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Opium

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Heilmittel, Rauschdroge, Gift – das sind nur drei Inkarnationen des Opiums. Lebenselixier oder Fluch? Inspirationsquelle oder Weg in den mentalen und physischen Verfall? Wertvolles Handelsgut oder menschenfeindliches Übel? Welche Attribute dem Opium zugesprochen werden, hängt von Geschichte, Kultur, individueller Erfahrung und Lebensumständen ab. Den Urteilen und Wahrnehmungen von Händlern, Konsumenten und Gegnern geht diese Publikation nach. Dabei schlägt sie einen weiten Bogen – geografisch, machtpolitisch, kulturell: von der Blume der Demeter zu den Tränen der Aphrodite; von der Mohnernte in Burma und Afghanistanzu den Opiomanen des 19. und 20. Jahrhunderts in den Salons des Westens und den Opiumhöhlen Chinas; von der politischen Instrumentalisierung des Drogenhandels bis zum Nutzen in Medizin und Pharmazie und weiter zu den Wahrnehmungsverschiebungen im Rausch. Die Autorinnen und Autoren haben sich seit Jahrzehnten mit dem Thema befasst und präsentieren den aktuellen Wissensstand

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Opium

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Christoph Merian Verlag

Museum der Kulturen Basel (Hg.)

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INHALT

VORWORT 8Anna Schmid

DAS PHÄNOMEN OPIUM – EINE EINFÜHRUNG 10Doris Buddenberg, Anna Schmid

VON DER MOHNPFLANZE ZUM ROHOPIUM 21Doris Buddenberg

VOM ERSTEN MOHNKRÜMEL ZUM HEUTIGEN MOHNANBAU: EINE CHRONOLOGIE 24Zusammengestellt von Doris Buddenberg

GESCHICHTE DES OPIUMS VOM 17. BIS INS 21. JAHRHUNDERT 48Alfred W. McCoy

KURZE GESCHICHTE UND KRITIK DER DROGEN-PROHIBITION 68

IM 20. JAHRHUNDERT

Jakob Tanner

«DIE GESCHICHTE DES OPIUMS IST ZUGLEICH DIE GESCHICHTE DER MEDIZIN» 86

OPIUM IN MEDIZIN, CHEMIE UND PHARMAZIE

Michael Kessler

OPIUM, OPIATE UND FORTSCHRITTE IN DEN NEUROWISSENSCHAFTEN 90Barbara Remberg & Kalman Szendrei

OLFAKTORISCHE EIGENSCHAFTEN DES OPIUMS: DIE ERSTE GERUCHSANALYSE 94Barbara Remberg

OPIUM RAUCHEN: DIE NADEL, DIE LAMPE, DIE PFEIFE 103Steven Martin

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«ES IST IMMER EINE FRAU, DIE DER MENSCHHEIT DEN SCHLAFMOHN BRINGT»: 135

URSPRUNGSMYTHEN ZUM OPIUM

Doris Buddenberg

DAS OPIUM UND DER ORIENT: DAS FREMDE IN UNS 142Barry Milligan

OPIUM IN DER ‹DURCHWACHTEN NACHT› 150Doris Buddenberg

INTENSIVIERUNGEN: DIE KATEGORIEN ZEIT, RAUM, FARBE UNTER OPIUM 156Doris Buddenberg

VERFÜHRUNG UND ABSCHRECKUNG 179Doris Buddenberg

OPIUM – DAS WACHEN DER KRÄFTE EINES ANDEREN GEDÄCHTNIS 184Friederike Kretzen

BIBLIOGRAFIE 192

BILDINDEX 196

VERZEICHNIS DER AUTORINNEN UND AUTOREN 198

IMPRESSUM 200

Bild S. 6 / 7 >Der Dir Distrikt war bis Mitte der 1990er Jahre mit circa 130 Tonnen Opium pro Jahr das Haupanbaugebiet

des illegalen Opiums in Pakistan. Heute ist der Anbau dort unbedeutend. Teilweise ist der Rückgang auf ein Projekt der UNDCP von 1986 bis 1998 zurückzuführen: Projektsumme: 35 Millionen US Dollar.

Blühendes Mohnfeld im Distrikt Dir, Pakistan, 1991. © Doris Buddenberg; Fotograf: Sajid Munir

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VORWORTAnna Schmid

Jede Gesellschaft kennt – und die meisten kultivieren – Drogen. Es scheint eine menschli-che Konstante zu sein, Bewusstseinsveränderungen herbeiführen zu wollen. Die beiden Extreme dieser Anstrengungen sind zum einen die Gewinnung von Substanzen aus natürlich vorkommenden Materialien wie Pflanzen und zum anderen die synthetische Entwicklung und Produktion dieser Substanzen wie es die pharmazeutische Industrie weltweit unter-nimmt. Zwischen diesen beiden Polen existieren zahlreiche Mischformen. Unabhängig von der Herstellung bestimmen kulturelle Bewertungen und wirtschaftliche Möglichkeiten, ob eine Gesellschaft den Konsum solcher Genussmittel sanktioniert oder als schädlich verteu-felt. Ob etwa Kaffee und Tee, Zucker und Kakao als Droge behandelt wurden, hängt genauso von kulturellen Bewertungen und wirtschaftlichen Möglichkeiten ab, wie dies bei Coca, Cannabis, Alkohol oder Tabak der Fall ist. Wann eine Substanz wo als illegale Droge gilt, ist also eine Frage der Bewertung und als Konsequenz davon der Gesetzgebung. Oft waren und sind Drogen aber auch Bestandteil religiöser Praktiken. Bei der Jenseitsreise eines Schamanen etwa wird Drogenkonsum nicht nur toleriert, sondern er kann unabding-bar sein. Die Ethnologie kennt viele weitere Beispiele. In Ritualen, bei denen es darauf an-kommt, mit anderen Mächten, Wesen oder Welten in Verbindung zu treten, muss – zuwei-len – der Alltagszustand transzendiert, überwunden werden. Ein Hilfsmittel können Drogen sein. Während einzelne Drogen nur in bestimmten Regionen produziert und konsumiert werden, beispielsweise Khat im Jemen oder Betel in Süd- und Südostasien, finden andere weltweite Verbreitung, wie etwa Psychopharmaka und Tabak. Ethnologisch wird dann inte-ressant, in welchen Kontexten auf welche Drogen zurückgegriffen wird, wodurch sich ihre Wirkung auszeichnet und wie diese Drogen in das soziale Gewebe eingeflochten werden. Anders formuliert: Warum ist beispielsweise Kokain die Droge der Wallstreet und Alkohol diejenige des sprichwörtlichen kleinen Mannes? Und was zeichnet Opium als Droge aus?

Funde belegen, dass Opium vom Neolithikum bis zur Bronzezeit am Bodensee, am Pfäffi-kersee und am Genfer See vorkam. Vermutlich handelte es sich dabei nicht um eine Wild-pflanze, sondern um eine halbwilde Spezies, wenn nicht gar um eine Kulturpflanze. Manche gehen in ihren Interpretationen sogar so weit zu behaupten, dass damals in diesen Gegenden mehr Opium angebaut wurde als Weizen oder Gerste. Allerdings ist unsicher, ob dieses Opi-um in mitteleuropäischen Gefilden die rauscherzeugenden Substanzen ausgebildet hatte (Gelpke 1966: 33; Seefelder 1989: 10; Saunders 2014: 5f.) und, falls doch, ob es auch tatsäch-lich als Droge gebraucht wurde.

In der langen Geschichte des Schlafmohns wurde viel über diese Pflanze spekuliert, und ihr wurde ein erstaunlich umfangreiches Repertoire an Attributen zugeschrieben – von ihrer medizinischen Wirkung als Allheil- oder Suchtmittel bis zum Symbol für Erinnerung und Tod. In Beschreibungen wurden Angst und Abwehr genauso wie Verführung, Wirkung und Faszination thematisiert: «Tatsächlich gibt es wohl keine andere Droge, die eine so elemen-tare, so unbedingte Ruhe schenkt wie das Opium» (Gelpke 1966: 44).Opium führte und führt aber auch zu Kriegen und Drogenvernichtungsprogrammen, ge-nauso wie zur Einrichtung von vornehmen Opiumrauchsalons und abgehalfterten

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Opiumhöhlen. Es steht gleichermassen in Verbindung mit Wirtschaftsimperien und Macht-politik wie mit literarischen Höchstleistungen und kulturellen Errungenschaften. Diesen verschiedenen Facetten gehen wir in der Ausstellung und der Publikation dazu nach: «Bahram lehnte sich zurück und schwelgte in einem grenzenlosen Wohlgefühl, wie nur Opium es zu spenden vermochte, in jener wunderbaren, göttergleichen Leichtigkeit, in der Körper und Geist von jeglicher Erdenschwere befreit waren» (Ghosh 2014: 383).

DankAn dem Ausstellungsprojekt ‹Opium› waren viele Personen und Institutionen beteiligt, denen ich meinen besonderen Dank aussprechen möchte.An erster Stelle danke ich der Gastkuratorin, Frau Dr. Doris Buddenberg für ihren enormen Einsatz, ihre Hartnäckigkeit sowie für ihre leidenschaftliche Begeisterung ganz herzlich. Ihre langjährige intensive und professionelle Auseinandersetzung mit Drogen im Allgemeinen und Opium im Speziellen brachte einen enormen Wissensschatz mit sich, aus dem es aus-zuwählen galt. Dieser nicht immer ganz einfachen Aufgabe hat sich Doris Buddenberg ge-stellt und sie in Zusammenarbeit mit dem Team des Museum der Kulturen Basel bravourös bewältigt. Für die enormen Leistungen, die alle Beteiligten vollbracht haben, danke ich allen von ganzem Herzen.

Ein Dank gebührt auch allen Kooperationspartnern und Leihgebern. Wir haben die Ausstel-lung mit zahlreichen und bedeutenden Leihgaben ergänzt. Das Antikenmuseum Basel und Sammlung Ludwig, die Asian American Comparative Collection (AACC) der University of Idaho, USA, das Musée International de la Parfumerie Grasse, Frankreich, das Museum für Sepulkralkultur in Kassel und das Pharmazie-Historische Museum der Universität Basel haben uns ihre wertvollen Objekte unkompliziert für die Zeit der Ausstellung überlassen und wertvolle Unterstützung bei Recherchen geleistet. Ihnen allen danke ich für die frucht-bare Zusammenarbeit und vor allem für ihr Vertrauen in unser Haus. Herzlich danken möchte ich auch den Autorinnen und Autoren dieses Bandes sowie der Lektorin Doris Tranter, die uns mit Rat und Tat bei der Produktion zur Seite stand.

Mein ganz besonderer Dank gilt dem Freiwilligen Museumsvereins Basel, dem Präsidenten sowie den Mitgliedern der Kommission für die überaus grosszügige finanzielle Unterstüt-zung aus dem Hedi Keller-Fonds. Erst mit dieser Unterstützung wurden das Ausstellungs-projekt und die Begleitpublikation in zwei Sprachen möglich.

Ausstellung und Publikation zeichnen die reiche Geschichte des Faszinosums Opium sowie seine Wirkungen und Deutungen nach. Damit sind unausweichlich immer auch Interpre-tationen verbunden. Wir halten es mit Jean Cocteau (1930): «Hier schaltet sich freilich der Staatsanwalt ein. Aber ich bin nicht Zeuge. Ich verteidige nichts. Ich richte nicht. Ich trage belastende und entlastende Urkunden zum Prozess des Opiums bei.»

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DAS PHÄNOMEN OPIUM – EINE EINFÜHRUNGDoris Buddenberg, Anna Schmid

Was ist Opium? Zunächst ist es ein Rohstoff, gewonnen aus einer Pflanze, dem Schlafmohn, aus der eine Substanz – Droge oder Medizin – hergestellt werden kann; es ist eine Handels-ware, ein Konsumgut und ein Rauschmittel. Darüber hinaus ist Opium eine Chiffre für Vor-stellungen und Erfahrungen und die damit verbundenen Freuden und Leiden.

Das Phänomen OpiumOpium kann getrunken, gegessen oder geraucht werden. Um einen Eindruck davon zu ver-mitteln, wovon dieses Buch handelt, seien das Ritual des Opiumrauchens – wie Steven Martin (in diesem Band) es nennt – und die Wirkung von Opium, der Rausch, kurz skizziert. Sowohl Opiumkonsumenten, die Opiomanen, als auch Beobachter haben die wichtigsten Aspekte wiederholt beschrieben, mal ausführlicher, mal kursorisch. Zum Kreis der Opio-manen gehören herausragende Literaten wie Samuel Taylor Coleridge, Thomas De Quincey, Edgar Allan Poe oder Charles Baudelaire genauso wie die chinesischen Kontraktarbeiter in den USA um die Mitte des 19. Jahrhunderts, wie auch Seeleute und Beamte, die aus den Kolonien zurückkehrten. Stellen wir uns eine typische Szene vor:

Ein Gastgeber lädt Freunde zum Opiumrauchen ein. Ein Zimmer steht zur Verfügung. Es ist mit Futons, Kissen oder Matratzen ausgestattet, so dass jeder Teilnehmer liegen kann. Die Kleidung soll bequem sein: lose Hemden, weite Hosen. Das Zimmer hat eine angeneh-me Temperatur. Der Raum und seine Einrichtung strahlen Wärme aus. Vorhänge halten Licht und Lärm von draussen ab; es ist halbdunkel. Die Freunde gruppieren sich im Halb-kreis oder Kreis zueinander. Ein vollständiger Satz der Gerätschaften steht auf jedem Tablett bereit: Ein Behältnis aus Keramik oder Metall mit fest verschliessbarem Deckel enthält das Opium. Eine Pfeife mit mehreren Pfeifenköpfen, da die Köpfe nach einigen Zügen verkleben, deshalb gesäubert werden und abkühlen müssen. Die Opiumportionen – kleine Kügelchen – werden mit einem kleinen Spatel vorbereitet. Die Nadel zum Einstecken der Opiumportionen in den Pfeifen-kopf und Säuberungsgeräte wie Kratzer liegen daneben, die Lampe zum Anbrennen des Opiums steht in der Mitte. Ein Freund sagt: «Die Gerätschaften vereinen die fünf Elemente der chinesischen Lehre in sich: Holz beim Pfeifenrohr; Erde, Lehm und Ton, beim Pfeifen-kopf; das Metall der Nadel und des Pfeifensattels, das Feuer der Opiumlampe, das Wasser im Rauch und im Tee.»Teekanne und Teetassen stehen ebenfalls bereit, um zu trinken und den vom Rauchen aus-getrockneten Mund zu benetzen.Das Drehen der Opiumpille und das Platzieren der Pille in das kleine Loch auf dem Pfei-fenkopf sind heikel und brauchen Erfahrung. Daher wird die erfahrenste Person dazu be-stimmt; oder es steht ein Diener zur Verfügung, der nach den Rauchenden sieht und den Tee nachgiesst. Dann folgt das Anrauchen der Pfeife. Die Pille wird in den Pfeifenkopf gesteckt, die Nadel durch Drehen herausgezogen. Dieses kleine Loch in der Pille ermöglicht den Luftzug. Dann hält der Raucher das Loch mit der Pille über die Opiumlampe und zieht. Das Opium soll nicht verbrennen, sondern verdampfen; der Dampf wird eingezogen. Eine Pille reicht entweder

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für einige kleine Züge oder einen sehr kräftigen Zug. Am besten ist es, wenn der Raucher während des Anrauchens auf der Seite liegt. Jedem Raucher wird je nach seinen Bedürfnis-sen eine neue Pfeife gereicht, bereits vorbereitet zum Anrauchen über der Lampe. Wenn alle Anwesenden Ihre erste Pfeife genossen haben, fliesst die Unterhaltung. Das Reden fällt leicht, Themen können weit gespannt sein, ein Gefühl des Wohlbefindens, die Leichtig-keit der ersten Entspannung, des Rausches setzt ein – begleitet von einer optimistischen friedlichen Grundstimmung, einer fast kindlichen Freude an der Beobachtung der Umge-bung, der Gerätschaften. Man lehnt sich bequem zurück, liegt, stützt den Kopf beim Unter-halten, legt den Kopf auf das Kissen, hört zu, beteiligt sich am Gespräch, hört wieder zu, lehnt sich wieder zurück. Das Hören verfeinert sich, Stimmen sind leise, Musik wird selten und wenn dann nur ganz leise gespielt. Wenn weiter geraucht wird, wird die Unterhaltung langsamer, stockender. Die Wirkung des Opiums verstärkt sich. Die Raucher ziehen sich in ihre eigene Vorstellungs- und Gedanken-welt zurück. Opium macht gelassen, still und sanft. Gelpke (1966: 41f.) sagt, dass «Opium zugleich entrückt und weckt. Entrückt wird der Raucher den Leiden, Sorgen, Ängsten, Miss-helligkeiten und Spannungen, mit denen uns der Alltag überhäuft. Nicht so, dass er sie ver-gessen oder verdrängen würde. Das Opium macht klar. Alles, woran ich auch sonst denke, und was mein Dasein und So-Sein ausmacht, ist jederzeit gegenwärtig, mit sogar noch ge-steigerter Klarheit.»Zur Rauscherfahrung gehören Erinnerungen, die weit zurückreichen; Veränderungen in der Zeitwahrnehmung – eine kurze Zeitspanne fühlt sich an wie Stunden, oder umgekehrt; Lang-samkeit der Bewegungen; und immer wieder ist von der Schärfe und Reinheit der Gedanken die Rede. Die Gedankenwelt ist zu interessant, zu lebendig, um schlafen zu wollen. Irgendwann setzt dann doch Müdigkeit ein – nach einer durchrauchten Nacht, dem ange-nehmen Halbdunkel und den interessanten Gedanken. Der Höhepunkt des Rausches ist vorüber, eine Sättigung erreicht. Das Abschiednehmen ist ruhig und leicht, ohne Bedauern, ohne grosse Gesten.

Diese Beschreibung bezieht sich auf entspannten, nicht auf süchtigen Opiumkonsum. Sie bezieht sich auf das Rauchen im Kreis von Freunden, nicht auf mittellose Raucher, die in öffentlichen Etablissements wie einfachen Opiumhöhlen für jede Pfeife bezahlen müssen. Auch wenn der Zugang zu Opium und das Ambiente während des Rauchens variieren, lässt die Beschreibung dennoch Verallgemeinerungen – zum Beispiel in Bezug auf Erfahrungen unter Opium – zu. Dies zeigen beispielsweise die Analysen von Zheng (2005: 84) zum Opium-gebrauch in China oder die Aussagen des pakistanischen Sufi-Sängers Pathana Khan, der opiumabhängig war (Buddenberg 1983).

Die Facetten des Phänomens OpiumIm Folgenden geht es darum, das Phänomen Opium auf drei Ebenen zu erfassen: auf der politischen und wirtschaftlichen, auf der gesellschaftlichen und kulturellen und schliess-lich auf der individuellen Ebene. Auf der individuellen Ebene stehen die Erfahrung des Opiumkonsums und ihre Verarbeitung als Inspirationsquelle im Vordergrund. Auf der ge-sellschaftlichen und kulturellen Ebene werden Akzeptanz, Propaganda, Vor- und Nachteile des Konsums sowie die Leistungen der Opiomanen verhandelt. Auf der wirtschaftlichen und politischen Ebene werden die Überführung des Rauschmittels in eine Ware, die Ent-wicklung der Absatzmärkte sowie die Durchsetzung der internationalen Drogenkontroll-gesetzgebung untersucht.

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Wirtschaftliche und politische EbeneAus der Chronologie wird ersichtlich, dass Opium schon im zweiten vorchristlichen Jahr-tausend im Mittelmeerraum gehandelt wurde; allerdings lassen sich aufgrund der Quellen-lage keine genaueren Angaben über Qualitäten und Quantitäten machen. Die ernstzuneh-mende Kommerzialisierung von Opium setzte im Indien des 16. Jahrhunderts ein und ist aufs Engste mit der Geschichte und Politik der europäischen – vor allem der portugiesischen, holländischen, britischen – Handelsgesellschaften und Kolonialmächte verbunden. Alfred McCoy zeichnet in seinem Beitrag einerseits die historische Entwicklung des Opiums von einem Luxusartikel und einer Medizin zu einer Massenware sowie andererseits die Verflech-tungen zwischen den verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Akteuren über vier Jahrhunderte bis heute akribisch nach. Er zeigt auf, wie diese Akteure anhand der beiden Strategien Freihandel und Repression ihre Interessen durchzusetzen wussten. Zu welchen Massnahmen beispielsweise Grossbritannien griff, um seine Ziele zu erreichen, zeigt der Schlussbericht, den die vom Parlament eingesetzte ‹Royal Commission on Opium› 1895 ver-öffentlichte. Die Kommission sollte unter anderem einschätzen, ob Mohnanbau und Opium-konsum wegen der negativen Auswirkungen verboten werden sollten. Der Bericht konsta-tiert, dass Opiumgebrauch weder physischen noch moralischen Verfall bewirke. Opium sei für Asiaten nicht schädlich. Die Klagen Chinas seien ausschliesslich wirtschaftlich und nicht medizinisch begründet. Daher empfahl die Kommission, Mohnanbau und Opiumhandel nicht zu unterbinden.Das Einsetzen dieser Kommission 1893 war eine Reaktion auf Widerstand in der Bevölke-rung – vor allem der religiösen ‹pressure groups› – gegen Opiumhandel und -konsum. Jakob Tanner beleuchtet die Entstehung der Anti-Opiumbewegung in Europa und den USA Ende des 19. Jahrhunderts sowie die Entwicklung der internationalen Drogenkontrolle im 20. Jahr-hundert ausführlich. Er zeigt auf, wie machtpolitische Bestrebungen der jeweiligen Nation ihre Haltung gegenüber der Opiumfrage beeinflusste und welche Massnahmen zunächst auf nationaler dann auch auf internationaler Ebene ergriffen wurden. Dem sukzessiven Ausbau der gesetzgeberischen Kontrollversuche und Drogenverbote stehen die lukrative Schattenwirtschaft und die Schwarzmärkte gegenüber. Tanner plädiert dafür, die repressive Politik aufzugeben, die Omnipräsenz von Drogen wie auch die Willkürlichkeit der Unter-scheidung zwischen legalen und illegalen Drogen anzuerkennen und daraus eine stärker an den Bedürfnissen der Menschen orientierte Drogenpolitik abzuleiten.Michael Kessler verfolgt in seinem Beitrag die Geschichte des Opiums in Medizin, Chemie und Pharmazie. Er nimmt die Einschätzung «Die Geschichte des Opiums ist zugleich die Geschichte der Medizin» des Arztes Christoph Wilhelm Hufeland, eines Freunds Goethes, auf, begründet die grosse Wende in der Opiumtherapie am Anfang des 19. Jahrhunderts mit der Entdeckung der Opiumalkaloide und der sich daraus ergebenden Konsequenzen: Die Kenntnis dieser Alkaloide ermöglichte ihre exakte Dosierung und damit einen gezielten Einsatz in der pharmakologischen Therapie. Kessler folgt den Entwicklungslinien bis heute – Opium spielt heute in der Medizin keine Rolle mehr, sehr wohl aber die Inhaltsstoffe wie zum Beispiel Morphin. Daran schliesst der Beitrag von Barbara Remberg und Kalman Szendrei an, in dem sie die Opioid-Forschung, die Suche nach den Opioid-Rezeptoren und die Ergebnisse dieser Forschungen skizzieren. Im Beitrag von Barbara Remberg zu den olfaktorischen Eigenschaften des Opiums und den Geruchsanalysen wird ein weiterer Zugang angeboten. In der Analyse werden geruchsbestimmende Inhaltsstoffe ausgemacht: von den hundert Komponenten sind nur fünfzehn für den charakteristischen Geruch des Opiums relevant.

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Die gesellschaftliche und kulturelle EbeneDrogenkontrolle und ihre juristischen Instanzen bestimmen die gesellschaftliche Wahrneh-mung und Beurteilung von Substanzen wie Opium in erheblichem Masse. Die Gesetze legen fest, was legal, was illegal ist und damit auch, wer sich gesellschaftskonform verhält und wer – überspitzt formuliert – eine Zumutung für die Gesellschaft darstellt. Daraus speisen sich oft die Bilder, die sich die Mitglieder einer Gesellschaft von den Konsumenten – mal als soziale Aussenseiter, mal als erfolgreiche Persönlichkeiten – machen. Jakob Tanner geht in seinem Beitrag auch auf diese Aspekte ein. Einen anderen Aspekt beleuchtet Doris Bud-denberg in ihrem Text ‹Verführung und Abschreckung›. Die Werbung für das Parfum Opium von Yves Saint Laurent und die Plakate der Anti-Opiumkampagnen von Afghanistan über Myanmar bis Vietnam führen uns die Bandbreite der gesellschaftlich erwünschten oder verachteten Dimensionen des Opiums deutlich vor Augen. Bei dem oben beschriebenen Ritual des Opiumrauchens können bis zu zwanzig verschiedene Objekte zum Einsatz kommen. Um das Rauchen hat sich eine ausgefeilte materielle Kultur entwickelt. Steven Martin beschreibt eindrücklich die drei wichtigsten Instrumente: Opium-nadel, -lampe und -pfeife. Einerseits verortet er die Instrumente in ihrer Zweckmässigkeit, andererseits weist er auf Entwicklungen – zum Beispiel bei der vergleichsweisen jungen Opiumpfeife – hin und die damit einhergehende formale und dekorative Ausdifferenzierung. Diese Ausdifferenzierung kontrastiert er schliesslich mit der sozialen Praxis: auf der einen Seite erfinderisches Design und kunstvolle Ausgestaltung der Gerätschaften, auf der ande-ren Seite das intensive Gefühl des Rausches.Einen vielfältigen Zugang zu Opium ermöglichen Erzähltraditionen und unterschiedliche literarische Gattungen: von Mythen über Lyrik zur Prosa. Die Opiumpflanze und ihre Ver-wandlung in eine Substanz, die rauschende Erlebnisse beschert, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Ursprungsmythen unterschiedlicher Regionen – Doris Buddenberg charakte-risiert diese Mythen als Format der Weltdeutung, in denen Erkenntnisse über die Welt und ihre Dinge in eine Ordnung gebracht werden. Immer ist es eine Frau, die der Menschheit das Opium bringt, und immer sind damit Freuden und Leiden gleichermassen verbunden. Auf Anziehung, Vereinnahmung und Widersprüchlichkeiten weist auch Barry Milligan in seinem Beitrag hin, wenn er die Fixierung des Orients im England des 19. Jahrhunderts als das Andere oder «das Fremde in uns» beschreibt. Wird dieser Orient dann noch mit dem Begriff Opium angereichert – nach Milligan eine nachgerade natürliche Gedankenverbin-dung –, entsteht eine komplexe und auch ambivalente Mischung, in der sich historische Ereignisse und der Dreieckshandel – Opium von Indien nach China, Luxusgüter wie Tee, Seide und Gewürze von China nach England, Textilien von England nach Indien – mit «typisch östlichen» Assoziationen vermengen. Milligan weist diese Verschränkungen in sehr unterschiedlichen literarischen Werken des 19. Jahrhunderts – bei Coleridge, De Quincey, aber auch bei Charlotte Brontë oder Collins – differenziert nach. In der Betrachtung des Gedichts ‹Durchwachte Nacht› von Droste-Hülshoff erkennt Doris Buddenberg Spuren von opiatisiertem Empfinden und Denken. Eine minutiöse Analyse der Verse und der Vergleich mit anderen Dichtungen, die unter Opiumeinfluss entstanden sind oder den Opiumrausch thematisieren, bringt Buddenberg zu dem plausiblen Schluss, dass Droste-Hülshoffs Inspiration wohl dem Opium geschuldet war – auch wenn offen bleiben muss, ob die Dichterin Opium bewusst als Inspirationshilfe eingesetzt hat.In einem weiteren Beitrag geht Doris Buddenberg anhand dreier Kategorien typischen Vor-stellungen, feinen Empfindungen, Verzerrungen und Intensivierungen unter Opium nach, wie sie in Lyrik und Prosa aufscheinen oder offen angesprochen werden. Die erste

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Kategorie ist die Zeit: Im Opiumrausch scheint die Zeit neue Qualitäten zu erlangen, die Buddenberg aus den Arbeiten von Cocteau, Jünger und De Quincey als Entschleunigung, Stillstand, Gleichzeitigkeit destilliert. Die zweite Kategorie ist der Raum. Dabei handelt es sich sowohl um reale als auch um imaginäre Räume. Buddenberg kommt zum Schluss, dass die verräumlichten Kunstwelten in den Gedichten und in der Bekenntnisliteratur die Denk-bewegungen unter Opium widerspiegeln, sie sichtbar und nachvollziehbar machen. Die dritte Kategorie ist die Farbe. Schriftsteller haben in ihren Werken das Opium mit bestimm-ten Farben assoziiert, wenn sie seine Wirkung beschreiben oder es als Metapher einsetzen. Wenn, wie Buddenberg einräumt, Farbwahrnehmungen, -deutungen und -wertungen im-mer kulturell und subjektiv beeinflusst sind, so zeigt die Analyse von Äusserungen vieler Schriftsteller doch, dass sie manche Farben eindeutig mit negativen und positiven Konno-tationen im Kontext Opium versehen; andere behalten einen ambivalenten Charakter. Diese Dreiteilung wertet Buddenberg als ein erstes Indiz für einen Farbcode unter Opium – sozu-sagen einen opiatisierten Farbkreis. Indem Buddenberg diese drei Kategorien – Zeit, Raum und Farbe – aufeinander bezieht, zeichnet sich ein der Opiumliteratur zugrunde liegendes Schema ab: zwei der drei Kategorien sind immer hervorgehoben. Allerdings bedarf es noch der Überprüfung dieses Befundes anhand von literarischen Werken, die nicht mit Opium in Verbindung stehen.

Die individuelle ErfahrungIn den meisten Beiträgen finden sich Hinweise zu individuellen Erfahrungen unter Opium: immer wieder werden Qualitäten wie Ruhe, innerer Friede, Klarheit der Gedanken, aber auch Energiegeladenheit erwähnt. In Bezug auf das Erleben der Kategorien Zeit, Raum und Farbe unter Opium lassen sich, wie Doris Buddenberg zeigt, die Aussagen von Einzelper-sonen nachgerade zu einem Muster verdichten. Die individuelle Erfahrung ist aber auch stets mit dem Ambiente und den damit einhergehenden Konventionen verbunden. So weist insbesondere Gelpke darauf hin, dass die «Kunst des Opiumrauchens im Orient» nur in Gesell schaft vorgenommen wird bzw. werden sollte. Denn «ist der Raucher allein, steht zu befürchten, dass ihm die Dämonen Gesellschaft leisten» (Gelpke 1966: 55). Im Unterschied dazu gehörte für einen Thomas De Quincey oder Edgar Allan Poe die Einsamkeit zum Opium-genuss. Dies mag damit zusammenhängen, dass das ausgeklügelte Ritual des Rauchens eher Gesellschaft erforderte, während das Trinken – wie eben bei De Quincey – weniger Zere-monielles an sich hatte. Mit dieser Differenzierung könnten aber auch unterschiedliche Bewertungen des Konsums und daraus abgeleitet verschiedene Kontextualisierungen des Opiumgenusses verbunden sein, was Gelpke (ebd.) nahelegt. Damit hätte der soziale Rahmen auch einen – vielleicht sogar starken – Einfluss auf das Rauscherlebnis. Wozu unkontrolliertes Rauchen führen kann, stellt Steven Martin in einem nüchternen Resümee fest: «Auf einer Pritsche liegend, mit der Pfeife über der Flamme war der Blick des Rauchers auf die Utensilien vor ihm gerichtet, hingerissen von den intensiven Gefühlen der Rausches aber auch mit der Scham ringend, wohl wissend, dass die Begierde ihn in die Sucht und das Verderben treiben könnte.» Sich einen richtigen oder den geeigneten Weg in diesem Konflikt zu suchen, – damit scheinen alle Opiomanen gerungen zu haben: in ihren Beschreibungen des Hin- und Hergerissen seins haben sie selbst die Faszination, die Ver-führung, die Abwehr, die Angst und den Horror in Worte und Sinnbilder gefasst.Den Beiträgen ist eine ausführliche Chronologie vorangestellt. Darin werden nicht nur Da-ten und Ereignisse zueinander in Beziehung gesetzt, sondern auch Zitate eingeflochten, die Hinweise auf Erfahrungen mit und unter Opium zu unterschiedlichsten Zeiten geben. Den

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Abschluss setzt die Schriftstellerin Friederike Kretzen: «Opium ist eine Droge des Schmerzes. Sie überwindet den Schmerz nicht, sondern erlaubt, in ihn hinabzusteigen, in jenen dunk-len, unwegsamen Bereich in uns, ins Herz der Finsternis, in dem ein anderes Licht nicht aufgehört zu leuchten, – das Wachen der Kräfte eines anderen Gedächtnis.» In der Zusammenstellung dieses reichhaltigen faktischen Materials, den Analysen und un-terschiedlichen Reflexionen darauf erweist sich Opium immer wieder als Lebenselixier und Fluch gleichermassen. Auf der einen Seite stehen eine Weltmacht, Wissenschaften und ver-schiedene Literatenkreise, auf der anderen Seite asiatische Kleinbauern, kriminelle Orga-nisationen und sogenannte Schurkenstaaten. Die Opiumnehmer stehen mal auf der einen, mal auf der anderen Seite oder dazwischen. Diese Gegenüberstellung soll keinesfalls Ein-deutigkeit suggerieren, denn alle Beiträge zeigen, dass die beiden Seiten im Fall von Opium immer miteinander verschränkt sind, sich mitunter sogar gegenseitig bedingen.

Bild S. 16 / 17 >Die Reife der Kapsel wird oft getestet, indem ein Zacken der Stigmata abgebrochen wird.

Tritt weisser Saft aus, kann die Kapsel angeritzt und das Rohopium geerntet werden. Stigmata der Mohnkapsel. Distrikt Dir, Pakistan, 1991. © Doris Buddenberg; Fotograf: Sajid Munir

Bild S. 18 / 19 >Jede Kapsel muss einzeln angeritzt werden.

Erntebeginn. Distrikt Dir, Pakistan, 1991. © Doris Buddenberg; Fotograf Sajid Munir

Bild S. 20 >Der Mohnsaft, die Tränen des Mohns, wird zunächst auf der Kapsel gelassen,

um einzudicken. Unter Lichteinfluss färbt sich der Saft braun. Distrikt Dir, Pakistan, 1991. © Doris Buddenberg; Fotograf: Sajid Munir

Bild S. 22 / 23 >Das Rohopium wird von der Kapsel gekratzt. Die feucht-klebrige

Masse wird dann in grössere Behältnisse umgefüllt. Rohopium in Sammelschalen. Distrikt Dir, Pakistan, 1991. © Doris Buddenberg; Fotograf Sajid Munir

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VON DER MOHNPFLANZE ZUM ROHOPIUMDoris Buddenberg

Der Schlafmohn, Papaver somniferum, ist eine einjährige Pflanze. Sie erreicht Wuchshöhen von bis zu 1,5 m. Typische Merkmale des Schlafmohns sind die starke Pfahlwurzel, ein un-verzweigter Stängel, gesägte, grün-blaue bis zu 15 cm lange Blätter, die Blüte mit vier Blüten-blättern in unterschiedlichen Farben und die grosse Kapselfrucht mit Samen.Je nach Klima und Höhenlage ändert sich der landwirtschaftliche Kalender, die Wachstums-zeit beträgt circa vier bis sechs Monate. In Zentralafghanistan findet die Aussaat im Spätherbst (Oktober – November) statt und die Opiumernte im April – Mai. In Laos dagegen findet die Ernte im Februar – März statt. In Badakhshan, im Nordosten Afghanistans, ist der Schlaf-mohn eine Sommerfrucht, die im März und April ausgesät und im August und September geerntet wird, wie in Europa auch.Die Blütezeit des Schlafmohns dauert nur wenige Wochen. Die Pracht der auffallenden, fast protzigen Blüten in weiss, rot, rosa, violett ist kurz, bevor die Blütenblätter abgeworfen wer-den und die Kapsel reifen kann. Die runden Kapseln enthalten die Samen, die je nach Sorte weiss, grau, bläulich oder braunschwarz sein können. Eine Kapsel kann bis zu 2 000 Samen enthalten. Dies soll der Grund dafür sein, dass der Mohn seit der Antike auch Symbol der Fruchtbarkeit ist. Er wird den Göttinnen zugeordnet, die für die Fruchtbarkeit der Erde, des Getreides, der Saat und der Jahreszeiten zuständig sind.In der Kapsel, aber auch in den anderen Teilen der Pflanze fliesst ein opiumhaltiger, weisser Milchsaft. Kurz nach dem Verblühen enthält die Kapsel am meisten dieses Milchsaftes. Roh-opium ist der durch Anritzen gewonnene getrocknete Milchsaft der Samenkapseln. Dieser Saft wird im griechischen opos oder opion genannt und gibt dem Opium seinen Namen. Die Griechen nannten die Pflanze mekon, woraus sich der deutsche Name Mohn entwickelte. Die Reife der Kapsel erkennt man zum einen an dem feinen transparenten weissen Schleier, mit dem die Kapsel überzogen ist und zum anderen daran, dass die Kapsel dem Druck weniger nachgibt, wenn sie gepresst wird. Die Reife lässt sich auch daran erkennen, dass Saft ausfliesst, wenn eine Zacke des Stigmata der Kapselkrone abgebrochen wird. Sind die Pflanzen reif, beginnt der Ausblutungsprozess. Dazu dienen scharfe, kurze Spezialmesser, zwei oder drei gebündelte flache Klingen oder in Holzgriffe eingesetze Rasierklingenspitzen. Das Erntegerät ist einfach herzustellen und zu transportieren; es ist jederzeit und überall ersetzbar. In Afghanistan hat sich ein kleiner Holzgriff mit eingesetzten Ecken von Rasier-klingen durchgesetzt, der für jeden Erntehelfer billig und leicht zu ersetzen ist. In Südost-asien ist das zwei- bis dreischneidige Ritzgerät aus Metall üblich.Jede Kapsel wird drei oder vier Tage lang einmal pro Tag angeritzt. Das Messer wird mit leich-tem Druck entlang der Kapsel von oben nach unten gezogen. Die Ritzrichtung variiert regio-nal, es kann auch von unten nach oben oder entlang des Umfangs der Kapsel geritzt werden, wie in Laos und Vietnam. Ein milchig-weisser Saft fliesst aus. Das darin enthaltene Wasser verdunstet langsam, sodass die Tränen antrocknen, dickflüssiger werden und sich rosa färben. Unter Lichteinfluss dickt der Saft weiter ein und färbt sich braun. Dieses Rohopium wird am nächsten Morgen bzw. Abend mithilfe einer Schaufel abgekratzt. Sie ist an einer Seite gerundet, sodass sie entlang der Wölbung der Kapsel gezogen werden kann. Die Ernte ist arbeitsintensiv; selten reicht die Arbeitskraft einer Familie aus, um die Anbauflächen zu bearbeiten. Deshalb folgen in Afghanistan bis zu 300 000 Wanderarbeiter dem Reifeprozess des Mohns.

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VOM ERSTEN MOHNKRÜMEL ZUM HEUTIGEN MOHNANBAU: EINE CHRONOLOGIEZusammengestellt von Doris Buddenberg

circa 6000 v.Chr. Schlafmohn als Nutzpflanze in Südeuropa nachgewiesen. Die Urform der 700 Mohnsorten wuchs wahrscheinlich in Spanien und Italien. Der älteste bislang entdeckte Mohnkrümel ist rund 7 000 Jahre alt und lag bei Köln.

circa 3000 v.Chr. Mohnsamen belegt bei den Pfahlbauten am Bodensee.circa 2700 v.Chr. In sumerischen Keilschriften wird Opium zu Heil- und Genusszwecken

erstmals schriftlich erwähnt und Pflanze der Freude (hul gil) genannt.circa 1800 v.Chr. Opium wird in Ägypten in speziellen Gefässen, den bilbil-Krügen ge-

lagert; zunächst aus Zypern importiert, dann im Niltal angebaut.1600 – 1200 v.Chr. Archäologische Funde weisen darauf hin, dass sich der Schlafmohn

über Handelsrouten von der Schweiz aus entlang dem Rhein ins nörd-liche Europa und ins östliche Mittelmeer ausbreitete.

1500 v.Chr. Mohnanbau und Handel von Opium im Mittelmeer belegt. Zypern ist Drehscheibe im antiken Opiumhandel. Bauchige bilbil-Krüge dienen dem Transport.

circa1500 v.Chr. Im Papyrus ‹Ebers›, dem ältesten Buch der Heilkunst Ägyptens, wird Opium als Medikament gegen Koliken von Kindern sowie als Betäu-bungsmittel beschrieben: «Mohnsaft aus der Kapsel wird verwendet, um Männer im Kriege und in der Liebe zu stimulieren und um ihnen aufregende Träume zu verschaffen.»

circa 1300 v.Chr. Spätminoische Terrakotta aus dem Heiligtum von Gazi zeigt eine Frau mit erhobenen Händen und drei Mohnkapseln auf dem Kopf.

circa 1300 v.Chr. Anbau von Mohn in Ägypten, z.B. in Theben (Thebaicum) seit der 18. Dynastie unter Akhenaton (circa 1351 – 1334 v.Chr.), Thutmosis IV (1397 – 1388), Tutankhamen (1332 – 1323). Exportiert wird vor allem nach Griechenland und Karthago.

circa 1200 v.Chr. Demeter-Kult in Mykene, Schauplatz der Rituale, die sich um die Gott-heiten Demeter und Kore (auch Persephone genannt) drehten. Als Gott-heiten der Fruchtbarkeit werden sie meist mit Getreideähren und Mohn dargestellt.

circa 700 – 770 v.Chr. Erste literarische Erwähnung des Opiums in Homers Epen ‹Odyssee› und ‹Ilias›; Nepenthes, die Droge des Vergessens, enthielt wahrschein-lich Opium: «So wie der Mohn zur Seite das Haupt neigt, welcher im Garten steht, von Wuchs belastet, und Regenschauer des Frühlings: Also neigt er zur Seite das Haupt, vom Helme beschweret» (Voss 1793 / 1990).

circa 600 v.Chr. Demeterheiligtum in Eleusis bei Athen, Schauplatz der Mysterien von Eleusis, Initiations- und Weiheriten.

460 – 377 v.Chr. Hippokrates schreibt über den medizinischen Gebrauch von Opium.circa 330 v.Chr. Die Behauptung, dass Alexander der Grosse Opium in Persien und

Indien einführte, kann nicht belegt werden.

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1. Jh. Die römischen Ärzte Dioscorides und Gaius Plinius Secundus der Ältere beschreiben die Anwendung von Opium als Medizin und Aphro-disiakum und ebenso die Arzneien Theriak und Mithridat, in denen dem Opium Honig, Gewürze, Mineralien, Fett und anderes beige-mischt wurden.

1. – 2. Jh. Die römischen Kaiser Nero, Titus, Nerva, Trajan, Hadrian, Marc Aurel konsumieren regelmässig Opium.

circa 129 – 201 Galenos von Pergamon, auch als Leibarzt von Marcus Aurelius und seinem Sohn Commodus bekannt, lobt Opium als nützliche Medizin; erste Beschreibung einer tödlichen Überdosis.

2. Jh. Pausanias (115 – 180 n.Chr.) berichtet vom Demeterheiligtum in Patras in Griechenland als Orakelstätte und Ort der Demeter-Verehrung.

3. Jh. Der Philosoph Plotinus (205 – 270) nimmt Opium und verarbeitet die veränderte Raum- und Zeitwahrnehmung in seinen Schriften: «Wir sind es, die die Zeit erschaffen müssen.» «Das Ferne ist nahe.»

214 Bei einer Inventur des kaiserlichen Palastes in Rom werden 17 Tonnen Opium gezählt.

4. Jh. In Europa wird Opium als schmerzstillendes Mittel verboten.ab dem 4. Jh. Der Schlafmohn verschwindet aus dem Abendland. 810 Karl der Grosse verbietet Mohnsaft und bezeichnet ihn als Satanswerk;

alle, die ihn berühren, sollen als Hexer und Giftmischer verurteilt wer-den. Die spätere Inquisition beruft sich auf diese Gesetzgebung.

circa 840 Walahfrid von der Reichenau, genannt Strabo, schreibt ‹Das Buch über die Gartenpflege› (Liber de cultura hortorum); unter den 24 in Versform beschriebenen Heilpflanzen ist auch Papaver.

10. Jh. Avicenna (Ibn Sina) (980 – 1037) bezeichnet Opium in seinem Werk ‹Ka-non der Medizin› als «Succus papaveris nigri Ägyptiaci in sole siccatus»: in der Sonne getrockneter Mohnsaft aus dem schwarzen Ägypten.

1037 – 1101 Der Dichter, Maler, Kalligraph und Politiker der Song-Dynastie (976 – 1279) Su Shi, auch bekannt unter seinem Beinamen Su Dongpo, verbringt Jahre in freiwilligem oder auch aufgezwungenem Exil. Die ‹Ode an den Mohn› stammt aus dieser Zeit: «Seit drei Jahren ist meine Tür verschlossen geblieben; ich war nirgendwo und ich kam nicht zu-rück von irgendwo; in Träumen sehe ich den Eremiten im Schatten und den buddhistischen Priester mit der langen Robe und wenn sie nahe bei mir sitzen, vergesse ich fröhlicherweise zu reden; eine Tasse Mohn-Tee trinkend, lache ich, ich bin zufrieden; ohne meinen Platz zu verlassen, gehe ich in die Stadt Yung-Chuen und ich wandere an den Flussufern, es scheint mir auch, als ob ich die Seiten des Lu Berges hinauf steige, der aber recht weit von meinem Haus entfernt ist, im Westen, und ich bin glücklich» (Pluchon 1887).

ab circa 1100 Anbau von Opium in China vor allem zu medizinischen Zwecken.

Bild S. 26 / 27 >Tabak- und Opiumraucher in China, Fotografie; vor 1889; 20×26 cm;

Inv.-Nr. (F)IId 2895; Slg. Georges Passavant