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Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin Roussel (Hg.) AUTORITÄT KRISE, KONSTRUKTION UND KONJUNKTUR

Ol ver Kohns, T ll van Rahden und Mart n Roussel (Hg.)

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Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin Roussel (Hg.) AUTORITÄT KRISE, KONSTRUKTION UND KONJUNKTUR

TEXTE ZUR POLITISCHEN ÄSTHETIK Herausgegeben von Oliver KohnsBand 5

AUTORITÄT KRISE, KONSTRUKTION UND KONJUNKTUR

Herausgegeben von Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin Roussel

WILHELM FINK

Gefördert vom

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© 2016 Wilhelm Fink, PaderbornWilhelm Fink GmbH & Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn, Internet: www.fink.de

Gestaltung und Satz: SichtvermerkPrinted in Germany, Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-6100-1

Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin RousselAutorität. Krise, Konstruktion und Konjunktur – Zur Einleitung

KRISE

Sophie UitzQuestion authority. Hannah Arendt und das Scheitern der Frage nach Autorität

Martin RousselZur Kritik der Autorität im »Erscheinungsraum« der Moderne (Figur, Begri�, Gewalt)

Simon WendtHeldentum und Autorität in der US-amerikanischen Gesellschaft um 1900

D. Timothy Goering»Wider die Ächtung der Autorität«. Friedrich Gogarten und der Autoritätsbegri� im theologischen Diskurs

Johannes PlatzDie Krise der Autorität in der Bundeswehr in wissenschaftlicher Expertise und Broschürenliteratur der deutschen Armee vom Aufstellungsbeginn bis zur Bildungsreform

KONSTRUKTION

Michiel RysDie Autorität postmonarchischer Regierung und die Ästhetik der Unterbrechung. Georg Büchner, die Frankfurter Schule und Yaak Karsunke im Kampf gegen Maximilien Robespierres bürgerliche Autorität

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INHALT

Claudia NitschkeEigennutz und Spieltheorie. Autoritätskonzepte und Kritik am modernen Staat in Goethes Götz von Berlichingen

Oliver KohnsAutorität vs. auctoritas. Diskurse historischer Kontinuität im 20. Jahrhundert

Andrea GünterEine andere Philosophie wagen, in der Demokratie ankommen können: Relationalität, Autorität und Strukturwandel

KONJUNKTUR

Till van RahdenEine Welt ohne Familie. Der Kinderladen als ein demokratisches Heilsversprechen

Andreas MichelDie Autorität der Schwäche. Gianni Vattimos anti-autoritäres Autoritätskonzept

Manuel ClemensDer autoritäre Charakter. Zur Aktualität eines Konzepts der Frankfurter Schule

Elmar LocherWerktage oder Kruso auf Hiddensee. Zur Frage der Autorität in Übergangsgesellschaften. Anmerkungen zu Volker Braun und Lutz Seiler

Insa HärtelAutorität und das Quietsche-Entchen-Handtuch. »Des Kaisers neue Kleider« in der Sesamstraße

Verzeichnis der Autoren

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Oliver Kohns, Till van Rahden und Martin Roussel

AUTORITÄT KRISE, KONSTRUKTION UND KONJUNKTUR – ZUR EINLEITUNG

Drei Perspektiven kennzeichnen die Rede von Autorität im 20. Jahrhundert: erstens die Krise einer vormals vermeintlich fraglosen Gültigkeit, zweitens der Versuch genealogischer Rückversicherung durch Versatzstücke der Tradition und drittens die Behauptung, Autorität könne als Grundbegriff der politischen Theorie vor allem in demokratischen Ordnungen dienen. Krise und Neubegründung, die historische Unterscheidung ›guter‹ von ›korrumpierter‹ Auto-rität sowie eine Diskussion über ›demokratische Autorität‹ sind die Folge dieses dreifachen Problemhorizontes. Der Begriff der Autorität verortet sich deshalb im 20. Jahrhundert in einem Span-nungsfeld zwischen zeitgeschichtlichem Problembewusstsein, ›konservativem‹ Denken (ohne das jeweils immer klar wäre, was gemeint ist) und politischer Theoriebildung.

Ins Leere läuft daher der Versuch, Autorität im Sinne eines klar überschaubaren Phänomens zu definieren, etwa als eine spezifische Art und Weise, eine anerkannte Machtbeziehung zu gestalten. Zwar sind sich die meisten Explikationen einig, dass man Autorität als eine als legitim anerkannte hierarchische Relation beschreiben kann. Gewonnen ist damit jedoch wenig. Zunächst bezeichnet Autorität hierarchische Beziehungen in unterschiedlicher Inten-sität und Strenge: Der Begriff kann die höchste Macht und Gewalt überhaupt bezeichnen, die Macht zu befehlen, aber auch so etwas wie eine besondere Überzeugungskraft, die auf der Anerkennung der moralischen oder intellektuellen Qualität einer Person beruht.1

1 Vgl. Frank Furedi, Authority: A Sociological History, Cambridge 2013, S. 9 f. Als Einstieg Joseph Raz (Hg.), Authority (Readings in social and political theory), Oxford 1990; Thomas Christiano, »Authority«,

Dann bezieht sich das Wort auf Entitäten verschiedenster Art. Eine ›Autorität‹ kann eine Behörde oder ein Amt sein: Vor allem die Se-mantik des englischen ›public authorities‹ und des französischen ›autorités publique‹ verweist auf legitime Machtausübung, d. h. auf amtlich oder behördlich instituierte Macht. Naheliegender, zumin-dest im Deutschen, ist der Bezug auf eine Person: Eine ›Autorität‹ kann eine Person mit unbestreitbarem Ansehen sein, jemand der ein hohes Amt bekleidet oder aufgrund seiner Verdienste Respekt von anderen erwartet. Zugleich ist ›Autorität‹ aber auch das Prinzip dieser Relation – vage übersetzbar in Begriffe wie ›Einfluss‹, ›Pres-tige‹ oder ›Ansehen‹: Man kann Autorität nicht nur sein, sondern auch haben. Die Grenzen zwischen diesen beiden Ebenen sind fließend; Pablo Oyarzún spricht treffend von einem »double game of authority«.2 Diese raunende und vage Dimension hat der ›anti-autoritären‹ Bewegung im »Jahrhundert des Kindes« (Ellen Key) ihre Angriffsfläche geboten und die Frage einer Autoritätskritik zum Kernanliegen einer Aufklärung über verschleierte Formen der Macht gemacht.

Kein Wunder, dass aus der Geschichte der Auseinanderset-zungen über Autorität meist nur paradoxe Bestimmungen dessen hervorgegangen sind, was Autorität ist oder sein solle. Diese resul-tieren aus dem Versuch einer Abgrenzung von Autorität gegenüber ›Macht‹, etwa wenn Horkheimer Autorität als »teils produktive, teils hemmende menschliche Triebkraft« erkennen will, die an der »notwendigen Herrschaft von Menschen über Menschen« mitwir-ke.3 O�enbar lässt sich Autorität begri¡ich nur schwer und unzurei-chend fassen: Die Unbegrei£arkeit des Wortes für eine begri¡iche

in: Stanford Encyclopedia of Philosophy (2004), http://plato.stanford.edu/entries/authority/ (zuletzt aufgerufen am 4. 4. 2016); Pasquale Pasquino und Pamela Harris (Hg.), The Concept of Authority. A Mul-tidisciplinary Approach, Rom 2007; Arno Baruzzi, »Autorität«, in: Herman Krings u. a. (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 1, München 1973, S. 171–179; Silja Freudenberger, »Autorität«, in: Hans Jörg Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 2010, S. 195–202. Kein Lemma »Autorität« enthalten dagegen die siebenbändigen »Ästhetischen Grundbegriffe«, Stuttgart 2000 ff.2 Pablo Oyarzún R., »On the Concept of Authority«, in: New Centen-nial Review 11.3 (2011), S. 225–252, hier: S. 228.3 Max Horkheimer, »Autorität und Familie«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1988, S. 336–421, hier S. 357.

8 OLIVER KOHNS, TILL VAN RAHDEN UND MARTIN ROUSSEL

De�nition bildet das Leitmotiv vieler Studien über Autorität. Es ist eine o�ene Frage, ob es (nur) einen Diskurs über Autorität gibt (bzw. gegeben hat), insofern sich mit Leonard Krieger argumentieren lässt, dass es zwei konträre ›ideas‹ der Autorität gibt, die vollständig gegenteilige Konzepte beinhalten: Zum einen lasse sich Autorität als Attribut der höchsten Macht beschreiben, zum anderen – im Rückgri� auf das römische Konzept der auctoritas – als Gegenmodell zum Konzept der Macht insgesamt.4 Die platonische Begri�ichkeit der ›ideas‹ deutet hier an, dass damit nicht gesagt sein kann, dass Autorität durch diesen Dualismus endlich auf einen Begri� – oder wenigstens auf zwei Begri�e – gebracht werden könnte. Das seman-tische Feld bleibt unübersichtlich.

Besonders fruchtbar ist es daher, Autorität im Zusammen-spiel mit verwandten, konkurrierenden bzw. notwendigerweise zusammenhängenden Kategorien wie Freiheit, Rang, Macht, Souveränität oder Gewalt zu analysieren. Ferner bietet es sich an, die Wandlungen und Widersprüchlichkeiten des Konzepts historisch zu verorten, insofern Autorität unter verschiedenen diskursiven Grundbedingungen – in verschiedenen Epistemen, um Foucaults Begriff aufzugreifen – anders konzipiert wird. Selbst der Begriffshistoriker Leonard Krieger neigt angesichts der Frage der Autorität zu einem unzeitgemäß anmutenden Begriffsrealismus (›ideas‹), der zwar Kontinuitäten suggeriert, aber die Konstruk-tionsleistung des Historikers vernachlässigt. Insbesondere dem Begriff der ›Tradition‹ wird man in der Analyse des Begriffs der Autorität gegenüber skeptisch sein müssen, insofern die Konst-ruktion eines Kerns von ›Autorität‹ immer wieder einen Rückgriff auf eine vermeintlich offenbar liegende Tradition behauptet – sei sie römisch, mittelalterlich oder in »guten Sitten« beheimatet –, welche sich aber bei näherer Betrachtung rasch als »invention of tradition«5 (Eric Hobsbawm) herausstellen kann.

4 Vgl. Leonard Krieger, »The Idea of Authority in the West«, in: The American Historical Review 82.2 (1977), S. 249–270, hier: S. 252: »At any point in time the idea of authority is not the idea at all; it is actually a composite attitude based on the relationship that exists between the two ideas of authority at that time«.5 Vgl. Eric Hobsbawm und Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition, Cambridge 1983, sowie Mark Phillips und Gordon J. Scho-chet (Hg.), Questions of Tradition, Toronto, ON 2004; Till R. Kuhnle, »Tradition – Innovation«, in: Karlheinz Barck u. a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 6, Stuttgart 2005, S. 74–117.

EINLEITUNG 9

Da im heutigen Gebrauch des Begriffs der Autorität die Vor-stellung einer langen Tradition mitschwingt, die bis in die späte rö-mische Republik zurückreiche, lohnt es sich daran zu erinnern, dass sich Autorität im Sinne eines Grundbegriffs moderner Politik erst als Reaktion auf die revolutionären und demokratischen Umbrüche des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts ausbildet. Sofern der Begriff überhaupt Eingang in Lexika und Wörterbücher fand, domi-nierte bis ins 19. Jahrhundert ein präzises Verständnis des Begriffs der in genau definierten Bereichen, sei es der Wissenschaft, sei es dem Recht, Anwendung findet und den bei allen Unterschieden die Frage nach der Glaubwürdigkeit eint. Bemerkenswert ist jedenfalls, wie beiläufig der Begriff behandelt wurde – oder eben gar nicht wie in Pierre Bayles Dictionnaire historique et critique von 1697.

Die großen Enzyklopädien aus der ersten Hälfte des 18. Jahr-hunderts enthalten bestenfalls kurze Einträge zum Begriff der Autorität,6 der vor allem als eine rechtliche und epistemologische Kategorie begriffen wird. »Authority, Auctoritas«, heißt es 1728 ebenso nüchtern wie knapp in Ephraim Chambers’ Cyclopædia, or, An universal dictionary of arts and sciences, sei

»a right to command, and make one’s self obey’d. See Power. In this Sense we say the Supreme or Sovereign Authority; Absolute or Despotic Authority [...]; or of the Father etc. [...] See also Jurisdiction, Government. [...] Authority, is also used for the Testimony of an Author or Writing. See Testimony«.7

Zedlers Universal-Lexicon (1731–1754) kennt das Wort Autori-tät nur in einem dreizeiligem Lemma über »Streng«, was bei den

6 Weder ein Lemma zu »Auctoritas« noch eines zu »Autorität« ent-halten die 242 Bände der Oeconomische Encyclopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung, hg. von Johann Georg Krünitz, Berlin 1773–1858. Die Aus-nahme bilden zwei ausführliche Einträge Denis Diderots: »autorité politique«, in: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 1, S. 898–890; sowie »Autorité dans les discours & dans les écrits«, ebd., S. 900 f. Ein Befund, der vor allem die Aus-nahmestellung der Encyclopédie bestätigt. Sie wollte weniger Wissen kodifizieren als den französischen Aufklärern ein Forum bieten, um für ihre politischen Zukunftserwartungen zu werben.7 »Authority«, in: Cyclopædia, or, An universal dictionary of arts and sciences, Bd. 1, London 1728, S. 181.

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»Engelländern die Richterliche Autorität und Ansehen« bedeute. Zu »Autoritas, oder auctoritas« heißt es ebenso bündig, der Begriff sei

»in der Grammatick, und zwar insonderheit in der Prosodie, so viel, als ein Exempel aus einem guten und bewehrten Schriftsteller, worauf man sich denn beziehen kann, wenn entweder keine Regul vorhanden oder doch solche unbekannt ist«.8

Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch von 1811 kriti-sierte den Begriff der Autorität zunächst als ein »unnöthig[es]« Fremdwort aus dem Lateinischen, um dann zwei Bedeutungen zu unterscheiden: »1) Gewalt, Ansehen, bestimmender Einfluß auf andere [...] 2) Das verbindliche Gewicht eines Zeugnisses«.9 Ersch-Grubers Allgemeine Enzyklopädie von 1821 wiederum enthält kein Lemma zu »Autorität«, statt dessen ein ausführliches Stichwort zu »Auctoritas«, in dem noch einmal das enge Verständnis des Begriffs fassbar wird:

»I) Im römischen Rechte ist die ursprüngliche Bedeutung von auctoritas die der Gewährleistung oder Befestigung. [...] II) In der Urkundensprache, wird in früheren Jahrhunderten oft gleichbedeutend mit Diploma, Urkunde, und eigentlich wol der Kürze wegen statt auctoritas charta, also die Ausfertigung, wodurch der Regent den vermöge seiner Gewalt oder seines Ansehens öffentlich kundthut, doch nicht [...] nur von Urkun-den der Kaiser, Könige oder Päpste.«10

Selbst die spätaufklärerische Kritik an der Idee der Autorität handelte allein von einem engen Verständnis des Begriffs, das um die Frage kreiste, welches Wissen und welche Erkenntnis

8 Zedlers Großes vollständiges Universal-Lexicon, Supplement, Bd. 2, Leipzig 1751, S. 1055.9 »Autorität«, in: Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 1, Wien 1811, S. 673 f. (ähn-lich »Autorität«, in: Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache aufgedrungenen fremden Ausdrücke, Braunschweig 1813, S. 138).10 Ersch-Grubers Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste, Th. 6, Leipzig 1821, S. 278.

EINLEITUNG 11

glaubwürdig sei. Das Allgemeine Handwörterbuch der philosophi-schen Wissenschaften von 1832 etwa enthielt zwar ausführliche Einträge zu »Autokratie« und »Autonomie«, aber kein Lemma zu »Autorität«. Knapp behandelt wird allein das Kompositum »Autoritätsglaube«. Dieser sei ein Glaube, warnt das fünfbändige Grundbuch des Kant ianismus, »der bloß auf dem Ansehn eines anderen beruht, also eigentlich ein blinder Glaube. Denn wer nur darum glaubt, weil Andere dasselbe glauben, oft auch nur zu glauben versichern, glaubt folglich blind.« Freilich sei bei »ge-schichtlichen Thatsachen« das »Ansehn des Zeugens« durchaus zu berücksichtigen:

»Denn Prüfung des Zeugnisses muß immer vorausgehen, wem man glaubt. Und bei dieser Prüfung wird eben auch gefragt, ob der Mann der das Zeugnis ablegt, nach seiner intellectualen und moralischen Beschaffenheit Glauben ver-diene. S. Zeugnis.«11

Es liegt auf der Hand, dass uns dieses enge Verständnis von Autorität bzw. auctoritas fremd geworden ist. Vor allem jedoch verdeutlicht dieser Befund, dass Autorität erst im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einem ebenso schillernden wie vagen Grundbe-griff der politischen Sprache aufstieg, also in dem Moment, in dem sich jede Form von Zwangs- und Fremdherrschaft, jede Art von Hierarchie und Unterordnung, zunehmend vor dem universalen Gleichheitsideal der modernen Demokratien rechtfertigen musste. Aphoristisch verdichtet findet sich dieser Zusammenhang in dem Schlagwort »Autorität, nicht Majorität!«, das Friedrich Julius Stahl im April 1850 im Erfurter Parlament prägte.12 Mit dieser Formulie-

11 »Autoritätsglaube«, in: Wilhelm Traugott Krug (Hg.), Allgemei-nes Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 2. Aufl., Bd. 1, Leipzig 1832, S. 274 f.12 Vgl. »Autorität, nicht Majorität«, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 2, Leipzig 1905, S. 191. Stellvertretend für die damit ein-her ge hen den Deutungskämpfe zwischen Konservativen und Libe-ralen siehe den Gegensatz zwischen den Einträgen »Autorität«, in: Friedrich Wilhelm Hermann Wagener (Hg.), Staats- und Gesellschafts-Lexikon. Neues Conversations-Lexikon, Bd. 3, Berlin 1860, S. 111–122; und Ludwig von Rochau, »Autorität«, in: Carl Welcker (Hg.), Staats-Lexi-kon. Encyklopädie der sämmtlichen Staatswissenschaften für alle Stände, 3. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1858, S. 89–92: »[D]er Conservatismus« müsse

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rung, die zum geflügelten Wort der Konservativen wurde, ging es Stahl offensichtlich nicht mehr um die Glaubwürdigkeit einer Ur-kunde oder eines Autors. Im Raum stand nun die Frage der Legiti-mität politischer Unterordnung im Schatten einer demokratischen Revolution. Dieser Wechsel der Perspektive verdeutlicht, dass im Zentrums des Streit über die Autorität auch die grundsätzliche Frage stand, ob eine, und wenn ja welche, Vorstellung der Autorität mit der Idee der Demokratie vereinbar sei. Sichtbar wird damit das prinzipielle Spannungsverhältnis zwischen der unvermeidlich hierarchischen Idee der Autorität und dem zwingend egalitären Ideal der Demokratie.13

Michel de Montaigne hat treffend von einem »mystischen Grund der Autorität« gesprochen,14 einer letztlichen Grundlosig-keit der Autorität, die eben nur durch ein »mystische«, das heißt fraglose Übereinstimmung wirksam werden kann. Wir haben es bei Autorität mit einer bestimmten Art von Blindheit respektive Un-sichtbarkeit zu tun, möglicherweise sogar mit einem blinden Fleck der Macht als einer eigenen kategorialen Form. Autorität betrifft in dieser Perspektive dasjenige an den historischen Verkörperungen von Souveränität und Macht, das sich bestimmten Formen einer historischen Kritik entzieht. Hierin wiederum wurzelt die prin-zipielle Kritik an Autorität, wie Hannah Arendt im Vergleich mit zwei anderen historischen Grundbegriffen, nämlich Religion und Tradition gezeigt hat. Für die Moderne gilt dabei, dass die Kritik an der, so Arendt, »Trinität Religion-Tradition-Autorität« zu einem Erosionsprozess beigetragen hat, aus dem die Herausforderungen der modernen Demokratie entstanden seien.15

»sich darauf gefasst machen, daß die Majorität doch schließlich Recht behält gegen die Autorität« (ebd., S. 92). 13 Ein Spannungsverhältnis, dass die wohlfeile Rede von der ›demo-kratischen Autorität‹ eher vernebelt als erhellt. Siehe unten Anm. 36.14 »Die Gesetze genießen ein dauerhaftes Ansehen und verfügen über einen Kredit, nicht etwa, weil sie gerecht sind, sondern weil sie Gesetze sind: das ist der mystische Grund ihrer Autorität; es gibt keinen ande-ren«. Zit. nach Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991, S. 25. Vgl. Michel de Montaigne, Les Essais, hg. von Jean Balsamo, Catherine Magnien-Simonin und Michel Magnien, Paris 2007, Bd. 3/13, S. 1119 (»le fondement mystique de leur authorité«).15 Vgl. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, 9. Aufl., München 2003, S. 842.

EINLEITUNG 13

Aufgeworfen ist damit die Frage nach dem Vergangenheits-charakter der Autorität, den Arendt behauptet: Statt zu fragen »Was ist Autorität?« hätte ihr Essay eigentlich »Was war Auto-rität?« lauten müssen, schreibt sie.16 Arendts These besagt, dass »der Begriff der Autorität politisch kaum noch eine Rolle spielt.«17 Nichtsdestotrotz geht auch Arendt in späteren Texten – insbeson-dere in On Revolution – von der Gegenwärtigkeit von Autorität in der (insbesondere US-amerikanischen) Politik aus und nähert sich einem Verständnis der Kategorie als Beschreibung politischer Legitimität an.18 »Traditionelle Autorität, wie wir sie kannten, ist verschwunden«,19 betont der belgische Psychoanalytiker Paul Ver-haeghe im Anschluss an Arendt. An die Stelle einer »hierarchisch-vertikalen Autorität« trete in der Gegenwart angeblich eine »hori-zontal operierende[] Autorität, vom Urvater zum Big Brother«.20 Aber auch diese Perspektive lässt Fragen offen: Ob das Patriarchat – oder wenigstens die Assoziation zwischen diesem und der Kate-gorie der Autorität – wirklich vollständig aus der gegenwärtigen Welt verschwunden ist – und wie und aus welchen Gründen sich dieser historische Übergang exakt gestaltet haben mag, bleibt zu fragen. Einen Ausgangspunkt für weitere Forschungen über den langen Schatten des Patriarchats bieten besonders feministische Versuche, den Begriff der Autorität zu entzaubern.21

Autorität setzt Glauben, Vertrauen oder jedenfalls Anerken-nung, Beglaubigung voraus. Diese Seite der Autorität kann man an jenen Grundfiguren ablesen, die seit der Antike Modellcharakter

16 Hannah Arendt, »Was ist Autorität?«, in: dies., Zwischen Vergan-genheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994, S. 159–200, hier: S. 159.17 Ebd., S. 169.18 Vgl. Hannah Arendt, Über die Revolution [1963], München/Zürich 2011, S. 257.19 Paul Verhaeghe, Narziss in Trauer. Das Verschwinden des Patriar-chats, aus dem Englischen von Sergej Seitz und Anna Wieder, Wien/Berlin 2015, S. 83.20 Ebd., S. 85.21 Vgl. Rebecca Hanrahan und Louise Antony, »Because I said so: Toward A Feminist Theory of Authority«, in: Hypatia 20.4 (2005), S. 59–79; Kathleen B. Jones, Compassionate Anthority. Democracy and its Represantation of Women, New York u. a. 1993; David Kyuman Kim, »Issues with Authority: Feminist Commitments in a late Secular Age«, in: Linell E. Cady und Tracy Fesserden (Hg.), Religion, the Secular, and the Politics of Sexual Difference, New York 2013, S. 263–284.

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haben: der Figur des Vaters insbesondere, aber auch der des Arztes, des Hirten, des Steuermanns, des Meisters usw.22 Wie der Schüler seinem Meister vertraut, um etwas zu lernen, vertraut sich die Herde dem Hirten an, der Patient dem Arzt. Einen Vorschlag zur Systematisierung der symbolischen Verkörperungen von Autorität hat Alexandre Ko jève 1942 entfaltet. Er unterscheidet vier Typen der figurativen Dimension von Au to ri tät: die Fi gur des Va ters (des Er zeu gers) mit der Autorität des Ursprungs und der Ver gan gen heit, des Mei sters (der ent scheidet und handelt) mit der Autorität des Wissens, des An führers (der voraus schaut) mit der Autorität des Kundigen oder praktischen Wis sens und des Rich ters (der objektiv ist) mit der Autorität des Gesetzes oder Unvergänglichen.23 Indem Autorität Asymmetrien im Handeln auf situative Figurationen (Vater/Sohn, Meister/Schüler usf.) bezieht, entzieht sie sich einer all ge mei nen Rationalität, einer Logik der Über zeugung, der Orien-tierung an der Sache oder überhaupt der Rückfrage: Auto ri tä t nach ihrem Grund zu befragen, heißt sie in Frage zu stellen. Ansätze, die darauf zielen, Autorität in der Spannung von Autorität und Autoritätsverlust zu restituieren, beziehen ihre Evidenz deshalb aus einer Rückrechnung aus der Sphäre des Politischen auf kleine modellhafte Grundszenen. Weniger als Gegendiskurs, sondern vielmehr als eine Art Nullpunkt der Autorität stellen Fiktionalitäts- und Experimentalräume der Literatur solche Szenen her.

So etwas wie eine ›natürliche‹ Autorität, das folgt aus dieser Beobachtung, gibt es nicht, die Kategorie ist von Anfang an eine diskursive Konstruktion. Das zeigt ihre historische Kontingenz: Seitdem die Kritik am Patriarchat spätestens seit der Spätauf-klärung immer lauter geworden ist, gerät auch die immer wieder mit patriarchalischen Grundfiguren assoziierte Autorität in den Verdacht der Krise. Ausgehend von der seit dem 19. Jahrhun-dert verbreiteten Gegensätzlichkeit wurde die These entwickelt, dass die modernen Demokratien notwendigerweise nicht allein

22 Vgl. Arendt, »Was ist Autorität?« (wie Anm. 16), S. 175. Zur Illus-tration: Vgl. Hubertus Tellenbach (Hg.), Das Vaterbild in Mythos und Geschichte. Ägypten, Griechenland, Altes Testament, Neues Testament, Stuttgart 1976; ders. (Hg.), Das Vaterbild im Abendland, 2 Bde., Stuttgart 1978; ders. (Hg.), Vaterbilder in Kulturen Asiens, Afrikas und Ozeaniens, Stuttgart 1979. 23 Vgl. Alexandre Kojève, The Notion of Authority (A Brief Presenta-tion), aus dem Französischen von Hager Weslati, London / New York 2014.

EINLEITUNG 15

anti-autoritär und anti-paternalistisch, sondern genuin anti-paternal seien. Insofern »das Urbild, weil Urerlebnis aller Autori-tät der Vater ist, ist Demokratie – ihrer Idee nach – eine vaterlose Gesellschaft«,24 schreibt Hans Kelsen 1933 im Anschluss an Paul Federns Essay »Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft«.25 Indem der Zusammenbruch der Monarchie und die Geburt einer Demokratie hier systematisch an die Vernich-tung (väterlicher) Autorität geknüpft wird, bleibt die Figur des Vaters und (die Sehnsucht nach) seiner Autorität präsent als po-litisches Versprechen ebenso wie als Bedrohung. »Riding on this putative authority, how does the impossible figure of the father, whether split or faux unitary, still hold sway?«,26 formuliert Avital Ronell. Die offiziell politische, d. h. die ›behördliche‹ Seite der Autorität bereitet noch größere Probleme: Es ist die Sphäre des Gesetzes, der Politik und der Demokratie. Problematisch ist, dass die gewissermaßen nicht-codifizierte und auch schlichtweg nicht codifizerbare Seite der Autorität – die des rein informellen, scheinbar geradezu ›natürlichen‹ Vertrauens in einen Vater oder in einen Arzt – und die codierte Seite – die des Gehorsams gegen-über einem Staat oder des Glaubens an einen Politiker – stets und notwendigerweise aufeinander bezogen sind. Genau das macht die Kategorie so schwierig zu begreifen und genau dies macht die politische Wirkmacht der Autorität aus. Der »mystische Grund der Autorität« lässt sich hier nicht mehr ohne weiteres auf Grund-begriffe wie Vertrauen rückrechnen, sondern er verleiht Autorität auch über den Horizont der Erfahrung hinaus, als ein Vorschuss, ein ›Kredit‹, wie Montaigne schreibt, von dem ungewiss ist, ob er je zurückgezahlt werden kann.

24 Hans Kelsen, Staatsform und Weltanschauung, Tübingen 1933, S. 20.25 Vgl. Paul Federn, »Zur Psychologie der Revolution: Die vaterlose Gesellschaft«, in: Der österreichische Volkswirt 11 (10.5.1919), S. 571– 574 und 595– 598. Vgl. zu Federn ausführlicher Oliver Kohns, »Latenz der Macht. Zu einigen Diskursen über Autorität um 1900 (Carové, Freud, Weber, Federn, Kuntze)«, in: ders. (Hg.), Perspektiven der politischen Ästhetik, Paderborn 2016, S. 145–177, hier: S. 168–174.26 Avital Ronell, Loser Sons: Politics and Authority, Urbana/Chicago/Springfield 2012, S. xiii. Vgl. grundlegend Jean Bethke Elshtain (Hg.), The Family in Political Thought, Amherst, MA 1982, sowie Gordon J., Schochet, Patriarchalism in Political Thought. The Authoritarian Family and Political Speculation and Attitudes especially in seventeenth-century England, Oxford 1975.

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Montaignes Wendung vom »mystischen Grund der Autorität« ist verschiedentlich aufgegriffen worden, so unter anderem in den Pensées von Pascal,27 aus denen sie wiederum in einem Essay von Jacques Derrida über Gesetzeskraft zitiert wurde.28 Derridas Text ist für uns deshalb von besonderem Interesse, weil er in seinem zwei-ten Teil eine intensive Lektüre von Walter Benjamins Zur Kritik der Gewalt unternimmt. Während Benjamin eine Kritik der mythischen Gewalt ins Zeichen einer messianischen Gewalt stellt, in der das positive Recht vernichtet wird und die ursprünglich rechtssetzen-de Gewalt entsühnt, erlöst wird, fürchtet Derrida, dass am Ende die göttliche Gewalt in ihrem Grundzug »eine[r] Abschaffung der Staatsgewalt*, der Autorität des Staates«29 ununterscheidbar von der mythischen Gewalt zu werden droht.30 Montaignes, Pascals und Derridas Rede vom »mystischen Grund der Autorität« ver-sucht sich also dagegen zu wappnen, den Ursprung gesetzgebender Gewalt und das Endziel einer alles Recht übersteigenden Gerech-tigkeit gegeneinander auszuspielen: Gerade die Intransparenz der Gewalt der Gesetze – ihre Gültigkeit auf ›Kredit‹ – müsse der Grund sein, Gerechtigkeit mit diesem Uneinsehbaren zu verknüpfen. Das Recht selber, im Herzen des Politischen, kann so, gerade weil seine Autorität einen »mystischen Grund« hat, mit einer zukünftigen Gerechtigkeit verknüpft werden.

Die Frage der ›Autorität‹ wirft von vornherein die Proble-matik historischer Kontinuität auf. »Da wir immer noch unter dem Bann der römischen Republik stehen, greifen wir auf diesen traditionsreichen Ausdruck zurück, als böte er eine theoretisch aufschlussreiche Analyse des politischen Lebens im Allgemeinen

27 Vgl. Blaise Pascal, Gedanken über die Religion und einige andere Themen, hg. von Jean-Robert Armogathe, aus dem Französischen von Ulrich Kunzmann, Stuttgart 1987, S. 60: »Die Gewohnheit (ist) die ganze Gerechtigkeit, allein deshalb, weil sie eingebürgert ist. Das ist der mystische Grund ihrer Autorität. Wer sie auf ihren Ursprung zurückführt, vernichtet sie. Nichts ist so fehlerhaft wie diese Gesetze, welche die Fehler abstellen sollen.«28 Vgl. Derrida, Gesetzeskraft (wie Anm. 14), S. 25.29 Ebd., S. 109.30 »Die Vorstellung«, bemerkt Derrida vor dem Hintergrund des jüdisch-messianischen Moments bei Benjamin, »daß man den Holo-caust als Entsühnung und unentzifferbare Signatur eines gerechten und gewaltsamen göttlichen Zornes deuten könnte, versetzt uns in Angst und Schrecken.« (Ebd., S. 124)

EINLEITUNG 17

an«,31 schreibt Raymond Geuss. In der Tat stehen weite Teile des Diskurses über Autorität insbesondere im 20. Jahrhundert »im Bann der römischen Republik« und versprechen sich im Namen von auctoritas eine Neuausrichtung, die sich endlich an der Idee einer ›guten‹ Autorität orientiert (Sternberger, Krieger). Ob die moderne Kategorie der Autorität aber tatsächlich auf eine Tradi-tion der auctoritas zurückgeführt werden kann, darf bezweifelt werden: Rückprojektionen moderner Vorstellungen in die antike Semantik spielen eine entscheidende Rolle in diesen Diskursen. Die »Gewohnheit, stets die Antike vor Augen zu haben«, hat be-reits 1864 Fustel de Coulanges als »eines der größten Hindernisse in der Entwicklung der modernen Gesellschaft«32 kritisiert.

Warum aber konnte in der Mitte dessen, was Jan-Werner Müller in seiner Arbeit über das 20. Jahrhundert als das »demokra-tische Zeitalter« bezeichnet,33 Autorität zu einem viel diskutierten Krisenbegriff werden? Hierzu zwei tentative Thesen:

1) Versteht man Demokratie nicht als feststehende und immer gleiche Staatsform, sondern als ›organized uncertainty‹ und als ein offenes Experiment, das sich im Vergleich mit unterschiedlichen repräsentativen Formen konturiert, tritt das Begründungsmoment in den Vordergrund.34 Welche demokratische Verfassung bewahrt in ihrem Inneren den revolutionären Kern35 und kann die Demokra-tie zugleich zur Bühne der zukünftigen Demokratie machen? Die Frage »Was ist Autorität?« ruft also gerade nicht eine ›autoritäre‹ Vergangenheit ins Gedächtnis, sondern fragt nach den Prozessen, die unsere Gesetze legitimieren, autorisieren und danach, wie

31 Raymond Geuss, »Zwischen Athen und Rom. Eine begriffsge-schichtliche Fabel«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4.4 (2010), S. 23–40, hier: S. 27.32 Numa Denis Fustel de Coulanges, Der antike Staat. Kult, Recht und Institutionen Griechenlands und Roms [1864], München 1988, S. 21.33 Vgl. Jan-Werner Müller, Das demokratische Zeitalter. Eine politische Ideengeschichte Europas im 20. Jahrhundert, aus dem Englischen von Michael Adrian, Berlin 2013.34 Vgl. Adam Przeworski, Democracy and the Market: Political and Economic Reforms in Eastern Europe, Cambridge 1991, S. 12 f.; Hauke Brunkhorst (Hg.), Demokratischer Experimentalismus, Frankfurt a. M. 1998; Meg Jacobs u. a. (Hg.), The Democratic Experiment. New Directions in American Political History, Princeton, NJ 2003.35 Die Revolution als Gründungsakt der US-amerikanischen Demo-kratie kann mit Hannah Arendt ja gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Vgl. Arendt, Über die Revolution (wie Anm. 18).

18 OLIVER KOHNS, TILL VAN RAHDEN UND MARTIN ROUSSEL

Recht und Gerechtigkeit im Gesetz vermittelt werden. Die Rele-vanz dieser Fragen tritt uns etwa in den Diskussionen vor Augen, die in Amerika unter dem Schlagwort ›democratic authority‹ geführt werden – einschließlich der Problemstellungen in der teil-globalisierten Welt, welche ›authority‹ den sogenannten NGOs im transnationalen Kontext zuzusprechen sein muss.36

2) Setzt Autorität im »demokratischen Zeitalter« (Müller) mehr denn je eine eigene Bühne der Inszenierung des ›Volkswillens‹ (wie des Ausnahmezustands) voraus, unterliegt diese Konfiguration von politischer Autorität seit dem 20. Jahrhundert – noch ganz anders als es von der Lagerbildung zwischen Liberalen und Konservativen im 19. Jahrhundert vorgegeben war – den Bedingungen einer medialen Öffentlichkeit. Politische Meinungsbildung, Wahlverhalten des Volkes, repräsentative Formen des Demokratischen usw. verändern sich mit den technologischen Möglichkeiten des telekommunika-tiven und massenmedialen Zeitalters. Hierfür gilt aber, wie Niklas Luhmann akzentuiert hat, dass das Zeitalter der Massenmedien von einem grundlegenden ›Manipulationsverdacht‹ gekennzeichnet ist:37 Wo es Massenmedien gibt, taucht der Verdacht auf, dass die vermeintlichen Echtzeitbilder zu einer Verwechslung von Realität und Simulakrum einladen könnten. Selbstverständlich ist jede Rea-lität ein Simulakrum, ein Zeichengebilde, aber die technologischen Simulakren haben die Strukturen des Zeichens von der Erfahrung ablösbar gemacht. Wenn als entscheidende Frage auftaucht, wie »Massenmedien Realität [konstruieren]« bzw. wie zum Beispiel die Wissenschaften »die Realität ihrer [der massenmedialen] Realitätskonstruktion beschreiben« können,38 dann scheint unser Augenmerk in der Beobachtung von ›Demokratie‹ in fundamentaler Weise darin verunsichert zu sein, dass die Massenmedien als Me-diator demokratischen Willens und als Interface einer kommenden Demokratie dienen könnten. Wie kann man die Formen demokra-tischer Verfasstheit in ihrem Zusammenwirken mit Telemedien

36 Vgl. etwa Robert Dahl, »Varieties of Democratic Authority«, in: ders., After the Revolution. Authority in a Good Society, New Haven 1970; revised edition, New Haven 1990, S. 45–79; Michael Huemer, The Problem of Political Authority: An Examination of the Right to Coerce and the Duty to Obey, Basingstoke 2012; Thomas Christiano, The Con-stitution of Equality. Democratic Authority and its Limits, Oxford 2008.37 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2., erw. Aufl., Opladen 1996, S. 9.38 Ebd., S. 20.

EINLEITUNG 19

beschreiben? Technologische Konstruktion bzw. Extension entzieht jedoch dem »Grund der Autorität« seine ›mystische‹ Geltung und öffnet es potentiell unendlicher Befragung und Kritik. Autorität jedoch müsste in einem doppelten Spannungsbezug stehen, zwi-schen der Geste der Autorisierung und einer im Gestus der Autorität vollzogenen Souveränität, die das Arkane, Unbefragbare als Kern der Macht voraussetzt. Nach Derrida handelt es sich um einen un-lösbaren, aber ›ermöglichenden‹ Konflikt der Demokratie.39

Zweifellos wird der Diskurs über Autorität in den verschiede-nen Kontexten in unterschiedlicher Form und mit anderen Zweck-setzungen geführt. Man könnte pointieren, dass der Diskurs über Autorität wie der Diskurs über Demokratie notwendig selbst ein de-mokratischer sein sollte. Laut Jens Kertscher dient in der Zeit nach 1945 die Rede von Autorität als »Orientierungskrisenreaktion«.40 Die These geht mit der Annahme einher, dass die bundesrepubli-kanische Demokratie nach einer eher konservativen Anfangsphase sich zunehmend in eine stabile Demokratie verwandelt hätte. Der Suchbegriff der Autorität habe dann – d. h. spätestens mit den Selbstverständigungsprozessen um die 1968er Bewegung – an Bedeutung verloren. Gerade angesichts der in diesem Band gesam-melten Befunde liegt jedoch auch eine weiter ausgreifende Deutung nahe. Vor dem Hintergrund der zentralen Rolle des Begriffs der Autorität in Zeiten des demokratischen Umbruchs wäre zunächst zu fragen, ob die obsessive Frage, inwieweit Autorität noch möglich ist, genau wie die antiautoritäre Kritik nicht auf einen anderen Zu-sammenhang verweist, nämlich auf die Suche nach der Demokratie, auf die sich die Nachkriegseuropäer nach 1945 machten.41

39 Vgl. Jacques Derrida, »Das Recht des Stärkeren (Gibt es Schurken-staaten?)«, in: ders., Schurken. Zwei Essays über die Vernunft, aus dem Französischen von Horst Brühmann, Frankfurt a. M. 2003, S. 15–158.40 Jens Kertscher, »›Autorität‹. Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Umgang mit einem belasteten Begriff«, in: Carsten Dutt (Hg.), Heraus-forderungen der Begri�sgeschichte, Heidelberg 2003, S. 133–147, hier S. 144.41 Martin Conway, »The Rise and Fall of Western Europe’s Demo-cratic Age, 1945–1973«, in: Contemporary European History 13 (2004), S. 67–88; Müller, Das demokratische Zeitalter (wie Anm. 33); Daniel Fulda u. a. (Hg.), Demokratie im Schatten der Gewalt. Geschichten des Privaten im deutschen Nachkrieg 1945–2005, Göttingen 2010, sowie Till van Rahden, »Unbeholfene Demokraten: Moralische Leidenschaften in der Bundesrepublik«, in: Carsten Kretschmann und Wolfram Pyta (Hg.), Bürgerlichkeit. Spurensuchen in Vergangenheit und Gegenwart, Stuttgart 2016, S. 151–177.

20 OLIVER KOHNS, TILL VAN RAHDEN UND MARTIN ROUSSEL

Wenn jedoch jede Demokratie (nicht als Herrschaftsform, sondern ihrem Begriffe nach) davon lebt, nicht restlos in sich selbst aufzugehen, dann könnte die Frage der Autorität und der Autori-sierung an aktuelle Diskussionen um Gerechtigkeit und Solidarität, um bürgerliche Lebensformen oder die Strukturen über-staatlicher Verständigung angeschlossen werden. Jedenfalls erschien uns für ein Verständnis der Krisensymptomatik, die den Autoritätsbegriff begleitet, ein Zugang von pluralen Wissensformationen her not-wendig, gleichsam ein Abgleich von Erkenntnisinteressen und -formen, eine Rückgewinnung der Rede über Autorität – so dies möglich ist.

Der vorliegende Band ist das Ergebnis von insgesamt drei Veranstaltungen, die wir an der Université du Luxemburg (2013), der Université de Montréal (2014) und der Universität zu Köln (2015) zum Thema Autorität organisiert haben. Wir stehen in der Schuld all derer, die an den Tagungen teilgenommen haben und die Diskussion mit Fragen, Kommentaren und Kritik bereichert haben (außer den Beiträgerinnen und Beiträgern des vorliegenden Bandes sind hier zu nennen: Dietrich Boschung, Remigius Bunia, Joelle Dumouchel, Johanna Gelberg, Karl-Joachim Hölkeskamp, Maha El Hissy, Torsten Hahn, Fabienne Imlinger, Anja Lemke, Milena Massalongo, Philip Manow, Antje Schnoor, Natalie Scholz, Gisela Trommsdorff und Arne de Winde). Wir bedanken uns bei Nicole Karczmarzyk (Luxembourg) für Ihre maßgebliche Hilfe bei der Organisation der Tagungen in Luxemburg und Köln. Besonde-rer Dank gilt dem Fonds National de la Recherche (FNR) für die großzügige Finanzierung im Rahmen des ATTRACT-Forschungs-projekts »Ästhetische Figurationen des Politischen« (2011–2015), die die Tagungen in Luxemburg und Köln sowie den vorliegenden Band erst möglich gemacht hat. Verpflichtet sind wir zudem dem Canada Research Chair Program und dem Deutschen Akademi-schen Austauschdienst, dem Centre canadien d’études allemandes et européennes der Université de Montréal sowie dem Internatio-nalen Kolleg Morphomata der Universität zu Köln. Für das Setzen der Beiträge danken wir Kathrin Roussel und Stefan Claudius.

Esch-Belval, Montréal und Köln im Frühjahr 2016

EINLEITUNG 21

KRISE

Sophie Uitz

QUESTION AUTHORITYHANNAH ARENDT UND DAS SCHEITERN DER FRAGE NACH AUTORITÄT

»It is as if one had to struggle each time anew to es-tablish the authority of the study of authority – as if one had to make a play, in fact, for a kind of original cut in the authority of authorship on the subject that endlessly reflects and undermines itself.« (Avital Ronell, Loser Sons)

In kritischer Ablehnung der Thesen der Frankfurter Schule hat sich Hannah Arendt in den 1950er und 60er Jahren wiederholt zu Autorität zu Wort gemeldet. Anstatt Autorität im Sinne antiautori-tären Denkens in Frage zu stellen, hat sie dazu aufgefordert, noch einmal eingehend zu fragen, was Autorität ist und was sie einmal war. Sie leitete die Notwendigkeit einer solchen Reevaluierung von der Behauptung ab, dass Autorität als vielfach verwechselter und missverstandener Begriff in seiner Bedeutung verkannt wird: Weil Autorität mit dem Anspruch auftritt, befolgt zu werden, wird sie als Form von Macht identifiziert und mit Zwang und Gewalt assoziiert: »Autorität jedoch schließt gerade den Gebrauch jeglichen Zwanges aus, und wo Gewalt gebraucht wird, um Gehorsam zu erzwingen, hat Autorität immer schon versagt.«1 Die römische auctoritas als etymologisches Fundament von Autorität hervorhebend und an-gelehnt an Montesquieus Kategorisierung politischer Herrschaft, entwickelte Arendt ein Narrativ von Autorität als politischem Phänomen, das nur abgegrenzt von Macht und Gewalt bestehen kann. Ihre Texte bezeugen den Versuch, Autorität und Gewalt

1 Hannah Arendt, »Was ist Autorität?« [1968], in: dies., Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, hg. von Ursula Ludz, München 1994, S. 159–200, hier: S. 159 f.

zu trennen – ein Versuch, der scheitern musste. Unwiderruflich hat poststrukturalistische Autoritätskritik die Unmöglichkeit und Unbegründbarkeit einer gewaltfreien Autorität markiert und auf die ursprüngliche Verflechtung von Legitimität, Gerechtigkeit und Gewalt verwiesen. Dazu zählen etwa die Reflexionen von Jean-François Lyotard über den Teufelskreis der Selbstautorisation (»j’ai autorité sur toi parce que tu m’autorises à l’avoir«) und den ins Unendliche reichende Zirkelschluss von Autorität und Autorisation (»l’autorisation autorise l’autorité«).2 Maßgeblich daran beteiligt war Jacques Derrida, der, unter Einbeziehung der Schriften von Michel de Montaigne und Blaise Pascal, an die unauflösliche Be-ziehung zwischen Autorität und Gewalt sowie von jeder Form der Legitimität zu Mythos und Fiktion erinnerte.3

Arendts Thesen widersprechen dieser Kritik vordergründig zwar fundamental, sie rücken bei genauerer Betrachtung aber auch in ihre Nähe, denn auch Arendt kann, wie ich zeigen möchte, Au-torität in ihrem Ursprung nicht von Gewalt trennen. Der Versuch, Autorität jenseits von Gewalt zu fassen, scheitert nicht zuletzt an dem Umstand, dass es die Frage ist, die Autorität begreifen will. Die Denkform des Fragens verursacht in der Auseinander-setzung mit Autorität Komplikationen und Kontaminationen, die an Derridas Aufforderung erinnern, »nicht allein die Geschichte des Begriffs Mensch, sondern die Geschichte des Kritikbegriffs selbst, ja noch die Form und die Autorität der Frage, die Form des Denkens als Befragung, kritischen Fragen auszusetzen.«4 Die fol-gende Relektüre von Arendts Texten über Autorität ist daher dem Fragen nach sowie dem in Frage Stellen von Autorität gewidmet. Im Scheitern der Beantwortung der Frage, was Autorität ist, in der Widersprüchlichkeit, den kollabierenden Abgrenzungen zur Gewalt, liegt das Potential der fragenden Suche nach Autorität beschlossen: Es eröffnet die Sicht auf die Kraft der Frage, die als solche bestehen bleiben muss, um Autorität in ihrer Unbegründ-barkeit zu destabilisieren und um den Nachweis bringen zu können,

2 Vgl. Jean-François Lyotard, The Differend: Phrases in Dispute, aus dem Französischen von Georges Van Den Abbeele, Minneapolis 1988.3 Vgl. Jaques Derrida, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«, aus dem Französischen von Alexander García Düllmann, Frankfurt a. M. 1991.4 Jacques Derrida, Die unbedingte Universität, aus dem Französischen von Stefan Lorenzer, Frankfurt a. M. 2012, S. 12.

26 SOPHIE UITZ

dass der Ausschluss von Gewalt aus dem Politischen nur unter den Vorzeichen der Fiktion möglich ist.

FRAGENDE (VER)SUCHE

Der Versuch einer Auseinandersetzung mit Autorität ist kompliziert, ganz gleich ob dieser über den Weg des fragenden verstehen Wollens oder den des in Frage Stellens unternommen wird. »The message is very simple: think for yourself and question authority«, heißt es in Timothy Learys Audioclip Think For Your Self.5 So prägnant wie selbstverständlich dieser Ausdruck einer sich als antiautoritär deklarierenden Generation auch formuliert worden ist, »very simple« ist es mit Autorität – sei die Begegnung konfrontativ oder nicht – keineswegs.

Avital Ronell hat Autorität als etwas beschrieben, das sich dem beobachtenden Blick und der beschreibenden Sprache nicht nur entzieht, sondern diese auch dominiert: »[A]uthority is difficult to track, impossible to monitor, discouragingly complicated to talk about. It stares down talk, dismissive of every effort to gain on it.«6 Im stillen Beisein dieser Komplikationen hat sich Hannah Arendt dem Befragen von Autorität gewidmet. Acht Publikationen und Vorträge, die sich inhaltlich zum Teil decken oder Übersetzungen darstellen, wurden unter immer wieder veränderten Titeln veröf-fentlicht. Wie ein eigener Text lesen sich die wandelnden Titel – ein Text, der die Schwierigkeit der Anrede, des Ansprechens von und des (Ver)sprechens eines Schreibens über Autorität ankündigt. Es herrscht in den Titeln ein Kommen und Gehen, ein Auf und Ab, ein Hin und wieder Zurück von und zu Fragen an und nach Autorität: Arendt beginnt über Autorität zu schreiben, als wäre sie in Beglei-tung eines Gespenstes, schreibt Ronell über die Unsicherheit, von der diese Texte durchzogen sind. Dieses Gespenst »has even eaten away at her title«.7

Eines der frühen Manuskripte, vorbereitet für eine Konferenz im Jahr 1955, trug den Titel »The Rise and Development of Totalita-rianism and Authoritarian Forms of Government in the Twentieth

5 In: Soundbites From the Counter Culture, Atlantic 1990.6 Avital Ronell, Loser Sons: Politics and Authority, Urbana 2012, S. 25.7 Avital Ronell, »Aggressive Coexistence or the Problem of Author-ity«, in: Aris Fioretos (Hg.), Babel. Für Werner Hamacher, Basel / Weil am Rhein 2009, S. 316–323, hier: S. 321.

QUESTION AUTHORITY 27

Century«. Dieser lange, maschinengeschriebene Titel hielt nicht lange, Arendt hat ihn händisch durchgestrichen und übrig blieb in großen Buchstaben das Wort AUTHORITY als Titel über dem Titel. Zwei Jahre davor hatte sie eine Vorlesung in New York unter dem Titel »Breakdown of Authority« gehalten und somit sowohl über Aufstieg und Entwicklung als auch über den Zusammenbruch von Autorität zu sprechen versprochen. Als Titel der späteren Publika-tionen über Autorität setzten sich aber zwei Fragen durch, die sich über ein Jahrzehnt immer wieder als Titel von Essays und Artikeln abwechselten: »Was ist Autorität?« und »Was war Autorität?«. Im Vorwort zum Sammelband Between Past and Future, in dem einer der Essays mit dem Titel »What is Authority?« erschienen ist, schreibt Arendt von etwas Mysteriösem, das den Rahmen für ihre Überlegungen bildet: Sie schickt den Essays die Beobachtung vo-raus, dass moderne Menschen sich in einer Welt befinden, in der sie nicht mehr in der Lage sind, Fragen zu stellen, geschweige denn Antworten zu geben. In den Versuchen, einen oder den adäquaten Titel zu finden, der als Frage passend und bedeutsam ist, hallt diese konstatierte Unfähigkeit, überhaupt noch bedeutsame Fragen zu stellen, beharrlich wider.

Der Verlust als Motiv und Anlass ist den Autoritätstexten ein-geschrieben: Im Kontext der Krise der Moderne und dem namentlich mit Nietzsche und Descartes in Verbindung gebrachten Ende der Metaphysik artikuliert Arendt als Ausgangspunkt ihrer Fragen an Autorität die Behauptung, dass Autorität als politischer Begriff sowie als erfahrbares Phänomen verloren gegangen ist. Sie ist aber nicht um die Rehabilitation von Autorität bemüht, sondern darum, zu fragen was es heißt, in einer postautoritären Welt zu leben:

»Meine Frage: Was ist Autorität?, geht also davon aus, daß abgesehen von den meines Erachtens unerheblichen Res-taurationsversuchen der Begriff der Autorität politisch kaum noch eine Rolle spielt [...]. Angesichts dieser Situation, in welcher die Präsenz von Autorität nicht mehr selbstverständ-lich ist, frage ich: [...] Welche Art von Welt ist eigentlich an ihr Ende gekommen, wenn nicht diese oder jene Autorität in diesem oder jenem Lebensbereich fragwürdig geworden ist, sondern wenn der Begriff der Autorität selbst seine Geltung verloren hat?«8

8 Arendt, »Was ist Autorität?« (wie Anm. 1), S. 169 f.

28 SOPHIE UITZ

Was heißt es, in postautoritären Zeiten zu fragen, was Autori-tät ist und was Autorität war? In mehrerlei Hinsicht treten die Fra-gen bei Arendt in den Modalitäten des Nachfragens in Erscheinung: als temporales nach, da sie in einer Welt nach Autorität gestellt werden; als nach im Sinne des Nachfragens, indem die Fragen in Form von immer wieder neuen Publikationen wiederholt werden und nachgefragt wird; als anstrebendes, sich zu etwas hin bewegen-des nach, das einer Richtung folgt und selbst eine solche vorgibt. Frommes, fragendes Denken, wie es Arendt von Heidegger kannte, »baut an einem Weg«,9 der, wie es bei Heidegger heißt, als Denk-weg durch die Sprache führt und eine freie Beziehung zu dem er-möglicht, wonach gefragt wird: dem Wesen oder der Was-heit. An diese Was-heit scheinen sich die Fragen im Titel zu richten – Was ist Autorität? Was war Autorität? In Sein und Zeit heißt es über die Struktur der Frage, dass jedes Fragen ein Suchen ist, das seine Di-rektion aus dem Gesuchten her hat: »Als Suchen bedarf das Fragen einer vorgängigen Leitung vom Gesuchten her.«10 Die suchende Frage kann demnach nicht losgelöst von ihrem Gefragten gestellt werden, da jedem Suchen eine Beziehung zu dem, wonach gesucht wird, vorausgeht. Frage und Gefragtes, Gesuch und Gesuchtes be-finden sich in einer Verstrickung. So ist alles »Fragen nach« auch »in irgendeiner Weise ein Anfragen bei« und in der Anfrage hallt die Anrufung, der Ruf an das Angefragte, der Anruf.11 Bereits in den Titeln der fragenden Versuche, Autorität begrifflich zu fassen, am Rand der Texte, beginnen sich so Register des Zweifels an der Möglichkeit des unvoreingenommenen Fragens nach Autorität abzuzeichnen. Kann überhaupt nach Autorität gefragt werden, ohne auch nach, im Sinne von um, Autorität zu fragen? Kann nach Autorität gesucht werden, ohne sie anzusuchen?

Die Verschränkung von Suche und Gesuch in der Struktur der Frage wiederholt sich in der Beziehung der Autorin zur Autorität. Als Objekt der Kontemplation, heißt es bei Ronell, verhält sich Autorität nicht still; sie hält den gebotenen Abstand zu all dem, worüber nicht

9 Martin Heidegger, »Die Frage nach der Technik« [1953], in: ders., Gesamtausgabe, Abt. 1, Bd. 7, hg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a. M. 2000, S. 7.10 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 2006, § 2, S. 5. 11 Vgl. Jacques Derrida, Vom Geist. Heidegger und die Frage, aus dem Französischen von Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1992, S. 17.

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kontempliert und vor allem zu denen, die kontemplieren, nicht ein. Wer eine Aussage über Autorität tre�en will, eine Frage an sie richten, wer sich ihr gegenüberstellt, begibt sich in eine Position, die bereits von dem konta- und determiniert ist, was zu beurteilen, zu befragen oder zur Rede zu stellen versucht wird. »Anyone who has written on authority, makes authoritarian claims.«12 Wer sich mit Autorität befasst, ist unvermittelt mit ihr in Berührung – »authority does not keep a distance.«13 Um die Thesen von und über Autorität vortragen zu können, musste Arendt zu einer Instanz werden, die Autorität von Nicht-Autorität zu unterscheiden weiß, musste sie zur Autorität über Autorität werden. Die Beziehung von Autorin und Autorität ist so sichtbar und unsichtbar in ihr Schreiben über Autorität eingraviert.

Während die Autorität der Sprache und des Sprechakts, der nie bloß beschreibt, sondern sich einschreibt, unangetastet und ebenso unangesprochen bleibt, wie die der Autorin eingeschriebe-ne Verwandtschaft zur Autorität, bekennt sich Arendt hinsichtlich des Gesuchs im Fragen nach Autorität zu einem politisch dringen-den Anliegen. Erstmals zu Papier gebracht im Kontext der Tota-litarismusstudien, schickt sie den Überlegungen zum Wesen der Autorität die politische Überzeugung voraus, dass die totalitären Katastrophen des 20. Jahrhunderts nur vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs aller traditionellen Autoritäten stattfinden konn-ten. Im Schatten der totalitären Verwüstung werde Autorität auf alarmierende Weise mit etwas verwechselt, das grundlegend von ihr zu unterscheiden sei und in vielen Aspekten ihr Gegenteil darstelle: »It is obvious« schreibt Arendt über ihre Ausführungen zu Autorität, »that these reflections and descriptions are based on the conviction of the importance of making distinctions.«14 Nichts durfte mit dem Totalitarismus des nationalsozialistischen Deutschlands und des stalinistischen Russlands verwechselt oder gar gleichgesetzt wer-den, denn die totalitären Regime waren keine Wiederholung oder Adaption von bekannten Herrschaftsformen, sondern etwas Neues, das die Welt zum allerersten Mal heimgesucht hatte.

12 Avital Ronell, »Have I been destroyed?«, Vortrag an der European Graduate School, Saas Fee, August 2009.13 Ronell, Loser Sons (wie Anm. 6), S. 35.14 Hannah Arendt, »Authority in the Twentieth Century«, Vortrag Mailand 1955, unveröffentlichtes Manuskript (The Hannah Arendt Papers at the Library of Congress: Speeches and Writings File, 1923–1975, n. d.).

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