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Olivier Roy...Säkularisierung ist nicht eine Konsequenz des religiösen Libera-lismus, sondern eine Folge der Trennung von Religion und Kultur bzw. von Religion und Politik; nicht

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Olivier Roy

Der islamische Weg nach WestenGlobalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung

Aus dem Englischen von Michael Bayer,Norbert Juraschitz und Ursel Schäfer

Pantheon

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier EOS liefert Salzer, St. Pölten.

Erste AuflageMai 2006

© 2004 by Olivier Roy© der deutschsprachigen Ausgabe 2006 by Pantheon Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, MünchenLektorat: Matthias Weichelt, BerlinSatz: Ditta Ahmadi, BerlinDruck und Bindung: GGP Media GmbH, PößneckPrinted in Germany ISBN 10: 3-570-55000-1ISBN 13: 978-3-570-55000-7

www.pantheon-verlag.de

Die französische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel »L’Islam mondialisé« bei Éditions du Seuil, Paris.Die Übersetzung folgt der erweiterten englischsprachigen Ausgabe,die 2004 unter dem Titel »Globalized Islam. The Search for a New Ummah« bei C. Hurst & Co Publishers Ltd., London, erschienen ist.Die deutschsprachige Ausgabe wurde vom Autor aktualisiert und überarbeitet.

SGS-COC-1940

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Inhalt

Vorwort 7

1 Der Islam – ein Weg nach Westen 15

2 Die Privatisierung der Religion 71

3 Muslimische Minderheiten in Europa 101

4 Triumph des religiösen Individualismus 153

5 Islam im Westen oder Verwestlichung des Islam? 199

6 Neofundamentalismus 229

7 Wege in den Terror 285

8 Eine Neuvermessung der Welt 321

Anmerkungen 339

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Vorwort

Gegenstand des vorliegenden Buches sind die sich veränderndenMuster der Religiosität unter Muslimen. Dabei ist die politische Ra-dikalisierung nur ein Teil des Gesamtbildes: Neue Trends und einetief greifende Evolution im Islam werden von der Gewalt überschat-tet, die mit dem radikalen Islam verknüpft ist. Doch gerade dieseTrends veranschaulichen in Wirklichkeit, wie der Islam sich an dieheutige Welt anpasst. Paradoxerweise laufen ausgerechnet die Radi-kalisierung der Jugend und das Aufkommen einer säkularisiertenund sogar liberalen Form des Islam, insbesondere die Individualisie-rung der Religion, nach dem gleichen Muster ab. Tatsächlich sinddie widersprüchlichen Auffassungen des Islam (Radikalismus, Neo-fundamentalismus und Liberalismus) nur unterschiedliche Antwor-ten auf seine umfassende Globalisierung und weitgehende Verwest-lichung. Der gegenwärtige islamische Fundamentalismus, der imWesten häufig als Reaktion einer massiv unter Beschuss geratenentraditionellen Kultur angesehen wird, ist in Wirklichkeit – so lautetmeine These – das deutlichste Zeichen der Entwurzelung und derSäkularisierung.Nicht etwa weil die Menschen sich immer mehr vonder Religion abwenden, sondern weil der religiöse Raum eine Sphäreist, die sich von der allgemeinen Öffentlichkeit immer mehr abkap-selt. Die Bemühungen, die Gesellschaft zu »re-islamisieren«, bedeu-ten im Grunde nichts anderes, als dass religiöse Eiferer sich Gedan-ken darüber machen, dass sie in einem säkularen Umfeld leben.

Säkularisierung ist nicht eine Konsequenz des religiösen Libera-lismus, sondern eine Folge der Trennung von Religion und Kulturbzw. von Religion und Politik; nicht in dem Sinn, dass Religionkeine Rolle spielen würde, sondern dass Religion nicht mit Kulturund Politik gleichgesetzt wird. Die alte Losung »Im Islam gibt es kei-nen Unterschied zwischen Religion und Politik« wird desto lauterpropagiert, je klarer der Unterschied zwischen den realen religiösenund politischen Praktiken zutage tritt. In der Folge lassen sich auchviele Formen des Fundamentalismus mit Säkularisierung vereinba-

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ren, selbst wenn die Beziehungen zwischen Glaubenseiferern undSäkularisten angespannt sind. Die christliche Rechte, der HeiligeStuhl und die salafistischen (nicht-dschihadistischen) oder kon-servativen Muslime sind gute Beispiele dafür. Mit dem Wechsel voneiner »Kirche« zur »Glaubensgemeinschaft« wird die Säkularisie-rung gewissermaßen anerkannt, weil Gläubige sich als eine Minder-heit betrachten (selbst wenn sie etwa in den USA oder in der Türkeirein zahlenmäßig die Mehrheit bilden könnten).

Weit verbreitet, aber falsch ist die Vorstellung, dass Verwestli-chung per definitionem auch eine liberalere und offenere Theologie,also eine Reformation, mit sich bringt. Zumal man sich auch vor Augen halten muss, dass Reformationen nicht unbedingt liberalsein müssen. (Kann man Calvin »liberal« nennen?) Modernität be-deutet in diesem Fall einen Wandel in der Beziehung zwischen demIndividuum und der Gesellschaft, wobei die Betonung auf dem In-dividuum und seinem Glauben liegt, nicht auf der gesellschaft-lichen Ordnung. Veränderte Muster der Religiosität setzen nichtzwangsläufig eine Form der theologischen Reformation voraus.(Die katholische Kirche hat keine einzige religiöse Reformationdurchlaufen, aber gewaltige Veränderungen in ihrer Beziehung zurweltlichen Sphäre erlebt, und zwar nicht unbedingt hin zu mehr Li-beralismus, wie wir heutzutage beobachten können.) Der Islamwird also in der Tat modernisiert, aber das geschieht anhand ganzunterschiedlicher Formen: vom Liberalismus über einen morali-schen Konservatismus bis hin zum Radikalismus.

Der Wandel, den wir im Islam verfolgen, führt zu ähnlichenStrukturen wie die Entwicklung, die wir im Christentum beobach-ten: Es ist kein Wandel im theologischen Korpus, sondern in der Re-ligiosität, der Beziehung zwischen dem Gläubigen und der Religion.Dies wiederum ist die Folge einer allmählichen Dekulturation, dasheißt der kulturellen Entwurzelung und der Individualisierung derReligion. Dieser Prozess vollzieht sich insbesondere unter Musli-men, die im Westen leben: Die Religion hat ihre gesellschaftlicheAutorität verloren und ist nicht länger in eine bestehende Kultureingebettet. Die Kulturen der Herkunftsländer verblassen allmäh-lich oder werden mit rein religiösen Begriffen neu geprägt (»musli-mische« Kultur statt »arabische« oder »pakistanische« Kultur). Umihre Identität mit religiösen Begriffen neu besetzen zu können, nei-

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gen Gläubige dazu, religiöse Merkmale von kulturellen zu trennen:Begriffe wie »halal« oder »hijab« können in unterschiedliche kultu-relle Rahmenbedingungen eingepasst werden. (Ein halal-Fastfood-Händler etwa verkauft westliche, aber nach religiösen Vorschriftenzubereitete Fertiggerichte.)

In Deutschland erweist sich die türkische Identität der eingewan-derten Bevölkerung als besonders resistent: Die Sprache wird vielstärker beibehalten als das Arabische in Frankreich oder Urdu inGroßbritannien. Aber auch hier treten die gleichen Phänomenebeim Aufbau einer rein religiösen Identität auf. Dies zeigt sich etwaam Beispiel der Bewegung Milli Görüs,, die nicht länger ein An-hängsel einer religiösen Partei in der ganzen Diaspora, sondern fürdie Muslime in Deutschland zu einer echten religiösen Bewegunggeworden ist. Doch die Besonderheit der türkischstämmigen Bevöl-kerung, die in Deutschland und Europa lebt, hängt zweifellos mitdem Umstand zusammen, dass das Land ihrer Herkunft, die Türkei,gerade eine Verwestlichung des Islam anstrebt, was vor allem vonder regierenden AK Partisi (Gerechtigkeits- und Entwicklungspar-tei) verkörpert wird. Das Paradox dieser Entwicklung besteht darin,dass bei einem Teil dieser Bevölkerung türkischer Abstammung, diein Europa lebt, insbesondere bei bäuerlichen Türken aus dem Süd-osten, sich Formen der »Retraditionalisierung« (Endogamie, Eh-renmorde) bewahrt haben, die sie mit ihrer neuen Heimat Deutsch-land ebenso in Widerspruch bringen wie mit der heutigen Türkei.Die Autonomisierung der religiösen Sphäre und die Entstehung neo-ethnischer Identitäten, die stärker vom sozialen Status als von derSprache oder der Kultur des Herkunftslandes abhängig sind, sindauch in der türkischen Bevölkerung Deutschlands zu beobachten.

Die Entwurzelung der Religion erklärt auch weitgehend diewachsende Zahl der Konversionen: Der Übertritt zu einer anderenReligion fällt leichter, wenn man nicht die eigene Kultur zugunsteneiner anderen aufgeben muss – weil die Kultur nicht mehr dieHauptsache ist. Natürlich sind Übertritte zum Islam in großemMaße publik gemacht worden, angefangen bei den prominentenKonvertiten selbst, von Mohammed Ali bis hin zu Yusuf Islam. Fastunbemerkt, aber immer häufiger kommt es jedoch zu Übertrittenvom Islam zum Christentum, meist zum evangelischen Protestan-tismus (oder Religionsgemeinschaften wie den Zeugen Jehovas): Im

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ehemals sowjetischen Zentralasien (beispielsweise in Kirgisistan) istdieses Phänomen recht oft zu beobachten, es tritt aber auch in Nord-afrika, Albanien und unter europäischen Muslimen der zweiten Ge-neration auf. Der Wechsel zwischen den Konfessionen geht einhermit Migration und kultureller Entwurzelung. (Die Masse der spani-schen Protestanten wird mittlerweile von eingewanderten Latein-amerikanern gestellt, die in Spanien konvertierten.)

Aber bemerkenswerterweise wirken sich diese Trends (Indivi-dualisierung, kulturelle Entwurzelung) auch auf traditionelleremuslimische Gesellschaften aus. In diesem Buch wird nicht der »Islam im Westen« dem »Islam im Osten« gegenübergestellt. DerErfolg des »Salafismus« von London bis Peschawar verdeutlicht,dass islamische religiöse Fundamentalisten überall explizit traditio-nelle Kulturen angreifen und die Gründung einer reinen Glaubens-gemeinschaft fordern – genau wie evangelische Protestanten, aberauch, erstaunlicherweise, die katholische Kirche, die ebenfalls neueTrennlinien zwischen Gläubigen und Nichtgläubigen zieht. Natür-lich »ersetzen« diese neuen Muster der Religiosität nicht einfachherkömmlichere Formen des Islam. Daher erhebt dieses Buch auchnicht den Anspruch, das Thema des Wandels und der Kontinuitätim Islam erschöpfend zu behandeln.

Die Glaubensgemeinschaft entwickelt sich immer stärker zu einer virtuellen Gemeinschaft, innerhalb derer Gläubige in lokalenKongregationen oder im globalen Raum zusammenkommen. Dievirtuelle Umma bedeutet eine globale, nicht eine territoriale undabstrakte Gemeinschaft der Gläubigen, die mit keiner realen Gesell-schaft verbunden ist. Hoch im Kurs steht eine derartige Ummanatürlich bei den Radikalen, die darin das gefunden haben, was ihreultralinken Vorläufer (Baader-Meinhof, Roten Brigaden) im inter-nationalen Proletariat entdeckt hatten. Aber auch andere Muslime,liberale oder konservative, beziehen sich darauf. Diese Umma ist allerdings längst keine bestimmte Gesellschaft mehr, sondern einabstraktes Konstrukt. Für viele entwurzelte oder entrechtete jungeMuslime bietet das Internet die Möglichkeit, diese virtuelle UmmaRealität werden zu lassen.

Ein gutes Beispiel bietet der Konflikt um die dänischen Karikatu-ren, der zu Beginn des Jahres 2006 die Nachrichten in Europa domi-nierte. Häufig wurde die Auseinandersetzung als Ausdruck eines

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»Kampfes« der Kulturen dargestellt, zwischen einem liberalen Westenauf der einen Seite und einem Islam, der die Meinungsfreiheit unter-drückt,auf der anderen. Dabei lässt sich an der Ausbreitung des Pro-testes innerhalb der muslimischen Welt vor allem ablesen, in wel-chem Ausmaß wir es mit einem »globalisierten Islam« zu tun haben.

Doch der Konflikt entwickelte sich vor allem entlang uralter Kli-schees: ein archaischer, homogener Islam, unfähig zur Reform undauf den Nahen Osten zentriert, gegenüber einem modernen, demo-kratischen und säkularisierten Westen. Dabei zeigt eine sorgfältigereAnalyse der Debatte eigentlich, dass die Globalisierung des Islamkeineswegs die Ausdehnung einer muslimischen Gemeinschaft aufdie ganze Welt bedeutet, sondern eine Veränderung der Beziehungzur Religion und eine immer stärkere Lösung von den Kulturen undKrisen des Nahen Ostens.

Vor allem aber sind die Muslime in Europa, im Gegensatz zudem, was die Schlagzeilen der Presse vermuten ließen, nicht auf dieStraße gegangen und nicht gewalttätig geworden,wenn man von denDrohungen einiger Hundert Fanatiker absieht. Ein paar TausendDemonstranten in ganz Europa bei einer Bevölkerung von gut zwölfMillionen nomineller Muslime – das ist sehr wenig. Eine politischeMobilisierung der europäischen Muslime fand nicht statt. Im Na-hen Osten ist es freilich zu gewaltsamen Demonstrationen gekom-men, aber diese waren allesamt in lokale politische Kontexte einge-bunden, die ohnehin ein gespanntes Verhältnis zu Europa haben.Sie wurden von den jeweiligen Regimen oder Bewegungen instru-mentalisiert (Syrien, Afghanistan, Pakistan). In anderen Ländernsind nur wenige den Demonstrationsaufrufen gefolgt, und sie sindim Allgemeinen friedlich geblieben (Marokko, Indonesien, Türkei).

Doch diese Geiselnahme des Islam in Europa durch Regime undBewegungen des Nahen Ostens wird von der Mehrheit der europäi-schen Muslime immer weniger unterstützt: Es ist interessant zu be-obachten, dass die großen Organisationen in Wirklichkeit sogar aufDistanz zu den Polemiken gegen die Karikaturen gegangen sind. (Esgenügt, einen Blick auf die Website von Milli Görüs, in Deutschlandzu werfen, http://www.igmg.de.) Gerade der Karikaturenstreit ver-anschaulicht, dass der Islam nicht länger einen Platz als fremdartigeKultur anstrebt, sondern im Gegenteil als »reine« Religion akzep-tiert werden will. Die Forderungen der Muslime Europas gelten we-

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niger dem Respekt gegenüber einer kulturellen Eigenart, sonderndrücken ihren Wunsch nach Gleichbehandlung aus. Zu Recht oderzu Unrecht denken viele Muslime, dass die westliche Öffentlichkeitsich Angriffe gegen den Islam erlaubt, wie keine einzige große Ta-geszeitung sie sich gegen das Christen- oder Judentum herausneh-men würde (natürlich abgesehen von speziellen Satirezeitschriften).

Aber vor allen Dingen bringen diese Proteste keine muslimischeBesonderheit zum Ausdruck. Sie erfolgen im Rahmen von zwei Ten-denzen: einerseits dem Anspruch von Bevölkerungsgruppen, ihreIdentität gesetzlich geschützt zu sehen, ob es sich nun um rassische,ethnische oder religiöse Gruppen handelt, andererseits dem Willen,einen heiligen Raum anerkennen zu lassen. Die unzähligen Geset-zesvorhaben, die eine bestimmte Gruppe gegen Beleidigungen, Dis-kriminierungen und Angriffe schützen, sind auf keinen sonder-lich heftigen Widerstand gestoßen, außer bei einigen Historikern.In Wahrheit geht die Globalisierung mit der Verbreitung neuerGruppenidentitäten einher, mit dem Aufkommen von »Glaubens-gemeinschaften«, die mit traditionellen Ethnien oder Kulturennichts mehr zu tun haben. Und diese neuen Gemeinschaften wollenihre rein religiöse Identität verteidigen: Sie versuchen nicht, denStaat oder die öffentliche Meinung zu kontrollieren, sondern sinddarauf aus, ihre Identität und ihren Raum anerkennen zu lassen,einen Raum, der nicht länger an ein Territorium gebunden ist.

Um diese Frage dreht sich gegenwärtig die Diskussion im Wes-ten: Bis zu welchem Grad kann der sakrale Raum einen besonderengesetzlichen Schutz beanspruchen, wenn es zum Beispiel um Blas-phemie geht? Das führt zu einer grundlegenderen Debatte über die Grenzen der Freiheit. Es ist nicht weiter verwunderlich, dass religiöse Konservative, seien es nun christliche, jüdische oder musli-mische, immer häufiger Beschränkungen fordern, wenn es um Ab-treibung, Eheschließungen zwischen Homosexuellen, Fragen derBioethik oder Gotteslästerung geht. Es kann auch nicht erstaunen,dass der Vatikan, das Rabbinat und die Synode der protestantischenLandeskirchen in ihren Erklärungen Verständnis für die Empörungder Muslime äußerten. Diese Debatte um Werte konfrontiert nichtden Westen mit dem Islam, sie findet im Innern des Westens selbststatt. Und man sieht, wie beispielsweise in den Vereinigten Staaten,dass die eigentlichen Unterschiede in der Politik viel stärker auf

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Werten beruhen als auf der Wirtschaft, den Institutionen oder derAußenpolitik.

Wie lauten also die Antworten auf die gegenwärtige Krise? Esgeht nicht darum, die Krise im Nahen Osten zu lösen, sonderndarum, den Prozess der Entwurzelung und der Auffassung des Islamals einer »reinen« Religion zu begleiten. Das heißt, dem Islam imWesten einen Platz einzuräumen als einer westlichen Religion unter anderen, nicht als Ausdruck einer ethnokulturellen Gemein-schaft. Das ist der eigentliche Prozess der »Säkularisierung«, dernichts mit theologischer Reformation zu tun hat. (Kann man diebeiden letzten Päpste »liberal« oder gar »protestantisch« nennen?)Allerdings könnte dieser Vorgang eine theologische Debatte nachsich ziehen, wie es im Zuge einer fast zwangsweisen Säkularisierungder katholischen Kirche im kontinentalen Westeuropa der Fall war.(Das Aufkommen der Christdemokratie, die der vollen Akzeptanzder Demokratie durch die Kirche entspricht, war eine Konsequenzund nicht eine Voraussetzung für den Prozess der Säkularisierung.)Politische Behörden sollten nicht so sehr nach traditionellen undgemäßigten religiösen Denkern aus dem Nahen Osten Ausschauhalten, um westliche Muslime zu besänftigen, noch sollten sie staat-liche Mittel bereitstellen, um einen »zivilen« oder »liberalen« Islamzu fördern. Sie sollten einfach Raum für den Islam schaffen, ohneGesetze oder Grundsätze zu ändern. Ein echter Pluralismus ist derbeste Weg, um Konflikte mit der muslimischen Bevölkerung zu ver-meiden, die ihrerseits zwar sehr vielfältig ist, sich aber in eine gettoi-sierte Gemeinschaft gepresst fühlen könnte. Konservative und so-gar fundamentalistische Anschauungen in puncto Religion sind in einem pluralistischen Umfeld steuerbar, wie schon eine Fülle pro-testantischer, katholischer und jüdischer Fälle demonstriert hat. ImRahmen eines pluralistischen Ansatzes hat die Zivilgesellschaft dieMöglichkeit, jene Jugendlichen zu erreichen, die ansonsten idealeAdressaten für radikale und neofundamentalistische Gruppierun-gen abgeben. Die Politik des Staates sollte sich auf Integration undAnerkennung der Muslime auf einer pluralistischen Basis stützen.Oberste Priorität sollte es sein, die Eingliederung des Islam zu för-dern und eine weitere Gettoisierung zu vermeiden.

Olivier RoyDreux, im März 2006

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1 Der Islam – ein Weg nach Westen

Das Scheitern des politischen Islam

Dieses Buch schließt an mein früher erschienenes Failure of PoliticalIslam an (erste Auflage auf Französisch 1992 und auf Englisch1994)1. Dort habe ich die These vertreten, dass die Programmatikder islamistischen Parteien keine geeignete Blaupause für einen isla-mistischen Staat bereithält. Ich folgerte, den islamistischen Bewe-gungen gehe allmählich der revolutionäre Schwung aus, und sieseien nun an einem Scheideweg angelangt: Sie müssten wählen zwi-schen politischer Normalisierung im Rahmen des modernen Natio-nalstaats oder einer, wie ich es nannte, neofundamentalistischenEntwicklung hin zu einer geschlossenen, buchstabengläubigen, kon-servativen Lesart des Islam, die nationalstaatliche Lösungen ablehntzugunsten der Umma, der weltweiten Gemeinschaft aller Muslimeauf der Grundlage der Scharia, des islamischen Rechts.

Auf den ersten Blick ist der Neofundamentalismus weniger poli-tisch ausgerichtet als die islamistischen Bewegungen – weil es dabeimehr um die Durchsetzung der Scharia geht als um die Definitiondes wahrhaft islamischen Staates. Das abgelaufene Jahrzehnt scheintdiese Einschätzung bestätigt zu haben. Zehn Jahre nach dem über-wältigenden Wahlsieg der Islamistischen Heilsfront (FIS, Front Isla-mique du Salut) in Algerien brachte ein neues Aufbegehren breiterVolksschichten im Frühjahr 2001 Hunderttausende junger Demons-tranten auf die Straßen von Algier und der Berberstädte in der Ka-bylei. Auffallenderweise fehlten Parolen, die einen islamistischenStaat forderten, stattdessen riefen die Demonstranten »Freiheit«und »Demokratie«. Seit der zweiten palästinensischen Intifada, dieim Herbst 2000 begann, fällt es zudem immer schwerer, zwischen einem Kämpfer der islamistischen Hamas und einem mutmaßlichweltlichen Mitglied der Fatah zu unterscheiden. Die Entwicklungder FIS in Algerien, der Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) in der Tür-

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kei, der Nahda in Tunesien und der Liberalen im Iran zu wenn nichtwirklich demokratischen, so doch zumindest parlamentarischenBewegungen – die Wahlen, politische Koalitionen und Demokratiebefürworten und sich für die Verteidigung der »Zivilgesellschaft«gegenüber autoritären Regimen und konservativen Religionsfüh-rern einsetzen – ist Beweis genug, dass viele islamistische Gruppenzu »normalen« nationalen Parteien geworden sind und dass nichtdie Islamisten per se das Haupthindernis für die Demokratie dar-stellen, sondern die vom Westen unterstützten und mehr oder we-niger säkularen autoritären Regime in der muslimischen Welt.

Ungeachtet seiner inneren Dynamik lässt der Islamismus (alsAufbau eines islamistischen Staates) viele Muslime kalt. Sie wollensich nicht auf ein solches Projekt einlassen, weil sie entwurzelte Mi-granten sind und/oder eine Minderheit in einem Staat bilden. DieseMuslime erleben die Entterritorialisierung des Islam. Wenn sie sichder religiösen Wiedergeburt zuwenden, sind andere Wege attrakti-ver für sie, auch der Neofundamentalismus.

Der Neofundamentalismus kommt bei der entwurzelten mus-limischen Jugend an, besonders bei Immigranten der zweiten unddritten Generation in westlichen Staaten. Obwohl nur eine kleineMinderheit betroffen ist, bringt dieses Phänomen neue Formen derRadikalisierung hervor, wie die Unterstützung von Al Qaida, aberauch einen neuen sektiererischen Diskurs, der Multikulturalität alsein Mittel propagiert, die Integration in die westliche Gesellschaftabzulehnen. Diese Muslime identifizieren sich nicht mit einem be-stimmten Nationalstaat, ihnen geht es vor allem darum, islamischeNormen in muslimischen Gesellschaften und bei muslimischenMinderheiten durchzusetzen und für die weltweite muslimischeGemeinschaft, die Umma, zu kämpfen. So praktizieren sie gelegent-lich jene Art von internationalistischer, gegen die westliche Welt ge-richteter dschihadistischer Militanz, die zuvor das Markenzeichendes Islamismus war. Die in jüngster Zeit zu beobachtende politischeRadikalisierung des konservativen Islam (verkörpert durch die Tali-ban) verwischt die Grenzen zwischen gemäßigten Konservativenund Radikalen. Die Ausbreitung eines radikalen, militanten Neo-fundamentalismus erfolgte parallel zu zwei ausgeprägten Trends: Inder muslimischen Welt entstanden Netzwerke mehr oder weni-ger privater Medresen (Religionsschulen) mit Lehrplänen auf der

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Grundlage des salafistischen oder wahhabitischen Islam. Zudemverstärkte die Auswanderung erheblicher muslimischer Bevölke-rungsanteile die Entterritorialisierung. Die strategische Partner-schaft zwischen Mullah Omar und Osama Bin Laden ist ein gutesBeispiel für diese Neuordnung und die Auflösung der Grenze zwi-schen modernen, gebildeten Islamisten und traditionellen ulema.

In diesem Buch behandle ich hauptsächlich zwei Themen, denPost-Islamismus und den globalisierten Islam, und für beide ist dieEntterritorialisierung zentral. In der post-islamistischen Gesellschafthat die islamistische Parenthese (im Sinne eines zeitlich befristetenExperiments) die Beziehungen zwischen Islam und Politik starkverändert, weil sie im Namen der Religion der politischen Sphäregegenüber der religiösen den Vorrang gegeben hat. Das paradoxeErgebnis der übermäßigen Politisierung der Religion durch den Is-lamismus sieht so aus, dass das religiöse Gefühl der Muslime nachautonomen Räumen und Ausdrucksmitteln jenseits oder unterhalbder Politik sucht und auf diese Weise widersprüchliche Formen derReligiosität nährt, vom Ruf nach Verbreitung der Scharia bis zurWiederbelebung des Sufismus. In diesem Sinne ist der Neofunda-mentalismus nur eine von vielen Formen der religiösen Erneue-rung, die hier allerdings im Mittelpunkt unserer Analyse stehen soll.

Die gegenwärtige religiöse Erneuerung des Islam betrifft mehrdie Gesellschaft als den Staat und spricht die spirituellen Bedürf-nisse des Einzelnen an. Das führt zu vielfältigen Ausdrucksformenim religiösen Diskurs und in der religiösen Praxis, die gleicher-maßen mit gesellschaftlichen Bewegungen wie mit Gruppen- undindividuellen Strategien zu tun haben. Der islamistische Mythoshandelte von der Zusammenführung von Religion und Politik;Post-Islamismus bedeutet, dass die beiden Sphären autonom sind,auch wenn die jeweiligen Akteure (Fundamentalisten und Säkula-risten) sich etwas anderes wünschen.2 Der Post-Islamismus bringtnicht den Niedergang der Religion, sondern ist Ausdruck einerKrise in der Beziehung von Religion und Politik und in der Bezie-hung von Religion und Staat. Eben darin spiegeln sich der Trend zurAuflösung der religiösen Identität und Autorität, das Aufblühenneuer, anderer Formen von Religiosität, die sich möglicherweise an-tagonistisch zueinander verhalten, und paradoxerweise das Verwi-schen der Grenzen zwischen christlicher und muslimischer Religio-

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sität (aber natürlich nicht der Glaubensinhalte). Das geht einhermit der Verstärkung »imaginierter Identitäten«, von Konfessionenbis zu konstruierten neo-ethnischen oder sogar rassischen Gemein-schaften. Ein Asiat ist in Großbritannien ein Südasiat, oft ein Mus-lim, in den Vereinigten Staaten hingegen ist er jemand mit Schlitz-augen. Ein Kaukasier in Moskau hat dunkle Haut, ein Kaukasier in Washington hingegen helle Haut, ein beur (Nordafrikaner) inFrankreich ist ein Araber unter dreißig, der in einem ärmeren Vier-tel lebt, während ein gleichaltriger saudischer Prinz in Paris einfachnur ein saudischer Prinz ist.

Post-Islamismus impliziert nicht notwendigerweise das Her-vortreten einer säkularisierten Gesellschaft. In erster Linie geht esdarum, die Autonomie des politischen Bereichs, den Kampf um dieMacht, die Logik der nationalen oder ethnischen Interessen undden Vorrang der Politik gegenüber der Religion zu bekräftigen. Diesbedeutet, dass selbst in einem »islamischen« Staat wie Iran die Poli-tik über Status und Rolle der Religion entscheidet. (Ali Khameneiwird als Großayatollah bezeichnet – höchste religiöse Autorität,Führer der Islamischen Republik –, weil er von einem politischenGremium ernannt wurde, der höchsten politischen Autorität desLandes, und nicht umgekehrt.) So setzt die Politik die Bedingungenfür die Säkularisierung, und sei es wie in diesem Fall durch dasBemühen, eine autonome Sphäre für die Religion abzugrenzen voreiner alles durchdringenden Politisierung der religiösen Sphäre.Selbst offenkundig »fundamentalistische« Bewegungen können mitpolitischen Begriffen beschrieben werden: Die Taliban waren imKern eine ethnische Bewegung der Paschtunen, und die Konservati-ven im Iran sind eine post-revolutionäre Elite, die nationalistischeRegungen mobilisiert, um Machtpositionen zu verteidigen.

Anders als in Europa, wo die Säkularisierung eine Gegenreaktionauf die erdrückende ideologische Vorherrschaft der Religion dar-stellte, beobachten wir in der muslimischen Welt, wie eine Religion,die fast jeder als vorherrschend ansieht, versucht, mit ihrer de factoerfolgten politischen Marginalisierung fertig zu werden. Die Tat-sache, dass jeder Politiker Lippenbekenntnisse zum Islam ablegenmuss, macht den Islam noch lange nicht zu einem dominierendenpolitischen Faktor. Das Klischee, das behauptet, im Islam gebe es dieTrennung zwischen Politik (oder Staat, dawlat) und Religion (din)

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nicht, soll lediglich die Behauptung stützen, dass die Schwierigkeit,im Islam Staat und Religion zu trennen, die Vormacht der Religionim gesellschaftlichen und im politischen Bereich begünstige. Dem-gegenüber vertrete ich die These, dass genau das Umgekehrte richtigist: Die Schwierigkeit dieser Trennung wirkt sich in vielfältigerWeise zugunsten der Politik aus. Die gegenwärtige Welle der Re-Is-lamisierung ist eine, wenn auch unbewusste, Suche nach einer auto-nomen Position der Religion in einer bereits säkularisierten Gesell-schaft. Wir fragen, warum der Islam nicht die Aufklärung erlebt hat,die in Europa im 18. Jahrhundert das Verhältnis von Politik und Re-ligion neu gestaltete, aber wir nehmen nicht zur Kenntnis, wie sichder Islam an moderne westliche Formen der Religionsausübung an-passt. Man braucht nicht zu hoffen, dass muslimische Gesellschaf-ten den gleichen Prozess der Säkularisierung durchlaufen könntenwie westliche Gesellschaften, denn die Alltagsbeziehung zwischenReligion und Politik ist eine andere. Der Unterschied besteht nichtdarin, dass die Religion in muslimischen Ländern einen überwälti-genden Einfluss auf die Politik hätte, sondern in der Dominanz po-litischer (und gesellschaftlicher) Antriebskräfte und Akteure (nichtunbedingt des Staates). Sie können mit einer nach innen gewand-ten, erstarrten Religion gut leben, weil sie die Religion instrumenta-lisiert haben. Von Algerien über Tunesien bis in die Türkei propa-gieren die säkularen Staatswesen nicht eine kritische, reformistischeReligion, sondern eine konservative und willfährige. In dieser Hin-sicht unterscheiden sich säkulare Staaten nicht sehr von Saudi-Arabien: Kritik von der Kanzel (minbar) ist verboten. Demokrati-sierung bringt mehr Freiheit für die Religion, sie ist nicht damit ver-einbar, dass der theologischen Debatte und den unterschiedlichenAusdrucksformen von Religiosität Zügel angelegt werden.

Die vielfältigen Arten der Wiederbelebung der Religion in musli-mischen Gesellschaften umgehen oder übergehen den Staat. Das istauch der Fall, wenn es keinen Staat gibt, für den gekämpft wer-den kann, oder wenn die Muslime eine Minderheit bilden, die wo-möglich gespalten und ohne Zusammenhalt ist. In diesen Fällen unterstützt die Islamisierung die Privatisierung des Glaubens, die Bildung abgeschotteter religiöser Gemeinschaften, den Zusammen-schluss pseudo-ethnischer und kultureller Minderheiten, die Iden-tifizierung mit westlichen Formen von Religiosität oder mit der

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Entscheidung für eine neue Form radikaler Gewalt, wie sie Al Qaidaverkörpert. Es besteht eindeutig eine Beziehung zwischen der zu-nehmenden Entterritorialisierung des Islam (das heißt der wach-senden Zahl von Muslimen, die in westlichen nicht-muslimischenLändern leben) und der Verbreitung bestimmter Formen von Reli-giosität, vom radikalen Neofundamentalismus bis zu einer Erneue-rung der Spiritualität oder der Betonung, dass der Islam ein Systemvon bestimmten Werten und ethischen Prinzipien darstellt.

Ich beabsichtige freilich nicht, einen wissenschaftlichen Über-blick über neue Formen der Religiosität unter Muslimen zu geben.Und das Buch ist auch keine Abhandlung über religiöse Anthropo-logie. Ich möchte vielmehr, um es einfach auszudrücken, ein paarneue Türen für die intellektuelle Erkundung öffnen. Was wir unter»neuen Formen der Religiosität« verstehen, impliziert weder auto-matisch die »Reformation« des Islam im Sinne der protestantischenReformation im 16. Jahrhundert, noch schließt sie diese aus. Denndie »Re-Islamisierung« hat nicht die Überprüfung grundlegenderreligiöser Lehrsätze zur Folge. Die neuen Formen der Religiosität,die hier untersucht werden, haben mehr mit dem Wandel der Reli-giosität zu tun, der im Christentum Ende des 20. Jahrhunderts zubeobachten war, noch präziser gesagt, mit der Vorherrschaft der Re-ligiosität (als Selbstausdruck und Formulierung eines persönlichenGlaubens) gegenüber der Religion (einem kohärenten Korpus vonGlaubenslehren und -überzeugungen, die kollektiv von einem Gre-mium legitimer Inhaber des Wissens verwaltet werden). Bei der Religiosität liegt die Betonung auf den Glaubensinhalten (wie inchristlichen charismatischen Bewegungen), es geht um Selbstver-vollkommnung, um die Bildung einer religiösen Gemeinschaft aufder Grundlage der individuellen Verpflichtung des Gläubigen in einer säkularen Umgebung (deshalb die vielen Sekten), um die per-sönliche Suche nach einem unmittelbar zugänglichen, von etablier-ten religiösen Autoritäten unabhängigen Wissen, um das Nebenein-ander von fundamentalistischen Einstellungen zum Recht (Gott zugehorchen bei allem, was der Alltag bringt) einerseits und Synkretis-mus sowie spirituellem Nomadentum andererseits, um den Erfolgvon Gurus und selbst ernannten religiösen Führern und so weiter.3

Der Islam entgeht der religiösen New-Age-Welle nicht und kannsich die Form seiner Modernisierung nicht aussuchen.

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Wie wir weiter unten sehen werden, sind Neofundamentalis-mus und radikale Gewalt eher mit Verwestlichung als mit einerRückkehr zum Koran verbunden. Kurz gesagt: Wir nähern uns demIslam transversal, durch einen Vergleich mit der westlichen Welt,und nicht diachron, indem wir etwa durch den Blick in die Ge-schichte die Wurzeln für den »Zorn der Muslime« zu ergründenversuchen.

Dieser Ansatz stellt uns vor ein methodisches Problem: WelcheMuslime und welchen Islam meinen wir? Wir verwenden in diesemBuch viele Begriffe wie Islamismus, Neofundamentalismus, Salafis-mus, humanistischer Islam, Spiritualismus, Säkularismus, Globali-sierung und Verwestlichung. Wo sollen wir anfangen, wenn wir diekomplexen, vielschichtigen Religionspraktiken von mehr als einerMilliarde Muslime untersuchen wollen, die unter ganz verschiede-nen gesellschaftlichen, kulturellen und geographischen Bedingungenleben? Wie können wir eine bestimmte Haltung als »muslimisch«oder »islamisch« identifizieren? Gibt es soziologische Erkenntnisseund Daten, die unsere Klassifizierungen und vor allem die Art undWeise stützen, wie wir diese bestimmten Gruppen von Menschenzuschreiben? Solange wir uns auf dem Feld der Politikwissenschaftbewegen, können wir solche kritischen Einwände zurückweisen: Is-lamistische Bewegungen sind organisiert, sie haben eine Ideologie,ein Programm und offizielle Veröffentlichungen, sie nehmen ampolitischen Leben teil, ihre Führer (die sich schriftlich und münd-lich äußern) sind bekannte öffentliche Personen. Es gibt (manch-mal) Wahlen, Meinungsumfragen, Demonstrationen, (öfter) Ver-haftungen und Prozesse. Wir können uns auf statistische Daten,Biographien, Texte und Interviews stützen.

Mit anderen Worten: Wir haben Daten und Fakten. Das gilt auchfür eng verwobene radikale Bewegungen und selbst für im Unter-grund operierende, wie Al Qaida oder die pakistanischen religiö-sen Bewegungen. Wir kennen die Biographien der Attentäter vom11. September, und Bin Laden hat sich so häufig öffentlich zu Wortgemeldet, dass wir wissen, wie er die Welt sieht. Analog dazu lässtsich der islamische Radikalismus in Westeuropa dadurch studieren,dass man die Lebenswege der vielen hundert Kämpfer anschaut, dieverfolgt und verhaftet (und manchmal umgebracht) wurden – mitder einzigen Einschränkung, dass wir mit Begriffen wie »Terrorist«

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und »Radikaler«, wie sie in den Medien und/oder von den Behör-den gebraucht werden, vorsichtig sein müssen.4

Komplizierter wird es, sobald wir anfangen, über Einstellungenund Glaubensüberzeugungen zu diskutieren. Natürlich haben wirauch dazu Daten: Bücher, Artikel, Reden, Interviews und die Füllevon Material, die im Internet zu finden ist, einschließlich privaterWebsites, Chatrooms und aller möglicher Meinungsbekundungen.Aber es ist schwierig, den Urhebern dieses Materials bestimmte so-ziale Kategorien und Strategien zuzuordnen und abzuschätzen, wieviel Einfluss sie auf ihre muslimischen Glaubensbrüder haben. Inwelchem Umfang führen diese fluktuierenden Äußerungen zu ge-sellschaftlichen und politischen Bewegungen, inwieweit prägen siesogar das Denken und Handeln einer nennenswerten Zahl vonGläubigen? Die Personen hinter solchen herkömmlichen und elek-tronischen Veröffentlichungen entstammen gewöhnlich einem en-gen Spektrum »fließender« sozialer Kategorien: Studenten, selbsternannte Imame und Führungsleute islamistischer Bewegungen. Inder Regel ist ihre Behauptung, sie hätten Einfluss, schwer zu über-prüfen. Im vorliegenden Buch habe ich den Weg gewählt, mich aufeinige unterschiedliche, empirisch relevante Quellen zu konzentrie-ren. Die Veröffentlichungen der salafistischen Scheichs von Saudi-Arabien werden so viel zitiert, diskutiert und sind so verbreitet, dasssie im Zusammenhang mit unserem Thema ins Gewicht fallen.Auch ein Buch, das in vielen muslimischen Buchläden in Paris einBestseller ist, ist wichtig, obwohl wir nicht sagen können, wer eskauft und liest. Eine Internetseite, zu der hunderte Links von ande-ren Seiten führen, die in vielen E-Mails auftaucht oder auf vorderenPlätzen in Suchmaschinen, verdient ebenfalls genauere Betrach-tung. Aber wie steht es mit der Religiosität eines tunesischen Laden-besitzers, der noch spät abends in seinem Geschäft an einer PariserStraßenecke Wein, Lebensmittel und Gemüse verkauft? Er schreibtnicht über den Islam und hat keine Internetseite, er geht in die Mo-schee, weil er dort Freunde und Bekannte trifft, und spendet »fun-damentalistischen« Organisationen Geld, weil er »für den Islam«ist, obwohl er auch Wein verkauft. Möglicherweise wählt er einerechte französische Partei, weil ihn die Kriminalität empört, undgleichzeitig plaudert er gern mit dem Schwulen-Aktivisten, der inder Nachbarschaft wohnt und sein bester Kunde ist. Wie schon ge-

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UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Olivier Roy

Der islamische Weg nach WestenGlobalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung

Paperback, Klappenbroschur, 368 Seiten, 12,5 x 20,0 cmISBN: 978-3-570-55000-7

Pantheon

Erscheinungstermin: Mai 2006

Der terroristische Islamismus – eine Gewalt, die aus dem Westen kommt. - Olivier Roysinternational diskutiertes Buch, endlich auf Deutsch. KURZTEXTDie Radikalisierung des Islam halten viele für eine Antwort traditioneller muslimischerGesellschaften auf die Moderne. Doch diese Deutung ist falsch. Der renommierte IslamforscherOlivier Roy zeigt, dass der islamische Fundamentalismus selbst ein Produkt der Verwestlichungist. Nur wer die Krise des globalisierten, kulturell entwurzelten Islam begreift, wird gesellschafts-und sicherheitspolitisch erfolgreich handeln können. ZU DIESEM BUCHNach den jüngsten Krawallen in Frankreich, den Bombenattentaten in London und derErmordung des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh stellt sich verschärft die Fragenach der Radikalisierung des Islam. Olivier Roy zeigt, dass alle Versuche, den Islam als eine»Gemeinschaft der Gläubigen« staatlich zu verankern, gescheitert sind. Doch der islamischeFundamentalismus findet in Europa täglich neue Anhänger. Von seinen kulturellen undregionalen Ursprüngen hat sich dieser globalisierte Islamismus längst entfernt. Er ist zu einemPhänomen junger Muslime geworden, die in zweiter Generation in Gesellschaften leben, indenen sie sich als Fremde fühlen. Ihre Forderungen nach einem reinen und authentischen Islam,sind jedoch Ausdruck einer westlich inspirierten, individuellen Sinnsuche.