wenn er sich im Naturzustand befindet: “Naß, in zerrißnen Kleidern, ohne Speise, ohne Gewehr saß er hier in einer Einöde, wo sich nicht die mindeste Spur von Be-völkerung und Anbau zeigte, vielleicht unter ausgehungerten wilden Thieren, um ihnen eine willkommene Beute zu werden”.99 Im Kampf gegen die Natur ist die effektivste Waffe des Menschen die Vernunft, die der Natur ihre Regeln entreißt, indem sie sich auf die “so oft bestätigte[] Erfahrung”100 bezieht. Auf höherer Kulturstufe steigt die Komplexität der Naturbeobachtungen.101 Auf dieser Insel stellt die Providenz keine Austern bereit, vielmehr muß Robinson mit Hilfe des mühsamen, aber effizienten Verfahrens von Versuch und Irrtum seine Existenz sichern. “Zum glücklichen Säen und Ernten gehört Beobachtung des Wetters, und diese konnten ihm nichts als gelungne und mißlungne Proben verschaffen.”102 Robinsons “jugendliche Neugierde”103 ist der Antrieb, das vom Gipfel seines Berges aus “erblickte Land näher kennenzulernen”.104

Als die erste Stufe der Kultivierung erreicht ist, in der Robinson “seine Vorräte vor der Schädlichkeit der Nässe und der Sonne bewahrte und ihn selbst wider die Anfälle des Wetters beschützte”,105 tritt die Deutung der Interaktion

96 RK 40. 97 RK 45. 98 RK 64. 99 RK 33. 100 RK 46. 101 Ein Beispiel ist Robinsons Beobachtung, “daß jener Strom von der Ebbe und Flut und von

der Richtung des Windes abhing, und aus den Bemerkungen dieser beiden Umstände mach-te er sich eine Schifferregel, zu welcher Zeit des Tages und bei welchem Winde er sich der See in dieser Gegend anvertrauen konnte” (RK 78).

102 RK 60. 103 RK 61. 104 RK 68. 105 RK 41.

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von Mensch und Natur als Krieg allmählich in den Hintergrund. Die Natur ist vorerst unterlegen.

Wiederum ist die Perzeption der Natur von der inneren Verfassung ab-hängig. Die öde Natur, die Nachtszenerie jagen Robinson Nachtfurcht ein. Er empfindet Melancholie.

Eine einsame öde Ebne, mit einzelnen, weit auseinander stehenden Bäumen be-setzt, die itzt in der tiefsten Finsternis begraben waren! Kein Laut, nicht einmal das Zwitschern eines Vogels! Allgemeine schauernde Stille, und in der Ferne das Getö-se der Wellen, die sich am Ufer brachen! Über sich tiefhängende, schwere, finstre Wolken, die ohne Bewegung zu stehen und jede Minute herab[300]zustürzen schienen, und mitten in dieser fürchterlichen Szene schmachtend und kraftlos auf einem Baume eine ganze lange Nacht hindurch zu liegen!106

Dieselbe Szenerie bietet sich am kommenden Morgen genau entgegengesetzt dar. Robinson zeigt sich “ein lichter, lachender Himmel, den nicht ein Wölk-chen trübte, der erquickendste Sonnenschein, von kühlenden sanften Winden gemildert, in der Ferne eine ebne ruhige See!”107 Wezels Robinson unterschei-det sich von dem Campes dadurch, daß bei ihm Naturgenuß nicht mehr die si-chere Distanz des Beobachters voraussetzt. Obwohl noch keine Rede von Si-cherheit sein kann, vermag Wezels Robinson der Natur seiner Insel ihre ästhe-tischen Seiten abzugewinnen. Kaum ist er auf die Insel verschlagen, steigt er “auf den höchsten Wipfel des Baums, der zu seiner Lagerstätte gedient hatte, und genoß das Entzücken dieses Anblicks so stark, als man es nur empfinden kann, wenn man mit Sturm und Tode gekämpft hat”.108 Dieselbe Natur ist in Momenten der Verzweiflung “eine öde, einsame, unfruchtbare Insel”,109 in an-deren Momenten zeigt sie amoene Züge.110 “Am Rande des Baches lag eine Reihe anmutiger Wiesen, eine unübersehliche, reizende, grasreiche Ebene; in den höheren Gegenden, die der Überschwemmung weniger ausgesetzt sein mochten, stand Tabak in ziemlicher Menge, grün, frisch und mit dicken hohen Stengeln”.111 Bei Campe konnte Robinson die Natur erst genießen, nachdem er

106 RK 34. 107 Ebd. 108 Ebd. 109 RK 48. 110 Diese Inkonsistenz wird ansatzweise dadurch aufgelöst, daß die Natur der Insel diversifi-

ziert wird: “Je weiter er seinen Weg fortsetzte, je mehr bedauerte er es, daß er nicht an diese Seite der Insel vom Sturme geworfen war, hier war alles so sehr im Überflusse wie bei sei-ner Wohnung an allem Mangel” (RK 63).

111 RK 57.

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seine Existenz einigermaßen abgesichert hatte. Für Wezels Robinson ist ästhe-tischer Naturgenuß selbstverständlich. Allerdings wurde Schönheit “an keiner Sache von vom Bedürfnis, sondern von der Muße erfunden.”112 Robinson gibt sich zunehmend dem “Genuß eines so reizenden Orts” hin, wo er sich eine “Sommerwohnung”113 anlegt. Er geht sogar spazieren, “um sich an den lusti-gen Feldern ringsum zu ergötzen.”114

Diese Robinsoninsel trägt deutlichere Spuren ihrer Topographie. Der Erzähler weist ausdrücklich auf Robinsons mangelnde botanische Kenntnisse hin, die daher rühren, daß er “bei seinem Aufenthalte in Brasilien keine gehöri-ge Kenntnis von den eignen Pflanzen dieses Himmelsstriches und ihrer An-wendung erworben hatte”.115 Allerdings ist die tropische Vegetation der Insel - “wo er hinsah, war der Boden eine Tapete von bunten Blumen und hohem üp-pigen Grase, mit kleinem lichten Gehölze umkränzt”116 - ein exotistisches Moment, wie an der Beschreibung der Paradiesinsel deutlich wird: Robinson

ging an einem anmuthsvollen Tale hin [...]; die ganze Gegend vor ihm war grün, blühend, in dem muntersten Kleide des Frühlings, ein lachender Garten. Süßer kann kein Mensch träumen als Robinson, da er einen kleinen Hügel hinaufstieg und von ihm sitzend die reizende Gegend übersah; das Vergnügen, das dem Men-schen natürlicherweise Eigentum und Herrschaft gewähren, wurde so lebhaft in ihm, da er sich als den Besitzer und Herrn dieses kleinen Paradieses [301] dachte [...]. Dichte, zahlreiche Gruppen von Kokosbäumen, Pomeranzen und Zitronen-bäumen versprachen ihm Schatten, und in der Zukunft vielleicht auch Nahrung.117

Wie wir von Campe wissen, wachsen in dieser Himmelsgegend keine Kokos-palmen. Aus der Prämisse des Kriegszustandes zwischen Mensch und Natur folgt, daß Kultivierung der Natur eine Form der Herrschaftsausübung ist. Nach Robinsons Rückkehr auf seine mittlerweile besiedelte Insel ist die insulare Na-tur vollständig unterworfen.

Mit Erstaunen erblickte er bei fast jedem Schritte Veränderungen und Beweise des menschlichen Fleißes: Fruchtfelder, wo sonst niedriges Gras und Dornen wuchsen; Fruchtbäume, wo sonst unfruchtbares Gesträuch stand; lange Reihen von Hütten,

112 RK 67. 113 RK 59. 114 RK 62. 115 RK 57 116 Ebd. 117 RK 58.

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die schon viel künstlicher und regelmäßiger waren als der erste Palast, den er auf der Insel gebaut hatte.118

Die Herrschaft des Menschen über die Natur ist nicht durch die Kategorie des Maßes gesteuert, sie ist tendenziell umfassend. Wenn Menschen die Möglich-keit dazu haben, passen sie die Natur sich und ihren Bedürfnissen an. Um zu komplexeren Waren und wertvolleren Gütern zu gelangen, muß die Produktion und damit die Ausbeutung der Insel gesteigert werden.

Es ist also kein andrer Weg übrig, als daß wir Wälder ausrotten und soviel fremde Pflanzen, Gewächse und Bäume hieher verpflanzen und hier anbauen, als unser Klima verträgt, daß wir soviel fremde Arten Vieh hieher bringen und sich hier fort-pflanzen lassen, als wir nähren können, besonders solche, die dem Menschen arbei-ten helfen.119

Am Ende ist die Inselgesellschaft dem Untergang geweiht.120 Die Gesellschaft der Insel steuert auf die allgemeine Anarchie hin, in der sich der Krieg aller gegen alle wieder Geltung verschafft.

Der Krieg dauerte unaufhörlich fort; jede Partei verwüstet, wohin sie kam; die Dör-fer lagen in Asche, die Städte waren Steinhaufen, die Äcker wurden nicht gebaut, der Handel stund, die Einwohner starben durch Schwert und Hunger, aus vielen Leichnamen entstund eine Pest, und die Insel war menschenleere Wüste, wie ein tragisches Theater, auf welchem ein barbarischer Dichter gewürgt hat.121

[302] 6. Der Naturdiskurs in den Robinsonaden Campes und Wezels markiert Alterna-tiven der Lösung der Natur aus der Deutungshoheit der Theologie. Die Natur-konzeption Campes führt theologische Deutungsmuster weiter, sie rekurriert darauf, daß Natur für den Menschen geschaffen und auf ihn hin konzipiert ist. Das garantiert die Providenz. Natur verweist, zur nützlichen oder schönen Na-tur positiviert, auf den göttlichen Bauplan, wobei das ästhetische Moment nicht

118 RK 181 119 RK 184. 120 Vgl. Michael Schmidt, “Die Banalität des Negativen. Johann Karl Wezel als Bearbeiter von

Daniel Defoes ‘Robinson Crusoe’”, in: Alexander Kosenina u. Christoph Weiß (Hg.), Jo-hann Karl Wezel (1747-1819), St. Ingbert 1997, S. 197-215.

121 RK 242.

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autonom ist, sondern die Funktion des ornatus innehat. Utilitarisierung der Na-tur bedeutet aber auch, daß der Naturbeherrschung moralische Grenzen gesetzt sind. Die didaktische Verfestigung dieser Konzeption weist nur wenige Bruch-stellen auf.

In Wezels Robinsonade ist die religiöse Deutungshoheit über das Ver-hältnis von Mensch und Natur aufgegeben. Es gibt keine Providenz; die Natur tritt dem Menschen als Feind entgegen. Der permanente Kriegszustand zwi-schen Mensch und Natur entbindet aufgrund der Bedürfnisstruktur des Men-schen eine Dynamik, die Wezels Robinson flexibler, aktiver und aggressiver sein läßt. Mit zunehmender Kulturstufe steigert sich die Verfügungsgewalt des Menschen über die Natur. Als entwickelte Gesellschaft unterwerfen die Insula-ner sich die Natur radikal, indem sie sie ihren Bedürfnissen entsprechend ver-ändern. Diese Naturkonzeption ist nicht mehr moralisch oder axiologisch struk-turiert. Am Ende setzt sich der permanente Krieg durch: Die Gesellschaft auf Robinsons Insel geht unter.

Die dynamische Naturkonstruktion Wezels entbindet einen selbstzerstö-rerischen Zug, sobald die Inselgesellschaft an ihre Grenzen stößt. Das bleibt al-lerdings implizit, denn die Möglichkeit der Vernichtung von Natur gerät noch nicht in den Fokus der Beobachtung. Als konsensfähig erwies sich vorerst Campes Naturkonzeption. Während Wezels Bearbeitung weitgehend vergessen wurde, avancierte Robinson der Jüngere zu einem Jugendbuchklassiker. 1884 war die 109. rechtmäßige Auflage erreicht.122

122 Vgl. Brüggemann u. Ewers, Handbuch, Sp. 231. Zur Bedeutung von Campes Roman für

die nachfolgende französische Robinsonade vgl. Inga Pohlmann, Robinsons Erben. Zum Paradigmenwechsel in der französischen Robinsonade, Konstanz 1991, S. 50ff. Weitere Ausgaben im 20. Jahrhundert sind dokumentiert bei: Reinhard Stach in Zusammenarbeit mit Jutta Schmidt, Robinson und Robinsonaden in der deutschsprachigen Literatur. Eine Bibliographie, Würzburg 1991, S. 69-89.