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In den Aufgabenstellungen werden unterschiedliche Operatoren (Arbeitsan- weisungen) verwendet; sie weisen auf unterschiedliche Anforderungsbereiche (Schwierigkeitsgrade) hin und bedeuten, dass unterschiedlich viele Punkte erzielt werden können. Die Lösungen zeigen beispielhaft, welche Antworten die verschiedenen Operatoren erfordern. Alles Wissenswerte rund um die Abiprüfung finden Sie im Buch im Kapitel „Prüfungsratgeber und Prüfungsaufgaben“. Originalklausuren mit Musterlösungen zu weiteren Fächern finden Sie auf www.duden.de/abitur in der Rubrik „SMS Abi“. Das Passwort zum Download befindet sich auf der vorderen Umschlagklappe. Die Veröffentlichung der Abitur-Prüfungsaufgaben erfolgt mit Genehmigung des zuständigen Kultusministeriums. Das Schnell-Merk-System fürs Abi – aufschlagen, nachschlagen, merken Buch … Prüfungswissen für Oberstufe und Abitur systematisch aufbereitet nach dem SMS-Prinzip Extrakapitel mit Prüfungsaufgaben zu allen Unterrichts- einheiten, zu Operatoren und Anforderungsbereichen … und Download Originalklausuren mit Musterlösungen als Beispiele für den Umgang mit Operatoren kostenlos auf www.duden.de/abitur Für die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Geschichte, Biologie, Chemie, Physik sowie Politik und Wirtschaft Originalklausur mit Musterlösung Abitur Deutsch Aufgabe I: August von Platen: Tristan und Isolde / Heinrich Heine: Reisebilder Aufgabe II: Johann Wolfgang von Goethe: Torquato Tasso Aufgabe III: Günter Grass: Die Blechtrommel / Patrick Süskind: Das Parfum Aufgabe IV: Zitat August Stramm Aufgabe V: Zitat Johann Wolfgang von Goethe Aufgabe V: Uwe Timm: Der Gedankenstrich

Originalklausur...Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) Torquato Tasso (1789 vollendet) (Orthographie entsprechend der Harnburger Ausgabe) Fünfter Aufzug. Fünfter Auftritt. Tasso. Antonio

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  • In den Aufgabenstellungen werden unterschiedliche Operatoren (Arbeitsan-weisungen) verwendet; sie weisen auf unterschiedliche Anforderungsbereiche (Schwierigkeitsgrade) hin und bedeuten, dass unterschiedlich viele Punkte erzielt werden können. Die Lösungen zeigen beispielhaft, welche Antworten die verschiedenen Operatoren erfordern.

    Alles Wissenswerte rund um die Abiprüfung finden Sie im Buch im Kapitel „Prüfungsratgeber und Prüfungsaufgaben“.

    Originalklausuren mit Musterlösungen zu weiteren Fächern finden Sie auf www.duden.de/abitur in der Rubrik „SMS Abi“. Das Passwort zum Download befindet sich auf der vorderen Umschlagklappe.

    Die Veröffentlichung der Abitur-Prüfungsaufgaben erfolgt mit Genehmigung des zuständigen Kultusministeriums.

    DasSchnell-Merk-SystemfürsAbi– aufschlagen,nachschlagen,merken

    Buch…

    ■ Prüfungswissen für Oberstufe und Abitur ■ systematisch aufbereitet nach dem SMS-Prinzip ■ Extrakapitel mit Prüfungsaufgaben zu allen Unterrichts- einheiten, zu Operatoren und Anforderungsbereichen

    …undDownload■ Originalklausuren mit Musterlösungen als Beispiele für den Umgang mit Operatoren ■ kostenlos aufwww.duden.de/abitur

    Für die Fächer Deutsch, Englisch, Mathematik, Geschichte,Biologie, Chemie, Physik sowie Politik und Wirtschaft

    Originalklausurmit Musterlösung

    AbiturDeutschAufgabeI: August von Platen: Tristan und Isolde / Heinrich Heine: ReisebilderAufgabeII: Johann Wolfgang von Goethe: Torquato TassoAufgabeIII: Günter Grass: Die Blechtrommel / Patrick Süskind: Das ParfumAufgabeIV: Zitat August StrammAufgabeV: Zitat Johann Wolfgang von GoetheAufgabeV: Uwe Timm: Der Gedankenstrich

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    DEUTSCH

    Arbeitszeit: 300 Minuten

    Der Prüfling hat ein e Aufgabe seiner Wahl zu bearbeiten.

    Als Hilfsmittel sind- auch im Hinblick aufWorterklärungen -

    Wörterbücherzur deutschen Rechtschreibung (ausgenommen

    digitale Datenträger) zugelassen.

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    AUFGABEl

    (Erschließung eines poetischen Textes)

    Erschließen und interpretieren Sie das folgende Gedicht! Fassen Sieanschließend die Argumentation von Text B kurz zusammen und kllJ.ren Sie,inwiefern die Einbeziehung von Text B zu einer veränderten Lesart des Gedichtsführen kann! Diskutieren Sie abschließend die Frage, ob der Lebenswandel oderdie Veranlagung eines Schriftstellers für die Beurteilung seines Werkes vonBelang ist!

    Text A

    AuJtust von Platen 796-1835)

    1 (erste FasslUlg, 1825)

    Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,

    Ist dem Tode schon anheimgegeben,Wird für keinen Dienst auf Erden taugen,Und doch wird er vor dem Tode beben,Wer die Schönheit angeschaut mit Augen!5

    Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!Denn ein Tor nur kann auf Erden hoffen,Zu genügen einem solchen Triebe:Wen der Pfeil des Schönen je getroffen,Ewig währt für ihn der Schmerz der Liebe!10

    Was er wünscht, das ist ihm nie geworden,Und die Stunden, die das Leben spinnen,Sind nur Mörder, die gemach ihn morden:Was er wiJl, das wird er nie gewinnen,Was er wünscht, das ist ihm nie geworden!15

    Ach, er möchte wie ein Quell versiechen,jedem Hauch der Luft ein Gift entsaugen,Und den Tod aus jeder Blume riechen:Wer die Schönheit angeschaut mit Augen,Ach, er möchte wie ein Quell versiechen!20

    -Platen beabsichtigte, ein Drama mit dem Titel Tristan und Isolde zu verfassen. Dasvorliegende Gedicht sollte dem Drama voranstehen. Der seit dem Mittelalter überlieferteStoff handelt von -aus gesellschaftlichen Gründen -unerfiillbarer Sehnsucht und

    tragischern Liebestod.In der zweiten Fassung des Gedichts (1834) hat Platen diese Strophe entfernt.

    (Fortsetzung nächste Seite)

  • 3

    Text B

    Heinrich Heine (1797-1856)

    Reisebüder. Die Bäder von Lukka. Kapitel XI. (1829)(Orthographie entsprechend der kritischen Ausgabe)

    [. ..] Ueberall in den Platenschen Gedichten sehen wir den Vogel Strauß, der nurden Kopf verbirgt, den eiteln ohnmächtigen Vogel, der das schönste Gefiederhat und doch nicht fliegen kann, und zänkisch humpelt über die polemischeSandwüste der Literatur. Mit seinen schönen Federn ohne Schwungkraft, mitseinen schönen Versen ohne poetischen Flug, bildet er den Gegensatz zu jenemAdler des Gesanges, der minder glänzende Flügelhat, aber sich damit zur Sonneerhebt -ich muß wieder auf den Refrain zurückkommen: der Graf Platen istkein Dichter.Von einem Dichter verlangt man zwey Dinge; in seinen lyrischen Gedichtenmüssen Naturlaute, in seinen epischen oder dramatischen Gedichten müssenGestalten seyn. Kann er sich in dieser Hinsicht nicht legitimiren, so wird ihmder Dichtertitel abgesprochen, selbst wenn seine übrigen Familienpapiere undAdelsdiplome in der größten Ordnung sind. Daß letzteres bey dem Grafen Platender Fall seyn mag, daran zweifle ich nicht, und ich bin überzeugt, er würdemitleidig heiter lächeln, wenn man seinen Grafentitel verdächtig machen wollte;aber wagt es nur, über seinen Dichtertitel, mit einer einzigen Xenie! dengeringsten Zweifel zu verrathen -gleich wird er sich ingrimmig niedersetzenund fi.infaktige Satyren4 gegen Euch drucken. Denn die Menschen halten um soeifriger au;f einen Titel, je zweydeutiger und ungewisser der Titulus ist, der siedazu berechtigt. Vielleicht aber würde der Graf Platen ein Dichter seyn, wenn erin einer anderen Zeit lebte, und wenn er außerdem auch ein anderer wäre, als erjetzt ist. Der Mangel an Naturlauten in den Gedichten des Grafen rührt vielleichtdaher, daß er in einer Zeit lebt, wo er seine wahren Gefiihles nicht nennen darf,wo dieselbe Sitte, die seiner Liebe immer feindlich entgegensteht, ihm sogarverbietet, seine Klage darüber unverhüllt auszusprechen, wo er jede Empfindungängstlich verkappen muß, um so wenig das Ohr des Publikums, als das eines»spröden Schönen« durch eine einzige Silbe zu erschrecken. Diese Angst läßtbey ihm keine eignen Naturlaute aufkommen, sie verdammt ihn, die Gefühleanderer Dichter, gleichsam als untadelhaften, vorgefundenen Stoff, metrisch zubearbeiten, und nöthigenfalls zur Vermummung seiner eigenen Gefühle zugebrauchen. [. 00]

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    1(\

    3 mit einer einzigen Xenie: Karl Immermann hatte sich in seinen von Heine in den II. Band

    der Reisebi/der aufgenommenen Xenien (Spottepigrammen) kritisch über Platens Gedichte

    geäußert.4 fünfaktige Satyren: Anspielung auf Platens Schauspiel Der romantische ädipus, in dem er

    Heines jüdische Herkunft lächerlich macht.sseine wahren Gefüh/e: August von Platen galt als homosexuell.

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    AUFGABE II

    (Erschließung eines poetischen Textes)

    a) Erschließen Sie den folgenden Szenenausschnitt, indem Sie Inhalt undAufbau sowie die dramaturgischen und sprachlich-stilistischen Gestal-tungsmittel untersuchen!

    b) Die Figur des Tasso ist als "Paradigma der Modeme" bezeichnet worden.Diskutieren Sie diese These! Beziehen Sie dabei das klassischeMenschenbild und Ihre Kenntnisse der Literatur des 20. Jahrhunderts mit ein!

    Vorbemerkung

    Der Dichter Tasso ist Gast am Hof des Herzogs von Ferrara. Zu Beginn derHandlung überreicht er seinem Gönner ein neues Werk, wofiir er von PrinzessinLeonore mit einem Lorbeerkranz beschenkt wird. Tasso missversteht diese Gesteals Zeichen der Aufnahme in die höfische Gesellschaft. Deshalb wird er vonStaatssekretär Antonio in seine Schranken gewiesen. Tasso reagiert mit einerDuellherausforderung, die eine zeitweilige Verbannung auf sein Zimmer zurFolge hat. Dort steigert er sich in selbstzerstörerische Wahnvorstellungen. Eskommt zu einem weiteren Missverständnis, als Tasso in der vorletzten Szene desDramas Leonore seine Liebe gesteht. Sie weist ihn zurück. Mit der übrigen Hofgesellschaft verlässt die Prinzessin den Schauplatz; nur Antonio bleibt am Ortder Handlung. Der vorliegende Ausschnitt ist die letzteSzene des Dramas.

    Johann Wolfgang Goethe (1749-1832)

    Torquato Tasso (1789 vollendet)(Orthographie entsprechend der Harnburger Ausgabe)

    Fünfter Aufzug. Fünfter Auftritt.

    Tasso. Antonio.

    ANTONIO. O stünde jetzt, so wie du immer glaubst

    Daß du von Feinden rings umgeben bist,Ein Feind bei dir, wie würd er triumphieren?Unglücklicher, noch kaum erhol ich mich!

    Wenn ganz was Unerwartetes begegnet,Wenn unser Blick was Ungeheures sieht,Steht unser Geist auf eine Weile still,Wir haben nichts womit wir das vergleichen.TASSO nach einer langen Pause.Vollende nur dein Amt, ich seh du bist's!Ja du verdienst das fürstliche Vertraun,

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    Vollende nur dein Amt, und martre mich,Da mir der Stab gebrochen ist, noch langsamZu Tode! Ziehe! Zieh am Pfeile nur,Daß ich den Widerhaken grimmig fuhleDer mich zerfleischt!Du bist ein teures Werkzeug des Tyrannen,Sei Kerkermeister, sei der Marterknecht,Wie wohl! wie eigen steht dir beides an!

    Gegen die Szene. ~Ja, gehe nur Tyrann! Du konntest dich h~Nicht bis zuletzt verstellen, triumphiere! ~Du hast den Sklaven wohl gekettet, hast ~Ihn wohl gespart zu ausgedachten Qualen: :~

    Geh nur, ich hasse dich, ich fuhle ganzDen Abscheu, den die Übermacht erregt,Die frevelhaft und ungerecht ergreift.

    Nach einer Pause.So seh ich mich am Ende denn verbannt,Verstoßen und verbannt als Bettler hier?So hat man mich bekränzt, um mich geschmücktAls Opfertier vor den Altar zu fuhren.So lockte man mir noch am letzten TageMein einzig Eigentum, mir mein Gedicht iMit glatten Worten ab und hielt es fest! c~Mein einzig Gut ist nun in euren Händen, .

    Das mich an jedem Ort empfohlen hätte,Das mir noch blieb vom Hunger mich zu retten!Jetzt seh ich wohl warum ich feiern soll.Es ist Verschwörung, und du bist das Haupt.Damit mein Lied nur nicht vollkommner werde,Daß nur mein Name sich nicht mehr verbreite,Daß meine Neider tausend Schwächen finden,Daß man am Ende meiner gar vergesse;Drum soll ich mich zum Müßiggang gewÖhnen-Drum soll ich mich und meine Sinne schonen.O werte Freundschaft, teure Sorglichkeit!Abscheulich dacht ich die Verschwörung mir,Die unsichtbar und rastlos mich umspann,Allein abscheulicher ist es geworden.

    Und du, Sirene! die du mich so zart,So himmlisch angelockt, ich sehe nunDich auf einmal! O Gott warum so spät!

    Allein wir selbst betrügen uns so gern,

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    Und ehren die Verworfnen die uns ehren.Die Menschen kennen sich einander nicht;Nur die Galeerensklaven kennen sich,Die eng an ein e Bank geschmiedet keuchen;Wokeiner was zu fordern hat und keinerWas zu verlieren hat, diekennen sich!Wo jeder sich fiir einen Schelmenl gibt,Und seinesgleichen auch fiir Schelmen nimmt-Doch wir verkennen nur die andern höflich-Damit sie wieder uns verkennen sollen.

    Wie lang verdeckte mir dein heilig BildDie Buhlerin, die kleine Künste treibt.Die Maske fallt, Anniden2 seh ich nunEntblößt von allen Reizen -ja, du bist's!Von dir hat ahndungsvoll mein Lied gesungen!

    Und die verschmitzte kleine Mittlerin!Wie tief erniedrigt seh ich sie vor mir!Ich h öre nun die leisen Tritte rauschen,Ich kenne nun den Kreis um den sie schlich.Euch alle kenn ich.! Sei mir das genug!Und wenn das Elend alles mir geraubt,So preis ich's doch, die Wahrheit lehrt es mich.ANTONIO. Ich h öre, Tasso, dich mit Staunen an,So sehr ich weiß wie leicht dein rascher GeistVon einer Grenze zu der andern schwankt.Besinne dich! Gebiete dieser Wut!Du lästerst, du erlaubst dir Wort auf Wort,Das deinen Schmerzen zu verzeihen ist,Doch das du selbst dir nie verzeihen kannst.T ASSO. O sprich mir nicht mit sanfter Lippe zu,Laß mich kein kluges Wort von dir vernehmen!LaB mir das dumpfe Glück, damit ich nichtMich erst besinne, dann von Sinnen komme.Ich fiihle mir das innerste GebeinZerschmettert, und ich leb um es zu fuhlen.Verzweiflung faßt mit aller Wut mich an,Und in der Höllenqual die mich vernichtetWird Lästrung nur ein leiser Schmerzenslaut.Ich will hinweg! Und wenn du redlich bist,So zeig es mir, und laB mich gleich von hinnen.ANToNIo. Ich werde dich in dieser Not nicht lassen;

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    I Schelm: hier kriiftiges Schimpfwort flir "Lump", "Betrüger"2 Armiden: Armida, Figur aus Tassos Werk, charakterisiert als reizvoIleZauberin

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    Und wenn es dir an Fassung ganz gebricht,So soll mir's an Geduld gewiß nicht fehlen.TASSO. So muß ich mich dir denn gefangen geben?Ich gebe mich und so ist es getan;Ich widerstehe nicht, so ist mir wohl -

    Und laß es dann mich schmerzlich wiederholen,Wie schön es war was ich mir selbst verscherzte.Sie gehn hinweg -O Gott! dort seh ich schonDen Staub der von den Wagen sich erhebt -

    Die Reutd sind voraus -dort fahren sie,Dort gehn sie hin! Kam ich nicht auch daher?Sie sind hinweg, sie sind erzürnt auf mich.O küßt ich nur noch einmal seine Hand!O daß ich nur noch Abschied nehmen könnte!Nur einmal noch zu sagen: o verzeiht!Nur noch zu hören: Geh, dir ist verziehntAllein ich hör es nicht, ich hör es nie -

    Ich will ja gehn! Laßt mich nur Abschied nehmen,Nur Abschied nehmen! Gebt, o gebt mir nurAuf einen Augenblick die GegenwartZurück! Vielleicht genes ich wieder. Nein,Ich bin verstoßen, bin verbannt, ich habeMich selbst verbannt, ich werde diese StimmeNicht mehr vernehmen, diesem Blicke nicht,Nicht mehr begegnen-ANTONIO. Laß eines Mannes Stimme dich erinnern,Der neben dir nicht ohne Rührung steht!Du bist so elend nicht als wie du glaubst.Ermanne dich! Du gibst zu viel dir nach.TASSO. Und bin ich denn so elend wie ich scheine?Bin ich so schwach wie ich vor dir mich zeige?Ist alles denn verloren? Hat der Schmerz,Als schütterte der Boden, das GebäudeIn einen grausen Haufen Schutt verwandelt?Ist kein Talent mehr übrig, tausendfaltigMich zu zerstreun, zu unterstützen?Ist alle Kraft verloschen, die sich sonstIn meinem Busen regte? bin ich ni c ht s ,Ganz nichts geworden?Nein, es ist alles da und ich bin nichts;Ich bin mir selbst entwandt, sie ist es mir!ANToNIo. Und wenn du ganz dich zu verlieren scheinst,

    3 Reuter: veraltetfilr "Reiter"

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    Vergleiche dich! Erkenne was du bist!TASSO. Ja, du erinnerst mich zur rechten Zeit! -

    Hilft denn kein Beispiel der Geschichte mehr?Stellt sich kein edler Mann ~r vor die Augen,Der mehr gelitten als ich jemals litt,Damit ich mich mit ihm vergleichend fasse?Nein, alles istdahin! -Nur eines bleibt:Die Träne hat uns die Natur verliehen,Den Schrei des Schmerzens, wenn der Mann zuletztEs nicht mehr trägt -Und mir noch über alles -

    Sie ließ im Schmerz mir Melodie und Rede,Die tiefste Fülle meiner Not zu klagen:Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt,Gab mir ein Gott zu sagen, wie ich leide.ANTONIO tritt zu ihm und nimmt ihn bei der Hand.TASSO. O edler Mann! Du stehest fest und still,Ich scheine nur die sturmbewegte Welle.Allein bedenk, unduberhebe nichtDich deiner Kraft! Die mächtige Natur,Die diesen Felsen gründete, hat auchDer Welle die Beweglichkeit gegeben.Sie sendet ihren Sturm, die Welle fliehtUnd schwankt und schwillt und beugt sich schäumend über.In dieser Woge spiegelte so schönDie Sonne sich, es ruhten die GestimeAn dieser Brust, die zärtlich sich bewegte.Verschwunden ist der Glanz, entflohn die Ruhe.Ich kenne mich in der Gefahr nicht mehr,Und schäme mich nicht mehr es zu bekennen.Zerbrochen ist das Steuer und es krachtDas Schiff an allen Seiten. Berstend reißtDer Boden unter meinenfüßen auf!Ich fasse dich mit beiden Armen an!So klammert sich der Schiffer endlich nochAm Fel~en fe~t.- an dem er ~cheitem sollte.

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    AUFGABE III

    (Erschließung eines poetischen Textes)

    a) Erschließen und vergleichen Sie anhand geeigneter Analysekriterien diefolgenden zwei Romanausschnitte, die beide die Lebensgeschichte desHelden mit seiner Geburt beginnen lassen! Arbeiten Sie dabei heraus, welcheEigenschaften der Figuren hier bereits angelegt werden!

    b) Zeigen Sie, ausgehend von Ihren Ergebnissen, anhand geeigneter Erzähltexteauf, wie die Hauptfigur in anderen Werken eingefiihrt wird und welcheRückschlüsse auf die Anlage der jeweiligen Figur daraus abzuleiten sind!

    Vorbemerkung zu Text A

    Der folgende Textausschnitt .\,tammt aus dem Einleitungsteil des Romans überOskar Matzerath, der mit drei Jahren beschließt, nicht mehr zu wachsen. undder fortan mit seiner Blechtrommel sowie markdurchdringendem Schreien dieOrdnung der Erwachsenenwelt stört.

    Text A

    Günter Grass (geb. 1927)

    Die Blechtrommel ( 1959)

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    [...] Mama kam zu Hause nieder. Als die Wehen einsetzten, stand sie nochim

    Geschäft und füllte Zucker in blaue Pfund- und Halbpfundtüten ab. Schließlichwar es für den Transport in die Frauenklinik Z'.l spät; eine ältere Hebamme, dienur noch dann und wann zu ihrem Köfferchen griff, musste aus der nahenHertastraße gerufen werden. Im Schlafzimmer half sie mir und Mama,voneinander loszukommen.Ich erblickte das Licht dieser Welt in Gestalt zweier Sechzig-Watt-Glühbirnen.Noch heute kommt mir deshalb der Bibeltext: "Es werde Licht und es ward

    Licht" -wie der gelungenste Werbeslogan der Finna Osram vor. Bis auf denobligaten Dammriß1 verlief meine Geburt glatt. Mühelos befreite ich mich ausder von Müttern, Embryonen und Hebammen gleichviel geschätzten Kopflage.Damit es sogleich gesagt sei: Ich gehörte zu den hellhörigen Säuglingen, derengeistige Entwicklung schon bei der Geburtabgeschlossen ist und sich fortan nurnoch bestätigen muß. So unbeeinflußbar ich als Embryo nur auf mich gehört undmich im Fruchtwasser spiegelnd geachtet hatte, so kritisch lauschte ich den

    ersten spontanen Äußerungen der Eltern unter den Glühbirnen. Mein Ohr warhellwach. Wenn es auch klein, geknickt, verklebt und allenfalls niedlich zu

    benennen war, bewahrte es dennoch jede jener für mich fortan so wichtigen,weil als erste Eindrücke gebotenen Parolen. Noch mehr: was ich mit dem Ohreinfing, bewertete ich sogleich mit winzigstem Hirn und beschloß, nachdem ich

    I Dammtiß: häufige VerletZung der Gebärenden bei der Geburt

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    alles Gehörte genug bedacht hatte, dieses und jenes zu tun, anderes gewiß zu

    lassen."Ein Junge", sagte jener Herr Matzerath, der in sich meinen Vater vermutete."Er wird später einmal das Ge~chäft übernehmen. Jetzt wissen wir endlich,

    wofiir wir uns so abarbeiten."Mama dachte wenigerans Geschäft, mehr an die Ausstattung ihres Sohnes: "Na,wußt' ich doch, dass es ein Jungchen ist, auch wenn ich manchmal jesagt hab',

    es wird ne Marjell."So machte ich verfrühte Bekanntschaft mit weiblicher Logik und hörte mirhinterher an: "Wenn der kleine Oskar drei Jahre alt ist, soll er eine

    Blechtrommel bekommen."Längere Zeit mütterliches und väterliches Versprechen gegeneinanderabwägend, beobachtete und belauschteich, Oskar, einen Nachtfalter, der sich insZimmer verflogen hatte. Mittelgroß und haarig umwarb er die beiden Sechzig-Watt-Glühbirnen, warf Schatten, die in übertriebenem Verhältnis zurSpannweite seiner Flügel den Raum samt Inventar mit zuckender Bewegungdeckten, fiillten, erweiterten. Mir blieb jedoch weniger das Licht- undSchattenspiel, als vielmehr jenes Geräusch, welches zwischen Falter undGlühbirne laut wurde: Der Falter schnatterte, als hätte er es eilig, sein Wissenloszuwerden, als käme ihm nicht mehr Zeit zu fiir spätere Plauderstunden mit

    Lichtquellen, als wäre das Zwiegespräch zwischen Falter und Glühbirne injedem Fall des Falters letzte Beichte und nach jener Art von Absolution, dieGlühbirnen austeilen, keine Gelegenheit mehr fiir Sünde und Schwärmerei.

    Heute sagt Oskar schlicht: Der Falter trommelte. [ ...]

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    Vorbemerkung zu Text B

    Der folgende Textausschnitt stammt aus dem Einleitungsteil des Romans überden Einzelgänger Grenouille, der über einen außerordentlichen Geruchssinnverfügt und aufgrund der Idee, den Geruch junger Mädchen destillieren zuwollen, zum Massenmörder wird.

    Text B

    Patrick Süskind (geh. 1949)

    Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders (1985)

    [...] Hier nun, am allerstinkendsten Ort des gesamten Königreichs, wurde am17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren. Es war einer der heißesten Tagedes Jahres. Die Hitze lag wie Blei über dem Friedhof und quetschte den nacheiner Mischung aus fauligen Melonen und verbranntem Horn riechendenVerwesungsbrodem in die benachbarten Gassen. Grenouilles Mutter stand, alsdie Wehen einsetzten, an einer Fischbude in der Rue aux Fers und schuppteWeißlinge, die sie zuvor ausgenommen hatte. Die Fische, angeblich erst amMorgen aus der Seine gezogen, stanken bereits so sehr, daß ihr Geruch den

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    Leichengeruch überdeckte. Grenouilles Mutter nahm weder den Fisch- noch denLeichengeruch wahr, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maßeabgestumpft, und außerdem schmerzte ihr Leib, und der Schmerz tötete alleEmpfanglichkeit ftir äußere Sinneseindrücke. Sie wollte nur noch, daß derSchmerz aufhöre, sie wollte die eklige Geburt so rasch als möglich hinter sich

    bringen. Es war ihre fünfte. Alle vorhergehenden hatte sie hier an der Fischbudeabsolviert, und alle waren Totgeburten oder Halbtotgeburten gewesen, denn das

    blutige Fleisch, das da herauskam, unterschied sich nicht viel von demFischgekröse, das da schori lag, und lebte auch nicht viel mehr, und abendswurde alles mitsammen weggeschaufelt und hinübergekarrt zum Friedhof oder

    hinunter zum Fluß. So sollte es auch heute sein, und Grenouilles Mutter; dienoch eine junge Frau war, gerade Mitte zwanzig, die noch ganz hübsch aussah

    und noch fast alle Zähne im Munde hatte und auf dem Kopf noch etwas Haarund außer der Gicht und der Syphilis und einer leichten Schwindsucht keineernsthafte Krankheit; die noch hoffte, lange zu leben, vielleicht fünf oder zehnJahre lang, und vielleicht sogar einmal zu heiraten und wirkliche Kinder zubekommen als ehrenwerte Frau eines verwitweten Handwerkers oder so ...Grenouilles Mutter wünschte, daß alles schon vorüber wäre. Und als diePreßwehen einsetzten, hockte sie sich unter ihren Schlachttisch und gebar dort,wie schon vier Mal zuvor, und nabelte mit dem Fischmesser das neugeboreneDing ab. Dann aber, wegen der Hitze und des Gestanks, den sie als solchen nichtwahrnahm, sondern nur als etwas Unerträgliches, Betäubendes -wie ein Feldvon Lilien oder wie ein enges Zimmer, in dem zuviel Narzissen stehen -,wurdesie ohnmächtig, kippte zur Seite, fiel unter dem Tisch hervor mitten auf dieStraße und blieb dort liegen, das Messer in der Hand-Geschrei, Gerenne, im Kreis steht die glotzende Menge, man holt die Polizei.Immer noch liegt die Frau mit dem Messer in der Hand auf der Straße, langsamkommt sie zu sich.Was ihr geschehen sei?

    "Nichts."Was sie mit dem Messer tue?

    "Nichts."Woher das Blut an ihren Röcken komme?" Von den Fischen."Sie steht auf, wirft das Messer weg und geht davon, um sich zu waschen.Da fängt, wider Erwarten, die Geburt unter dem Schlachttisch zu schreien an.Man schaut nach, entdeckt unter einem Schwarm von Fliegen und zwischenGekröse und abgeschlagenen Fischköpfen das Neugeborene, zerrt es heraus.Von Amts wegen wird es einer Amme gegeben, die Mutter festgenommen. Undweil sie geständig ist und ohne weiteres zugibt, daß sie das Ding bestimmt

    würde haben verrecken lassen, wie sie es im übrigen schon mit vier anderengetan habe, macht man ihr den Prozeß, verurteilt sie wegen mehrfachenKindermords und schlägt ihr ein paar Wochen später auf der Place de Greve denKopfab. r...l

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    AUFGABE IV

    (Erörterung)

    "Der Raum ertrinkt in Einsamkeit"

    (August Stramm, Dämmerung)

    Untersuchen Sie die Gestaltung des Schauplatzes bzw .des Raums in

    literarischen Werken unterschiedlicher Epochen und zeigen Sie seine jeweiligeFunktion aufl Berücksichtigen Sie dabei den literaturgeschichtlichen Hinter-

    grund!

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    AUFGABE V

    (Erörterung)

    "Es ist mit Meinungen, die man wagt, wie mit Steinen, die man voran im Brettebewegt: sie können geschlagen werden, aber sie haben ein Spiel eingeleitet, dasgewonnen wird."(Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen)

    Erörtern Sie, ausgehend von einer Erläuterung dieser These, Chancen undRisiken von Meinungsäußerungen im öffentlichen Diskurs!

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    AUFGABE VI(Erörterung anhand eines Textes)

    a) Erarbeiten Sie die Argumentationsstruktur des folgenden Textes und klärenSie, welche Leistungen der Autor dem Gedankenstrich zuschreibt! Berück-sichtigen Sie dabei auch auffallige sprachlich-stilistische Merkmale!

    b) Erörtern Sie, auch unter Einbeziehung Ihrer Ergebnisse, inwiefernSchriftsprache der Regelhaftigkeit bedart1 Berücksichtigen Sie dabeiinsbesondere kommunikative Erfordernisse von Sprache und Möglichkeitenpoetischen Sprachgebrauchs !

    Uwe Timm (geb. 1940)

    Der Gedankenstrich (2002)

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    ...Der Gedankenstrich, das ist mein erster Eindruck, wird heute nur moderatgenutzt. Dort wo er gesetzt wird, steht er fast immer nach den vier Regeln, dieim Duden genannt werden: I. Er kündigt etwas Folgendes, Unerwartetes an. 2.Den Wechsel des Themas und Sprechers. 3. Zusätze und Nachträge k5nnendeutlich vom übrigen Text abgetrennt werden. 4. Wird seine Stellung vor Frage-und Ausrufezeichen beschrieben.In dieser Bestimmung ist der Gedankenstrich kaum etwas anderes als einhorizontales geradegebogenes Komma. Formuliert werden hier sYntaktischeRegeln, die nichts von dem Bedeutungsüberschuß dieses Satzzeichens verratenund wohl den berühmtesten Gedankenstrich in der Deutschen Literatur nicht-hinlänglich erfassen k5nnen."Er stieß noch dem letzten viehischen Mordknecht, der ihren schlanken Leibumfaßt hielt, mit dem Griff des Degens ins Gesicht, daß er, mit aus dem Mundvorquellendem Blut, zurücktaumelte; bot dann der Dame, unter einerverbindlichen, franz5sischen Anrede den Arm, und fiihrte sie, die von allensolchen Aufbitten sprachlos war, in den anderen, von der Flamme noch nichtergriffenen, Flügel des Palastes, wo sie auch v5llig bewußtlos niedersank. Hier -

    traf er, da bald darauf ihre erschrockenen Frau~ erschienen, Anstalten, einenArzt zu rufen; versicherte, indem er sich den Hut aufsetzte, daß sie sich balderholen würde; und kehrte in den Kampf zurück."Dieser Gedankenstrich in der Kleistschen Erzählung Die Marquise von 0... stehtzwischen dem "Hier" und "traf er ...Anstalten". Beim lauten Lesen bemerktman ihn nicht, er zeigt keinen Wechsel, keinen Zusatz an, und doch steht er fürdas ganze unerh5rte Geschehen -wie soll man es nennen, den Mißbrauch? , dieVergewaltigung? der Marquise. Dieser Gedankenstrich verweist nicht nur aufetwas, was an dieser Stelle ausgelassen ist, sondern er verbindet auch

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    Räumliches mit Zeitlichem, das Hier mit dem Anstalten treffen. Er trennt einenHandlungsteil ab und verbindet ihn mit künftigem Geschehen. Zugleich, und dasist das Wesentliche, verweist er auf etwas, was so nicht zur Sprache gebrachtwerden kann, etwas Körperliches, die Sexualität. Kleist verschweigt hier nichtaus Prüderie oder aus Gründen der Dramatik diesen die ganze Erzählungbestimmenden Tathergang, um dadurch desto stärker die Überraschung, nämlichdie Schwangerschaft der Marquise, hervorzuheben, sondern dieserGedankenstrich weist über den Text hinaus, filhrt als typographischer Strich desLautsystems das Non-Verbale der Imagination dem Leser zu.Von seiner Herkunft ist er auf die Leiblichkeit gerichtet. Der Gedankenstrichkommt in den englischen Dramen um 1600 auf, eine Erfindung, die Ben Jonsonzugeschrieben wird. Ein Zeichen für den Schauspieler, das Pausen und denRhythmus des Sprechenden im Text bestimmen soll. Nicht zufällig ist seineWeiterentwicklung und Differenzierung in England an die Herausbildung desRomans gebunden, an jene Gattung, in der wunderbarerweise alles erlaubt ist.Auch der Leser ist ja ein innerer Sprecher. Der Gedankenstrich hat dabei stetsetwas von dem leiblichen Ursprung behalten, also der Pause, dem Rhythmus,dem Atemschöpfen, aber auch dem Gestischen, Mimischen. Er findet sich beiSamuel Richardson und dann natürlich bei Laurence Sterne, im TristramShandy, hier geradezu exzessiv und sich sogar selbst reflektierend, in insgesamt6 syntaktischen und II semantisch pragmatischen Funktionen, wie MartinaMichelsen herausgearbeitet hat, Funktionen, die sich auch noch untereinanderverbinden können, also zu einer ganz erstaunlichen Bedeutungsvielfalt filhren.Im Horribilicribrifax von Andreas Gryphius taucht er dann 1663 zum erstenMal in der deutschen Literatur auf. Wird aber noch nicht in ZedlersUniversallexikon von 1735 erwähnt, dann aber 1775 in Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart: "eine verächtliche oderwenigstens scherzhafte Benennung desjenigen von den neuen witzigenSchriftstellern nach dem Beispiel der Engländer eingefilhrten orthographischenZeichens, welches in einem oder mehreren Querstrichen besteht ...Häufungdieser Striche sind dem Leser nur zu oft unangenehm oder ekelhaft ..."1808 in Campes Bearbeitung des Adelungschen Wörterbuchs sind alleVorbehalte gestrichen und es wird nur noch die Funktion referiert.In den dazwischenliegenden 33 Jahren hatte die Lust der Empfindsamkeit denEkel an diesem Satzzeichen verdrängt. In Die Leiden des jungen Werthers findetsich in einer hochemotionalen Stelle zugleich eine Reflexion auf denGedankenstrich: "Sieh, und was mich verdrüst, ist, daß Albert nicht so beglüktzu seyn scheinet, als er- hoffte -als ich -zu seyn glaubte -wenn -Ich machenicht gern Gedankenstriche, aber hier kann ich mich nicht anders ausdrukken -und mich dünkt deutlich genug."Er steht filr d~, was nicht verbalisiert werden kann, das gestische Sprechen, dasStammeln, das Unverständnis, wohin Sprache nicht reicht, wo also Sprachedieses Delirium ist, das aus der fundamentalen Nicht-Adäquatheit von Rede undWirklichem besteht, wie Roland Barthes es nennt. Der Gedankenstrich ist also10

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    auch das Zeichen, das diesen Mangel andeutet, ein Mangel, der wiederum durchspielerische Konstruktionen aufgehoben werden kann. Beispiele finden sich inder neueren deutschen Literatur insbesondere bei Arno Schmidt, der ihn, anSterne geschult, einsetzt, wie in dem Roman Aus dem Leben eines Fauns: "Sosteckte ich die Aktentasche hinter einen Busch zum Stock, und untersuchte dasTerrain: " Die Gedankenstriche verbildlichen die. Schritte wie Fußstapfen

    und fuhren buchstäblich ins Non-Verbale.Wen wundert es, daß der Gedankenstrich nicht von der Rechtschreibreformerfaßt wurde. Im Gegensatz zu dem anderen Strich in der Satzzeichenlehre, demBindestrich, der auch immer ein Trennungsstrich ist und neuerdings Plackerei zu

    Pla-ckerei zerlegt.Der Gedankenstrich hingegen ist in dem funktionalen Zeichensystem wie einPartisan, der Leben in das Ordnungssystem bringt, und Leben, dort wo eswächst, zeichnet sich durch Chaos aus. Er erinnert von seiner Herkunft an denLeib, an die Stimme, an den Atem, also an den Ursprung des Lautsystems, indessen gedruckter Form er sich nun als Vagantherumtreibt. Und er findet sich ineiner Sprache, die noch das Kolloquiale im Ohr hat, nicht zufällig also bei ArnoSchmidt.Daß er heute sich mehr auf die syntaktisch-grammatikalischen Normenzurückgezogen hat, ist möglicherweise mit der Stimmenfeme in der Literatur zuerklären; auch daß alles auserzählt werden kann, Sexualität kaum noch einGeheimnis ist, Emotionen geradezu gemieden werden -verklemmt -was sichdann als hoher Stil selbst feiert. Vielleicht bedürfen auch die Ellipsen,Anakoluthe, die Brüche und Cuts heute für den geübten Leser keiner Hervor-hebung mehr. Und so hat der Gedankenstrich, als habe er sich scheuzurückgezogen, auch an Länge verloren, ist heute typographisch auf 3/4 seinesfrüheren Gevierts geschrumpft.Andererseits wachsen ihm immer wieder neue Möglichkeiten zu, wie beispiels-weise in den von Spitzeln mitgelesenen Briefen in der Nazizeit, in denen, wieein Physiker erzählte, der Gedankenstrich am Ende eines Satzes die Umkehrungder Aussage bedeutete. Eine partisanenhafte Inversion. Und wer weiß, vielleichttaucht er wieder verstärkt auf, überraschend, in einer Literatur, die sich denEmotionen zuwendet, die sich der gesprochenen Sprache zuneigt, vielleichterlangt er dann auch wieder seine ihm zugehörige ursprüngliche Länge.

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    Musterlösungen für die Prüfungsaufgaben Abitur Prüfungsfach: Deutsch (Bayern 2008) Autorin: Annette Schomber

    I. Aufgabe a) Gedichtinterpretation In dem Gedicht geht es um die Bedeutung von Schönheit und dessen Auswirkungen auf das irdische Leben; derjenige, der Schönheit erfährt und diese sieht, wird von ihr so sehr in den Bann gezogen, so dass er für das alltägliche Leben nur noch wenig taugt (Z. 3). Darüber hinaus ist die Erfahrung des Schönen ein Art „Todesurteil“, d. h. die Schönheit – und damit ist die Schönheit und Reinheit der Liebe gemeint – ist mit Schmerz und Leid verbunden (Z. 6), denn diese Schöne kann nicht erreicht werden und verspricht keine Erlösung. Vielmehr wünscht sich derjenige, der die Schönheit sieht und spürt, Erlösung in Form des Todes; er verspürt Todessehnsucht (Vergl. 4. Strophe) – er sieht in all den schönen Dingen den Tod, den er „aus jeder Blume“ (Z. 18) riecht. Somit wird das Leben zur Qual – es bleibt die Resignation bis hin zu einem radikalen Pessimismus. Mittels der Schönheit soll die entfremdete und zerstörte Realität überwunden werden, doch dies bleibt ein unerfüllbarer Wunsch; dieser Wunsch wird soweit übersteigert, dass der Tod als letzter möglicher Wunsch noch bleibt. Formale und sprachliche Besonderheiten

    liedhaft wirkende Strophe, bestehend aus 4 Strophen; die Strophen bestehen wiederum aus 4 Verszeilen; die vierte Zeile ist jeweils ein Kehrreim;

    Kreuzreim mit meist weiblichen Kadenzen; fallender Fünftakter Die „Schönheit“ und die Erfahrung derselben wird leitmotivisch wiederholt und zeigt somit die Bedeutung dieser Thematik;

    Personifikationen und Vergleiche dominieren das Gedicht (Z. 12f; Z. 16) Wortfeld „Tod“; Todbringendes wird thematisiert und mit Schönheit kontrastiert, die mit den Verben „hoffen“ und „wünschen“ in Verbindung gebracht werden; Verben der Wahrnehmung („angeschaut“ oder „riechen“) weisen auf eine sinnlich Erfahrung hin, die keineswegs vom Verstand gesteuert wird.

    b) Die Argumentation von Text B Heine behauptet klar und unverblümt, dass Platen kein Dichter ist (Z. 7f.), weil er

    nur Oberflächliches präsentiert; er lediglich auf das schöne Äußere achtet, ohne inhaltliche Aussagen zu machen (Z. 1 – 10);

    seine „lyrischen Gedichte“ nicht den „Lauten“ der Natur folgen (Z. 10), d. h. er bringt seine wahren Gefühle nicht zu Papier, da Platen selbst seine Gefühle zeitlebens

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    unterdrückt hat, d. h. seine Homosexualität nicht auslebte (Z. 20 ff.) – seine Gedichte verbalisieren keineswegs seine wahren Gefühle; falsches Pathos

    seine lyrischen und epischen Gedichte keine „Gestalten“ beinhalten (Z. 11); sie sind daher bedeutungslos und wenig aussagekräftig;

    seine Lyrik nicht zeitgemäß ist– Platen selbst fühlte sich in formalen Fragen sehr vom klassischen Vorbild abhängig und er wurde auch häufig mit dem Vorwurf des Eklektizismus konfrontiert (Heine weist in den Zeilen 1 ff. indirekt darauf hin).

    c) Konsequenzen für das Gedicht von Platen: Der Text Heines kann zu einer veränderten Lesart führen, wobei auch ohne die Lektüre dieses Textes klar wird, dass Platen kein herausragender Dichter war. Man sollte sich darüber im Klaren sein, dass Heine sich aus Wut so despektierlich über Platen und seine Fähigkeiten als Lyriker geäußert hat. Platen hat Heine als Jude denunziert, weswegen Heine fliehen musste. Heines Text kann helfen, das Gedicht mit dem Etikett „Kitsch“ zu versehen; hinzu kommen Heines massive Anschuldigungen, Platen habe seine Gefühle nicht gelebt – diese hinsichtlich des Gedichts wohl wichtigste Aussage lässt die Frage nach der Echtheit des im Gedicht dargestellten Schmerzes aufkommen. Sie stellt somit das gesamte Gedicht in Frage, denn Platen musste zeitlebens seine Gefühle „ängstlich verkappen“. Somit stellt sich die Frage nach der Authentizität und Glaubhaftigkeit des Gedichts.

    d) Lebenswandel/ Veranlagung des Schriftstellers im Verhältnis zu seinem literarischen

    Schaffen. Diese sehr grundsätzliche Frage hängt sehr stark von der eigenen Wahrnehmung und Wertvorstellungen ab, d. h. ob die Glaubwürdigkeit eines literarischen Werks von dem Lebenswandel eines Autors grundsätzlich abhängt. Einerseits ist kein Mensch/ kein Autor perfekt, andererseits ist dann aber zu klären, ab wann die Glaubwürdigkeit eines literarischen Werkes in Mitleidenschaft gezogen wird. Dies wird besonders dann äußerst problematisch, wenn ein Autor in seinem literarischen Werk hohe ethische Werte und Moralvorstellungen vertritt. Ein Werk ist selbstverständlich per se nicht weniger wert, nur weil der Verfasser selbst auf die „schiefe Bahn“ geraten ist. Wenn Rousseau über die Erziehung von Kindern schreibt, so sind seine Ideen und Thesen nicht weniger wert, nur weil er selbst nicht fähig war, seine Kinder zu erziehen. Dadurch wird dem Leser nur einmal wieder mehr vor Augen geführt, dass der Mensch fehlbar ist und dass Autoren keine besseren Menschen sind. Natürlich wünscht sich der Leser – besonders junge Leser – ein Vorbild, das nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis an seinen Ideen festhält. Im Fall Platen scheint dies nicht allzu sehr dramatisch zu sein, denn die Tatsache, dass er sich nicht zu seinen wahren Gefühlen bekannt hat, macht in a priori nicht zu einem schlechten Lyriker (oder weniger glaubhaften) – gerade diese Situation könnte auch der Anlass für ein immens kreatives Potential sein; das Leiden eines Dichters (oder Schriftstellers) allgemein kann die Kreativität beflügeln; dies sagt allerdings noch nichts über die Qualität eines Textes aus. Problematisch wird ein Lebenswandel, der zutiefst verabscheuenswürdig ist – hier wird die Trennung zwischen Werk und Autor extrem heikel und schwierig. Generell sollte man ein Kunstwerk ohne den Lebenswandel eines Autors genießen können, denn es muss für sich stehen können. Die Glaubwürdigkeit eines Textes liegt auch in diesem selbst begründet und auch in der Lesart. Textqualität spiegelt nicht die Qualität des jeweiligen Autors wider. Oder ist die Arbeit eines hervorragenden Chirurgen deshalb schlecht, nur weil er seine Frau schlägt? Er hat vielleicht schon vielen Menschen das Leben gerettet, aber selbst ist er rettungslos in Schuld verstrickt. Diese persönliche Dimension im Lebenswerk eines Autors ist mit Sicherheit wichtig bei der Analyse, aber sie sagt nichts über die Qualität eines Textes aus. Es ist äußerst bedauerlich, dass Mensch und Werk nicht immer vereinbar sind und es bleibt mir als Leser immer noch die Möglichkeit, mich bei der Wahl meiner Lektüre von dem Lebenswandel des Autors leiden zu lassen.

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    II. Aufgabe 1. Erschließen der Szene aus Goethes Torquato Tasso a) Inhalt und Aufbau Tasso stürzt sich nach einer Reihe von Missverständnissen in die Selbstzerstörung, Selbstzerfleischung bis hin zum Selbstverlust. Er stellt sich als Künstler massiv in Frage (Z. 30ff.) und fühlt sich als Künstler missverstanden. Daher wünscht er sich, das Lustschloss seines Gönners verlassen zu können, Antonio versucht ihn jedoch zu ermutigen und seine wahren Talente zu erkennen. Doch Tasso gibt sich auf und fühlt sich dem Untergang nahe und klammert sich in seinem Schmerz wie ein Schiffer an den Felsen(Z. 160 ff.). Es bleibt offen, ob Tasso wirklich Halt findet oder ob seine Tragik fortdauert. Der Dialog zwischen Antonio und Tasso wird von Tassos Ausführungen dominiert Antonio schaltet sich immer nur dazwischen, um Tasso von dem Kurs der nagenden Selbstzweifel abzubringen. Es liegt daher eine eher komplementäre Kommunikation vor, in dem sich die Figuren mittels ungleichen Redeanteilen auseinandersetzen. b) dramaturgische und sprachliche Gestaltungsmittel:

    Blankvers (Shakespeare als Vorbild) Tassos Sensibilität und Selbstzweifel werden durch eine Reihe von sprachlichen Mitteln hervorgehoben:

    rhetorische Fragen (Z. 125ff.); Wortwiederholungen (Abschied, Schmerz, Elend, Verzweiflung); elliptischer Satzbau; kurze Ausrufe; Apostrophe (Z. 108f./ Z. 151) Antiklimax (Z. 217); Metapher aus dem Bereich „Meer“ und „Seefahrt“ (Z. 160ff.)

    2. Tasso als „Paradigma der Moderne“

    die durch Tasso thematisierte Kluft zwischen dem realen Leben und dem ästhetischen Bereich;

    der sensible und wenig geschätzte Künstler; die Lebensferne des Künstlers; die Dominanz einer ästhetischen Existenz; Selbstverlust und Selbstzweifel der Künstlerexistenz; ästhetische Bewältigung des erlebten Leids; ein poetisches Genie, ohne politischen Anspruch; Ästhetik (Tasso) und Politik (Antonio), Emotionalität und gesellschaftliche Normen lassen sich nicht vereinbaren;

    Die Problematik eines schöpferischen Menschen; Verhältnis Umwelt – Künstler; die Verantwortung des Künstlers und die Frage, wem er letztendlich verantwortlich ist; Literatur des 20. Jahrhunderts: Thomas Mann: Tonio Kröger; Der Tod in Venedig; Hermann Hesse, Steppenwolf; die Werke Kafkas (z. B. Auf der Galerie)

    III. Aufgabe 1. Romanausschnitte – ein Vergleich a) Günter Grass: Die Blechtrommel

    Ich-Erzähler (erlebendes Ich); die Art und Weise, wie der Leser die Figuren, die Handlung, den Ort und die Zeit sieht, hängt sehr stark von der Perspektive von Oskar Matzerath ab; dennoch kommentiert und kommuniziert er mit dem Leser, und es wird somit eher auktorial erzählt, das erzählende Ich steht deutlich in einem zeitlichen und

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    geistigen Abstand zu dem erlebenden Ich und er erzählt, wie sich einst seine Geburt zugetragen hat;

    raffender Bericht als dominante Form der Erzählerrede; die fast nüchterne und medizinisch recht fundierte Berichterstattung klingt in Anbetracht der Situation eigenartig und befremdlich; dies wird dadurch erreicht, dass die Figurenrede der gehobenen Stilebene zu zuordnen ist (10 f. Z. 14 f.);

    die äußere Handlung herrscht vor; der Leser wird mit den sichtbaren Vorgängen der Geburt etc. konfrontiert; die Glühbirne wird leitmotivisch wiederholt; auch die zunehmend wichtig werdende Bedeutung der Blechtrommel wird angedeutet (Z. 31 ff.)

    direkte Charakterisierung der Figur selbst, die über sich spricht und nachdenkt; äußere und soziale Merkmale, Verhalten und Denken werden in der direkten Darstellung präsentiert;

    Figurenkonzeption zielt in der Selbstdarstellung von Oskar auf eine statische ab, weil von sich selbst sagt, dass seine „geistige Entwicklung schon bei der Geburt abgeschlossen“ ist und „sich fortan nur noch bestätigen muß“ (Z. 13 ff.); doch der Hinweis darauf, dass er „hellwach“ (Z. 17) ist, zeigt Oskar Fähigkeit, sich zu eine komplexen, dynamischen und offenen Figur zu verwandeln;

    die Bedeutung des Raums, in der die Geburt stattfindet: der Leser erfährt etwas über die Lichtverhältnis und über die Bedeutung der Lichtquelle – dieser Hinweis lässt Rückschlüsse auf die Raumverhältnisse zu – der Eindruck eines kargen Zimmers wird vermittelt, wobei eine Stimmung vermittelt wird, wodurch der Leser sich zunehmend auf die Figur des Oskar konzentriert und mit Spannung erwartet, was mit diesem Kind, das schon – abgesehen von einer äußerlich eher unspektakulären Geburt – einige interessante Eigenschaften sein Eigen nenne darf;

    die Umstände der Geburt werden in einer Rückblende erzählt, wobei die Zeitraffung die Zeitgestaltung beherrscht.

    b) Patrick Süskind: Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders

    auktorialer Er-Erzähler, der mit genauen Beschreibungen des Handlungsortes in das Geschehen einführt; kann die Gefühle und Gedanken der Mutter wiedergeben;

    detaillierter Beschreibung des Handlungsortes, während die Geburt raffend in wenigen Sätzen wiedergegeben wird (Z. 26ff.);

    Textausschnitt beschränkt sich größtenteils auf die äußere Handlung (Beschreibung des Handlungsortes, Geburt und Hinrichtung der Mutter); es gibt eine kurze Passage der Reflektion (Z. 19 ff.) und innere Handlung, in der Vermutungen über die Gedankenwelt der Mutter angestellt werden;

    Indirekte und direkte Charakterisierung: der Text gibt die wesentlichen Informationen zur Mutter, während Grenouille - im Vergleich zu Oskar – nicht zu Wort kommt; hier zeigt sich die Möglichkeit, die der Ich-Erzähler im Vergleich zum Er-Erzähler hat; des Weiteren erzählt Oskar rückblickend, während in der vorliegenden Textpassage chronologisch vorgegangen wird; die Mutter wird mit all ihren Merkmalen (äußere und sozialen), Verhalten und Fühlen erfasst und es wird klar, dass sie einerseits keine Bindung an das Kind hat und auch keine Interesse an dem Baby, andererseits ihr Kind niemals kennenlernen wird, da sie wegen Kindsmord hingerichtet wird; Grenouille hat so andere Startbedingungen als Oskar, der zumindest eine gewisse Akzeptanz durch die Eltern erfährt; die Mutter wird als Figur statisch und geschlossen typisiert wiedergegeben, woraus zu schließen ist, dass es sich bei ihr keineswegs um den Protagonisten handelt;

    der Leser bekommt einen Einblick in das historische Paris, welches olfaktorisch in allen Nuancen beschrieben wird; der Handlungsort wird ausführlich beschrieben, wodurch ein Bild er damaligen Zeit geliefert wird; der Geruch dominiert das Geschehen und zeichnet gleichzeitig ein historisches Bild von Frankreich im 18. Jahrhundert; während zeitraffend von der Geburt berichtet wird, verweilt sich der Erzähler, sobald er die Geruchskulisse der Stadt „zeichnet“; es werden viele Details zu Geruchsentstehung gegeben, so dass hier neben der Zeitraffung auch die Zeitdehnung angewandt wird;

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    das den Geruchsinn Betreffende rückt somit in den Vordergrund und kann als symbolischer Hinweis auf das spätere Leben Grenouilles gesehen werden.

    Sowohl Grenouille als auch Oskar werden durch die Umstände ihrer Geburt geprägt und werden gemäß dieser Umstände sozialisiert. Bei diesen Figuren wird ein Hang zum Extremen bis hin zum Pathologischen deutlich, denn sie verfügen aufgrund der in den Texten geschilderten Umständen über gewisse Fähigkeiten und Sensibilitäten, die durchaus destruktiven Charakter haben können. Die Umstände ihrer Geburt weisen auf das Außergewöhnliche hin, dass jedoch am Rande oder gar außerhalb der Gesellschaft nur existieren kann. Oskar und Grenouille verfügen über Fähigkeiten, doch sie werden keineswegs innerhalb einer Gesellschaft funktionieren können. Sie sind Außenseiter, Ausgestoßene und Unverstandene, die in ihrer Begabung und Ausübung dieser ihre Bestimmung finden. Diese Bestimmung endet im Untergang. 2) Weitere Beispiele aus der Literatur:

    Novalis, Heinrich von Ofterdingen (beginnt jedoch nicht mit der Geburt des Protagonisten, sondern mit dessen Kindheit) – das Kind, das zum Künstler heranreift (Minnesänger);

    Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstablers Felix Krull – Bindungslosigkeit und Narzissmus als zentrale Themen;

    Englische Literatur: Charles Dickens, Oliver Twist/ David Copperfield – elende Kindheit, die, dank Mitmenschlichkeit, überwunden werden kann.

    IV. Aufgabe Untersuchungsgegenstand für die Erörterung könnte das Verhältnis Raum – bedrohte Menschlichkeit sein: 1. Der Raum in dem Roman/ in den Erzählungen der Romantik

    Joseph von Eichendorff: Aus dem Leben eines Taugenichts die Werke von E. T. A. Hoffmann die Werke von Ludwig Tieck

    der Raum als Ort der Sehnsucht (Symbol: die Blaue Blume); der Raum, der die Endlichkeit überbrückt und den Blick in die Unendlichkeit ermöglicht; Raum als Ort, an dem Phantasie und Traum ihren Platz finden; der Raum als Ort des Übernatürlichen 2. Der Raum im Roman des bürgerlichen Realismus:

    Theodor Fontane: Effi Briest Theodor Storm: Immensee Adalbert Stifter: Der Nachsommer

    Der Raum wird gemäß der Epoche detailgetreu dargestellt; der Raum, der wirklichkeitsgetreu nachgezeichnet wird, ist gleichzeitig ein Ort, in der die bürgerliche Enge zum Tragen kommt; er lässt keinen Raum zum Träumen und ein Entkommen ist unmöglich, dabei wird die Einordnung des Einzelnen in die Lebensnotwendigkeiten oder die zwischenmenschlichen Beziehungen eher mit einer gewissen Einsicht in die Notwendigkeit und Zuversicht behandelt; der Raum ließe im bürgerlichen Realismus genügend Platz, aber die gesellschaftlichen Konventionen sind letztendlich Ursache für die räumliche Enge, d. h. der Unmöglichkeit heil zu entkommen. 3. Expressionismus und Weimarer Republik

    Kafka und seine Erzählungen eignen sich hervorragend, das Verhältnis von Raum und Mensch darzustellen; wie kein anderer Autor ist es ihm in seinen Erzählungen und Romanen gelungen, die Entfremdung und die Ängste des Menschen mittels des Raumes zu transportieren; Kafkas Räume bedrohen das Individuum, sie sind

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    menschenleer und angsteinflößend, sie bieten keinerlei „metaphysische Geborgenheit“, sondern konfrontieren den Einzelnen mit für ihn unerklärlichen Situationen und Verurteilungen;

    Thomas Mann und seine Romane bieten ähnlich interessante Räume, in denen der Mensch zunehmend orientierungslos herumirrt.

    4. Die Literatur nach 1995

    Ilse Aichinger: Das Fenster-Theater Der Raum ist die Voraussetzung für die Entwicklung der Handlung; der Raum hilft, dass sich die Figuren selbst erkennen; im Raum ist kein Kontakt möglich – es ist kein Ort, in dem ein Kontakt möglich sein könnte;

    Patrick Süskind: Das Parfüm Ein historischer Ort, in dem sich ein krankhaftes Genie entwickelt und sein Unwesen treibt; genaue Ortsangaben und exakte Skizzierung einer Art „Menschwerdung“ – für die Moderne eher untypisch;

    Bettina Blumenberg: Lau Der Raum, in dem sich monotone Alltäglichkeiten abspielen; charakterisiert die Figuren; Statik des Raumes bedeutet Statik der Figuren;

    Die Romane von Marlen Haushofer (z. B. Die Wand) räumliche Enge ermöglicht den Figuren keine Handlungsmöglichkeiten.

    V. Aufgabe a) Erläuterung der These von Goethe: Eine Meinung zu haben und diese zu äußern ist ein Wagnis und erfordert Mut, denn es gibt immer wieder Kräfte, die die eigene Meinung torpedieren können; ein solches Wagnis einzugehen ist eine Gefahr, denn die Gegenseite wird diese Meinung nicht wissen und kennen wollen und deshalb versuchen sie, diese nicht öffentlich werden zu lassen, denn es könnte etwas entdeckt werden, was unangenehm ist; nichtsdestotrotz regt die „Meinung, die man wagt“ andere Menschen zum Nachdenken an, bringt andere Menschen dazu, ihre Meinung zu einem bestimmten Thema ebenfalls offen zu legen, und sie können dadurch eine Front bilden und die Gegenseite zum Aufgeben zwingen; eine Meinung äußern kann auch immer bedeuten, einen öffentlichen Diskurs, wenn auch unangenehm, zu einem bestimmten Thema einzuleiten und kann so informieren; Informationsweitergabe bedeutet Aufklärung, die wiederum positiv genutzt werden kann. b) mögliche Chancen von Meinungsäußerung:

    Viele Meinungen unterstützen den demokratischen Grundgedanken von Meinungsfreiheit; somit ist Meinungsäußerung ein Grundrecht und trägt zur Pluralität von Meinungen bei – ein wichtiger Pfeiler für die Demokratie;

    Entwicklung von Zivilcourgage (das Wagnis, Meinung zu äußern) und politischem Bewusstsein;

    Viele Meinungen bedeuten verschiedene Ansätze in einem Diskurs, die es ermöglichen, eine Problematik auch objektiv beurteilen zu können; somit ist Meinungsäußerung auch verbreiten von Informationen;

    Üben einer Diskursfähigkeit; die Möglichkeit, Meinungen zu äußern heißt, einen Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu können und selbst mittels dieser Möglichkeit zu einem autonomen und selbstbewussten Träger dieser Gemeinschaft zu werden.

    c) mögliche Risiken von Meinungsäußerungen:

    die Möglichkeit der einseitigen Beeinflussung;

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    die Verbreitung unzensierter Meinungen, die im Falle von radikalen Meinungen fatale Folgen haben kann;

    Missbrauch und Täuschung zu Propagandazwecken und somit die Möglichkeit, die Gegenseite auszuschalten und Meinungsäußerung zu „schlagen“;

    die Gefahr eines „Zerredens“, was hinsichtlich der Brisanz eines Problems eher lähmend als förderlich sein kann;

    die Gefahr einer Theoretisierung einer Sachlage, die letztlich nur noch der Meinungsäußerung dient, aber die Handlungsfähigkeit lähmt.

    VI. Aufgabe 1. a) Argumentationsskruktur und Leistungen des Gedankenstrichs: In seinen Äusführungen zum Gedankenstrich geht Uwe Timm von der syntaktischen-grammatikalischen Norm dieses Satzzeichens aus, so wie diese im Duden aufgeführt wird. Er benennt korrekt die entsprechenden Regeln (Z. 3 ff.), wodurch der Gedankenstrich nur noch ein „horizontales geradegebogenes Komma“ (Z. 8) ist. In den nun folgenden Abschnitten zeigt Uwe Timm, dass der Gedankenstrich durchaus eine dramatische Funktion haben kann. Er zitiert daher eine Passage aus Kleists Die Marquise von O . . . und beweist somit, dass der Gedankenstrich nicht nur ein „typographischer Strich“ (Z. 34) ist, sondern vielmehr die Vorstellungskraft des Lesers anregt, indem er das „Räumliche mit Zeitlichem“ (Z. 27) verbindet. Es folgen weitere Beispiele aus der europäischen Literaturgeschichte bis hin zur neueren deutschen Literatur, die verdeutlichen, dass der Gedankenstrich den Leser in das „buchstäblich [. . .] Non-Verbale“ (Z. 77) führen. Timm zeigt abschließend auf, warum der Gedankenstrich an Bedeutung verloren hat und welche Funktion ihm heute noch zu kommt (Z. 82). Er weist im letzten Abschnitt auch noch einmal eindringlich darauf hin, wie wichtig ein Gedankenstrich in Zeiten von Unterdrückung und Diktatur sein können – um so technokratischer wirken die zu Beginn erwähnten Regeln aus dem Duden. Timm Argumentationsstruktur speist sich aus dem Beispielhaften; er geht somit deduktiv vor und schließt aber am Ende den Kreis, indem er wieder ein Beispiel wählt, das aber die fiktionale Ebene verlässt und den Alltag einer Diktatur schildert. Somit wird der Gedankenstrich als Satzzeichen gesehen, dass selbst autoritäre Systeme überlisten kann. b) sprachlich-stilistische Merkmale:

    das Zitat als wichtige Grundlage für seine Argumentation; rhetorische Fragen (Z. 23 f.), um den Leser zu provozieren; er bedient sich der Hypotaxe und spricht so gezielt eine bestimmte Leserschaft an; die literarischen Hinweise zeigen ebenfalls, dass der Leser ein literarisch Gebildeter sein muss, um seine Ausführen zu verstehen; die Hypotaxe verdeutlicht aber die Funktion des Gedankenstrichs, denn auch diese könnten durchaus mit Gedankenstrichen versehen werden;

    Wortfelder aus dem Bereich Linguistik, Grammatik und Orthographie, wodurch Timm sich als kompetenter Ansprechpartner in Sachen Gedankenstrich entlarvt;

    Wortwiederholungen (Z. 71), um der Aussage einen gewissen Nachdruck zu verleihen; Personifikation des Gedankenstrichs (Z. 82 ff./ Z. 95), um die Funktion des Satzzeichens zu verdeutlichen und ihn weg von der Regelhaftigkeit eines Duden zu bewegen;

    Metapher (Z. 66): Sprache wird mit „Delirium“ verglichen; hebt die Orientierungslosigkeit hervor, die durch das Nicht-Vorhandensein des Gedankenstrichs zunimmt;

    Akkumulation (Z. 67 ff.) zur Verdeutlichung und Hervorhebung seiner Aussage.

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    2. Argumente für die Erörterung Die folgenden Argumente können in der Erörterung nach zwei Gesichtspunkten argumentativ erfasst werden – einmal unter dem Aspekt des Spracherwerbs und des Weiteren im Hinblick auf den kreativen Umgang mit Sprache, d. h. das Schaffen von Literatur.

    Regelhaftigkeit von Sprache bedeutet Vereinheitlichung und somit eine leichtere Kommunikation über Dialektgrenzen hinaus; bessere Verständlichkeit; die Möglichkeit, sich so besser aufeinander beziehen zu können, d. h. miteinander zu kommunizieren;

    Erlernbarkeit der Sprache in Schulen, vor allem in den Grundschuljahren, in denen das Kind lernt, Gedanken zu verschriften;

    leichtere Erlernbarkeit von Sprache als Fremdsprache; die Möglichkeit, mit der Regelhaftigkeit zu spielen in Form von lyrischen Texten; die Regelhaftigkeit setzt kreative Prozesse in Gang, denn der Autor/ Autorin versucht, sich gegen diese zu wehren, indem er/ sie Regelhaftigkeiten aufweicht und diese sprachlich umsetzt;

    Regeln helfen, Sprache in sinngebende Einheiten zu strukturieren, um so - besonders im Bereich der Hypotaxe – für ein besseres Verständnis zu sorgen;

    Regelhaftigkeit bringt „Leben in das Ordungssystem“ (Z. 83), denn sie ermöglicht der Sprache „Wachstum“, denn die Regelhaftigkeit kann genutzt werden, um Sprache zu reflektieren und so mit ihr zu arbeiten;

    Regelhaftigkeit macht Sprache verständlich und transparent; es bedeutet auch Demokratie, denn so kann sich jeder der Sprache bedienen und diese erlernen, weil es für jeden allgemeingültige Regeln gibt.

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    Die hier abgedruckten Lösungsvorschläge sind nicht die amtlichen Lösungen des zuständigen Kultusministeriums. Impressum: Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, vorbehaltlich der Rechte die sich aus den Schranken des UrhG ergeben, nicht gestattet. © Dudenverlag, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 2008 Redaktionelle Leitung: Simone Senk Redaktion: Christa Becker Autorin: Annette Schomber