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31 Ewald Wiederin Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage : Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934 1. Ausgangspunkt: Desinteresse am Inhalt einer desavouierten Verfassung „ ‚Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus‘ , so besagt Arti- kel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 […]. Man kann den Satz , daß das Recht vom Volk ausgeht , richtig und falsch verstehen. Es gibt rechtliche Grundsätze , die vom Schöpfer in die Natur des Menschen gelegt sind und die der Mensch ungestraſt nicht mißach- ten oder entkräſten kann. In diesem Sinne geht das Recht von Gott aus und die Aufgabe des Menschen ist es , in Anerkennung und Achtung dieser ewigen Gesetze das Recht in seinen zeit- gebundenen Einzelbestimmungen zu satzen.“ Diese Worte stammen von Otto Ender , mit ihnen beginnt seine Einführung in die neue Verfassung ,1 und sie geben Auskunſt über die Absichten , die ihre Schöpfer verfolgten. Es ging um nichts weniger als um ein heiliges Experiment: An die Stelle der demokra- tischen Republik sollte eine christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage treten , nach einem Plan , den keine drei Jahre zuvor Papst Pius XI. mit seiner Enzyklika Quadragesimo anno gezeichnet hatte.2 Das Experiment ist bekanntlich gescheitert , und wir wissen recht genau wie und warum: Die Geschichte der Entstehung und des Unter- gangs der Verfassung ist gut aufgearbeitet , ebenso der schleppende Prozess ihrer Effek- tuierung und die Verfassungsbrüche , die bei ihrer Inkraſtsetzung in Kauf genommen wurden, kann man in jedem besseren Lehrbuch des Verfassungsrechts nachlesen. Über den Inhalt der Verfassung 1934 steht dort allerdings nichts , 3 und selbst die rechtshistori- sche Spezialliteratur dazu hält sich in Grenzen.4 Die Juristen scheinen nach wie vor die Überzeugung zu teilen , es sei sinnlos , sich mit der Verfassung 1934 im Detail ausein- 1 Ender (1934a) , 3. Auch Hecht (1934) , 3 , nimmt den zweiten Satz des B-VG 1920 zum Ausgangs- punkt einer Vorstellung der neuen Verfassung. 2 Zu den Einflüssen : Gürke / *  *  * (1937) , 167–175 ; Figl (1995). 3 Ausnahme von der Regel: Adamovich / Funk / Holzinger / Frank (2011) , Rz. 08. 004. 4 Übersichtsdarstellungen bei Brauneder (2009) , 237–243 und Wohnout (1995) , 834–837 ; Aufarbei- tung der Entstehung und Entwicklung bei Huemer (1975) , 278–324 ; Kluge (1984) , 73–100 ; Wohnout (1993) ; Putschek (1993). Brought to you by | provisional account Authenticated | 143.167.2.135 Download Date | 6/20/14 10:11 PM

Österreich 1933-1938 (Interdisziplinäre Annäherungen an das Dollfuß-/Schuschnigg-Regime) || Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage : Eine Strukturanalyse der

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Ewald Wiederin

Christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage : Eine Strukturanalyse der Verfassung 1934

1. Ausgangspunkt: Desinteresse am Inhalt einer desavouierten Verfassung

„ ‚Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volke aus‘ , so besagt Arti-kel  1 des Bundes-Verfassungsgesetzes vom 1. Oktober 1920 […]. Man kann den Satz , daß das Recht vom Volk ausgeht , richtig und falsch verstehen. Es gibt rechtliche Grundsätze , die vom Schöpfer in die Natur des Menschen gelegt sind und die der Mensch ungestraft nicht mißach-ten oder entkräften kann. In diesem Sinne geht das Recht von Gott aus und die Aufgabe des Menschen ist es , in Anerkennung und Achtung dieser ewigen Gesetze das Recht in seinen zeit-gebundenen Einzelbestimmungen zu satzen.“

Diese Worte stammen von Otto Ender , mit ihnen beginnt seine Einführung in die neue Verfassung ,1 und sie geben Auskunft über die Absichten , die ihre Schöpfer verfolgten. Es ging um nichts weniger als um ein heiliges Experiment: An die Stelle der demokra-tischen Republik sollte eine christliche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage treten , nach einem Plan , den keine drei Jahre zuvor Papst Pius XI. mit seiner Enzyklika Quadragesimo anno gezeichnet hatte.2 Das Experiment ist bekanntlich gescheitert , und wir wissen recht genau wie und warum: Die Geschichte der Entstehung und des Unter-gangs der Verfassung ist gut aufgearbeitet , ebenso der schleppende Prozess ihrer Effek-tuierung und die Verfassungsbrüche , die bei ihrer Inkraftsetzung in Kauf genommen wurden, kann man in jedem besseren Lehrbuch des Verfassungsrechts nachlesen. Über den Inhalt der Verfassung 1934 steht dort allerdings nichts ,3 und selbst die rechtshistori-sche Spezialliteratur dazu hält sich in Grenzen.4 Die Juristen scheinen nach wie vor die Überzeugung zu teilen , es sei sinnlos , sich mit der Verfassung 1934 im Detail ausein-

1 Ender (1934a) , 3. Auch Hecht (1934) , 3 , nimmt den zweiten Satz des B-VG 1920 zum Ausgangs-punkt einer Vorstellung der neuen Verfassung.2 Zu den Einflüssen : Gürke / * * * (1937) , 167–175 ; Figl (1995).3 Ausnahme von der Regel: Adamovich / Funk / Holzinger / Frank (2011) , Rz. 08. 004. 4 Übersichtsdarstellungen bei Brauneder (2009) , 237–243 und Wohnout (1995) , 834–837 ; Aufarbei-tung der Entstehung und Entwicklung bei Huemer (1975) , 278–324 ; Kluge (1984) , 73–100 ; Wohnout (1993) ; Putschek (1993).

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anderzusetzen.5 Sie gilt als unglückliche , wenn nicht peinliche Episode unserer Verfas-sungsgeschichte , die ebenso desavouiert wie überwunden ist und die man schon deshalb nicht zu kennen braucht.

Dieser Beitrag soll die Lücke ein wenig verkleinern. Dass der Sammelband , in dem er erscheint , interdisziplinär angelegt ist , nutze ich als Entlastung , um mich ganz auf mei-ne Disziplin , die Rechtswissenschaft , zu konzentrieren. Ich will eine Exegese der Verfas-sung 1934 versuchen , der es nicht um die Details geht , sondern um die übergreifenden Zusammenhänge. Als Exegese beschränkt sie sich auf den Text und blendet vieles aus: den Entstehungsprozess ebenso wie die Verfassungswirklichkeit , die Übergangsverfas-sung6 ebenso wie die Schattenverfassung hinter ihr , also das „Ermächtigungsgesetz“ ,7 das ebenfalls bis 1938 galt und der Bundesregierung unbeschränkte diktatorische Voll-machten gab. Der Focus ist also extrem verengt und auf die Frage beschränkt , was man über die Verfassung 1934 als juristisches Dokument sagen kann. Die Antwort nehme ich in Form einer These vorweg: Die Verfassung 1934 war kein Betriebsunfall , sie ist inte-graler Bestandteil der österreichischen Verfassungstradition. Bei allen Unterschieden zu den Konstitutionen davor und danach gibt es mehr an Kontinuität , als uns bewusst ist , und über unseren Zugang zur Verfassung verrät sie mehr , als uns lieb ist.

2. Erscheinung und Symbolik der Verfassung

Schon beim ersten Blick auf die Verfassung 1934 springen zwei Äußerlichkeiten ins Au-ge: Sie enthält kein Datum , nur eine Jahreszahl ,8 im Unterschied zum B-VG aber ei-ne Präambel , die einen transzendentalen Bezug herstellt und die christliche , deutsche Bundesstaatlichkeit auf ständischer Grundlage als Charakteristika herausstellt.9 Dass von Demokratie keine Rede mehr ist , ist ganz folgerichtig , denn demokratisch ist die neue Verfassung nicht.10 Dass auch die Republik aus der Verfassung verschwindet , ob-wohl Österreich Republik bleibt , hat andere , symbolische Gründe. Zum einen ist die Monarchie mit ihrem Erbe wieder ein Anknüpfungspunkt , was in Artikel 3 zum Aus-druck kommt , der den Doppeladler zurück ins Wappen bringt. Zum anderen und wohl

5 So von historischer Seite Leichter (1968) , 92 ; von juristischer Seite Ermacora (1976) , 73. Das Desinteresse registrierend und beklagend: Wohnout (1995) , 833 ; Putschek (1993) , 14.6 Bundesverfassungsgesetz v. 19. Juni 1934 , betreffend den Übergang zur ständischen Verfassung (Verfassungsübergangsgesetz 1934) , BGBl. II 75 / 1934.7 Bundesverfassungsgesetz v. 30. April 1934 über außerordentliche Maßnahmen im Bereich der Verfassung , BGBl. I 255 / 1934. Dazu Klinghoffer (1936) ; Wiederin (1990) , 239–244 m. w. N.8 Die am 1. Mai 1934 herausgegebene Zweitkundmachung BGBl. II 1 / 1934 ist mit „Verfassung 1934.“ überschrieben , in der Erstkundmachung BGBl. I 239 / 1934 , herausgegeben am 30. April 1934 , ist die in der Anlage kundgemachte Verfassung unbetitelt und beginnt unmittelbar mit der Präambel.9 „Im Namen Gottes , des Allmächtigen , von dem alles Recht ausgeht , erhält das österreichische Volk für seinen christlichen , deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage diese Verfassung.“10 Eingestanden von Ender (1934a) , 4 f. , und  –  mit noch mehr Relativierungen  –  Ender (1934b) , 4 f. Ebenso Merkl (1935a) , 17. Qualitativ andere Bewertung – Überwindung der „Formaldemokratie“ des „überspitzten Parlamentarismus“ und Hinwendung zu „wahrer Demokratie“ und damit Anerken-nung eines demokratischen Prinzips der Verfassung 1934 – bei Hecht (1934) , 16–20 , und Schusch-nigg (1934) , 7 , 12 , 27 f. , 35.

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wichtiger: Die Republik stand seit 1918 als Name für das Ganze. Eine Firmenänderung sollte augenfällig machen , dass sich Entscheidendes geändert hatte. „Bundesstaat Öster-reich“ ist die neue Bezeichnung , in seinem Namen ergehen alle Urteile ,11 der erste Ver-fassungsartikel ist deswegen der Deklaration der Bundesstaatlichkeit gewidmet, und um klarzumachen , dass die Republik Österreich der Vergangenheit angehört , wird dieser Begriff in der gesamten Rechtsordnung durch den neuen Namen ersetzt.12 Sodann wird die neue ständische Ordnung im Artikel 2 an prominenter Stelle deklariert. Der christ-liche und der deutsche Charakter des Bundesstaates werden in der Verfassung nicht näher ausgeführt. Für erstere Eigenschaft steht das in unmittelbarem Anschluss an die Bundesverfassung kundgemachte Konkordat , in dem noch die überwundene Republik Vertragspartei des Vatikans ist.13 Zweitere sollte die Existenz einer zweiten deutschen Staatlichkeit neben dem Deutschen Reich betonen.

Das eigentliche Charakteristikum der neuen Verfassung hingegen bleibt verdeckt. Ein autoritäres Prinzip wird nirgends ausgewiesen , nur zwischen den Zeilen kann man es manchmal lesen.14 Ein vordergründiges Indiz dafür ist , dass es den Staat wieder gibt und mit ihm auch Staatsbedienstete , ein Staatswappen und einen Staatsrat.15 Ob Staat den Bund meint oder den Gesamtstaat , man weiß es nicht genau – die Länder sind es jedenfalls nicht. Ein weiteres Indiz: Es gibt wieder mehr Gewalt in der Verfassung , ei-ne öffentliche Gewalt ,16 eine Staatsgewalt ,17 eine Ordnungsgewalt18 und eine bewaffnete Macht.19 Der deutlichste Hinweis: In der Präambel wird zwar gesagt , dass das öster-reichische Volk eine Verfassung erhält , aber nicht , von wem.20 Dass die Leerstelle für etwas Autoritäres steht , das anonym bleiben will , ist mit Händen zu greifen.21

11 Art. 98 Abs. 2.12 § 4 Verfassungsübergangsgesetz 1934.13 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhle und der Republik Österreich , BGBl. II 2 / 1934. Vgl. den Beitrag von Stefan Schima in diesem Band.14 Ähnlich Merkl (1935a) , 15 , wenn er bemerkt , das autoritäre Prinzip habe , „wenn auch vielleicht unbewußt und unbeabsichtigt , im Proömium seinen Ausdruck gefunden“.15 Vgl. Art. 3 Abs. 2 und 3 , Art. 7 , Art. 12 , Art. 26 Abs. 2 lit. d , Art. 30 Abs. 2 , Art. 31 Abs. 1 und Art. 6 , Art. 46 , Art. 148 Abs. 1.16 Art. 19 Abs. 1 und 3.17 Art. 29 Abs. 3.18 Art. 71 Abs. 1 und 4.19 V. Hauptstück 1. Abschnitt C (Art. 95–97).20 Dass die Bundesregierung Verfassungsgeberin war , wird jedoch aus dem Kontext klar: Die Ver-fassung stellt in der Erstkundmachung eine Anlage zu der auf das Kriegswirtschaftliche Ermächti-gungsgesetz , RGBl. 307 / 1917 , gestützten „Verordnung der Bundesregierung vom 24. April 1934 über die Verfassung des Bundesstaates Österreich“ dar ; die Zweitkundmachung gründet auf Art.  II des „Ermächtigungsgesetzes“ und ist mit „Kundmachung der Bundesregierung vom 1. Mai 1934 , womit die Verfassung 1934 verlautbart wird“ , betitelt.21 Voegelin (1936 / 1997) , 184–186.

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3. Bundesstaatlichkeit

Die nominell aufgewertete Bundesstaatlichkeit ist wichtiges Gliederungsprinzip geblie-ben , der Sache nach aber erheblich abgeschwächt.22 Das zeigt schon ein Blick auf die neue Kompetenzverteilung: Die Länder haben wichtige Gebiete wie das Elektrizitätswe-sen , fast das ganze Schulwesen , Teile der Krankenanstalten und eine Reihe von Wirt-schaftsmaterien verloren.23 Sodann ist die Kompetenzverteilung nicht mehr starr konzi-piert , sondern ganz flexibel , wie bisher nur in der Selbstverwaltung: Der Bund kann den Ländern mit Gesetz Kompetenzen delegieren , ebenso wie umgekehrt die Länder dem Bund ;24 und wenn der Länderrat von sich aus einen entsprechenden Beschluss fasst , wo-zu ihm sonst die Befugnis fehlt ,25 dann geht eine Kompetenz gar mit Wirkung für alle Länder auf den Bund über.26 Ähnlich flexibel sind die Grenzen in der Vollziehung. In der Gliederung ist deshalb nicht mehr von der Vollziehung der Länder , sondern nur mehr von der „Verwaltung in den Ländern“ die Rede.27 Bemerkenswert ist außerdem , dass gespaltene Zuständigkeiten die Ausnahme sind: Der Typus Gesetzgebung durch den Bund und Vollziehung durch die Länder ist verschwunden28 – die Gesetze vollzieht , wer sie macht , nur die Grundsatzgesetzgebung des Bundes weicht von dieser Regel ab.29

Die größte Überraschung liegt aber darin , dass die Länder ihre Autonomie eingebüßt haben , in ihrer Gesetzgebung ebenso wie in ihrer Organisation: Jeder Gesetzesbeschluss des Landtages bedarf der Zustimmung des Bundeskanzlers ,30 wie zuvor in der Monar-chie der Sanktion des Kaisers. Darin liegt fast schon eine Ironie der Geschichte , denn derselbe Otto Ender hatte sich 1919 vehement gegen jede Ingerenz des Bundes auf die Landeslegislative ausgesprochen und auf der 3. Länderkonferenz Karl Renner als impe-rator redivivus beschimpft , weil dieser für eine Verfassungsmäßigkeitskontrolle durch den Bund eingetreten war.31 Damit nicht genug , kann das Land auch seine eigene Exe-kutive nicht mehr selber bestellen: Wer immer etwas zu sagen hat , wird entweder wie der Landeshauptmann vom Bundespräsidenten ernannt oder muss wie der Regierungs-direktor oder die Bezirkshauptleute dem Bundeskanzler genehm sein , und zwar auf Dauer , denn auch eine Abberufung ist jederzeit möglich.32 Als Begleitmaßnahme werden

22 Für eine eingehendere Analyse vgl. Polaschek (1993) , 150–162.23 Im Detail Art. 34 Abs. 1 Z 7 (Totalisateur- und Buchmacherwesen) , 8 (Messewesen , öffentliche Lagerhäuser sowie Wäg- und Messanstalten , über den Interessenbereich eines Landes hinausgehende Maßnahmen zur Regelung der Produktion und des wirtschaftlichen Verkehres) , 10 (Elektrizitätswe-sen) , 12 (vom Bund verwaltete Heil- und Pflegeanstalten) , 13 (Pflanzenschutz) ; Art. 37 (Schul- , Erzie-hungs- und Volksbildungswesen).24 Art. 41. Daneben wurde in Art. 34 Abs. 2 der Art. 10 Abs. 2 B-VG fortgeschrieben.25 Aufzählung der Kompetenzen bei Adamovich / Froehlich (1934) , 55.26 Art. 41 Abs. 2 Satz 2.27 Vgl. die Überschrift zum 7. Hauptstück.28 Nur in Art. 34 Abs. 3 lebt er als Ermächtigung fort , im Wasserrecht und im Elektrizitätswesen die Länder mit der Erlassung von Bescheiden zu betrauen.29 Vgl. weiters die Ausdehnung des Wirkungskreises der Agrarsenate in Art. 36 Abs. 2.30 Art. 111 Abs. 2.31 Ermacora (1989) , 22.32 Vgl. im Detail zum Landeshauptmann Art.  114 Abs. 4 (Ernennung durch den Bundespräsidenten aufgrund eines Dreiervorschlags des Landtags unter Gegenzeichnung des Bundeskanzlers , Möglichkeit

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die Verwaltungen stärker verbunden , es gibt nur mehr einheitliche Staatsbedienstete , wenn auch unter unterschiedlicher Diensthoheit ,33 und keine der für einen Bundesstaat nun einmal charakteristischen Doppelgleisigkeiten mehr. Das Nebeneinander von Bun-desbürgerschaft und Landesbürgerschaft bleibt bestehen , aber die Landesbürgerschaft leitet sich nunmehr von der Bundesbürgerschaft ab , nicht umgekehrt.34 Der Sache nach sind die Länder also wieder reine Selbstverwaltungskörper geworden , wie sie es vor 1920 waren , aber diesmal ohne Personalhoheit im autonomen Bereich.35 Dafür wurden sie durch eine nominelle Aufwertung entschädigt.36 Merkl hat das lakonisch auf den Punkt gebracht: „Je föderalistischer die Terminologie , desto unitarischer die Institutionen.“37

4. Ständische Ordnung

Wie aber sah es mit der ständischen Ordnung aus ? Hat sie wirklich den Parlamentaris-mus als Ordnungsprinzip ersetzt , um , wie von offiziöser Seite beschworen , die bisherige bloße Formaldemokratie durch eine wahrhafte , eine echte Demokratie abzulösen ? Vor-dergründig-ja: Jede Gebietskörperschaft erhält ihren Tag – den Bundestag , den Landtag und den Gemeindetag  – und jeder Tag wird auf ständischer Grundlage eingerichtet.38 Das heißt konkreter , dass vier Komplexe vertreten sind: erstens die Kirchen und Reli-gionsgesellschaften , zweitens das Schul- , Erziehungs- und Volksbildungswesen , drit-tens die Wissenschaft samt Kunst und viertens die Berufsstände. Diese Gliederung ist im Gemeindetag fakultativ und im Landtag obligatorisch. Auf Bundesebene ist die Kon-struktion komplexer , weil es nicht nur den einen Bundestag gibt , sondern vier weitere Organe. Zwei davon sind ständisch organisiert: Die Berufsstände beschicken den Bun-deswirtschaftsrat , die drei kulturellen Stände den Bundeskulturrat. Daneben sind aber auch die Länder in einem eigenen Rat , dem Länderrat , vertreten , und , noch erstaun-licher , der Staat , den es angeblich auf ständischer Grundlage erst aufzubauen gilt , ist ebenfalls längst schon da und wird vom Staatsrat repräsentiert. Jedem dieser vier Räte ist eine Expertenrolle zugewiesen: Der Bundeskulturrat wahrt die kulturellen , der Wirt-

der Abberufung durch den Bundespräsidenten auf Vorschlag des Bundeskanzlers und mit dessen Gegen-zeichnung) , zum (dem Landesamtsdirektor des B-VG entsprechenden) Regierungsdirektor Art. 115 Abs. 2 (Bestellung durch den Landeshauptmann , die der widerrufbaren Zustimmung des Bundeskanzlers be-darf) , zu den Bezirkshauptleuten , Sicherheitsdirektoren und Dienstposten der beiden obersten Dienst-klassen Art.  115 Abs.  6 (widerrufbare Zustimmung des Bundeskanzlers). Adamovich (1935a) , 57 , dia-gnostiziert daher „vollständige Abhängigkeit der Landesverwaltung vom Willen der Bundesregierung“.33 Art. 12. Vgl. ferner die Bundesgrundsatzgesetzgebungsbefugnis nach Art. 36 Abs. 1 Z 9 für Staats-bedienstete , die der Diensthoheit des Landes unterstehen.34 Art. 15 Abs. 1. Darin sieht Gürke (1934) , 229 f. eine weitgehende Beseitigung des bundesstaatli-chen Charakters.35 Zweifel am bundesstaatlichen Charakter daher bei Hula (1934) , 125 f. ; Schlesinger (1934) , 89 ; Gürke (1935) , 344 ; Merkl (1935a) , 19 f. ; Frisch (1938) , 499 ; Polaschek (1993) , 167 f. Ihn bejahend Rabl (1934) , 442 f.36 Sichtbar auch in Art.  112 Abs.  1 , nach dem die Landesverfassungen nicht im Widerspruch zur Bundesverfassung stehen dürfen. Darin liegt eine Abkehr von der Terminologie des Art.  99 Abs.  1 B-VG , nach der die Bundesverfassung durch Änderungen der Landesverfassung nicht berührt werden darf , die den Ländern bis heute ein Dorn im Auge ist. Inhaltlich besteht kein Unterschied.37 Merkl (1935a) , 76.38 Art 50 f. (Bundestag) , Art. 108 (Landtag) , Art. 127 (Gemeindetag).

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schaftsrat die wirtschaftlichen Interessen , dem Länderrat sind die Länderinteressen an-vertraut und dem Staatsrat die Staatsinteressen , oder genauer gesagt: die Interessen der Staatshoheit , des Gemeinwohls und der zweckmäßigen Gesetzesvollziehung.39 Für sons-tige Interessen gibt es ebenso wenig ein Forum , wie es Raum für allgemeine Politik gibt.

Auf die Überraschung , dass die Organe nur zur Hälfte ständisch organisiert sind , folgt eine weitere: Wie die kulturellen und beruflichen Stände aufgebaut sind , bleibt fast völlig der einfachen Gesetzgebung überlassen. Für den Bundeswirtschaftsrat hält die Verfassung immerhin fest , dass sieben Hauptgruppen vertreten sein müssen – von der Land- und Forstwirtschaft über das Gewerbe bis zum Öffentlichen Dienst40 – und beim Bundeskulturrat erfahren wir , dass auch die Elternschaft bedacht sein muss.41 Alles andere bleibt offen , und damit auch die Frage , ob Gruppen wie Hausfrauen , Verbrau-cher , Naturschützer , Arbeitslose und Fischer vertreten sein dürfen oder gar müssen.42 Im scharfen Kontrast dazu wird die Zusammensetzung der nichtständischen Räte ab-schließend geregelt: Der Länderrat besteht aus den Landeshauptleuten und Finanzrefe-renten ,43 er ist also eine erweiterte Landeshauptleutekonferenz , und den Staatsrat füllt der Bundespräsident mit verdienten staatstragenden Bürgern auf44 wie anno 1851 der Kaiser den Reichsrat.

Fazit also: Der Aufbau der Gesetzgebungsorgane ist nur zur Hälfte ständisch , und dort , wo er ständisch ist , bleibt er diffus. Niemand hat das klarer gesehen als Sektions-chef Robert Hecht. Die Charakterisierung des neuen Staates als Ständestaat , so sagt er in einem Memorandum , entspreche „keiner realen Vorstellung der Bevölkerung“ , er sei „ein leeres Wort , nichts als eine Antithese zum erledigten Parlament“.45

Dem ist nichts hinzuzufügen – außer vielleicht die Ergänzung , dass ein kleiner Be-rufsstand speziellen Einfluss behält , nicht auf die Gesetzgebung , wohl aber auf die Voll-ziehung. Gemeint ist der Juristenstand. Was die Novelle 1929 begonnen hat ,46 führt die Verfassung 1934 fort: Für administrative und gerichtliche Schlüsselpositionen wird kon-sequent ein Rechtsstudium verlangt.47

39 Art. 61 Abs. 6.40 Art. 48 Abs. 4. Dazu samt Dokumentation der dürren Umsetzung Neustädter-Stürmer (1936) , 10 f. , 63–259.41 Art. 47 Abs. 3.42 Dazu G. F. (1934) , 71 f. , mit der Bemerkung , dass in der berufsständischen Ordnung die Produ-zenten vertreten sind , während die Konsumenten zu kurz kommen ; vgl. auch Schlesinger (1934) , 90 ; Ender (1937) , 967 f. Entgegen Hecht (1934) , 5 , war noch nicht einmal sichergestellt , dass „beide Kör-perschaften nicht aus allgemeinen Wahlen hervorgehen werden“.43 Art. 49. Damit wurden die Länderkonferenzen konstitutionalisiert: Adamovich (1935a) , 56.44 Art. 46.45 Zitiert nach Huemer (1975) , 325.46 Vgl. Art. 11 Abs. 5 , Art. 134 Abs. 3 , Art. 147 Abs. 3 B-VG i. d. F. BGBl. 392 / 1929 ; zuvor Art. 106 , Art. 119 Abs. 5 B-VG 1920.47 Vgl. Art. 34 Abs. 4 , Art. 115 Abs. 2 , Art. 126 Abs. 2 , Art. 137 Abs. 2 , Art. 177 Abs. 3.

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5. Das autoritäre Prinzip

Damit zum autoritären Prinzip , das undeklariert bleibt , aber die Verfassung stärker prägt als die ständische Ordnung. Worin es besteht , ist gar nicht einfach zu beschrei-ben ,48 denn am äußeren Verwaltungsaufbau ändert sich wenig. Es ist wohl die Kombi-nation zweier Elemente: hier eine Abwertung der Gesetzgebungsorgane , die ihre Be-zeichnung fragwürdig macht , und dort ein neues Modell der Bestellung der Spitzen der Exekutive.

Bundestag und Landtag haben zwar weiterhin etwas zu sagen , aber weit weniger als unter dem B-VG. In der Gesetzgebung können sie erstens keine Vorschläge mehr ma-chen ;49 sie dürfen zweitens Regierungsvorlagen nicht mehr parlamentarisch beraten , sondern nur auf Basis der von den Räten abgegebenen Gutachten entscheiden ;50 sie können drittens an den Vorlagen keinen Beistrich ändern , sondern sie nur en bloc an-nehmen oder verwerfen , binnen einer von der Regierung gesetzten Frist , nach deren Ablauf der Bundespräsident bzw. der Landeshauptmann die in der Vorlage enthaltenen Bestimmungen durch Verordnung in Kraft setzen kann.51 Sollten sie sich doch einmal quer legen ,52 kann viertens die Regierung ihr Veto durch eine Volksabstimmung über-spielen.53 Ähnlich zurückgestutzt werden die Kontrollbefugnisse: Der Rechnungshof wandert zur Verwaltung ,54 alle Instrumente der politischen Kontrolle mit Ausnahme des Misstrauensvotums gegen den Landeshauptmann und die Mitglieder der Landesre-gierung55 werden ersatzlos gestrichen , nur die rechtliche Kontrolle im Wege der Mini-steranklage und die Budgetbewilligung bleiben übrig.56 Das entspricht in etwa dem , was ein Gesetzgebungskörper im frühen Konstitutionalismus zu sagen hatte , und es ist fast schon konsequent , dass nunmehr die Regierungsmitglieder durch Immunität geschützt sind , nicht mehr die Mitglieder der gesetzgebenden Körperschaften.57

48 Klärungsversuche bei Jäckl (1934) , 107: „verwirklicht durch die Bestellungsart der Ernennung der maßgebenden Organe der Vollziehung , oder durch ihre Bestätigung , wobei stets die Möglichkeit der Abberufung oder des Widerrufes gegeben ist“ ; Merkl (1936b) , 266: Behandlung der Staatsbür-ger „als Objekte , nicht aber als Subjekte der Staatswillensbildung“ ; Voegelin (1936 / 1997) , 182: „Le-gitimierung der Herrschaft durch die urheberschaftliche Leistung für die Institution des Staates“ ; Neschwara (1995) , 133: Ersetzung der demokratischen Legitimierung der obersten Organe durch ein „aufwendiges Ernennungs- bzw. Auswahlprinzip“.49 Art. 61 Abs. 1. Die Bedeutung des Vorschlagsmonopols der Bundesregierung betonen Ender (1934) , 14 ; Hecht (1934) , 9 sowie Strele (1935) , 424. Mit Blick auf England relativierend Hula (1934) , 130 f.50 Art. 62 Abs. 3 , Art. 109 Abs. 4.51 Art. 109 Abs. 3 , Art. 148 Abs. 6. Dazu G. F. (1934) , 62. Für das Budget Art. 69 Abs. 1.52 Was nie in die Praxis umgesetzt wurde. Vgl. Wohnout (1995) , 835.53 Art. 65. Auf Landesebene fehlt eine korrespondierende Regelung. Näher zur Volksabstimmung vgl. Strele (1935) , 433 f.54 Art.  10 Abs.  1 , Art.  150 Abs. 2 ; vgl. aber die Verankerung einer funktionellen Organstellung in Art. 149 Abs. 2.55 Vgl. Art.  114 Abs. 4 und 5 , der für Abberufungsbeschlüsse des Landtags die Anwesenheit min-destens der Hälfte seiner Mitglieder und eine Mehrheit von zwei Dritteln der abgegebenen Stimmen verlangt.56 Vgl. Art. 173 sowie Art. 51 Z 2 , Art. 63 , Art. 109 Abs. 6.57 Art. 71 Abs. 5 , Art. 89 , Art. 114 Abs. 10.

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Das , was den autoritären Staatskern ausmacht , ist damit aber noch nicht einmal be-rührt. Es liegt weniger in einer Stärkung der Stellung einzelner Organe als in der Ab-kopplung der Exekutive insgesamt von externen Einflüssen. Die Verwaltung bestellt ihre Organe durchwegs selbst , nur ganz punktuell ist sie an Vorschläge gebunden. Bei der Regierungsbildung ändert sich gegenüber 1929 nichts: Der Bundespräsident kann den Bundeskanzler in völliger Freiheit ernennen und entlassen , bei den Bundesministern ist er an einen Vorschlag des Kanzlers gebunden.58 Neu ist allerdings , dass der Bundesprä-sident auch den Landeshauptmann ernennt , auf einen Dreiervorschlag des Landtages hin und unter Gegenzeichnung des Bundeskanzlers , und dass er ihn auf Vorschlag des Kanzlers auch jederzeit abberufen kann.59 Neu ist sodann , dass der Landeshauptmann zur Ernennung seines Stellvertreters , des Regierungsdirektors , des Sicherheitsdirektors und der Bezirkshauptleute die Zustimmung des Bundeskanzlers braucht , die ebenfalls widerrufbar ist.60 Nur der Gemeindetag behält sein Recht , den Bürgermeister zu wäh-len , aber diese Wahl bedarf der Bestätigung durch den Bezirkshauptmann , in Statutar-städten durch den Landeshauptmann , und einmal mehr ist mit dem Widerruf der Be-stätigung der Amtsverlust verbunden.61

Was nach dem bisher Gesagten nach einer klassischen Pyramide aussieht , ist jedoch in Wahrheit ein Kreis , denn die oberste Leitungsebene wird von der untersten bestellt.62 Nach Erledigung des Amtes des Bundespräsidenten versammelt sich die Gesamtheit aller Bürgermeister in Wien und wählt aus einem Dreiervorschlag der Bundesversammlung einen Nachfolger aus.63 Die Exekutive bestellt und legitimiert sich also selber , und die ver-meintlich lineare Hierarchie stellt sich als Netzwerk heraus , in dem es zwei Machtzentren gibt: 64 hier den Bundespräsidenten , der über fast alle Regierungsfunktionen entscheidet , dort den Bundeskanzler , bei dem die administrativen Fäden zusammenlaufen.65 Diese Duumviratskonstruktion soll Macht begrenzen , im Gegensatz zum römischen Konsulat setzt sie aber auf unterschiedlich angelegte Rollen. Wer mächtiger ist in dieser Dyarchie , der Präsident oder der Kanzler , ist schwer zu sagen. Eine gute Testfrage dürfte sein , wer auf die Wahl des nächsten Bundespräsidenten den stärkeren Einfluss hat. Bei der Ant-wort würde ich nicht zögern , mich für den Bundeskanzler zu entscheiden , denn er hat über die Bezirkshauptleute die Bürgermeister weit besser in der Hand.66

58 Art. 82 Abs. 1.59 Art. 114 Abs. 460 Art. 114 Abs. 5 und 7 , Art. 115 Abs. 2 und 6.61 Art. 130 Abs. 2.62 Voegelin (1936 / 1997) , 188 f.63 Art. 73. Dass die Wahl des Bundespräsidenten durch die Bürgermeister erfolgt , erhält seine in-nere Logik dadurch , dass neben ihm die Bürgermeister die einzigen gewählten Organe sind: Jäckl (1934) , 107 f.64 Vgl. dazu Merkl (1935a) , 83 , 85 f. , der freilich dem Bundespräsidenten die gesamte Bundesregie-rung gegenüberstellt ; Voegelin (1936 / 1997) , 191–193 ; Gürke / * * * (1937) , 187.65 Eine eingehende Analyse seiner Führungsrolle (Art. 81 Abs. 1) und Richtlinienkompetenz (Art. 93) findet sich bei Merkl (1936a) , 178–183.66 Ebenso schon Nawiasky (1934) , 715. Außerdem hat der Bundeskanzler nach Art. 58 Abs. 1 Ein-fluss auf das Kanzleipersonal der Bundesversammlung , welche den Dreiervorschlag erstellt.

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6. Rechtsstaatlichkeit

Die Zeitgenossen haben der Verfassung 1934 ein weiteres Baugesetz entnommen , näm-lich ein rechtsstaatliches Prinzip , das allen Gewalten Schranken setzt.67 Hatten sie damit recht ? Ich stehe nicht an , darauf klar mit Ja zu antworten.68 Im Rechtsschutz-system hat die Verfassung Verbesserungen gebracht , die nach 1945 nachvollzogen wur-den , und ein guter Teil unserer gegenwärtigen Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit geht ebenfalls auf sie zurück.

Wer den Rechtsschutz gegen die Verwaltung in den Blick nimmt , sieht , dass das bishe-rige Konzept übernommen , aber eine nicht unwichtige Lücke geschlossen wurde : Auch bei Säumnis der Verwaltung ist nunmehr der Weg zum Bundesgerichtshof eröffnet , der in die Bresche springen und an Stelle der Verwaltung in der Sache entscheiden kann.69 In der in Art. 163 erfolgten Umschreibung der Aufgaben des Bundesgerichtshofs , der die Aufgaben von Verfassungsgerichtshof und Verwaltungsgerichtshof übernimmt , hat die Verfassung 1934 sodann ein Leitbild formuliert , das sich nach wie vor in jedem Lehrbuch findet: Die Sicherung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung und der Gesetzmäßig-keit der Verwaltung , die Kombination von Verfassungsstaatlichkeit , Gesetzesstaatlichkeit und Rechtsschutzstaatlichkeit ist bis heute das Ideal. Bemerkenswert ist außerdem die Kompetenz des Bundesgerichtshofs , über die Auslegung von Verwaltungsvorschriften von grundsätzlicher Bedeutung Gutachten zu erstatten , die für die Verwaltung bindend sind.70

Unterschwelliger , aber deswegen nicht schwächer , ist der Einfluss auf das Bild , das wir uns von der Verfassung insgesamt machen. Die Verfassung 1934 ist legistisch aus-gezeichnet gemacht.71 In der Sprache ebenso prägnant und ähnlich nüchtern wie das B-VG , in der Systematik besser , ist es ihr gelungen , fast das gesamte Nebenverfassungs-recht zu integrieren. Ganz hat es zur Kodifikation nicht gereicht , die Finanzverfassung und einige wenige Staatsvertragsbestimmungen blieben außen vor.72 Im Großen und Ganzen aber ist die Geschlossenheit der Urkunde gewahrt. Vor allem die Grundrechte sind integriert und sie sind mit Absicht gleich hinter den grundsätzlichen Bestimmun-gen platziert , um zu unterstreichen , dass es Rechte gibt , die der Schöpfer dem Menschen mit seiner Würde in die Wiege gelegt hat und die es von Staates wegen zu achten gilt.73

67 G.  F. (1934) , 53–55 , 106 f. ; Körner (1934) , 108 ; Schlesinger (1934) , 157 ; Nawiasky (1934) , 718 ; Merkl (1935a) , 8 ; Spanner (1937a) , 184–188 ; apologetisch zu den Grundrechten Canaval (1934) , 9 f.68 Ebenso Leser (1990) , 226.69 Art. 164 Abs. 3. Dazu Körner (1934) , 110 f ; Spanner (1935) , 215–223.70 Art. 166. Zu diesem Vorläufer der Grundsatzentscheidung Spanner (1935) , 224–226.71 Lob bei Merkl (1935a) , 12 f. , das alsbald in Lob des B-VG 1920 (und damit in Kelsen- und Selbst-lob) umschlägt.72 Zur Finanzverfassung vgl. Art. 38 und das F-VG , BGBl. II 150 / 1934 ; zu Staatsverträgen einerseits Art.  30 Abs.  4 , das einige Konkordatsbestimmungen mit der Kraft von Verfassungsbestimmungen ausstattet , andererseits Art. 181 , wonach Abschnitt V des III. Teils des Staatsvertrags von Saint-Ger-main , StGBl. 303 / 1920 , als Verfassungsgesetz zu gelten hat.73 Zur Bedeutung der Reihenfolge der Hauptstücke vgl. Merkl (1936b) , 271 ; zu der in der Präambel ausgedrückten Anerkennung ewiger Rechtssätze , „die von Gott in die Natur des Menschen gelegt“ sind vgl. Schuschnigg (1934) , 32 f. , und Nawiasky (1934) , 711 ; zum Missverständnis der liberalen Deutung dieser vorstaatlichen Grundrechte vgl. Hula (1934) 124 f. ; zur Hierarchie der Werte mit Pri-

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Verfassung und Konkordat

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Schließlich gibt es zwar noch kein Inkorporationsgebot , aber doch schon eine Beschrän-kung der Möglichkeiten zur Verfassungsänderung , die Durchbrechungen einen Riegel vorschieben will: Neben der Stammurkunde dürfen zwar Bundesverfassungsgesetze exi-stieren , Verfassungsbestimmungen in einfachen Gesetzen sind aber nicht mehr zuläs-sig.74 Die Rechtsstaatskonzeption ähnelt jener des Bonner Grundgesetzes , mit dem Un-terschied allerdings , dass sie noch eine prononciert antidemokratische Schlagseite hat.

Das sieht bestätigt , wer den Grundrechtskatalog seinem Inhalt nach betrachtet. An sich ist er ganz respektabel. Mit dem Verbot rückwirkender Strafgesetze , dem Aus-lieferungsverbot für österreichische Bundesbürger , dem Post- , Telegraphen- und Fern-sprechgeheimnis und dem Grundrecht auf diplomatischen und konsularischen Schutz im Ausland findet sich manches Neue ,75 das nach 1945 zum Teil in den Grundrechts-bestand übernommen wurde.76 Das Sachlichkeitsgebot des Gleichheitssatzes ist explizit verankert ,77 unter den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten begegnet uns der Bun-desgesetzesvorbehalt als neuer Typ ,78 und selbst der Grundsatz der Verhältnismäßig-keit von Beschränkungen taucht an der einen und anderen Stelle des Textes schon auf.79 Der Akzent liegt allerdings klar auf der Notwendigkeit von Beschränkungen , und in-soweit zeigt die Lektüre , dass es gravierende Rückschritte gibt. Einige betreffen den Gleichheitssatz: Religion und Geschlecht sind keine verpönten Differenzierungsmerk-male mehr ,80 die Geschlechtergleichheit wird komplett zur Disposition der Gesetzge-bung gestellt ,81 die Katholische Kirche ist anderen Kirchen und Religionsgesellschaf-ten gegenüber privilegiert ,82 und die Konzeption des Öffentlichen Dienstes als neutrale ,

mat des Religiösen und Kulturellen vgl. Dobretsberger (1934) , 19 f. ; zu Bezugnahmen auf die Men-schenwürde , insbesondere jene des Arbeiters vgl. Quadragesimo anno (1931) , zit. n. Texte zur katholi-schen Soziallehre (2007) , Z 23 , 28 , 83 , 101 , 136 ; für eine Analyse dieser Enzyklika vgl. Saberschinksy (2002) , 151–175 ; für eine erste Verankerung der Menschenwürde als kardinalem Wert in einem (wenn auch nicht in Kraft gesetzten) Verfassungstext vgl. Art. 1 der Constitution de Vichy 1944: „La liberté et la dignité de la personne humaine sont des valeurs suprêmes et des biens intangibles. Leur sauvegarde exige de l’État l’ordre et la justice , et des citoyens la discipline.“74 Art. 60 Abs. 2. Die Tragweite dieser Beschränkung wurde indes im Schrifttum durchwegs über-sehen: vgl. etwa Spanner (1937b) , 274 f. , 277 f. , 282–284 , obwohl er für eine Beschränkung des Verfas-sungsrechts im formellen auf Verfassungsrecht im materiellen Sinn plädiert.75 Vgl. Art. 18 Abs. 2 , 20 , 21 und 23.76 Das Postgeheimnis ist heute zwar nicht explizit verbürgt , aber durch Art.  8 der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützt. Ein diplomatisches bzw. konsularisches Schutzrecht fehlt hin-gegen und wird bloß mittelbar durch Art. 46 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet.77 Art. 16 Abs. 1. Merkl (1935a) , 38 , wertet das als Einschränkung gegenüber Art. 7 B-VG , die sich an einer verfassungswidrigen Praxis orientiert.78 Art. 18 Abs. 1.79 Vgl. die Aufzählung der Beschränkungen rechtfertigenden öffentlichen Interessen in Art.  26 Abs. 2 und Art. 27 Abs. 1.80 Art. 16 Abs. 1.81 Art.  16 Abs.  2: „Frauen haben die gleichen Rechte und Pflichten wie die Männer , soweit nicht durch Gesetz anderes bestimmt ist.“ Zur Tragweite vgl. Strele (1935) , 431 f. Siehe auch den Beitrag von Neda Bei in diesem Band.82 Vgl. die explizite Erwähnung in Art. 29 Abs. 1 sowie Konkordatsklauseln in Art. 30 Abs. 3 und 4.

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apolitische Sphäre äußert sich darin , dass die Staatsangestellten in Militär und Polizei in ihren Grundrechten beschränkt werden können.83 Andere sind in der Meinungs- , Verei-nigungs- und Versammlungsfreiheit zu registrieren: Vorzensur ist wieder möglich ,84 ein Konzessionssystem für Presse , Vereine und Versammlungen wieder erlaubt.85 Sodann fällt auf , dass es für eine Kommunikationsüberwachung keinen Richter mehr braucht ,86 dass persönliche Freiheit , Hausrecht , Meinungsfreiheit , Kommunikationsgeheimnis so-wie Vereins- und Versammlungsfreiheit im Notstand suspendiert werden können87 und dass die Todesstrafe nicht länger tabuisiert ist.88

7. Charakterisierung

Wie ist die Verfassung 1934 abschließend zu charakterisieren ? Ich versuche es so: Es ist eine Verfassung , die Demokratie konsequent durch eine Führungsauslese durch die Füh-rer ersetzt und Politik durch Expertise , die dabei aber rechtsstaatlich bleibt und in der Dyarchie von Präsident und Kanzler auch ein gewaltenteilendes Element hat. Wie sich unter einer solchen Verfassung Herrschaft faktisch gestaltet , hängt stärker von den han-delnden Personen ab als in einer Demokratie. Bei einem starken Präsidenten hätte eine Juristenaristokratie entstehen können , wie Otto Ender sich das wohl erhofft hatte , bei einem starken Kanzler eine mehr oder weniger aufgeklärte Diktatur , bei einem Gleichge-wicht eine rechtsgesteuerte Expertenherrschaft. Die wahrscheinlichste Option war aber wohl von Anfang an der Ablauf , zu dem es in der Folge tatsächlich kam: Am Werk waren ganz normale schwache Leute , und so ist ein Beamtenfaschismus daraus geworden.89

83 Vgl. Art. 16 Abs. 4 und 5 ; ferner die Beschränkung der gleichen Zugänglichkeit zu öffentlichen Ämtern in Art. 16 Abs. 3 auf „vaterlandstreue[.] Bundesbürger , die den vorgeschriebenen Erfordernis-sen entsprechen“.84 Art. 26 Abs. 2 lit. a.85 Art. 24 , 26 Abs. 2. Dazu Adamovich / Froehlich (1934) , 15 f. ; Merkl (1935a) , 46–48.86 Art. 23.87 Art. 147 Abs. 7. Zur Einschränkung des Schutzes der persönlichen Freiheit siehe auch den Beitrag von Pia Schölnberger in diesem Band.88 Dazu Polaschek (2009).89 Diese Charakterisierung verdanke ich Clemens Jabloner.

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